Die Buchhändlerin von Paris - Ellen Feldman - E-Book
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Die Buchhändlerin von Paris E-Book

Эллен Фелдман

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Beschreibung

»Fans von Anthony Doerrs ›Alles Licht, das wir nicht sehen‹ und Kristin Hannahs ›Die Nachtigall‹ sollten diesen Roman unbedingt lesen.« Booklist

Ein fesselndes Leseerlebnis über den Überlebenswillen einer jungen Mutter im besetzten Paris.

Frankreich, 1944. Charlotte Foret arbeitet in einer kleinen Buchhandlung im besetzten Paris. Auf sich allein gestellt kämpft sie nicht nur um ihr eigenes Überleben, sondern auch um das ihrer kleinen Tochter Vivi. Als diese erkrankt, nimmt Charlotte die Hilfe des deutschen Arztes Julian an. Es ist ein Akt der Verzweiflung, der sie das Leben kosten könnte. Für Julian hingegen wird Charlotte zur großen, unmöglichen Liebe. Kurz vor Kriegsende, den Tod vor Augen, gelingt es ihm, die junge Frau und sich selbst zu retten. Charlotte emigriert nach New York und glaubt, die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. Bis Vivi beginnt, Fragen zu stellen ...

»Meisterhaft. Großartig. Eine hochemotionale Überlebensgeschichte und ein wahrer Pageturner.« Heather Morris (Autorin des SPIEGEL-Bestsellers »Der Tätowierer von Auschwitz«)

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Autorin

Ellen Feldman, Autorin von »Der Junge, der Anne Frank liebte« und weiterer historischer Romane, wuchs in New Jersey auf, studierte Geschichte und arbeitete für einen New Yorker Verlag. Sie lebt mit ihrem Mann in New York und East Hampton.

Mehr zur Autorin und ihren Werken finden Sie unter: ellenfeldman.com/

Buch

Frankreich, 1944. Charlotte Foret arbeitet in einer kleinen Buchhandlung im besetzten Paris. Auf sich allein gestellt kämpft sie nicht nur um ihr eigenes Überleben, sondern auch um das ihrer kleinen Tochter Vivi. Als diese erkrankt, nimmt Charlotte die Hilfe des deutschen Arztes Julian an. Es ist ein Akt der Verzweiflung, der sie das Leben kosten könnte. Für Julian hingegen wird Charlotte zur großen, unmöglichen Liebe. Kurz vor Kriegsende, den Tod vor Augen, gelingt es ihm, die junge Frau und sich selbst zu retten. Charlotte emigriert nach New York und glaubt, die Vergangenheit hinter sich lassen zu können. Bis Vivi beginnt, Fragen zu stellen …

Ellen Feldman

Die Buchhändlerin

von Paris

Roman

Aus dem Englischen

von Thomas Stegers

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel

»Paris Never Leaves You«

bei St. Martin’s Press, New York

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Deutsche Erstveröffentlichung September 2022

Copyright © der Originalausgabe

2020 by Ellen Feldman. By arrangement with the author.

All rights reserved.

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: arcangel images/Collaboration JS; Magdalena Russocka / Trevillion Images/Russocka

Redaktion: Susanne Bartel

AB· Herstellung: ik

Satz: KCFG–Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-27197-8V001

www.goldmann-verlag.de

Zu hassen, außer rein theoretisch,

ist schwieriger, als man denkt.

Flora Groult, Diary in Duo: Paris, 1940 – 45

Verurteile niemanden,

bevor du nicht in seinen Schuhen gelaufen bist.

Hillel der Ältere

Prolog

Paris, 1944

Sie rissen sich die Sterne ab. Finger mit brüchigen, dreckverkrusteten Nägeln pulten, zogen und zerrten an dem Stoffstück. Wer hätte gedacht, dass noch so viel Kraft in den Menschen steckte. Eine Frau biss den Faden durch, mit dem sie den Stern vorher an ihrer zerschlissenen Jacke angebracht hatte. Sie musste früher eine gute Näherin gewesen sein. Diejenigen, denen es gelang, den Stern zu lösen, warfen ihn auf den Boden. Ein Mann spuckte auf ihn. Wer hätte gedacht, dass er außer der Kraft auch noch über so viel Speichel verfügte. Charlotte hatte seit Tagen einen fauligen Geschmack im Mund, der vom Flüssigkeitsmangel wie ausgetrocknet war. Männer, Frauen und Kinder traten die Stoffstücke in den Matsch und breiteten so einen Flickenteppich aus gelbem Elend auf dem eingezäunten Areal aus. Charlotte hockte sich neben Vivi und fing ebenfalls an, den Faden zu lösen, mit dem der Stern auf die schmutzige rosa Bluse ihrer Tochter genäht worden war. Nach dem Gesetz mussten erst Kinder ab sechs Jahren den Stern tragen. Vivi war vier; die Bluse stammte von einem anderen Kind, das in einem bürokratischen Willkürakt noch schnell einem Transport zugeteilt worden war, um das vorgeschriebene Kontingent von tausend Personen vollzumachen. Charlotte hatte die Bluse an sich genommen, bevor es jemand anders tun konnte – persönlicher Besitz war im Lager nicht verboten –, nur den Stern hatte sie nicht abgenommen. Das Tragen einer Bluse mit einem hellen sechszackigen Fleck drauf, wo zuvor ein gelber Stern gewesen war, hätte eine Provokation dargestellt. Deshalb entfernte Charlotte Vivis Stern erst jetzt, bevor sie sich aufrichtete und auch ihren eigenen abriss.

Für den Rest ihres Lebens würde sie sich jedes Mal, wenn sie in einem Flugzeug saß und die Ermahnung der lächelnden Stewardess hörte, sich in einem Notfall zuerst die eigene Sauerstoffmaske überzuziehen, ehe sie sich ihrem mitreisenden Kind zuwandte, an diesen Morgen erinnern und denken, dass die Airline zwar die Logik auf ihrer Seite hatte, aber kein Herz besaß.

Sie hatte die Szene auf einem Platz beobachtet. In Drancy, einem Vorort zehn Kilometer nordöstlich der Stadt, nicht in dem Sammellager, von dem aus Juden, Kommunisten, Sozialisten und andere Feinde des Reichs deportiert worden waren. Wenn sie nicht längst geahnt hätte, dass es besser war, in der Gegend zu bleiben, als dorthin zurückzukehren, wo sie zuvor gelebt hatte, dann hätte dieser Vorfall sie davon überzeugt. Sie hatte nicht zuschauen wollen, sich aber auch nicht losreißen können. Vor Angst wie erstarrt, war sie stehen geblieben.

Sie hatten die Frau entkleidet, bis auf den BH und die Unterhose, fadenscheinige, schmutzig weiße Fetzen von Würde oder Scham oder eines fast vergessenen Anstands aus besseren Tagen. Der BH war an den Stellen über den Brustwarzen eingerissen, ob durch Gewalt oder lang zurückliegende Leidenschaft, ließ sich nicht erkennen. Ein alter Mann mit nikotinverfärbtem Bart streckte seine dreckige Hand aus und kniff die Frau in ihr rosa Fleisch. Die Menge grölte vor Vergnügen. Ein anderer, jüngerer fuchtelte mit einem Gewehr herum und stieß die Frau mit dem Kolben erst in die eine, dann in die andere Richtung, bis sie auf den Stöckelschuhen, die sie noch trug, ins Stolpern geriet. Die Schuhe ließen ihre Nacktheit noch obszöner erscheinen. Während sie so taumelte, entdeckte die Menge einen braunen Fleck auf der Rückseite ihrer zerrissenen Unterhose. Wieder ließ sich nicht sagen, ob er der akuten Angst oder vergangener Nachlässigkeit geschuldet war, aber das Gejohle wurde lauter, übertönte die Kirchenglocken, die zu läuten begonnen hatten, und hielt noch an, als die Glocken längst verstummt waren. Es war erst zwei Uhr.

