Die Bundespräsidentin - Kerstin Rachfahl - E-Book

Die Bundespräsidentin E-Book

Kerstin Rachfahl

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Beschreibung

Es ist das höchste Amt in Deutschland. Sie ist die erste Bundespräsidentin. Es ist die größte Herausforderung ihres Lebens. Völlig überraschend wird Sarah Heitkamp, eine parteilose Außenseiterin, zur ersten Bundespräsidentin in Deutschland. Kaum im Amt, muss sie ihre Krisenfestigkeit unter Beweis stellen. Ihr Wille, Konflikte mit zivilen Mitteln, statt mit militärischer Härte zu lösen, schafft ihr innenpolitisch viele Feinde. Je erfolgreicher sie ist, desto mehr verhärtet sich die Front ihrer Gegner. Doch wie wird man eine Bundespräsidentin los, die gegen keine Gesetze verstößt? Kriminalhauptkommissar Oliver Lindner, Leiter der Sicherungsgruppe für das Bundespräsidialamt, bekommt mit der frisch gewählten Bundespräsidentin alle Hände voll zu tun. Wie lassen sich Gefahren auf das Leben einer Person abwenden, wenn sich diese ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit in jede Krisensituation stürzt? Doch auch Oliver gerät in den Bann von Sarah und ihrem unerschütterlichen Glauben an die Vernunft des Menschen. Mit jedem vereitelten Anschlag wächst seine Entschlossenheit sie zu beschützen. Ein schier aussichtloser Kampf beginnt.

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Die Bundespräsidentin

Kerstin Rachfahl

Deutsche Erstausgabe Dezember 2017

Copyright © 2017 Kerstin Rachfahl, Hallenberg

Lektorat, Korrektorat: Martina Takacs, dualect.de

Buchcover: Anne Gebhardt, annegebhardt.design

Kerstin Rachfahl

Heiligenhaus 21

59969 Hallenberg

E-Mail: [email protected]

Webseite: www.kerstinrachfahl.de

Alle Rechte einschließlich dem des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für meine Schwester Heike, die bei ihrer Arbeit als Grundschullehrerin jeden Tag am Fundament unserer demokratischen Gesellschaft arbeitet.

Ich wünsche mir in der Ausbildung unserer Kinder viele engagierte Menschen, die voller Leidenschaft hinter ihrem Beruf stehen, so wie du, liebe Heike. Ich wünsche mir endlich eine Regierung, die begreift, dass es das Wichtigste für die Zukunft Deutschlands ist, in die Ausbildung unserer Kinder zu investieren.

»Es kommt nicht so sehr darauf an, dass die Demokratie nach ihrer ursprünglichen Idee funktioniert, sondern dass sie von der Bevölkerung als funktionierend empfunden wird.«

Rudolf Augstein

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Nachwort

Bücher von Kerstin Rachfahl

Über die Autorin

1

Sarah unterdrückte ein Schmunzeln angesichts der erregten Diskussion in ihrem Hörsaal. Die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik führte jedes Mal dazu, dass sich die Studenten ereiferten. Aufmerksam hörte sie den verschiedenen Argumentationen zu. In ihren Gedanken tauchte kurz die Erinnerung an die Pressekonferenz auf, bei der sie von ihrem Amt als Bundesaußenministerin zurückgetreten war. Für sie war dieser Rücktritt eine Frage der Ethik gewesen, nicht der Moral, entgegen den Äußerungen der Pressemedien, die wochenlang über die Hintergründe debattiert und jede Menge falsche Informationen und Aussagen publiziert hatten. Aber nicht nur den Medien fiel die Differenzierung zwischen Ethik und Moral schwer, auch die Philosophen stritten darüber. Deshalb liebte sie ihre Vorlesung zur Entwicklung neuer, alternativer politischer Leitkulturen, zu der auch eine Auseinandersetzung mit dem Manifest des Evolutionären Humanismus gehörte.

Die Tür wurde leise geöffnet, und eine attraktive Endfünfzigerin in marineblauem Kostüm und weißer Bluse schlüpfte zum Hörsaal herein. Sie setzte sich auf einen freien Platz in der oberen Reihe und nickte Sarah kurz zu als Zeichen, dass sie ihre Vorlesung einfach fortsetzen sollte.

Nur langsam fasste sich Sarah. Der Anblick der Frau hatte ein Gefühl in ihr hervorgerufen, gegen das sie schwer ankam. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Studenten zu, die im Eifer des Wortgefechts den Neuankömmling gar nicht bemerkt hatten.

»Ich denke, die Diskussion hat eine Menge unterschiedlicher Positionen aufgedeckt«, unterbrach sie den Wortwechsel. »Als nächste Aufgabenstellung formulieren Sie bitte die bisherigen Argumente und stellen sie tabellarisch einander gegenüber. Auf diese Weise bekommen wir eine Struktur in Ihren Meinungsaustausch. So können Sie sich besser in den Gedankengang Ihrer Kommilitonen mit der jeweils anderen Auffassung hineinversetzen. Sina, sind Sie so lieb und verbinden Ihren Laptop mit dem Beamer?«

»Ich?«

»Nun, ich nehme an, dass Sie sich bereits einige Gedanken gemacht haben. Sie haben nicht nur aufmerksam zugehört, sondern sich auch viele Notizen zu den Äußerungen Ihrer Kommilitonen gemacht. Das ist eine gute Ausgangsbasis für die strukturierte Zusammenfassung, oder irre ich mich?«

Sina lief feuerrot an. Die Studentin erinnerte Sarah oft an sie selbst in jungen Jahren.

Sie hatte auch eher zugehört als sich an Diskussionen zu beteiligen. Es dauerte lange, bis sie sich eine Meinung bildete. Hatte sie sich jedoch eine geformt, brauchte es stimmige Argumente, wenn man sie davon abbringen wollte. Sie hatte in ihren Aussagen schon immer eine klare Linie erkennen lassen, die sie auch politisch verfolgt hatte. Das hatte dazu geführt, dass die Presse sie als eine integre, verlässliche Person ansah. Man hatte sie durch den Kakao gezogen, sie kritisiert, als überheblich und arrogant bezeichnet oder auch als naiv und feige, je nachdem, welche Zeitung man las oder welche Sendung man schaute. Doch am Ende war etwas anderes in der öffentlichen Meinung haften geblieben – eine Art Bewunderung für ihre Geradlinigkeit, mit der sie ihrem Gewissen trotz aller damit einhergehenden Konsequenzen gefolgt war. Deshalb war sie auch heute noch eine beliebte Gesprächspartnerin bei politischen Talkshows. Ihr wacher, analytischer Verstand, die ethische Sichtweise, mit der sie die Konflikte betrachtete – das hatte innerhalb der deutschen Regierung mehr als einmal eine Eskalation unter den verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen verhindert. Die Parteien zogen sie gern als Mediatorin bei Interessenskonflikten hinzu, weil sie grundsätzlich Lösungen suchte, die von allen Beteiligten als fair erachtet wurden. In der Öffentlichkeit sprach sie nicht über ihre Arbeit. Es frustrierte sie, dass man in der Politik weiterhin davon ausging, dass Menschen vorrangig über ihren Eigennutz und von außen gesteuerte Motivationen – wie Belohnungen in Geldform – zum Handeln gebracht wurden. Sie hingegen glaubte an das Gute im Menschen, an sein Mitgefühl, den Gemeinsinn und die Solidarität, womit man sozialere Wirtschaftsformen und eine sozialere Politik würde entwickeln können, auch ohne dass das Wirtschaftssystem zusammenbrach. Die Herausforderung bestand darin, es zu wagen.

»Stimmt, ich habe mir Notizen gemacht«, gab Sina zu, »aber ich bin unsicher, ob ich alle Argumente erfasst und auch verstanden habe. Ich finde die Differenzierung sehr schwer.«

»Dann ist es in jedem Fall eine Basis, die wir bei Bedarf ergänzen, verfeinern oder – wenn nötig – konkretisieren können, einverstanden?«

»Los, Sina, mach schon, umso schneller sind wir fertig und können ins Wochenende«, ermunterte ihr Sitznachbar sie.

»Tobias, kann es sein, dass Sie den Sinn eines Studiums missverstehen?«, rügte Sarah den jungen Mann.

»Inwiefern, Frau Professor Heidkamp?«

»Dies hier ist eine freiwillige Angelegenheit. Niemand zwingt Sie, an meiner Vorlesung teilzunehmen.«

»Aber Ihre sind die interessantesten. Wussten Sie, dass die Fakultät sie deshalb gern in die letzte Vorlesungsstunde am Freitag legt? Schauen Sie sich um. Der Hörsaal ist voll, das ist ein Kompliment für Sie. Heute steht ein langes Wochenende an, und Sie wissen genau, dass wir es alle kaum erwarten können. Und aus dem Grund möchten Sie Sina nach vorne holen – weil wir mithilfe ihrer Aufzeichnungen rascher ans Ziel kommen. Oder sehe ich das falsch?«

Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Sehen Sie, Tobias, es ist allzu leicht, die eigene Meinung ganz subjektiv auf einen anderen Menschen zu projizieren. Ich habe Sina gewählt, weil ich davon ausgehe, dass sie die Differenzierung in ihrer Argumentation wahrgenommen hat und ihre Wahrnehmung deshalb ein gutes Fundament bildet, um über die feinen Unterschiede zwischen der Ethik und der Moral Klarheit zu erhalten.«

Sie schloss die Tür hinter sich. Der Raum, den ihr die Fakultät zur Verfügung stellte, war klein. Katharina Leopold zuckte nicht mit der Wimper, als sie sich auf dem Besucherstuhl niederließ. Die Beine elegant zu einer Seite gelegt strich sie den Rock ihres Kostüms glatt und entfernte einige imaginäre Fussel – das einzige Zeichen ihrer Nervosität.