»Collabo!«, rief eine Frau in der Menge. »Collabo horizontale!«, schrie eine andere, und die Frauen in dem Mob nahmen die Rufe auf und reichten sie weiter, so wie sie unter anderen Umständen ein Baby weitergereicht hätten. Beide Instinkte waren primitiv und dienten dem Schutz, in diesem Fall jedoch dem Selbstschutz. Nur die besonders Abgestumpften und Vergesslichen unter ihnen, diejenigen, die einem einquartierten Soldaten kein einziges Mal höflich zugenickt oder sich für eine aufgehaltene Tür mit einem warmen merci bedankt hatten, waren unfähig, sich in die Frau hineinzuversetzen, die sich jetzt vor Scham zusammenkauerte und deren verfilzte fettige Haare büschelweise zu Boden fielen. Ihre Zeit, in der sie auf dem Schwarzmarkt Fleisch, Eier und Shampoo besorgen konnte, war lange vorbei.

Charlotte dachte an die kahlen Stellen auf ihrem Kopf, eine Folge der Mangelernährung. Damit konnte sie leben. Doch als sich Strähnen von Vivis feinem Haar zwischen ihren Fingern fanden, hatte sie aufgehört, es zu bürsten. Als hätte das irgendetwas bewirken können.

Die Frauen brüllten ihre Wut heraus, doch die Männer, besonders die schweigsamen, waren gefährlicher; nicht nur, weil sie mit Gewehren fuchtelten und Scheren und Rasiermesser bei sich trugen. Sie verströmten auch den Geruch unverhohlener Geilheit. Einige griffen sich in den Schritt, während sie die Frau einkesselten, sie schlugen und traten. Andere, schwitzend und grinsend, wischten sich mit dem Handrücken den Speichel vom Mund und fuhren sich dann mit der Zunge über die Lippen, als könnten sie den Kitzel der Situation schmecken. Das Land war besiegt. Sie waren gedemütigt worden. Doch die Rache an dieser halb nackten, blut-, tränen- und kotverschmierten Frau, um eine in ihrem Sinn ausgleichende Gerechtigkeit herzustellen, machte sie wieder zu Männern.

Zwei Jugendliche, kaum älter als sechzehn, siebzehn, fingen an, die Frau, deren kahl rasierter Schädel im schräg einfallenden Sonnenlicht glänzte, vor sich herzustoßen, bis zu einem Lastwagen, der in einer Ecke des Platzes parkte. Die drei Frauen, die bereits ausgestreckt auf dessen Ladefläche lagen, fast nackt die eine, die beiden anderen spärlich bekleidet, blickten nicht auf, als die beiden Jungen den Neuankömmling dazuwarfen.

Währenddessen umzingelte die Menge die nächste Frau. Sie hielt ein Baby im Arm. Ihr fleckiges gürtelloses Baumwollkleid hing an ihr herab, ein Ärmel halb abgerissen. Vielleicht löste das Baby Schuldgefühle in den Männern aus oder unterdrückte zumindest die sexuelle Spannung. Die Frau wiegte das Kind nicht in den Armen, wie Mütter es normalerweise tun, sondern hatte es sich wie ein Paket unter den Arm geklemmt. Die Beine baumelten schlaff herab, der Kopf war seitlich gekippt, der Hals wirkte zerbrechlich. Die Augen waren geschlossen, das Gesicht fest zusammengezurrt gegen die Welt.

Charlotte nahm Vivi, die sich an ihren Rock geklammert hatte, wieder auf den Arm und drückte sich das Gesicht ihrer Tochter an die Halskuhle. So etwas war nicht für Kinderaugen bestimmt. So etwas sollte niemand mitansehen müssen.

Einer der Männer, der anscheinend das Sagen hatte, wenn das hier überhaupt jemand hatte, packte die Frau an den Haaren und riss ihren Kopf nach hinten. Das Geräusch, das ihr dabei entfuhr, war kein Schrei, eher ein Blöken. Charlotte wartete darauf, dass das Baby zu brüllen anfing, doch es verschloss sein Gesicht nur noch fester.

Haar fiel zu Boden. Es war länger als das der Frau mit dem Bubikopf, die sie bis auf die Unterwäsche entkleidet hatten, und die Prozedur war nicht so schnell vorbei. Vielleicht war es dieser Umstand, der den Mann in der Menge antrieb. Er langweilte sich. Während der tondeur weiter den Kopf der Frau scherte, eilte der Mann nach vorne und malte ein Hakenkreuz auf ihre Stirn. Die Menge brüllte hämisch.

Wimmernd, das immer noch stumme Baby an sich klammernd, wurde schließlich auch diese Frau zum Lastwagen geschoben und die nächste in die Mitte des Marktplatzes geschleift. Charlotte drückte Vivi noch immer an sich und bahnte sich einen Weg durch den Mob. Besoffen von Selbstgerechtigkeit und dem Wein, den eine Frau mit Unternehmergeist und ihr junger Sohn anboten, aber noch immer nicht satt, bedrängte die Menge sie, nötigte sie zu bleiben, machte sich lustig über ihre Weichherzigkeit, verhöhnte sie wegen ihres mangelnden Patriotismus. Schützend legte Charlotte eine Hand an Vivis Hinterkopf und ging unbeirrt weiter.

Am Rand der Menge stellte sich ihr Berthe Bernheim in den Weg, die Frau aus dem Lager, deren Nähte von so guter Qualität waren, dass sie die Fäden an ihrem Stern hatte durchbeißen müssen.

»Du kannst jetzt nicht gehen«, sagte sie und wies auf die Gruppe Frauen und den Mann in einer Ecke des Platzes, die darauf warteten, geschoren zu werden. »Es ist noch nicht vorbei.«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Solange das hier weitergeht, wird es nie vorbei sein«, sagte sie und setzte ihren Weg fort.

Berthe Bernheim sah ihr hinterher. »Päpstlicher als der Papst«, sagte sie, an niemand Besonderen gerichtet.

Eins

New York, 1954

Charlotte sah den Brief, kaum hatte sie ihr Büro betreten. Es gab keinen Grund, warum er ihr gleich hätte ins Auge fallen sollen. Der Schreibtisch war übersät mit Papieren und Umschlägen. Manuskriptstapel und Bücher füllten die Regale der kleinen Arbeitsnische, sogar die beiden Stühle dienten als Ablage. Der Luftpostumschlag war jedenfalls kein ungewöhnlicher Anblick. Die meisten Bücher, die sie verlegte, waren amerikanische Ausgaben europäischer Werke, und ein Großteil ihrer Post bestand aus diesen hauchdünnen blauen Umschlägen. Es gab nur eine einzige Erklärung, warum ihr der Brief trotzdem auffiel: Sie hatte die Morgenpost bereits durchgesehen, und die Nachmittagspost war noch nicht eingetroffen. Vielleicht war der Brief versehentlich zuerst an einen anderen Lektor oder eine andere Lektorin gegangen, und er oder sie hatte ihn auf Charlottes Schreibtisch gelegt, während sie sich gerade ein Stockwerk höher in der Kunst-Redaktion aufgehalten hatte. Oder er war bei der morgendlichen Sortierung in der Poststelle übersehen worden.