Mit offener Neugierde ließ sich Sarah auf ihren Bürostuhl plumpsen. Die Beine in der beigen Cargohose legte sie übereinandergeschlagen auf den einzigen freien Platz auf ihrem Schreibtisch, der den winzigen Raum fast vollständig ausfüllte. Neben dem Computerbildschirm stapelten sich dort Bücher, Abhandlungen, Hefte und Seminararbeiten ihrer Studenten.

»Also Katharina, was führt dich nach all den Jahren des Schweigens in meine kleine Welt?«

»Du bist viel unterwegs, auch international.«

»Das bringt meine Arbeit mit sich.«

»Ich hörte, dass du vor Kurzem eine Fortbildung für die Weltbank gegeben hast.«

»Viele Wirtschaftsunternehmen und internationale Organisationen interessieren sich für eine soziale Wirtschaftsreform. Der reine Kapitalismus ist im Scheitern begriffen, genauso wie der reine Kommunismus. Da ist der Bedarf an neuen Theorien und Ansätzen groß.«

»Du warst letzten Monat in Princeton.«

Sarah nahm die Füße herunter, beugte sich nach vorn und legte die Arme auf den Tisch.

»Small Talk war noch nie unsere Stärke, Katharina. Sag einfach, was du willst. Soll ich vielleicht auf dem kommenden Parteitag einen Vortrag halten?« Sie grinste amüsiert über ihren eigenen Scherz. Sie beide wussten, dass das nicht infrage kam.

Die Fraktionsvorsitzende zupfte wieder an ihrem Rock. So langsam versetzte dieses Verhalten Sarah in eine neugierige Anspannung. Als sie sich für die Politik entschieden hatte, war Katharina lange ihre Mentorin und Freundin gewesen. Erst als Sarah ihr Amt als Bundesaußenministerin niederlegte und damit nach Katharinas Ansicht die Partei in eine Krise steuerte, war es zum Bruch zwischen ihnen gekommen. Darum war Sarah aus der Partei ausgetreten. Sie hatte es auf sich genommen, den Fokus der Medien ganz auf sich zu lenken. Seitdem herrschte zwischen ihnen absolute Funkstille, obwohl sie mehr als einmal über verschiedene Kanäle versucht hatte, mit Katharina Kontakt aufzunehmen. Vergeblich – bis zum heutigen Tag, als sie wie aus dem Nichts in ihre Vorlesung geplatzt war.

Sarah wurde ernst. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich dich nicht nur maßlos enttäuscht, sondern auch zutiefst verletzt habe. Ich hätte dir gern persönlich meine Beweggründe erklärt. Ich wusste, dass du es mir niemals verzeihen wirst, doch vielleicht hättest du mich besser verstanden.«

Katharina sah sie mit dem frostigen Blick aus ihren blauen Augen an, den ihre Parteigenossen so fürchteten. Der kurze, praktische Pagenschnitt setzte ihr ovales Gesicht vorteilhaft in Szene. Mittlerweile färbte sie ihre Haare nicht mehr kastanienbraun, sondern in einem dunkelbraunen Ton mit helleren Strähnen. Ihre vollen Lippen waren in einem dezenten Rotton gehalten. Sie sah wesentlich jünger aus als achtundfünfzig Jahre, fand Sarah und wünschte sich, dass ihr das Alter einmal ebenso gut stehen würde.

»Enttäuscht? Es hat zwei Wahlperioden gedauert, bis wir uns aus der Krise gearbeitet hatten. Du hast deinen Stolz über das Wohl der Partei und unserer Wähler gestellt. Du hast uns alle hängenlassen, als du ausgetreten bist.«

Sarah atmete tief durch. Die Schärfe in Katharinas Stimme zeigte ihr, wie viel Überwindung es die Fraktionsvorsitzende gekostet haben musste, ihr heute gegenüberzutreten.

»Du hättest wenigstens in der Partei bleiben und deine Loyalität zeigen können«, setzte Katharina eine Spur ruhiger hinzu.

»Ich dachte damals, dass du genau das von mir erwartest – dass ich austrete, damit meine persönliche Entscheidung, so wie ich es immer betonte, keine Auswirkung auf die Partei hat.«

Ihrer Meinung nach hatten die internen Querelen in der Partei diese in die Krise gestürzt, weil sie in der Regierung gegenüber dem großen Partner kein Rückgrat gezeigt hatte. Ihr Rücktritt hatte ein konstruktives Misstrauensvotum der Opposition ausgelöst, und nach Helmut Kohl kam so nun zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte der Bundeskanzler durch das Votum anstatt durch eine Wahl an die Macht. Daraus war eine überparteiliche Diskussion zum Thema politische Integrität aufgekommen, eine in ihren Augen längst fällige Debatte und das einzig Gute, was aus ihrem Rücktritt entstanden war. Koalitionsverhandlungen wurden im Hinblick auf die getroffenen Wahlversprechen intensiver geführt. Doch was ihr weiterhin fehlte, war die Offenheit im Umgang mit unbequemen, aber notwendigen Entscheidungen für den Staat. Solange Wähler auf ihren Eigennutz reduziert wurden, würde sich das nicht ändern.

Katharina machte eine knappe Handbewegung, als würde sie das Argument beiseitewischen. »Deine Zusage humanitärer Hilfe für ein terroristisches Land war ein Schlag ins Gesicht unserer Verbündeten. Aus Eitelkeit, weil du unbedingt beweisen wolltest, dass wir die Vorreiter für die zivile Konfliktbearbeitung sind, und am Ende mussten die Opfer des Anschlags im Fußballstadion – sieben Menschen – auf deutschem Boden den Preis für deine Fehleinschätzung zahlen.«

Sarah spürte einen scharfen Schmerz in ihrem Herzen. Ja, sie fühlte sich verantwortlich dafür, dass diese Menschen gestorben waren, als hätte sie selbst das Attentat verübt.

»Es wurde nie bewiesen, dass die Selbstmordattentäter mit der Gruppierung um den sogenannten Islamischen Staat im Zusammenhang standen.«

»Dem Daesh«, korrigierte Katharina.

Sarah wusste, dass sie oft kritisiert wurde, weil sie die Gruppierung bei deren selbst gewähltem Namen nannte. Aber Dialoge zu führen, indem man den einen Gesprächspartner mit einem herablassenden Wort bezeichnete, führte in dieser kulturellen Umgebung zu nichts. Die Franzosen hatten das arabische Akronym Daesh aufgebracht, was »Islamischer Staat im Irak und der Levante« bedeutete – verkürzt auch ISIL im Deutschen. Die Anfänge der Organisation gingen auf den irakischen Widerstand zurück, der unter dem Namen al-Qaida im Irak zweifelhaften Ruhm errang. Daraus wurde 2007 der »Islamische Staat im Irak«, abgekürzt ISI, später, von 2011 bis 2014, der »Islamische Staat im Irak und in Syrien«, ISIS oder eben ISIL, da als Levante das historische Syrien bezeichnet wird. Parallel zu dieser Entwicklung blieb der Name al-Qaida im Irak bestehen. Das arabische Akronym Daesh wurde jedoch von den Anhängern des IS abgelehnt, da das Wort unterschiedlich verwendet werden konnte. Damit bezeichnete man jemanden als Fanatiker oder als ›jemand, der anderen seinen Willen aufzwingt oder Zwietracht sät‹, und natürlich hörten das die Anführer der Organisation nicht gern.

»Wir geben dem Terror nach, geben ihm eine öffentliche Bühne für seine Ideen, wenn wir uns der Angst beugen. Jede Verschärfung der Gesetze, jede Einschränkung der bürgerlichen Freiheit ist ein Erfolg für den Terror.«

»Deshalb müssen wir mit aller Härte zurückschlagen, mit Sanktionen und gegebenenfalls auch mit militärischem Einsatz.«

»Wie kannst du mit jemandem verhandeln, wenn du ihm eine Waffe an die Schläfe hältst?«

»Wie kannst du mit jemandem verhandeln, der aus dem Hinterhalt agiert und die Zivilbevölkerung angreift – wie demjenigen humanitäre Hilfe anbieten?«

»Weil wir nur dann den Strom der Sympathisanten unterbrechen können, wenn wir der Zivilbevölkerung in diesem Land zeigen, dass wir anders sind.«

»Du hast das alles auf eigene Faust in die Wege geleitet, und wir mussten dafür geradestehen«, warf ihr Katharina verbittert vor.

»Es war mit dem Staatssekretär des Bundeskanzlers abgesprochen. Auch wenn sich der Bundeskanzler am Ende aus der Krise herauswand, indem er seinen Sekretär zum Bauernopfer machte.«

»Nenn mir einen Grund, weshalb der Bundeskanzler dich damals hätte beauftragen sollen, Syrien die Zusage zu geben, ohne es zuvor wenigstens mit den USA oder Russland abzusprechen?«

Sarah lehnte sich in ihrem Bürostuhl zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Der Grund ist derselbe, aus dem ich mich bereit erklärte, die Aufgabe zu übernehmen. Es hätte den Grundstein für einen Dialog mit den unterschiedlichen Gruppierungen legen können, die in dieser Region agieren. Ein erster Schritt in Richtung einer zivilen Konfliktbearbeitung im Nahen Osten. Ein Samenkorn der Vernunft, das die Hoffnung geborgen hätte, auf diesem Pfad weiter zu wandeln. Glaubst du denn ernsthaft, wir könnten mit militärischer Intervention, Waffenlieferungen und Drohnenangriffen die Konflikte auf dieser Welt lösen?«

»Nein«, seufzte Katharina. »Du weißt, dass auch ich ein Befürworter der zivilen Konfliktbearbeitung bin. Aber ich bin auch Realist. Die Zunahme von terroristischen Anschlägen in den westlichen Ländern trägt in der öffentlichen Meinung dazu bei, dass man nach Sanktionen und einer militärischen Intervention ruft. Hast du ernsthaft geglaubt, die anderen Länder würden uns auf die Schulter klopfen, wenn du einem totalitären Regime wirtschaftliche und finanzielle Hilfe zusagst? Wenn du riskierst, dass diese Gelder in falsche Hände geraten und womöglich neue Anschläge damit finanziert werden?«

»Jede finanzielle Hilfe war an ein klar vorgegebenes Vorhaben gekoppelt. Die Bereiche wurden in langen Gesprächen mit den Hilfsorganisationen abgesprochen. Es wäre kein Bargeld geflossen, stattdessen hätte man mit Gütern, Maschinen, Bildung, Manpower geholfen, die Region wieder bewohnbar zu machen. Genau das, was die Amerikaner uns nach dem Zweiten Weltkrieg haben zuteilwerden lassen. Sag mir, wie man dem Hass den Boden entziehen soll, wenn die Menschen immer damit rechnen müssen, Opfer einer Drohne zu werden, sobald sie ihre Häuser verlassen. Und das ist nur eines von vielen Beispielen. Wann soll ein solches Land wieder zu einem Ort werden, an dem Menschen leben, ihrem Beruf nachgehen und ihren Lebensunterhalt verdienen können, wenn man dort permanent den Tod vor Augen hat? Wie löst du einen Konflikt, der von mehreren Seiten mit unterschiedlichen Interessen geschürt wird?«

»Manchmal ist eine harte Linie die bessere.«

»Ich kannte einst eine Politikerin, die ich absolut bewunderte, und die hätte gesagt, dass wir Konflikte nur lösen können, wenn wir die Kontrahenten an einen Tisch bekommen.