Gibbon & Field war ein renommierter Verlag, doch hinter den Kulissen herrschte eine gewisse Dekadenz, was an Horace Field lag, dem Verleger. Er war zu nachsichtig, oder aber er verstand es, sich seine Angestellten auf geschickte Weise gefügig zu machen. Eine Ahnung davon hatte sie an ihrem ersten Weihnachtsfest hier bekommen, kurz nachdem sie angefangen hatte, für den Verlag zu arbeiten. Als sie und Horace eines Abends zur gleichen Zeit das Büro verließen, trafen sie im Aufzug einen jungen Mann aus der Herstellung, der sich mit zwei großformatigen Kunstbänden und einigen anderen Büchern abmühte, die er sich unter den Arm geklemmt hatte. Beim Anblick von Horace wurde er tiefrot.

»Wie ich sehe, haben Sie sich unsere Werbung zu Herzen genommen«, sagte Horace. »›Für jeden das passende Buch zu Weihnachten.‹«

Der junge Mann wäre am liebsten vor Scham im Boden versunken und verließ fluchtartig die Aufzugskabine, sobald sich die Türen öffneten. Das war ungewöhnlich, normalerweise ließen die Mitarbeiter dem Verlagsleiter den Vortritt.

»Willst du ihm den Wert der Bücher vom Gehalt abziehen?«, fragte sie Horace im Foyer.

»Niemals!«

»Es wäre ihm eine Lehre.«

»Ich verlange nur eins von ihm, Charlie: Dass er sich ins Zeug legt, zum Wohl von G&F.«

»Und dafür lässt du ihn mit einem Stapel entwendeter Bücher unterm Arm davonkommen?«

»Wenn er das nächste Mal um eine Gehaltserhöhung bittet und sie nicht kriegt, werden ihm all die geklauten Bücher einfallen. Er wird sich schuldig oder wenigstens entschädigt fühlen. Das Gleiche gilt für die Spesenrechnungen, die die Lektoren und Vertreter einreichen. Sie denken, sie ziehen mich über den Tisch, aber ein schlechtes Gewissen führt zu Reue. Und bei manchen sogar zu Loyalität. Dann meinen sie, dass sie mir eine Gegenleistung schulden. Deswegen mache ich mir Sorgen um dich. Deine Spesenrechnungen sind ein Witz. Wenn die anderen Lektoren davon Wind bekommen, stehst du als Spielverderberin da. Das werden sie dir nicht verzeihen.«

Horace’ Philosophie durchzog das gesamte Verlagshaus, angefangen von den schweren Diebstählen in der Herstellung, die von einem Mann mit mutmaßlichen Mafiaverbindungen geleitet wurde, über die geringfügigen Unterschlagungen hie und da bis zu der allgemeinen Nachlässigkeit in der Poststelle. Wahrscheinlich war deswegen auch der Brief erst jetzt auf ihrem Schreibtisch gelandet; der außergewöhnliche Zeitpunkt war der einzige Grund, warum er ihr überhaupt auffiel. Mit einem sechsten Sinn, an den sie sowieso nicht glaubte, hatte das nichts zu tun.

Sie setzte sich an den Schreibtisch und griff nach dem Umschlag. Ihr Name und die Adresse von G&F waren von Hand geschrieben, in einer ihr unbekannten Schrift. Kein Absender in der linken oberen Ecke. Sie drehte den Brief um und las den Namen auf der Rückseite, als ihr klar wurde, warum sie die Handschrift im ersten Moment nicht erkannt hatte. Wann hatten sie jemals etwas mit der Hand geschrieben? Nein, das stimmte nicht. Einmal hatte er ihr geschrieben, ungefähr ein Jahr nach Kriegsende. Damals hatte der Brief auf seinem Weg durch die Archive von Drancy und über diverse Agenturen Monate gebraucht, bis er schließlich in New York eintraf. Sie hatte Erleichterung empfunden. Er wusste nicht, wo sie lebte, und war immer noch in Deutschland. Jenen Brief hatte sie nie beantwortet. Dieser neue Brief trug eine Absenderadresse aus Bogotá in Kolumbien. Also war er doch noch rausgekommen. Darüber war sie sogar froh. Und Südamerika war immer noch sehr weit entfernt.

Sorge machte ihr nicht der Ort, wo er sich aufhielt, sondern vielmehr die Tatsache, dass er wusste, wo sie gelandet war. Sie dachte, sie sei vorsichtig gewesen, hatte weder ihre Adresse noch ihre Telefonnummer ins öffentliche Verzeichnis eintragen lassen. Die Leute, die ihr bei dem Start ins neue Leben geholfen hatten – die Sozialarbeiter und engagierten Freiwilligen diverser Flüchtlingsorganisationen, ihre Kollegen hier und in anderen Verlagshäusern, Horace Fields Frau Hannah –, fanden dieses Versäumnis unklug und asozial. »Wie willst du in diesem neuen Land zurechtkommen«, hatte Hannah sie gefragt, »wenn keiner weiß, wo du zu erreichen bist?« Charlotte hatte nicht widersprochen, aber dennoch einfach weiter die geringe Gebühr bezahlt, um eben nicht in diesem Verzeichnis zu stehen. Und allmählich hatten Hannah und die anderen aufgegeben nachzufragen und Charlottes Verhalten ihren Erfahrungen in der Vergangenheit zugeschrieben. Niemand, einschließlich Hannah, wusste, was sie durchgemacht hatte, aber es hielt sie nicht davon ab, Spekulationen anzustellen.

Ihre Büroadresse war genauso schwierig herauszufinden, aber er hatte es offensichtlich geschafft. Obwohl ihr Name auf der Liste der Lektoren in der linken Spalte des offiziellen Firmenbriefpapiers nicht auftauchte. Die meisten Verlage nannten ihre Lektoren nicht auf ihren offiziellen Briefbögen, aber auch das war eine von Horace Fields kuriosen Schwächen. Ein Jahr nachdem sie angefangen hatte, bei G&F zu arbeiten, hatte er ihr angeboten, auch ihren Namen auf dem Briefpapier aufzulisten.

»Betrachte es als Trostpflaster«, sagte er.

»Trostpflaster?« Sie sprach vier Sprachen, konnte zwei weitere lesen und hatte an der Sorbonne englische Literatur studiert, doch manche Ausdrücke waren ihr immer noch nicht geläufig.

»Eine Entschädigung für den Sklavenlohn, den wir dir zahlen.«

»Wenigstens schlägst du mir nicht vor, zum Ausgleich Bücher zu stehlen«, sagte sie und ergänzte, sie wolle ihren Namen nicht auf dem Briefpapier sehen, dankte ihm aber dennoch für das Angebot.

Sie stand zwar nicht im Telefonbuch und auch nicht auf dem Briefpapier des Verlags, aber gelegentlich tauchte ihr Name in den Büchern auf, die sie als Lektorin betreut hatte. Mein Dank gilt Charlotte Foret, die mein Schiff mit sicherer Hand durch die stürmischen Gewässer des amerikanischen Verlagswesens gesteuert hat. – Ich danke Charlotte Foret, die als Erste erkannt hat, dass ein Buch über das holländische Goldene Zeitalter von einem holländischen Autor auch für das amerikanische Lesepublikum von Interesse sein dürfte. Die Frage war, wie er in Europa oder jetzt in Südamerika an US-amerikanische Bücher gekommen war. Die ausländischen Konsulate verfügten über Bibliotheken, um die amerikanische Heilsbotschaft auch unter der einheimischen Bevölkerung zu verbreiten, doch die Bücher, die Charlotte verantwortete, enthielten diese amerikanische Heilsbotschaft nur selten. Und dennoch musste er eins in die Hände bekommen haben. Oder er hatte sie durch eine der Flüchtlingsorganisationen aufgespürt. In Amerika hatte sie sich von den Gruppen der Emigranten, Immigranten oder Flüchtlinge – wie auch immer man sie bezeichnen wollte – ferngehalten, aber natürlich hatte sie die üblichen Formulare ausfüllen und die nötigen Dokumente besorgen müssen, um herkommen zu dürfen. Sie hatte also auf jeden Fall Spuren hinterlassen.

Sie sah sich das Kuvert genauer an. Kein Stempel, kein Beleg, dass sie ihn erhalten hatte. Und selbst wenn, kein Gesetz schrieb vor, dass sie jeden erhaltenen Brief beantworten musste. Auf die Begleitbriefe zu Manuskripten von Autoren reagierte sie selbstverständlich, aber dafür hatte sie Standardformulierungen parat: Ihre Argumentation ist überzeugend, doch leider passt das Thema nicht in unser Verlagsprogramm. – Ihr Buch ist gut geschrieben, doch die Figuren sind nicht stringent entwickelt / die Handlung ist abwegig / leider gibt es für solche Geschichten kein Lesepublikum in Amerika. Für diese Situation hatte sie keine Standardantwort parat. Aber worum ging es hier eigentlich? Um Erinnerungen? Er müsste sich doch genauso ungern an die Zeit erinnern wie sie. Um Liebe? Schon damals hatte sie sich gesagt, dass der Gedanke viel zu abwegig war. Um Geld? Seit der Einbürgerungszeremonie vergangenes Jahr war sie Amerikanerin, und jeder, der nicht Amerikaner war, meinte, Amerikaner würden im Geld schwimmen. Doch von allen Klischees erschien ihr dieses am wenigsten zutreffend.

Sie vernahm Stimmen auf dem Flur, und der Geruch von Pfeifentabak, der über die Trennwand aus Milchglas zwischen Flur und Arbeitsnische zog, stieg ihr in die Nase. Die Pfeife gehörte Carl Covington, einem leicht geckenhaften Mann mit weißer Mähne. Carl sah sich gerne als Grandseigneur des Verlagswesens, doch es war gar nicht so leicht, der Grandseigneur des Verlagswesens zu sein, wenn der Verlag, für den man arbeitete, von einem kaum gealterten Wunderkind der Branche geleitet wurde. Die Stimmen gehörten Faith Silver, die sich einer nur kurz währenden Freundschaft mit Dorothy Parker rühmen durfte, und Bill Quarrels, einem großen jungen Mann mit grobschlächtigem Körper und pubertärem Geist. Nach Auskunft einer der Sekretärinnen, die aus demselben Ort in Westchester County wie Bill nach New York pendelte, ließ er jeden Morgen, wenn er an der Grand Central Station aus dem Zug stieg, die Hand in der Hosentasche verschwinden, um seinen Ehering abzustreifen, den er abends, wenn er nach Hause fuhr, wieder ansteckte. Die drei waren auf dem Weg zur Lektoratskonferenz, zu der man sich regelmäßig mittwochs traf.

Faith, mit dem altmodischen Dorothy-Parker-Pagenschnitt, schaute kurz in Charlottes Arbeitsnische. »Auf in den Kampf!«

Charlotte sah von dem hellblauen Umschlag auf, der im nächsten Moment wie von allein in den Papierkorb rutschte, und stand auf. »Ich komme gleich.«

Die Stimmen verloren sich im Flur.

Sie raffte ihre Unterlagen zusammen, überlegte es sich dann aber noch einmal, holte ihre Handtasche aus der untersten Schreibtischschublade und nahm Puder und einen Lippenstift heraus. Es war besser, bei diesen Versammlungen gut gerüstet zu erscheinen.

Während sie mit der Puderquaste ihr Gesicht betupfte, betrachtete sie sich in dem kleinen Spiegel im Deckel der Puderdose. Die feine Porzellanhaut, die sie als Mädchen so eitel gemacht hatte, war jetzt rauer, aber wenigstens war der kränkliche gelbliche Schimmer aus jenen Jahren verschwunden. Sie strich die weiße Strähne glatt, die sich durch das dunkle Haar zog. Manchmal überlegte sie, sich die Haare färben zu lassen, aber irgendwie kam sie nie dazu, dem Gedanken Taten folgen zu lassen. Sie mochte nicht unbedingt, woran sie die Strähne erinnerte, aber ihr gefiel der Kontrast. Mit den Fingerspitzen glättete sie das Netz aus feinen Falten neben den Augen, als könnte sie es wegmassieren. Sie wusste natürlich, dass das unmöglich war, vielleicht nicht einmal wünschenswert. Vor ein paar Wochen hatte ihr eine geschäftstüchtige Verkäuferin in der Kosmetikabteilung von Saks Fifth Avenue eine Spezialcreme gegen Falten verkaufen wollen. »Sie wird Ihre Vergangenheit ausradieren«, pries sie sie an.

Dieses verlockende Versprechen hatte sie dermaßen erschreckt, dass sie den Helena-Rubinstein-Lippenstift, den sie eigentlich kaufen wollte, zurückgab, und das Kaufhaus stante pede verließ. Nur Verrückte würden versuchen, die Vergangenheit auszuradieren. Die einzige Hoffnung war, sich vor ihr in Acht zu nehmen.

Noch heute hörte sie in ihren Träumen Vivi weinen, nicht das kindliche Wimmern oder Schluchzen bei vorübergehendem Unwohlsein, sondern das wütende Brüllen, das nur ein leerer Magen, eisige Kälte, juckende Hautausschläge, schmerzhafte Stiche oder eitrige Geschwüre entfesseln können. Manchmal waren die Schreie in ihren Träumen so laut, dass sie davon aufwachte und aus dem Bett sprang, ehe ihr klar wurde, dass sie nur in ihrem Kopf existierten. Schweißnass ging sie dann die paar Schritte den Flur entlang zum Zimmer ihrer Tochter, lauschte auf Vivis Atem, der in den wunderbaren New Yorker Nächten sanft und regelmäßig ging und weder von schweren Stiefeln auf der Treppe noch von Schlägen gegen die Tür gestört wurde; nur gelegentlich von einer Sirene, ein Zeichen für alle, die sie hörten, dass Hilfe unterwegs war.