»Aber nur gemeinsam mit unseren Verbündeten.«

Sarah hob die Hände in einer hilflosen Geste. Sie hatte noch immer keine Ahnung, weshalb Katharina sie aufgesucht hatte. Um ihr Vorwürfe zu machen? Sie an ihre Schuld zu erinnern?

»Wenn du glaubst, Sarah, ich wäre gekommen, um dir die Absolution für dein damaliges Handeln zu erteilen, hast du dich geirrt. Du hast in deiner Arroganz und Selbstherrlichkeit einen unverzeihlichen Fehler begangen. Du hättest den Schritt wenigstens mit dem Fraktionsvorstand abstimmen müssen. Aber nein, auch dazu warst du nicht bereit.«

»Weil mich der Bundeskanzler um vollkommene Verschwiegenheit bat.«

»Der Staatssekretär, nicht der Bundeskanzler. Arroganz und Naivität. Hast du einmal darüber nachgedacht, dass es eine Falle für dich und uns gewesen ist, in die du nur allzu bereitwillig tapptest? Du warst der Liebling der Presse, die Vorzeigepolitikerin unserer Partei. Ja, im Grunde hätte es dein Sprungbrett für das höchste Regierungsamt in Deutschland werden können, eine zweite weibliche Bundeskanzlerin – nach Angela Merkel.«

»Den Ehrgeiz habe ich nie besessen.«

»Nein. Hättest du ihn gehabt, wäre dir dieser Fehler nicht unterlaufen.«

»Wir können die Vergangenheit nicht rückgängig machen.«

»Nein.«

Sie schwiegen beide, musterten sich. Schließlich rang sich Katharina zu einer Entscheidung durch.

»Ginge es nach mir, wäre ich heute nicht zu dir gekommen.«

»Weshalb bist du gekommen?«

»Ich möchte dir ein Angebot unterbreiten.«

»Du – mir? Ein Angebot? Warum?«

»Weil es in der Politik nicht um persönliche Befindlichkeiten geht, sondern darum, was das Beste für unser Land ist.«

»Und wie um alles in der Welt könnte ich nach dem, was du mir vorgeworfen hast, dabei eine Rolle spielen?«

»Indem wir dich als Kandidatin für das Bundespräsidentenamt zur Wahl stellen.«

»Das ist ein Scherz?«

»Sehe ich aus, als würde ich scherzen? Glaub mir, auf meiner Liste bist du die Letzte.«

»Zu Recht. Die Linie, die unser aktueller Bundespräsident Jens Richter verfolgt, steht völlig konträr zu allem, woran ich glaube. Er verkörpert den Typus der starken Hand. Mehr Polizei, mehr Militärintervention und mehr Gesetze, die die persönliche Freiheit einschränken.«

»Du könntest das Thema der zivilen Konfliktbearbeitung in den Mittelpunkt deiner Arbeit stellen.«

»Ach, auf einmal? Und was ist mit deinen Vorwürfen von eben?«

»Es ist ein repräsentatives Amt, kein Regierungsamt. Du könntest keine Hilfeleistungen zusagen.«

»Aber einem anderen Land den Krieg erklären«, konnte sich Sarah die sarkastische Anmerkung nicht verkneifen. In letzter Zeit hatte das unter der Bundespräsidentschaft von Jens Richter durchaus im Raum gestanden. Sie war froh, dass seine zweite Amtszeit nun zu Ende ging.

Katharina lächelte nur milde.

Sarah atmete tief durch. Manchmal übermannten sie einfach ihre Emotionen, und das ärgerte sie, aber immerhin wusste sie es besser.

»Stellt euch hinter Hendrik Raab. Er wird einen gemäßigten Kurs fahren und das Thema Familie in den Mittelpunkt seiner Amtszeit stellen, damit könnt ihr leben.«

»Und was, wenn Ulrich Uhland gewinnt?«

Sarah schwieg. Uhland galt als konservativ, war ein Ritter des Heiligen Grals und damit fest in der katholischen Kirche verwurzelt, durchaus ein kritisches Element in der aktuellen innenpolitischen und außenpolitischen Situation. Niemand mochte den erhobenen Zeigefinger der Deutschen.

»Bei den Umfragen liegt er weit vorn.«

»Die Opposition fährt eine smarte Werbekampagne. Stellt euch hinter Raab, bringt einen Social-Media-Experten rein, das ist eure einzige Chance. Mich jetzt in der kurzen Zeit, die noch verbleibt, als weitere Kandidatin ins Rennen zu schicken, kann das Lager nur weiter spalten.«

»Und was, wenn wir wüssten, dass wir mit dir als Kandidatin viele Abgeordnete aus der Opposition und auch Landtagsabgeordnete auf unsere Seite bekämen?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht die Lösung, Katharina. Ich habe einmal meine Ehe für ein politisches Amt riskiert. Ich werde das kein zweites Mal tun.«

Katharina betrachtete sie einen Moment lang schweigend.

»Denk über meinen Vorschlag nach. Besprich dich mit deinem Mann. Es ist das höchste Amt, das der Staat zu vergeben hat, mit der größten politischen Freiheit. Keine Regierungsverantwortung, keine Wahlversprechen, keine Parteilinie. Du könntest gesellschaftlich wichtige Themen aufgreifen, Gespräche leiten und mit jedem Staat auf der Welt Kontakt aufnehmen, um unserer Regierung den Weg zu ebnen. Sei nicht dumm, Sarah, das ist deine große Chance, um wiedergutzumachen, was du neun Jahre zuvor verbockt hast.«

Katharina erhob sich, ging zur Tür, ergriff die Klinke und verharrte. »Du wärst die erste Frau auf diesem Posten, und das Amt würde dir all das bieten, wovon du träumst.«

Sie saß nur da und starrte die Tür an. Erst als die Putzfrau ihren Kopf hereinsteckte und fragte, wie lange sie noch bleiben wollte, erhob sie sich, schaltete ihren Computer aus und packte zwei Bücher und einen Stapel Seminararbeiten in ihre Tasche.

Wollmütze, Fleecehandschuhe und ihre Daunenjacke machten die Kälte, die draußen auf sie wartete, erträglich. Langsam ging sie zur S-Bahn-Haltestelle, setzte sich auf die Bank. In einem seltsam entrückten Zustand betrachtete sie von dort aus das Treiben der Menschen um sie herum. Wie durch Watte nahm sie die Geräusche in ihrer Umgebung wahr, die einfahrende S-Bahn, die aussteigenden Menschen. Gleichzeitig gab es Szenen, die gestochen scharf in ihren Gedanken ankamen. Der alte Mann, dessen Hand mit dem Stock zitterte, während er seinen Fuß über die Schwelle setzte. Die Mutter mit ihren zwei Kindern und dem Kinderwagen, die gehetzt angerannt kam und der eine junge Frau beim Einsteigen half.

Bundespräsidentin.

Sarah schüttelte langsam den Kopf, als könnte es das Taubheitsgefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, vertreiben. Erst als die S-Bahn losfuhr, wurde ihr bewusst, dass es ihre gewesen war, in die sie hätte einsteigen sollen.

2

Katharina fuhr die Auffahrt zu der alten Villa ihres Bruders hoch, die früher ihr Elternhaus gewesen war. Das Gespräch mit Sarah hatte sie emotional völlig erschöpft. Ihre Begegnung hatte sie mehr aus der Bahn geworfen als erwartet. Bei Gott, diese Frau hatte auch mit 45 Jahren nichts von ihrem jugendlichen Charme verloren. In der Runde ihrer Studenten musste man schon genau hinsehen, um in ihr die Professorin zu erkennen, was nicht nur an ihrem jungen Aussehen lag, sondern an ihrer sorglosen, fröhlichen Art, der Offenheit, mit der sie mit Menschen umging. Die Frau hatte weder Klasse noch Stil. Das war schon damals schwierig gewesen, weshalb sie ihr eine Stylistin empfohlen hatte. Schließlich konnte sie als Außenministerin nicht in Cargohose, Lederjacke und Turnschuhen zu Staatsbesuchen aufbrechen.

Die Haushälterin ließ Katharina ins Haus. Ihre Schwägerin war mit den Kindern in Sankt Moritz, in dem Schweizer Chalet, das Andreas dort gekauft hatte. Er wollte erst am Wochenende nachreisen. Er besaß viele Immobilien in den Steueroasen der Welt.