Tagsüber plagten sie andere Albträume. Jedes Husten ihrer Tochter war ein Anzeichen für Tuberkulose, jede Magenverstimmung Vorbote eines seit Langem unentdeckten Bazillus, jeder Ausschlag das Wiederaufflammen einer Krankheit. Die Tatsache, dass es heute Penicillin zur Behandlung gab, milderte den Schrecken kaum. Vivi konnte dem Elend unmöglich heil entkommen sein. Der schlanke Körper der Vierzehnjährigen musste eine einzige schlummernde Katastrophe sein.

Bei Schulaufführungen verglich sie Vivi mit den anderen Mädchen auf der Bühne. War sie die Schwächste ihres Jahrgangs? Hatten ihre Knochen von der Unterernährung für immer Schäden davongetragen? Hatten die Angst und das schlechte Gewissen ihrer Mutter auf ihrer Seele Narben hinterlassen? Neben ihren Klassenkameraden, in der frisch gestärkten weißen Bluse und dem blauen Pullover, waren ihr die vergangenen Entbehrungen nicht anzusehen. Ihr Haar schimmerte im Licht der Deckenscheinwerfer dunkel. Ihre Beine sahen in den marineblauen Strümpfen fohlenhaft lang aus. Ihr breites Lachen entblößte unsagbar weiße Zähne und ließ ein sonniges Gemüt erahnen. Die Stunden, die Charlotte für Lebensmittel angestanden hatte, jeder Bissen, den sie Vivi überlassen hatte, jede Gelegenheit, die sie genutzt hatte, selbst die Kompromisse, die sie gemacht hatte, alles hatte sich ausgezahlt. Vivi sah aus wie ihre Klassenkameradinnen, nur besser.

Und noch mehr Unterschiede gab es, die sie von den anderen abhoben. Sie gehörte zu den zwölf Schülerinnen, eine in jeder Klasse, mit einem Stipendium. Die anderen Mädchen wohnten in weitläufigen Apartments, Maisonetten und Penthäusern in der Park oder der Fifth Avenue, zusammen mit Eltern und Geschwistern, Hunden und Haushaltshilfen. Vivi bewohnte mit ihrer Mutter vier kleine Zimmer im obersten Stock eines alten – in Amerika galt ein siebzig Jahre altes Haus als alt – Brownstone in der East 91st Street. Weihnachten verbrachten ihre Schulkameradinnen bei den Großeltern, die in idyllischen Landschaften wohnten wie auf den Drucken von Currier and Ives, oder sie fuhren in den Skiurlaub nach Norden oder Westen – oder in die Sonne nach Süden. Vivi und ihre Mutter hingegen trugen einen kleinen Tannenbaum von einem Verkaufsstand in der 96th Street nach Hause, stellten ihn in einer Ecke des Wohnzimmers auf und dekorierten ihn mit Baumschmuck, den sie in ihrem ersten Jahr in Amerika bei B. Altman gekauft hatten und jedes Jahr ergänzten. Der Weihnachtsschmuck war neu, der Baum eine Tradition, auf die Charlotte bestand. Ihre Familie hatte immer Weihnachten gefeiert. Erst Hitler hatte aus ihr eine Jüdin gemacht, wie sie gerne sagte. Noch etwas, das Vivi von ihren Mitschülerinnen unterschied. Es gab noch weniger jüdische Mädchen auf der Schule als Stipendiatinnen. Weder der eine noch der andere Umstand wurde jemals erwähnt, jedenfalls nicht in größerer Runde, das verbiete der Anstand, so hieß es.

Trotz aller Entbehrungen und Nachteile war Vivi förmlich aufgeblüht. Erst vorgestern Abend hatte Charlotte im Wohnzimmer von einem Manuskript aufgeschaut und beobachtet, wie ihre Tochter am Esszimmertisch ihre Hausaufgaben machte. Sie hatte in ihrem Zimmer einen eigenen Schreibtisch, war aber gern in der Nähe ihrer Mutter. In den Fachbüchern, die Charlotte manchmal las, wurde behauptet, das würde sich bald legen, doch sie glaubte nicht daran. Experten verallgemeinerten immer. Sie und Vivi dagegen waren einzigartig. Vivi saß mit ihren braunen Oxfords, einen Fuß untergeschlagen, auf dem Stuhl über ihr Buch gebeugt, den seidigen Vorhang ihrer schwarzen Haare vor dem Gesicht, die Lippen konzentriert geschürzt. Charlotte hatte sie vom anderen Ende des Zimmers aus betrachtet und hätte vor Freude über dieses schiere Wunder schreien können.

Jetzt legte sie die Handtasche zurück in die Schublade, verließ ihre Arbeitsnische und ging den Flur entlang zum Konferenzraum.

Horace Field hatte bereits seinen Platz am Kopfende des Tisches eingenommen. Er kam immer als Erster, was nur zum Teil an seiner Ungeduld lag. Zurückgelehnt saß er in seinem Rollstuhl, doch die entspannte Pose und das ausgebeulte Harris-Tweed-Jackett konnten seine muskulösen Schultern und Arme nicht verbergen. Manchmal fragte sich Charlotte, ob er in seiner eigenen Vorstellung immer noch der schlanke junge Mann mit dem federnden Schritt war, der ehemalige College-Tennisspieler, dessen Foto sie mal in einer Vorkriegsausgabe der Publishers Weekly entdeckt hatte. Auf dem Bild beeindruckte er mit einem gepflegten Schnauzer, den er, wie sie damals vermutete, sich nur hatte wachsen lassen, um älter zu wirken. Sie war ihm zuvor nur einmal kurz begegnet; zu dem Zeitpunkt selbst zu jung, um zu erkennen, wie jung auch er gewesen war. Damals hatte er als Wunderknabe gegolten. Heute war der Schnauzer verschwunden, und er bekam eine Stirnglatze. Ihr fiel auf, dass sich Carl Covington, als er ihn ansah, unwillkürlich durch die weiße Mähne fuhr. Auch Horace war es nicht entgangen, und er blaffte Carl an, er solle aufhören, sich zu tätscheln wie ein Scheißköter. Trotz der Stirnglatze hatte Horace’ Gesicht noch immer etwas Jungenhaftes, nur dann nicht, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Dann runzelte er die Stirn, oder es grub sich eine Zornesfalte zwischen die wachsamen stahlblauen Augen. Er war immer auf der Hut.

»Nett, dass du uns auch beehrst, général«, sagte er, als Charlotte sich setzte. Er sprach den Titel französisch aus. Privat war sie Charlie, vor den anderen Charles oder der général. Sie mochte das nicht. Die Spitznamen, selbst die offiziellen, suggerierten eine Intimität, die es nicht gab. Er war freundlich zu ihr gewesen, und dafür war sie ihm dankbar, doch Großzügigkeit und Dankbarkeit waren nicht mit Intimität gleichzusetzen. Ihrer Ansicht nach erforderten sie eine Beziehung mit den gegenteiligen Qualitäten, besonders was ihn betraf. Der junge Mann auf dem alten Foto hatte in dem Ruf gestanden, wenn schon kein Schürzenjäger, dann ein gefährlicher Herzensbrecher zu sein, doch diese Zeiten waren vorbei, dessen war sie sich ziemlich sicher.