Er war nicht allein in seinem Büro. Ein Mann in einem eleganten Anzug – keine Markenware, sondern handgefertigt – erhob sich, als sie hereinkam. Er überragte sie um mehr als einen Kopf, was bedeutete, dass er an die eins neunzig groß sein musste. Sein dunkelbraunes, dichtes Haar war mit viel Gel aus dem Gesicht gestylt, und sein Bart verlief in einem dieser modernen Schnittformate nur die Kinnkante entlang sowie in einer schmalen Linie von der Mitte des Kinns zur Lippe. Das gab seinem jungen Gesicht eine männliche Note und betonte die Lippen. Ein überhebliches Lächeln glitt über sein Gesicht. Er war sich seiner Wirkung auf Frauen sichtlich bewusst.

»Guten Abend, Frau Leopold. Wolfram Fastabend. Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er reichte ihr eine feingliedrige Hand.

Die Augenbrauen hochziehend übersah sie sie demonstrativ und wandte sich ihrem Bruder zu. »Dauert es noch lange?«

»Nein, wir sind fertig. – Ich erwarte dann Ihren Vorschlag, Wolfram.«

»Er wird morgen früh pünktlich um acht Uhr auf Ihrem Tisch liegen«, versicherte der Lackaffe und verließ sie.

Katharina ging an den Tisch, auf dem die alkoholischen Getränke standen, und schenkte sich einen Sherry ein.

»So schlimm?«

Sie kippte das erste Glas hinunter und schüttete sich ein zweites ein, bevor sie auf dem Besucherstuhl Platz nahm. Ihr Bruder war hinter seinem wuchtigen alten Eichenschreibtisch sitzen geblieben.

»Es ist ein Fehler«, seufzte sie.

»Sie weiterhin jungen Leuten Flausen in die Köpfe setzen zu lassen und sie weiterhin auf Symposien und internationalen Kongressen sprechen zu lassen, wäre ein Fehler.«

Katharina schnaubte. »Es ist das höchste Amt. Du gibst ihr damit eine noch größere Reichweite.«

»Und jede Menge Konflikte, an denen sie sich die Zähne ausbeißen wird. Ein weiterer Anschlag auf deutschem Boden, und sie verliert ihr Gesicht. Egal ob es eine Amtszeit dauert oder sie schon nach einer kurzen Zeit zurücktritt, es wird uns reichen, um eine Alternative aufzubauen.«

»Wen?«

»Wir sind dran.«

»Was passt euch an Uhland nicht?«

»Du kennst unseren Konflikt mit Uhland. Er ist ein Moralapostel, ein Saubermann, der am liebsten jeden Waffenhandel unterbinden möchte. Das können wir nicht zulassen. Das Liefern von Waffen ist ein wichtiger Baustein zur Destabilisierung der östlichen und afrikanischen Länder. Also, wird sie das Angebot annehmen?«

»Keine Ahnung.«

»Du solltest es ihr schmackhaft machen.«

»Sie ist nicht blöd. Sie hätte es mir niemals abgekauft, wenn ich so getan hätte, als wären wir wieder beste Freundinnen.«

»Du magst sie immer noch, obwohl sie mit ihrem Handeln eine ganze Regierung in die Knie gezwungen hat.«

»Ich hasse sie.«

»Also gut, dann werde ich wohl doch Volker ins Spiel bringen müssen.«

Katharina seufzte. »Wie du meinst.«

Nervös wischte sich Sarah die Hände ab und öffnete die Haustür, um rasch die Männer einzulassen, bevor neugierige Nachbarn die Besucher identifizieren konnten. Ein schwarzer Audi mochte in der Gegend vielleicht nicht auffallen, aber wenn mehrere Anzugträger ausstiegen, einem anderen die Wagentür öffneten und ihm Geleitschutz gaben, kapierte jeder, dass es sich nicht um einen alltäglichen Besuch handelte.

Die zwei Security-Beamten – einer davon eine Frau – blieben drinnen an der Haustür stehen. Sie hatte darum gebeten, dass sie hereinkamen und nicht draußen blieben. Immerhin hatten sie ein ziviles Kennzeichen verwendet, nicht die 0-2, das offizielle Kennzeichen des Bundeskanzlerfahrzeugs.

»Herr Bundeskanzler, ich fühle mich geehrt durch Ihren Besuch.«

Ein amüsiertes Lächeln lief über die Gesichtszüge des Mannes, den sie seit einer Ewigkeit kannte und der die Partei sicher aus der Krise manövriert hatte, was sie ihm offen gestanden nie zugetraut hätte. Volker Balkenhol. Er hatte Gewicht zugelegt, die Falten in seinem Gesicht waren tiefer und vor allem mehr geworden. Unter seinen Augen lagen Schatten, die von mangelndem Schlaf zeugten. Graue Strähnen durchzogen sein lockiges, schwarzbraunes Haar. Die dunklen Augen wurden von buschigen Augenbrauen überdeckt. Seine Wangen hingen herab, und auch sein Doppelkinn kam stärker als früher zum Vorschein.

»Sarah, es gibt keinen Grund für eine formelle Anrede. Wir beide kennen uns seit über fünfzehn Jahren, und das hier ist ein inoffizielles persönliches Treffen in deinem Haus.«

»Es ist das erste Mal, dass wir uns sehen, seit du im Amt bist. Du siehst müde aus. Möchtest du einen belebenden Kräutertee?«

»Wie wäre es mit Kaffee?«

»Um die Uhrzeit? Das ist schlecht für deine Gesundheit.«

»Du hast dich kein bisschen verändert. Immer noch die Gesundheitsfanatikerin. Gib mir was von deinem Kräutertee.«

Sie sah zu den beiden Beamten hinüber. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Überrascht sah der Mann sie an, seine Kollegin antwortete knapp: »Nein, danke.«

»Ähm.« Ihr Kollege räusperte sich. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich dem Bundeskanzler anschließen.«

Er bekam einen scharfen Blick von seiner Kollegin, den er mit treudoofem Hundeblick und einem Achselzucken abtat.

»Es macht mir überhaupt nichts aus.«

Nachdem sie den Sicherheitsbeamten versorgt hatte, setzte sie sich mit Balkenhol im Wohnzimmer an den Kamin, in dem ein Feuer brannte.

»Sarah, ich bin gekommen, um mit dir über den Vorschlag zu sprechen, den Katharina dir unterbreitet hat.«

»Das dachte ich mir beinah. Wusstest du davon?«

Er trank einen Schluck vom Kräutertee und verzog das Gesicht. »Eigene Mischung?«

»Nein, von meiner Mutter.«

»Hätte ich mir denken können. Du kennst die politische Situation, in der wir uns befinden. Jens Richter ist ein Bundespräsident, der zwar gern militärische Stärke demonstriert, doch Uhland mit seiner moralischen Kampagne würde ständig versuchen, sich in die Regierungsangelegenheiten einzumischen. Das kann ich mir nicht leisten. Hinter Hendrik Raab werden wir keine Mehrheit vereinen können. Bei dir hingegen sieht es anders aus. Du wärest die erste Frau in dem Amt. Schon bei der letzten Wahl wurden Rufe laut, dass es Zeit für eine Bundespräsidentin sei. Ich möchte dich gern als Kandidatin vorschlagen.«

»Versteh mich nicht falsch, Volker. Natürlich würde mich das Amt reizen, und ich fühle mich geehrt, dass ihr mich nach allem, was geschehen ist, ernsthaft in Betracht zieht. Aber es geht nicht nur um mich.«

»Du denkst, Dirk hätte etwas dagegen?«

»Seine Affäre wurde in der Presse wochenlang breitgetreten. Es war für uns nicht leicht, unsere Ehe zu retten.«

»Aber ihr habt es geschafft. Ich schätze, dass Dirk hinter dir stehen würde. Frag ihn.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das Amt ist mit vielen Reisen verbunden. Genau wie das der Bundesaußenministerin.«

»Er könnte sich für die Dauer deiner Amtszeit aus dem aktiven Business zurückziehen. Elke Bündenbender hat sich auch entschieden, ihren Posten beim Verwaltungsgericht während der Amtszeit ihres Mannes ruhen zu lassen.«

»Na wunderbar, und du glaubst, sein männliches Ego würde es verkraften, als Gatte der Bundespräsidentin zu gelten?«

Er kniff die Augen zusammen und musterte sie. »Sarah, soll das heißen, du stellst deine eigene Karriere zugunsten der Befindlichkeiten deines Mannes zurück? Hast du mal darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten dir dieses Amt bietet? Willst du dir das wahrhaftig entgehen lassen? Ich hatte dich bisher immer für eine mutige Frau gehalten, die ihre Visionen in die Realität umzusetzen versucht, kein braves Hausmütterchen, das hin und wieder eine Vorlesung hält.«

»Es kostet auch Mut, eine Hausfrau zu sein, vielleicht heutzutage sogar mehr als früher.«

»Es sollte keine Beleidigung sein.«

Zur Antwort lächelte sie ihn lediglich an. Sie wussten beide, dass es genau so gemeint war und dass er bewusst ihre Arbeit als Professorin diskreditierte. Sie verstand seine Beweggründe einfach nicht. Volker hatte schon immer den Hang gehabt, überall seinen Vorteil zu suchen. Als Bundeskanzler machte er einen guten Job, ohne Frage, aber er liebte seine Macht und würde sie nur widerwillig hergeben. Wie viele Bundeskanzler vor ihm achtete er in der eigenen Partei tunlichst darauf, dass ihn niemand vom Thron stieß. Es war in ihren Augen ein Fehler, dass nur die Amtszeit der Bundespräsidenten auf zwei Legislaturperioden begrenzt war. Auch für das Bundeskanzleramt wäre das eine sinnvolle Beschränkung gewesen.

»Wieso glaubt ihr, dass ausgerechnet ich die Stimmen der Opposition gewinnen kann?«

»Seit wann bist du auf Komplimente aus? Du kennst deine Stärken. Du bist eine gefragte Sprecherin auf Kongressen, genießt Ansehen, ein internationales Netzwerk durch deine Projektarbeiten, und die Medien lieben dich. Selbst der Fakt, dass du dein Amt als Bundesaußenministerin niedergelegt hast, gilt als persönlicher Pluspunkt, weil es deine Integrität bewiesen hat. Uns hingegen hat es als Partei den Sitz in der Regierung gekostet.«

»Und heute, neun Jahre später, bist du Bundeskanzler.«

»Es war knapp.«

»Wo ist das Haar in der Suppe?«

»Es gibt kein Haar.«

»Bitte, Volker.«

»Du weißt selbst, was passiert, wenn Uhland gewählt wird. Ich habe an genügend Fronten zu kämpfen und brauche nicht noch einen Bundespräsidenten, der mich wie ein kleiner Junge strammstehen lässt.«

»Wie ich Katharina bereits vorschlug – stellt euch hinter Hendrik Raab, peppt sein Image auf, und ich bin sicher, dass er eine Chance hat.«

»Mag sein.«

»Es passt dir nicht, dass er ein Parteimitglied eures Koalitionspartners ist.«

Der Bundeskanzler nippte abermals an seinem Tee, verzog das Gesicht und stellte den Becher auf dem Wohnzimmertisch ab.

»Ich meine, dass du die bessere Alternative bist, und dein Name wurde mehr als einmal von verschiedenen Seiten ins Spiel gebracht.«

»Du würdest mit mir ein großes Risiko eingehen, Volker. Du weißt, woran ich glaube und wofür ich stehe.«

Als Antwort erschien ein feines Lächeln auf seinen Lippen, das sie eher abschreckte als einlud.

»Ja, ich weiß, woran du glaubst. Weißt du, Sarah, es ist leicht, sich hinter seinem Titel zu verstecken und gute Ratschläge zu erteilen. Es ist hingegen etwas ganz anderes, wenn du Tag für Tag mit der realen Welt konfrontiert wirst und gezwungen bist zu handeln. Ich gebe dir eine Chance zu beweisen, dass du mehr bietest als schöne Worte. Doch ich sehe, du bist zu feige, die Chance, die ich dir auf einem Silbertablett präsentiere, zu ergreifen.« Er seufzte. »Danke für den Tee.«

Sarah zog die Kopfhörer von ihrer Mütze. Zwei Treppenstufen auf einmal nehmend stieg sie in den obersten Stock. Das Joggen hatte ihr wie immer gutgetan. Endlich fiel die Anspannung der letzten Tage von ihr ab. Sie hatte weder Dirk noch Fabian oder Wiebke von Katharinas Besuch oder dem von Volker am selben Abend erzählt. Sie wusste, dass ihre Tochter mit heller Begeisterung reagiert hätte und die Gefahr bestand, dass sie sich von ihrem Enthusiasmus anstecken ließ. Schon allein aus der Tatsache heraus, dass es bisher keine Frau in das Amt geschafft hatte. Fabians Kommentar hätte gelautet: Mach es, wenn es dir Spaß macht. Dirk hingegen würde ihr die Pistole auf die Brust setzen mit den Worten: Entweder ich oder das Amt. Sie würde ihre Ehe kein zweites Mal riskieren. Wofür auch? Politische Macht bedeutete ihr nichts. Sie wollte das Bewusstsein der Menschen verändern, und dafür war sie bereits genau an der richtigen Stelle. Die Studenten und Studentinnen der Hertie School of Governance kamen aus der ganzen Welt und stellten die wirtschaftliche und politische Elite der Zukunft dar.

In T-Shirt und bequemer Jogginghose, die nassen Haare in ein Handtuch geschlungen, ging sie nach dem Duschen in die Küche und blieb verblüfft auf der Schwelle stehen.

»Hi, Mama.«

Wiebke sprang auf und drückte ihr mit strahlenden Augen einen Kuss auf die Wange. Fabian, der gerade von seinem Brötchen abgebissen hatte, hob lediglich die Hand.

Sarahs Verblüffung wandelte sich in Freude. »Na das nenne ich ja mal eine gelungene Überraschung. Ich dachte, ihr hättet beide feste Pläne für dieses Wochenende. Ist nicht heute der Energiekongress hier in Berlin, der von Greenpeace organisiert wird?« Sie schlang den Arm um die Taille ihrer Tochter, während sie darauf wartete, dass Fabian den Bissen hinunterschluckte, um ihr antworten zu können.

»Papa wollte dringend, dass ich komme. Ich kann noch später zu dem Kongress. Also, was ist los?«

»Dringend?« Ihr Herz machte einen Satz. Nach all der Zeit, die vergangen war, nach all der mentalen Arbeit, die sie investiert hatte, schaffte sie es nicht, ihre Angst zu verbergen. Er hatte sie einmal tief verletzt und enttäuscht.

»Guten Morgen, meine zwei Hübschen.« Dirk, der die Kälte von draußen mitbrachte, schob sich von hinten zwischen sie und Wiebke, die sich direkt an ihren Papa lehnte.

Egal wie gut sich Sarah mit ihrer Tochter verstand, gegen die Liebe zwischen den beiden kam sie nicht an. Es war auch in der Therapie eine Erkenntnis für sie gewesen, dass sie eifersüchtig auf ihre Tochter war. Sie löste sich von den beiden und setzte sich an den reich gedeckten Frühstückstisch. Dirk füllte die Brötchen aus der Tüte in den Korb, stellte sie auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. Wiebke ging zur Kaffeemaschine, um zwei Kaffee zu machen, während Sarah nach der Kanne griff, in der Fabian Tee gemacht hatte. Sie liebte es, wenn ihre Kinder zu Besuch kamen. Egal wie lange sie bereits aus dem Haus waren, sie fanden ohne Weiteres wieder in den alten Familienrhythmus zurück. Plätze am Esstisch wurden wieder getauscht, so wie es gewesen war, als die Kinder noch bei ihnen wohnten. Dirk hielt ihr den Brötchenkorb hin. Zögernd nahm sie sich ein Körnerbrötchen.

»Alles in Ordnung?«, hakte Dirk nach.

»Ich bin nur etwas überrascht.«

Er grinste sie an, gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. »Ich hoffe, im positiven Sinne.«

Sie zwang sich zu einem Lächeln. Je älter Dirk wurde, desto interessanter sah er aus. Jede Falte, jedes graue Haar gab ihm ein bisschen mehr Sex-Appeal. Früher war ihm sein Körper nicht wichtig gewesen. Zwanzig Kilo Übergewicht und Bauch hatten für sie nie eine Rolle gespielt. Sie liebte ihn für seinen analytischen Verstand und für das, was er in ihrem Leben darstellte – den Ruhepol. In jungen Jahren war sie eine echte Rebellin gewesen, und er hatte sie geerdet. Inzwischen ging Dirk täglich ins Fitnessstudio, hatte einen Personal Coach, der ihn in Form hielt, und der Bauch war straffer Muskulatur gewichen. Sein Äußeres und der Umstand, dass er eine Koryphäe in seinem Beruf war, machten ihn zu einem attraktiven Ziel für Avancen seiner Kolleginnen und Kundinnen.

»Nun spuck’s schon aus, Dirk.« Fabian nannte seinen Vater meistens beim Vornamen. »Weshalb hast du uns zu einem Familientreffen zusammengetrommelt?«

»Familientreffen?«, echote Sarah.

Dirk sah sie mit seinen kaffeebraunen Augen amüsiert an. »Fragt eure Mutter.«

»Mich?«

»Sarah, wann wolltest du mit uns darüber sprechen? Wenn du dich dafür oder dagegen entschieden hast? Meinst du nicht, es betrifft uns alle?«

Verwirrt sah sie ihn an. Konnte es sein, dass er es wusste? Nein, auf keinen Fall. Woher auch?

»Katharina hat mich gefragt, wie ich dazu stehen würde. Ich muss gestehen, dass sie mich kalt erwischt hat, weil du mir kein Sterbenswörtchen erzählt hast.«

»Könnte einer von euch mal endlich sagen, worum es geht?«, mischte sich Wiebke ein. »Das ist ja Folter. Ich male mir gerade zig Szenarien aus. Moment – Katharina? Die Katharina?«

»Ja, die ehemalige Parteikollegin und Freundin von Mama.«

Ihre Tochter kniff die Augen zusammen. »Die, die sie am ausgestreckten Arm hat verhungern lassen, als sie damals ihr Amt niederlegte?«

»Sie hat mich nicht am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Sie war enttäuscht von mir und wütend, und beides zu Recht.«

Sie hob die Hand, bevor Wiebke protestieren konnte. Es war toll, wenn die eigene Tochter einen verteidigte, doch sie wusste, dass Katharina recht gehabt hatte. Sie hätte es nicht für sich behalten dürfen, und rückblickend betrachtet war sie nicht sicher, ob sie in derselben Situation noch einmal genauso handeln würde. Auf der anderen Seite hatte es ihre Ehe gerettet.

»Katharina kam zu mir in die Vorlesung und fragte mich dann, ob ich eine Nominierung als Bundespräsidentschaftskandidatin annehmen würde.«

Fabians Hand mit der angebissenen Brötchenhälfte blieb vor seinem Mund stehen. Wiebke riss die Augen auf, ihr Mund klappte herunter.

»Es ist absurd, ich weiß. Deshalb habe ich es abgelehnt.«

Noch immer sagte keiner etwas. Sarah sah Dirk an, der ihren Blick erwiderte. Unlesbar für sie. War er enttäuscht? War er erleichtert?

»Bist du wahnsinnig geworden?«, explodierte es schließlich aus Wiebke heraus. »Wie kannst du so etwas ablehnen? Du wärst die erste Frau im höchsten Amt von Deutschland.«

»Ein repräsentatives Amt«, bremste Fabian seine Schwester.