Auch die anderen Lektoren hatten bereits am Tisch Platz genommen, nervös wie Rennpferde in der Startbox. Im Geist schnaubten sie und scharrten mit den Hufen in ihrem Drang, sich mit einem todsicheren Bestseller, einer beneidenswert scharfsinnigen Präsentation oder gar einer genauso geistreichen wie bösen Bemerkung über das von einem Kollegen präsentierte Manuskript hervorzutun.

Carl Covington begann und stellte eine Lincoln-Biografie eines führenden Wissenschaftlers vor.

»Nicht schon wieder eine«, stöhnte Bill Quarrels.

»Es gilt die Zehnjahresfrist«, erwiderte Carl. »Wenn innerhalb eines Jahrzehnts keine Lincoln-Biografie erschienen ist, wird es Zeit für eine neue. Und Bücher über Lincoln gehen immer.«

Walter Price, der Verkaufsleiter, nickte. »Bücher über Lincoln werden immer gekauft. Aber auch Bücher über Ärzte und Hunde. Wieso hat bisher eigentlich keiner von euch Genies jemals ein Manuskript über den Hund von Lincolns Leibarzt aufgetan? Das ist mir unverständlich.«

Die Rede kam jetzt auf die Verkaufszahlen der früheren Bücher des Autors, den wahrscheinlichen Erlös aus den Taschenbuchrechten – ein neues Phänomen seit dem Krieg – und darauf, dass der Agent nicht viel verlangen würde. Horace beteiligte sich kaum an dem Gespräch, sein abschließendes Kopfnicken genügte. Carl sagte, er werde dem Autor ein Angebot machen.

Bill pries den Roman eines US-Marines an, der im Pazifikkrieg gekämpft hatte.

»Darf ich raten?«, sagte Carl. »Der Autor heißt James Jones.«

»Die Nachfrage nach Kriegsbüchern hat ihren Zenit überschritten«, warnte Walter.

Er und Carl waren zu alt für den Krieg gewesen, Bill zu jung. Keiner der drei sah Horace an.

Weiter ging es mit Faith, die einen Debütroman über das Leben in einer Kleinstadt in New England im Angebot hatte. Ein leiser Roman, wie sie zugab, aber sehr schön geschrieben. Und brachten sie nicht aus genau diesem Grund gewinnbringende Massenliteratur heraus? Um sich Perlen wie diese leisten zu können? Keiner der Anwesenden hielt es für nötig, die Frage zu beantworten, doch Charlotte, die das Manuskript ebenfalls gelesen hatte, sprang Faith bei und gab ihrer literarischen Einschätzung recht. Horace nickte Zustimmung. Über Geld wurde nicht gesprochen. Es war nicht nötig. Faith war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass der Vorschuss für ein solches Buch nur wenige Hundert Dollar betragen würde.

Charlotte stellte ein Buch über das Zusammenwirken von Politik, Diplomatie und Kunst im Italien der Renaissance vor, was ebenfalls mit Schweigen quittiert wurde. Sie hatte so etwas wie eine privilegierte Stellung bei G&F inne. Nur Horace interessierte sich für die Bücher, die sie der Runde präsentierte, es sei denn, es handelte sich um ausländische Romane, die verboten werden könnten. Dann wollten auf einmal auch alle anderen sie lesen. Dieses Manuskript wurde mit einem Kopfnicken abgesegnet, einen geringfügigen Vorschuss stillschweigend vorausgesetzt.

In dem Stil ging es gute zwei Stunden weiter. Lektoren stellten Bücher vor, verbündeten sich, wechselten die Seiten. Charlotte erinnerte dieser Prozess stets an die Papstwahl, über die sie mal gelesen hatte. Nur der weiße Rauch am Ende fehlte.

Sie hatte schon ihre Unterlagen eingesammelt und wandte sich der Tür zu, als Bill neben ihr auftauchte.

»Hast du mal einen Blick in den Roman geworfen? Den über den amerikanischen Spion, der vor der Invasion hinter den französischen Linien abgesetzt wird?«

»Hast du meine Anmerkung nicht gelesen?«

»Du schreibst nur, er sei unglaublich übertrieben.«

»›Unglaubwürdig und heiße Luft‹, so habe ich mich ausgedrückt. Jeder Spion, der so viel Zeit in den Betten anderer verbracht hätte, wäre innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seinem Fallschirmabsprung tot gewesen. Achtundvierzig Stunden, höchstens.«

Er rückte ihr mit seinem gewaltigen Körper auf die Pelle. »Sprichst du aus Erfahrung?«

Charlotte überlegte, ob sie die Frage beantworten sollte, als es geschah. Im Türrahmen stehend, mit dem Rücken zum Konferenzraum, hatten sie ihn nicht kommen sehen.

Horace Field, der mit seinen kräftigen Armen die Räder seines Rollstuhls antrieb, raste zwischen sie. Er verpasste Charlotte um Haaresbreite, erwischte jedoch Bill mit seinem rechten Fuß, an dem er einen Schuh aus feinstem Ziegenleder trug. Horace Field kam immer deswegen früh zu den Konferenzen, weil er nicht bei den Manövriermanövern mit seinem Rollstuhl gesehen werden wollte, was nicht hieß, dass er sich ungeschickt dabei anstellte.

»Au!«, schrie Bill und sprang zur Seite.

»Entschuldige!«, rief Horace ihm über die Schulter zu und fuhr davon.

Charlotte hatte den Brief nicht vergessen, während der Lektoratskonferenz sogar ab und zu an ihn gedacht. Sie wollte ihn nicht lesen, aber es war ihr klar, dass sie es tun würde. Sie wusste nicht einmal, warum. Sie konnte die Vergangenheit nicht ausradieren, mochte ihr die Verkäuferin in der Kosmetikabteilung von Saks auch noch so viel versprechen. Aber sie hatte auch nicht die Absicht, übermäßig in der Vergangenheit herumzuwühlen. Trotzdem wäre es falsch, den Brief nicht zu lesen. Sie beschloss, ihn aus dem Papierkorb zu fischen, sobald sie wieder an ihrem Schreibtisch säße, doch sie hatte nicht mit Vincent Aiello gerechnet, der vor ihrer Arbeitsnische auf sie wartete.

»Du erinnerst dich doch bestimmt an den Krimi, den du vor längerer Zeit eingekauft hast? Der in Marokko spielt?«

Im ersten Moment dachte sie, er habe zur Abwechslung mal eins der Bücher, deren Produktionsprozess er begleitete, tatsächlich gelesen und wolle ihr sagen, dass es ihm gefiel.

»Wir haben gerade die gebundenen Exemplare bekommen«, sagte er stattdessen.

»Dann seid ihr ja früh dran. Gut so.«

»Gar nicht gut. Die letzte Seite fehlt.«

»Das ist ein Witz, oder?«

Er zuckte mit den Schultern.

»Es ist ein Krimi, Vincent. Wenn nicht, wäre es zwar auch eine Katastrophe, aber bei Krimis müssen die Leser wissen, wer der Mörder ist. Und dieses Rätsel wird meistens erst auf der letzten Seite gelüftet.«

»Sieh es doch mal positiv. Der Krimi ist jetzt ein Mitrate-Krimi. Damit haben wir ein ganz neues Genre erfunden.«

»Betrifft es die gesamte Auflage?«

»Auch das letzte Exemplar.«

»Das geht auf dein Konto, nicht auf meins.«

»Konto hin oder her, ich werde dafür sorgen, dass dem Buchbinder die Kniescheiben zertrümmert werden«, feixte er, als wollte er die Gerüchte bestätigen, die über ihn im Umlauf waren.