»Ist doch schnurzpiepegal. Moment, nein, ist es nicht. Es ist sogar viel besser, weil das Amt sozusagen parteineutral ausgeübt wird.«

»Eben. Du gehst auf Reisen, unterschreibst Gesetze, vereidigst den Bundeskanzler, bestätigst die Regierung, und was noch alles dazugehört. Das war’s. Mehr nicht.«

»Mehr nicht? Sag mal, wie bist du denn drauf?«, fauchte Wiebke ihren Bruder an. »Du kannst gesellschaftspolitische Themen in den Fokus bringen, Stiftungen unterstützen … Ist dir klar, was passieren würde, wenn Mama als Bundespräsidentin euren Verein ›Humantechnology‹ unterstützt? Auf einmal würde jeder euren Namen kennen.«

»Langsam, Wiebke«, bremste Dirk sie aus. »Erstens scheint Mama es uns nicht erzählt zu haben, weil sie sich dagegen entschieden hat, und zweitens – selbst wenn, müsste sie im ersten Schritt erst von der Bundesversammlung gewählt werden.«

»Mama!« Wiebke warf ihr einen flehentlichen Blick zu.

Sarah legte eine Hand auf die ihrer Tochter.

»Ich weiß, was du denkst und dass du all die Möglichkeiten siehst, die mir das Amt geben könnte.«

»Möglichkeiten? Du könntest all das, worüber du schreibst und Vorträge hältst, in die Realität umsetzen. Kriegerische Konflikte statt mit Waffengewalt mit ziviler Konfliktbearbeitung deeskalieren. Projekte unterstützen, die Länder entwickeln, statt zu zerstören oder bewusst zu destabilisieren. Du sagst, die Wirtschaft ist der Schlüssel dafür. Ist dir klar, dass wir in der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit versuchen, deine Konzepte umzusetzen? Hey, meinst du, es ist lustig, ständig zu hören: ›Wie, du bist Wiebke Heidkamp, die Tochter von Professor Dr. Heidkamp?‹.«

»Ich glaube, es gibt durchaus noch viele weitere Konzepte, die ihr bei der GIZ aufgreift und umsetzt. Und bevor du weiter auf mich einredest, überleg dir nur mal, welche Auswirkungen es auf dein Leben hätte, wenn ich tatsächlich Bundespräsidentin würde. Du könntest nicht mehr einfach mal zu einem Hilfsprojekt in den Senegal aufbrechen.«

»Wieso? Was hat das mit mir zu tun? Von mir aus können alle Medien darüber berichten, wohin ich reise, umso besser. Aber ich habe noch nie mitbekommen, dass die Kinder der Bundespräsidenten in den Medien präsent waren. Höchstens die Ehefrauen.«

»Deine Mutter hat das nicht auf die Medien, sondern auf den möglichen Personenschutz bezogen. Das war damals nicht anders, als sie Bundesaußenministerin gewesen ist. Wir alle hatten Personenschutz. Auch du.«

Wiebkes Augen leuchteten auf und sie grinste. »Mit einem großen Unterschied. Heute bin ich nicht mehr fünfzehn. Oliver war ein echtes Schnuckelchen. Nur schade, dass er Mama zugeteilt war und nicht mir. Aber Thomas war auch echt nett.«

»Ach ja?« Dirks freudiger Gesichtsausdruck wandelte sich. Oliver und er waren von Anfang an wie Hund und Katze gewesen. Dass Wiebke für den smarten Polizeibeamten schwärmte, hatte das Verhältnis zwischen den beiden noch verschlechtert, obwohl Oliver auch nicht ansatzweise auf die Schwärmerei des Teenagers eingegangen war. »Ich erinnere mich nur daran, wie du mir die Ohren vollgejammert hast. Von wegen, du seist die Einzige, die keinen Alkohol trinken darf und die ständig um elf Uhr zu Hause sein muss.«

»Oh Mann, Fabian, jetzt sag du doch auch mal was!«

Ihr Bruder rieb sich mit der Hand übers Kinn und sah ihre Mutter an.

»Weshalb hast du es abgelehnt, zu kandidieren?«

Sie schwieg, musste nachdenken. Alles, was ihr zuvor klar gewesen war, löste sich in nebulösen Schwaden auf. Sie suchte nach einer ehrlichen Antwort für sich und ihre Familie.

»Du hast recht, Wiebke, dass das Amt parteilos ist. Ich gehöre auch keiner Partei mehr an. Es stellt mich in die Öffentlichkeit, doch vermutlich nicht mehr wie bisher in meiner Tätigkeit als Sprecherin.«

»Dein letzter Talk vor dem Wirtschaftsforum der Vereinten Nationen ist acht Millionen Male in YouTube angeklickt worden, und du hast über eine Million Likes darauf.«

Verblüfft sah sie ihre Tochter an. »Ehrlich?«

»Ehrlich, Mama. Es ist wirklich eine Schande, dass du nie darüber nachdenkst, welche Wirkung du hast.«

»Was ist es dann?«, hakte Fabian wieder nach.

Sie sah ihn an. »Angst. Angst, dass mir die Zeit für meine Familie fehlen wird, für euch.« Sie mied bewusst den Blick auf Dirk. »Ein solches Amt frisst einen auf, mit Haut und Haar. Man trägt Verantwortung, und die würde ich ernstnehmen. Jedes Wort von mir bekäme Gewicht. Jede Handlung von mir wäre ein Symbol.«

»Jetzt übertreibst du, Sarah.«

Sie hob den Blick und sah Dirk an. »Tu ich das?«

»Ja. Denk an die bisherigen Bundespräsidenten. Sie sind Menschen geblieben, haben Fehler gemacht. Es ist wahrhaftig mehr eine repräsentative Aufgabe. Du hast nichts mit der Regierung zu tun, anders als damals als Außenministerin.«

»Und warum möchtest du, dass ich mich zur Wahl stelle?«

»Aus denselben Gründen, die Wiebke genannt hat, und weil du das Amt ausfüllen kannst. Du besitzt Integrität, Vision, betrachtest die Welt nie nur in Schwarz und Weiß. In deiner Arbeit verbindest du die Wissenschaft mit der Wirtschaft und der Politik. Die Regierungen anderer Länder schätzen dich, und in deinen Projekten bist du international unterwegs. Nenn mir einen anderen der infrage kommenden Kandidaten, der all das in sich vereint.«

»Hat Katharina das gesagt?«

»Ja, aber ich denke genauso wie sie.«

»Sie hat mit dir mittaggegessen, um über mich zu reden?«

»Ja, und ich gebe zu, dass du mich enttäuscht hast, indem du mir von ihrem Besuch und ihrem Vorschlag nichts erzählt hast.«

»Es tut mir leid.«

»Schwamm drüber.«

»Nein. Hätte ich es dir erzählt, so hätte sie dich nicht damit überraschen können.«

Dirk nahm ihre Hand und küsste die Innenfläche. »Mag sein, aber das ist nicht wichtig. Ich finde, du solltest die Kandidatur antreten. Du wärst eine tolle Repräsentantin unseres Volkes.«

»Darf ich dann noch Mama sagen oder muss ich dich als Frau Bundespräsidentin ansprechen?«

Sie musste über Wiebkes Gesicht lachen, das pure Freude und Aufregung ausstrahlte. Es hatte eine Zeit in ihrem Leben gegeben, da war auch sie voller Idealismus gewesen.

3

Sarah versuchte, ihre Aufregung zu verbergen. Konzentriert hörte sie den Abgeordneten zu, die zu ihr kamen. Sie war zu ihrer ehemaligen Stylistin gegangen, die Katharina ihr damals aufgehalst hatte, als sie zu einem Teil der Regierung geworden war. Helena, inzwischen 62 Jahre alt, erklärte sich bereit, sich um sie zu kümmern, obwohl sie nur noch wenige exklusive Kundinnen betreute. Tatsächlich hatte sie es geschafft, ihr einen anthrazitfarbenen Hosenanzug herauszusuchen, in dem sie sich zu ihrer eigenen Überraschung superwohl fühlte. Die fließend fallende schlichte Bluse, graublau, satiniert, brachte ihre hellblauen Augen regelrecht zum Leuchten. Ihre langen, dichten blonden Haare waren zu einem seitlichen Dutt hochgeschlungen, der ebenfalls zu dem lockeren, sportlichen Stil des Hosenanzugs passte. Schicke braune Sneaker, in denen sie bequem hätte joggen können, rundeten ihr Outfit ab. Sie trug keinen Schmuck, außer ihrem goldenen Ehering. Dirk an ihrer Seite trug einen mitternachtsblauen Anzug mit einem Hemd in einem helleren Blauton und eine blaugraue Krawatte, und so bildeten sie zusammen eine harmonische Einheit. Dass sie sich an ihm festhielt, merkte sie erst, als ein Kameramann ihre verschlungenen Hände in Großaufnahme brachte. Sie ließ ein paar Minuten verstreichen, bevor sie dezent ihre Hand aus seiner löste. Es war wichtig, dass sie Souveränität ausstrahlte, egal wie aufgeregt sie war.

Sie war erstaunt, wie viele ehemalige Kollegen und Kolleginnen das Gespräch mit ihr suchten. Sie hatte in gewisser Weise erwartet, dass sie einen Bogen um sie machen würden. Es gab neben ihr, Ulrich Uhland und Hendrik Raab noch zwei weitere Kandidaten. Die Bundesversammlung setzte sich aus den Mitgliedern des Bundestags sowie einer Anzahl von Landtagsabgeordneten aus den Parteien zusammen, die die gewählte Mehrheit im Landtag widerspiegelte. Teilweise entsandten die Landtagsabgeordneten andere in den Medien bekannte Personen wie Schauspieler, Medienleute, Unternehmer oder Sportler in die Versammlung. Sarah war nicht nur die einzige Frau unter den Kandidaten, sondern auch die einzige Parteilose. Joachim Gauck war bisher der einzige Bundespräsident ohne Parteimitgliedschaft gewesen, der in das Amt gewählt worden war.

Der Gong ertönte, und alle, die noch standen, nahmen ihre Plätze ein. Die Bestuhlung für die Bundesversammlung war für die Bediensteten des Bundestags eine echte Herausforderung gewesen. Die Menge der Anwesenden sprengte die Raumkapazitäten. Der Bundestagspräsident betrat den Plenarsaal. Dirk drückte ihr einen Kuss auf die Wange, bevor er in die hinteren Reihen verschwand. Alle, die im Raum herumliefen, sortierten sich rasch und nahmen ihre Plätze ein. Die gesamte Bundesversammlung stand, bis der Bundestagspräsident Georg Fuhrmann vor seinem Stuhl stand und das Wort ergriff.

»Bitte setzen Sie sich.«

Für die Masse an Menschen erstaunlich leise ließen sich alle auf ihren Plätzen nieder. Sarah saß in der vordersten Reihe des Blocks ihrer ehemaligen Partei zwischen den zwei Fraktionsvorsitzenden, wie es bei ihnen üblich war. Georg Fuhrmann begann mit seiner Einführungsrede. Sie erinnerte sich daran, dass sie in ihrer Zeit als Bundestagsabgeordnete viele Debatten mit Fuhrmann geführt hatte. Eine Zeit lang hatten sie zusammen im Unterausschuss »Zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln« gearbeitet, der zum auswärtigen Ausschuss gehörte und damit aufgrund der Sensibilität der Inhalte der Geheimhaltung unterlag. Im Gegensatz zu dem, was die öffentliche Meinung annahm, war die überparteiliche Zusammenarbeit in den Ausschüssen durchaus konstruktiv. Gegensätzliche Meinungen und Ansichten wurden angehört und diskutiert. Oft kam man am Ende zu denselben Schlussfolgerungen, auch wenn es seine Zeit dauerte. Es war keine leichte Aufgabe für Fuhrmann gewesen, das Amt von Norbert Lammert, dem vorangegangenen Bundestagspräsidenten, zu übernehmen, hatte dieser doch einen außerordentlichen Humor besessen, der Fuhrmann fehlte. Er war ein ernster, bürokratischer Mensch, der alle dazu anhielt, die Formalitäten exakt zu wahren.

In seiner Rede dankte der Bundestagspräsident dem bisherigen Bundespräsidenten Jens Richter für seine Arbeit und hob ein paar besondere Ereignisse aus dessen Amtszeit hervor. Fuhrmann machte auf die aktuelle gesellschaftspolitische Lage im Land aufmerksam. Die AfD gehörte inzwischen in vielen Landtagen zu den festen Parteien, und auch in den Bundestag war sie mit 8,9 Prozent der Stimmen vertreten, zum Glück nicht auf Kosten der anderen kleinen Parteien, denn vor allem die großen Parteien hatten Stimmen eingebüßt. Er ermahnte alle dazu, miteinander im Dialog zu bleiben, Toleranz gegenüber den anderen Parteien zu üben und das Gespräch zu suchen, auch wenn die Gegensätze unüberbrückbar erschienen. Immerhin wären alle Mitglieder der Landtage und des Bundestags vom Volk gewählte Abgeordnete. Die Zusammensetzung spiegelte den demokratischen Willen der Menschen, und das hätte ein jeder von ihnen zu respektieren. Dahingegen hob er hervor, dass es nicht ausreiche, gegen alles zu sein, sondern dass es Diskussionen geben und Kompromisse gefunden werden müssten.

Einigermaßen überrascht von seiner mahnenden Ansprache zur Toleranz, die viel Beifall fand, beobachtete Sarah den weiteren Ablauf der Versammlung. Seltsam distanziert nahm sie alles wahr. Die Aufregung von zuvor war von ihr abgefallen, kaum dass Fuhrmann den Saal betreten hatte. Zu lange war der Bundestag ein Teil ihres Lebens gewesen, und der vertraute Ablauf beruhigte ihre Nerven. Sie betrachtete die anderen Kandidaten. Die Anzahl von insgesamt sechs war ungewöhnlich hoch und zuletzt bei der Wahl von Theodor Heuss vorgekommen. Für sie spiegelte es die gespannte politische Lage im Land wider. Da waren Ulrich Uhland, der Kandidat der CDU, Olaf Wittgenstein, Kandidat der SPD, Hendrik Raab, Kandidat der FDP, Siegfried Ebert, Kandidat der Freien Wähler, und Alfons Himmelreiter, Kandidat der AfD. In den Umfragen lag Ulrich Uhland weiterhin vorn, sie und Hendrik Raab lagen dagegen Kopf an Kopf. Mit ihren 45 Jahren war sie die Jüngste unter den Kandidaten. Bei einem Wahlsieg wäre sie nicht nur die erste Frau, sondern auch die Jüngste, die das Amt je innehatte. Es würde im Gegensatz zum Vorjahr, als der Sieger bereits vor der Wahl festgestanden hatte, ein spannendes Wettrennen geben. Die Tatsache, dass sich die Regierungskoalition nicht auf einen Kandidaten geeinigt, sondern zwei ins Rennen geschickt hatte, sorgte dafür, dass die Drähte heißliefen. Wählten alle Abgeordneten und Wahlleute ihrer Partei entsprechend, würde es keine absolute Mehrheit für einen Kandidaten geben. Deshalb spekulierten die Medien auf einen zweiten, ja womöglich sogar einen dritten Wahlgang. Bei jenem reichte dann eine relative Mehrheit. Kam es zu drei Wahlgängen, würde es ein langer Tag für alle werden.

Sarah hatte die Aufmerksamkeit der Medien genutzt und reichlich Interviews gegeben. Dabei stellte sie ihre Forschungsarbeit zum Thema zivile Konfliktbearbeitung an der Universität in den Vordergrund. Egal ob sie am Ende die Wahl gewann oder nicht, so hoffte sie, auf diese Weise das Thema eine Weile in den Medien präsent zu halten. In nächster Zeit würden einige Entscheidungen zur Fortführung des militärischen Engagements anstehen. Das Thema Türkei hatte sich in den letzten Jahren verschärft. Aber das waren nicht die einzigen diplomatischen Herausforderungen. Seit der zum Glück nur eine Amtszeit andauernden Präsidentschaft von Donald Trump waren alle westlichen Länder damit beschäftigt, die Risse in den Beziehungen zu kitten, die entstanden waren.

Natürlich kam bei den Interviews ihre Arbeit als Außenministerin zur Sprache, die Niederlegung ihres Amtes sowie die daraus entstandene Krise der Partei. Ihre Argumentationslinie hatte sie mit Volker Balkenhol, dem Bundeskanzler, abgestimmt. Ein paarmal waren sie zusammen vor der Kamera aufgetreten. Es war Sarah leichtgefallen, sich wieder in einen gemeinsamen Diskurs mit ihm einzufinden. Zuvor hatte sie sich intensiver mit seiner bisherigen Arbeit und den Positionen, die er vertrat, auseinandergesetzt. Geschickt umschiffte sie die kritischen Themen, bei denen sie seine Meinung nicht teilte. Es war von Vorteil, dass sie sich im Gegensatz zu den anderen Kandidaten über neun Jahre aus dem Politikfeld zurückgezogen hatte. Das verschaffte ihr emotionale Distanz und einen Hauch mehr Objektivität bei den gesellschaftlichen Fragestellungen. Sie hatte ihre Sprachgewandtheit auch nicht eingebüßt, mit der sie es schaffte, die jeweiligen Moderatoren auf die ihr wichtigen Themen umzuleiten, bis die Zeit der Sendung abgelaufen war. Sie wusste, dass sie durch ihr attraktives Äußeres, ihren Humor und ihre Offenheit ein Liebling der Medien war und die Einschaltquoten erhöhte.

Aufmerksam betrachtete sie nun die disziplinierte Vorgehensweise, mit der der Bundestagspräsident Georg Fuhrmann die Formalien der Wahl erläuterte. Schließlich war es so weit, die Wahl konnte beginnen. Wie immer ging man beim Wahlvorgang nach dem Alphabet vor. Die Wahlberechtigten nahmen ihren Wahlschein mitsamt Umschlag entgegen und verließen den Plenarsaal, um in einem der Räume, die als Wahlkabinen dienten, einen der Kandidaten anzukreuzen. Danach kamen sie zurück, gaben ihren Wahlberechtigungsschein an den Schriftführer, traten an die Wahlurne, ein Plexiglasgefäß, das in der Mitte des Plenarsaals aufgebaut war, und ließen den geschlossenen Umschlag hineinfallen. Die Anonymität dieser Vorgehensweise machte es möglich, dass sich jeder frei entscheiden konnte, ob er der Parteilinie folgte oder einem anderen Kandidaten seine Stimme gab.

Die Presse nutzte den langwierigen Prozess, um mit Abgeordneten und Wahlleuten Interviews über die Wahl und ihre Einschätzungen zu führen. Da die Kandidaten nicht vorgestellt wurden und innerhalb der Wahlversammlung auch keine Diskussion geführt wurde, war der Bedarf an Meinungsäußerungen der Wahlberechtigten groß. Parteispitzen, hochrangige Landtagsabgeordnete und Prominente wurden befragt. Sarah bekam es nur mit, weil Dirk auf seinem Tablet mit Ohrstöpseln die Sendung der ARD zur Wahl verfolgte. Sie hielt es für besser, im Plenarsaal zu bleiben, anstatt in den Fluren des Bundestags herumzulaufen und von den Medien abgefangen zu werden.