Sie wartete an der Bushaltestelle in der Madison Avenue, dachte an den Fehldruck der gesamten Auflage des nun ungelösten Krimis, als ihr erneut der Brief einfiel. Kurz überlegte sie, in den Verlag zurückzukehren, sah dann auf die Uhr und entschied sich dagegen. Zwar hatte sie keine Bedenken, ihre Tochter für ein paar Stunden nach der Schule allein zu lassen, besonders wenn Hannah Field für den Tag schon alle Patienten empfangen hatte und Vivi mit selbst gebackenem Kuchen oder Plätzchen in ihre Wohnung lockte, aber sie war gerne früh genug zu Hause, um wenigstens Abendessen kochen und sich zum Essen mit Vivi an den Tisch setzen zu können.

Gleich morgen früh würde sie den Brief aus dem Müll holen. Und falls die Putzkolonne noch heute Abend durchs Büro ging und die Papierkörbe leerte, dann sollte es eben so sein. Sie hatte sowieso nicht die Absicht, ihn zu beantworten. Also eigentlich – wäre es das Beste so. Dann wäre ihr die Sache aus der Hand genommen.

Zwei

Sie stieg aus dem Bus und ging in der einsetzenden Dämmerung die 91st Street entlang. Es regnete nicht mehr, aber ein rutschiger Teppich aus Blättern lag auf dem Bürgersteig. Licht fiel aus den breiten Erkerfenstern und den aufwendig gearbeiteten Oberlichtern der Brownstones und spiegelte sich in den Pfützen. Hie und da blieb sie stehen und warf einen Blick in die hell erleuchteten Räume. Das Leben, das sich darin abspielte, faszinierte sie, die trügerische Aura der Sicherheit. Der schwache Geruch von Holzfeuer, den sie jetzt wahrnahm, stimmte sie wehmütig, aber sie hätte nicht sagen können, wonach sie sich sehnte. Jedenfalls nicht nach dem beißenden Geruch von brennendem Papier. Dann fiel es ihr ein. Der Geruch erinnerte sie an das Herdfeuer im Haus ihrer Grandmère in Concarneau. Sie und ihre Mutter hatten die Sommerferien immer im Süden verbringen wollen – einer der wenigen Streitpunkte, bei dem sie sich mit ihrer Mutter gegen den Vater verbündete –, doch ihr Vater bestand jedes Jahr darauf, seine Mutter zu besuchen. Je älter Charlotte wurde, desto mürrischer wurde sie während der Wochen in der Bretagne, desto mehr langweilte sie sich; doch was gäbe sie heute dafür, mit Vivi dorthin zu fahren. Sie stellte sich vor, wie sie beide die pappelgesäumte Straße entlanggingen und Vivi beim ersten Anblick des Meeres losrennen würde. Sie drückte ihren Rücken durch, nahm die Schultern nach hinten, um das Fantasiebild zu vertreiben, und lief weiter.

In der Mitte des Häuserblocks öffnete sie ein schmiedeeisernes Tor und stieg drei Stufen hinab. Seitlich verlief eine schmale Betonrampe. Es gab Leute, die behaupteten, Horace Field würde aus reiner Perversion weiter in dem Brownstone wohnen bleiben. Würde er mit Hannah in ein neues Apartment Building ziehen, hätte er vom Bürgersteig aus bequem in die Eingangshalle und zum Aufzug rollen können. Andere meinten, sein Verbleib in dem Haus, in dem er aufgewachsen war, bewies, dass er doch nicht der Zyniker war, als der er sich gerne präsentierte. Charlotte hatte eine dritte Theorie dafür, die sie anderen gegenüber aber noch nie geäußert hatte, schon gar nicht Horace. Die Doormen in solchen Häusern würden sich überschlagen, einem Mann im Rollstuhl ihre Hilfe anzubieten, und nicht nur wegen des Trinkgeldes. Im Großen und Ganzen waren sie anständige Leute, jedenfalls auf den ersten Blick, und viele hatten wie er im Krieg gekämpft. Doch das hätte Horace niemals toleriert. Weil ihre Beflissenheit ihn in Verlegenheit gebracht hätte, hatte er die Rampe anlegen und im Haus einen Aufzug einbauen lassen.

Sie schloss das Tor hinter sich, ging durch den mit Steinplatten ausgelegten kleinen Vorgarten voller Topfpflanzen, orange und gelb blühende Chrysanthemen, die im Abendlicht leuchteten, und schloss die mit einem schmiedeeisernen Gitter geschützte Glastür zum Foyer des Hauses auf.

Später schob sie das, was dann so unerwartet geschah, auf den Brief, den sie in den Papierkorb geworfen hatte. In dem Moment selbst dachte sie nicht daran, aber der Gedanke musste im Unterbewusstsein geschlummert haben. Es gab keine andere Erklärung für ihre Halluzination.

Eine Frau stand vor ihr, eine Hand am Kopf, die Finger zielten wie der Lauf einer Pistole auf ihre Schläfe.

Plötzlich ist Charlotte wieder in dem feuchtkalten Hausflur in der Rue Vavin. Der Blick der Concierge, hart und finster wie Kohlebrocken, folgt ihr und Vivi durch das Halbdunkel. In dem Moment, als sie die Treppe erreichen, hält sich die Concierge in dem alten Wohnhaus, in das ihre Erinnerung sie verschleppt hat, ihre zur Pistole geformten Finger an die Schläfe, als wollte sie abdrücken. »Après les boches«, zischt sie, und die Worte sind so heiß wie Dampf.

An einem anderen Abend, kurz vor der Befreiung, eilt die Concierge aus ihrer Loge und stellt sich Charlotte, die Vivi trägt, in den Weg. Nur wenige Zentimeter vor ihr hebt sie die Hand und setzt den Pistolenfinger nicht an ihre eigene, sondern an Vivis Schläfe. »Après les boches«, schmachtet sie ihr wie ein Wiegenlied ins Ohr und spannt mit dem Daumen den imaginären Hahn.

Charlotte ergriff den Türknauf und schloss die Augen. Als sie sie aufschlug, befand sie sich wieder in dem Foyer mit dem schwarz-weiß-gefliesten Boden und sah eine Frau. Nicht ihre ehemalige Concierge, sondern höchstwahrscheinlich eine von Hannahs Patientinnen, die sich vor dem goldgerahmten Spiegel ihren Hut zurechtrückte. Sie wandte sich von ihrem Spiegelbild ab und nickte Charlotte zu, bevor sie die schwere Haustür aufzog und in der Nacht verschwand.

Charlotte blieb im Foyer stehen, plötzlich schweißgebadet in ihrem Trenchcoat, obwohl sie heute Morgen das Innenfutter gar nicht eingeknöpft hatte. Sie ärgerte sich über ihre Angst, aber sie ärgerte sich auch über die Frau, die diese Angst in ihr wiedererweckt hatte. Après les boches. Die Worte hatten nie aufgehört, tief in ihrem belasteten dunklen Unterbewusstsein zu lauern und nur darauf zu warten, an die Oberfläche zu dringen. Diese Worte und noch der andere, viel schrecklichere Ausdruck, an den sie lieber nicht denken wollte.