Volker Balkenhol, der derzeitige Bundeskanzler aus der Partei »Bündnis zukunftsorientierte Gesellschaft (BzG)« hatte von Anfang an viel Medienrummel verursacht. Innerhalb des letzten Jahres war seine Popularität enorm angestiegen. Seine Politik fand Widerhall in der Bevölkerung. Klare Worte, das Einhalten seiner Wahlversprechen, die unbequemen, aber notwendigen Änderungen im Land durchzusetzen, dafür liebten ihn seine Wähler. Für Sarah verkörperte Volker den Gegenpart zum »Homo Oeconomicus«, wie ihn Tania Singer in ihren Studien dargestellt hatte. Dem hatte die Forscherin das Bild eines Staatsbürgers gegenübergestellt, dem das Wohlergehen des Landes sowie die Gemeinschaft wichtig sind. Ein Bürger, der in der Lage ist, altruistisch zu handeln, selbst wenn es für ihn einen Nachteil mit sich bringt. Es waren vereinzelte Unternehmer, die Widerstand leisteten und den Untergang der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands prognostizierten. Tatsächlich war der Exportumsatz gestiegen, und es gab einen Boom an jungen Start-ups im Land, nicht nur von Deutschen, die sich vor allem in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt und Dresden ansiedelten.

Nach ihren Gastauftritten mit einer Fragestunde bei den zwei größten Parteien war der gestrige Tag mit einem gemütlichen Abendessen im Kreis der BzG zu Ende gegangen. Volker hatte sie gebeten, am heutigen Tag an seiner Seite zu bleiben, deshalb auch ihr Platz neben ihm, obwohl sie kein Parteimitglied mehr war. Er wollte, dass sie eine geschlossene Front abgaben. Sie hatten sich dagegen entschieden, sich auf die Liste der Wahlberechtigten der Partei setzen zu lassen. Und so war sie die einzige Kandidatin, die kein Recht zur Stimmabgabe besaß. Es überwältigte sie, wie viele der Wahlberechtigten sie ansprachen.

»Frau Heidkamp, Sie sind bestimmt aufgeregt. – Ines Diepholz, Bundesministerin der Verteidigung.«

Lächelnd nahm Sarah die dargebotene Hand an und war erstaunt über deren festen Griff. Kurze, weißblond gefärbte Haare, ein durchtrainierter Körper und breite Schultern spiegelten die Lebensweise der Frau wider. Sie war eine bekannte Biathletin mit Gold-, Silber- sowie Bronzemedaillen in den Olympischen Spielen, eine Soldatin in der Bundeswehr, die es bis zum Rang eines Feldwebels gebracht hatte, bevor sie sich in die Politik stürzte. Dunkelgrüne Augen musterten sie wachsam, sie hatte ein kräftiges, kantiges Gesicht mit schmalen Lippen, die kaum sichtbar waren.

»Frau Diepholz, ich freue mich, dass ich heute Gelegenheit habe, Sie persönlich kennenzulernen. Ich versuche schon seit einiger Zeit, mit Ihrem Ministerium in Kontakt zu treten, leider bisher nur mit mäßigem Erfolg.«

»Wie Sie sich bestimmt vorstellen können, hegen wir gewisse Bedenken gegenüber Ihren Studien zur zivilen Konfliktbearbeitung.«

»Ich erlebe Sie bei Ihren Auftritten als eine Frau, die über den Tellerrand hinwegschaut. Mich würden Ihre persönlichen Erfahrungen und Eindrücke interessieren, lediglich als eine Art Gedankenaustausch über unterschiedliche Herangehensweisen gegenüber Konflikten.«

Ines Diepholz schmunzelte, was ihrem Gesicht gleich die Strenge und Härte nahm.

»Der Gedankenaustausch mit Ihnen, Frau Heidkamp, hat, mit Verlaub, einen gewissen Ruf.« Sie wurde wieder ernst. »In der breiten Öffentlichkeit wird gern ignoriert, dass deutsche Soldaten überall auf der Welt im Einsatz sterben, um den Menschen hier in Deutschland ein sicheres Leben zu ermöglichen. Stattdessen werden wir verbal angegriffen, bezichtigt, selbst die Aggressoren zu sein, oder noch schlimmer, Mörder, nicht zuletzt wegen Ihrer Arbeit. Eine meiner Aufgaben sehe ich darin, meine Leute zu schützen.«

»Ich schätze die Arbeit der Frauen und Männer im Dienst unseres Landes, und mir ist bewusst, dass sie im Dienst für die Bundesrepublik ihr Leben riskieren. Genau deshalb ist mir der öffentliche Dialog zwischen beiden Seiten wichtig. Ich könnte mir vorstellen, dass beide Seiten durch den Austausch von Wissen und das Verständnis der Arbeit des anderen enorm profitieren können. Denken Sie darüber nach.«

»Sie sind eine wahre Politikerin.«

Sarah lachte. »Ich dachte, den Ruf hätte ich verspielt, als ich von meinem Regierungsamt zurücktrat.«

»Sie mögen andere täuschen können, doch ich verspreche Ihnen, ich werde Sie im Auge behalten. Egal wie der Tag heute zu Ende geht.«

Ein kurzes Nicken, und Ines Diepholz wandte sich ab und verschmolz mit der Menge. Sarah überlegte, wie die Worte gemeint waren.

»Ich bin erstaunt, dass du noch lebst«, merkte Volker amüsiert an.

»Sie hat eine klare Meinung, die sie offen äußert, das gefällt mir.«

»Ihre Stimme bekommst du jedenfalls nicht.«

»Ich weiß. Es ist schon seltsam, das ich damals glaubte, das Amt als Bundesaußenministerin ausfüllen zu können. Ich hätte wissen müssen, dass es mich über kurz oder lang in einen Gewissenskonflikt stürzen würde.«

»Du hast gute Arbeit geleistet, egal wie du es im Nachhinein betrachtest. Militärischen Einsätzen einen Endzeitpunkt und eine klare Zielsetzung vorzugeben, ist meines Erachtens weiterhin die Basis für eine militärische Intervention in einem anderen Land.«

Dirk gesellte sich zu ihr. Mit dem Kinn deutete er vage auf die in die Menschenmenge eingetauchte Bundesverteidigungsministerin.

»War das nicht Ines Diepholz, die du seit zwei Jahren für einen offenen Diskurs zu begeistern versuchst?«

»Genau die.«

»Was wollte sie von dir?«

»Fragen, ob ich aufgeregt bin.«

Er hob beide Augenbrauen und sah sie amüsiert an. »Und – bist du es?«

»Im Moment? Nein.«

»Keine Sorge, das kommt noch, wenn die Stimmen ausgezählt sind«, meinte Volker trocken. »Los, ich stelle dir noch ein paar wichtige Meinungsmacher vor. Wenn wir sie nicht für diesen Wahlgang gewinnen können, dann vielleicht für den nächsten.«

Gemeinsam mit dem Bundeskanzler frischte sie, wie bereits in den letzten Wochen, ehemalige Kontakte auf und wurde weiteren Wahlleuten vorgestellt. Ohne zu zögern ging sie auch auf Olaf Wittgenstein zu, begrüßte ihn und sprach ihn auf seine Frau an, die sich zu einer Operation am Hüftgelenk im Krankenhaus befand. Sie musste ihm zugestehen, dass er sich erstaunlich schnell von der Überraschung über ihr Wissen um die Gesundheit seiner Frau erholte. Als er sie fragte, ob sie Kinder habe, musste sie sich beherrschen, das aufkeimende Lachen in ein strahlendes Lächeln abzuwandeln. Ganz offensichtlich hatte er sich mit ihrem Hintergrund nicht beschäftigt. Geschickt umschiffte sie die Klippe, ohne ihm das Gefühl zu geben, dass er sich mit seinem Unwissen eine Blöße gab.

Dirk blieb an ihrer Seite und versprühte seinen Charme bei den weiblichen Delegierten. Hendrik Raab schien sich ausgiebig mit ihrem Lebenslauf und ihrer Familie auseinandergesetzt zu haben. Er fragte sie nach Fabians Arbeit und ob es ihr keine Angst mache, dass er sich derzeit im Sudan aufhielt. Ulrich Uhland gesellte sich zu ihnen. Bald waren drei Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten in ein angeregtes Gespräch miteinander vertieft. In familiärer Hinsicht repräsentierte Hendrik Raab eine moderne Konstellation: drei Kinder aus erster Ehe, zwei aus der zweiten, die inzwischen ebenfalls geschieden war. Seine zwanzig Jahre jüngere Lebensgefährtin war gleichzeitig seine PR-Sprecherin. Auf seinem Programm stand vor allem die Stärkung der Kleinunternehmer. Ulrich Uhland hingegen hatte vor Kurzem erst seine Goldene Hochzeit gefeiert. Für Sarah repräsentierte er die alten Werte der Ehe, Stabilität und Seriosität. Viele junge Menschen sehnten sich wieder danach, weshalb er sehr populär war.

Schließlich strömte alles wieder in den Plenarsaal, ein sicheres Zeichen, dass die Stimmenzählung abgeschlossen war. Sarah schaute kurz auf die Uhr und war überrascht. Die Schriftführer mussten die Stimmzettel unter der Aufsicht des Bundestagspräsidenten dreimal zählen, ein Vorgehen, das nach einem Stimmzählungsfehler bei der Wahl von Horst Köhler eingeführt worden war. Sie schienen eine effiziente Methode zum Zählen entwickelt zu haben.

Georg Fuhrmann betrat wieder den Saal. Alle nahmen rasch ihre Plätze ein. Die Anspannung im Saal war greifbar.

»Meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Ruhe.«

Die Lautstärke der Geräuschkulisse nahm minimal ab.

»Nach der Verkündung des Wahlergebnisses haben Sie genügend Zeit für Diskussionen. Also bitte ich Sie erneut um Ruhe.«

Keine Reaktion. Die Miene des Bundestagspräsidenten verzog sich, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Mit mehr Kraft und einer gewissen Schärfe hob er erneut an: »Meine Damen und Herren! Ruhe.«

Diesmal kam er durch. Die Stimmen verebbten, die Anwesenden konzentrierten sich auf den Bundestagspräsidenten, der den Blick über die Abgeordneten und Wahlleute schweifen ließ. Die Kameras richteten sich abwechselnd auf die Kandidaten. Mehr neugierig als aufgeregt wartete Sarah auf die Verkündung der Wahlergebnisse.