Sie stieg die Treppe hinauf, den Aufzug benutzte sie nur selten. Die amerikanische Angewohnheit, sich mit allem Möglichen fortzubewegen, nur nicht mit den eigenen Beinen, empfand sie als Ausdruck von Faulheit. Und würde sie den Lift nehmen, hätte sie außerdem das Gefühl, in Horace’ und Hannahs Privatsphäre einzudringen. Nicht zuletzt schätzte sie die sportliche Übung. Sie war froh, dass sie nicht mehr so dürr war. Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Pariser während der Besatzungszeit im Durchschnitt zwanzig Kilo abgenommen hatten. Aber allzu viel Gewicht wollte sie auch nicht wieder zulegen.

Als sie den ersten Treppenabsatz erreichte, wurde es dunkel um sie herum, und ihr Blick ging nach oben. Eine der Glühbirnen von der Deckenleuchte war erloschen. Das war ungewöhnlich. Eigentlich hatte Hannah ein Auge auf solche Sachen. Charlotte sah hinunter ins Foyer, das vollständig im Schatten lag. Die Frau unten hatte halb abgewandt vor dem Spiegel gestanden, als sie ihren Hut richtete. Jeder hätte sie für jemand anderen halten können.

Die weiß geblümte gelbe Tapete, die Hannah vor ihrem Einzug für sie ausgesucht hatte, leuchtete förmlich. Wie Charlotte inzwischen wusste, hätten die meisten Vermieter für einen neuen Mieter einfach nur einen Eimer Farbe an die Wände geklatscht und es damit bewenden lassen, doch wie Hannah immer wieder betonte, seit sie Charlotte und Vivi vor neun Jahren nach ihrer Ankunft mit dem Schiff abgeholt hatte, waren die beiden für sie mehr als nur Mieter. Horace hatte Charlottes Vater vor dem Krieg gekannt, und Hannah freute sich auf ein Kind im Haus. Deswegen hatte sie die Wohnung gestrichen beziehungsweise tapeziert, mit Vivi Vorhänge und einen Teppich gekauft und sogar den alten Kühlschrank durch einen neuen ersetzt. Charlotte war es seinerzeit nicht klar gewesen, da sie nur den Überfluss in diesem Land gesehen hatte, doch jetzt wusste sie, dass Hannahs Geschick, so kurz nach dem Krieg ein neues technisches Gerät zu ergattern, Beleg für ihren Einfallsreichtum war.

Das Tapetenmuster hieß »Innocence«. Wo sonst als in Amerika, dachte Charlotte, meinten die Leute, einen Raum mit Unschuld tapezieren zu können. Trotzdem bewunderte sie Hannahs Geschmack.

Der über dem Kaminsims aufgehängte Spiegel neigte sich leicht nach vorne, sodass sie sich an dem kleinen, schräg zwischen dem Kamin und der Schwingtür zur Küche stehenden Tisch sitzen sehen konnten; Charlotte in bequemer Kleidung, Hemd und Hose, die sie angezogen hatte, um das Abendessen zu kochen, und Vivi noch immer in ihrer Schuluniform.

»Wieso redest du eigentlich nie von meinem Vater?«

»Warum sprichst du nie über meinen Vater«, verbesserte sie Vivis Ausdrucksweise. Sie wollte damit keine Zeit schinden, jedenfalls nicht nur.

»Warum sprichst du nie über meinen Vater?«, wiederholte Vivi.

Die Frage war nicht neu. Vivi fragte gelegentlich nach dem Vater, den sie nicht gekannt hatte. Aber es war das erste Mal, dass aus der Frage ein Vorwurf herauszuhören war. Oder interpretierte Charlotte den nur aufgrund der eingebildeten Begegnung mit der Concierge im Foyer hinein?

»Ich spreche doch über ihn. Ich spreche immerzu über ihn. Was willst du wissen?«

Vivi zuckte mit den Achseln. »Wie war er so?«

Charlotte überlegte einen Moment. Jetzt wollte sie definitiv keine Zeit schinden, vielmehr versuchte sie, sich zu erinnern. Es war, als wollte man das Gefühl während eines Fiebertraums einfangen, nachdem die Körpertemperatur wieder auf einen normalen Wert gesunken war. Nachdem die Temperatur der ganzen Welt wieder gefallen war. Manchmal fragte sie sich, ob sie auch geheiratet hätten, wenn der Krieg nicht dazwischengekommen wäre, wenn er nicht einberufen worden wäre, wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätten, die Zeit liefe ihnen davon, wenn sie sich nicht wie in einem tragischen Theaterstück oder Film vorgekommen wären. Hätte ihre Haut auch in friedlicheren Zeiten bei seiner Berührung gekribbelt? Hätten sie sich vielleicht zärtlich umarmt, statt sich verzweifelt aneinanderzuklammern? Sie bereute nichts. Sie war dankbar für das gemeinsam Erlebte. Und ohne Laurent gäbe es Vivi nicht. Doch diese ruhelose Intensität, die sie mit der Zeit mit ihm verband, konnte sie ihrer Tochter nicht beschreiben.

»Er hatte einen außergewöhnlichen Verstand«, sagte sie schließlich.

»Was heißt das?«

»Es heißt, dass mir nie langweilig mit ihm wurde. Mehr noch, ich war fasziniert von ihm. Er sah Dinge, die andere nicht sahen, stellte Zusammenhänge her, die andere nicht erkannten.« Das traf es schon besser.

»Was noch?«

»Er hatte einen fein kalibrierten moralischen Kompass.«

»Was ist das?«

»Ein untrügliches Gespür für das, was richtig und was falsch ist.«

»Oh.«

Es war eindeutig nicht das, was Vivi hören wollte.

»Er wäre stolz auf dich gewesen«, versuchte Charlotte es weiter.

»Woher weißt du das?«

»Weil du klug bist. Er mochte kluge Menschen. Und hübsch.« Vivi blickte kritisch. »Das mochte er auch. Jedenfalls wenn Frauen hübsch waren. Und weil du auch einen moralischen Kompass hast.«

»Wirklich?«

»Andere Menschen sind dir nicht egal. Du versuchst, das Richtige zu tun.«

Vivi dachte darüber nach. »Schon, aber manchmal weiß ich nicht, was richtig ist.«

»Da bist du in guter Gesellschaft.«

»Auch von Erwachsenen?«

»Gerade von denen.«

»Aber eben hast du doch gesagt, mein Vater hätte es gewusst.«

Charlotte überlegte. Laurent hatte Prinzipien und Skrupel gehabt, aber auch nicht viele Entscheidungen treffen müssen. Einer der Vorteile eines frühen Todes, vielleicht der einzige. Das aber würde sie Vivi nicht sagen. »Er hat sein Bestes versucht.«

Vivi aß ein Stück von ihrem Omelett, endlich. »Erzähl mir mehr über ihn.«

Charlotte dachte nach. Sie war Lektorin, hatte den ganzen Tag mit Wörtern und Bildern und Geschichten zu tun, da würde sie doch wohl einen Vater erschaffen können, der Vivis Interesse weckte.

»Er war ganz aus dem Häuschen, als du geboren wurdest.«

»Ich dachte, er wäre nicht dabei gewesen.«