Die Chancengesellschaft - Rainer Nahrendorf - E-Book

Die Chancengesellschaft E-Book

Rainer Nahrendorf

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Beschreibung

Die deutsche Gesellschaft ist eine Gesellschaft voller Chancen. Sie ist keine "geschlossene Gesellschaft". Es gibt keinen Grund zum Statusfatalismus. Bildung, Anstrengung und Leistung lohnen sich. Hindernisse lassen sich überwinden. Das zeigen die in diesem Buch porträtierten dreizehn Aufsteigerinnen und Aufsteiger. Sie handelten wie von Erich Kästner empfohlen: "Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden, kannst du etwas Schönes bauen". Rainer Nahrendorf schildert den Aufstieg der heutigen Bundesarbeitsminsterin Andrea Nahles, von Air Berlin-Ex-Chef Joachim Hunold, von Ex-BDI-Präsident Hans-Olaf Henkel, von dem ehemaligen Fußball-Nationalspieler Marko Marin, von dem Internet-Pionier Ibrahim Evsan, der Professorin und Unternehmerin Ulrike Detmers, von dem Aufsichtratsvorsitzen der Bayer AG Bayer AG Werner Wenning, von dem ehemaligen Kanzleramtschef Bodo Hombach und der Zeitarbeitunternehmerin Ingrid Hofmann. Nahrendorfs fesselnde Porträtreportagen aus der deutschen Chancengesellschaft korrigieren das Zerrbild einer "Absteigerrepublik". Seine scharfsinnigen Analysen widerlegen die Vorstellung, soziale Schichten seien zementiert und Leistung würde sich nicht lohnen. Sie zeigen aber auch Deutschlands Hindernisse auf dem Weg zur Bildungsrepublik. Doch wer Mut und Willen zum Erfolg hat, findet seinen Weg.

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Rainer Nahrendorf

Die Chancengesellschaft

Mut zum Aufstieg in Deutschland

adatia

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

1. Auflage November 2010

Veröffentlicht im adatia Verlag Marion Zartner

Sankt Augustin

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ohne Zustimmung des Verlages ist unzulässig. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2010 adatia Verlag Marion Zartner, Sankt Augustin

Satz und Herstellung: ce redaktionsbüro für digitales publizieren, Köln

ISBN 978-3-940461-10-0

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

www.kreutzfeldt.de

Für Sigrid Nahrendorf

Inhalt

Vorwort

7          Chancen für alle – eine Illusion?

Zwischen Absteigerrepublik und Aufsteigerrepublik

13          Wohin steuert Deutschland?

25Jeder ist der Unternehmer seines Lebens

Hans-Olaf Henkel

27          Der Freiheitskämpfer

Andrea Nahles

47          Die Vorarbeiterin der SPD

Ibrahim Evsan

61          Vordenker der digitalen Welt

Erman Tanyildiz

73          Der Sozialunternehmer

Züleyha Parlak

85          Die Toleranz-Botschafterin

Prof. Dr. Ulrike Detmers

95          Die Lifestyle-Reformerin

Marko Marin

107          Der Ballzauberer

Bodo Hombach

117          Der Neugierige

Joachim Hunold

141          Der rheinische Commodore

Dr. Carl-Heiner Schmid

153          Der Handwerksphilosoph

Ingrid Hofmann

163          Die Arbeit-Geberin

Dr. Felix Stellmaszek

175          Der Überflieger

Werner Wenning

189          Der Verlässliche

205Die Kernkräfte der Aufsteige

207          ... was sie befähigt

          ... und was sie antreibt

          Ein Gespräch mit dem Psychologen und

217          Forscher Prof. Dr. Julius Kuhl

223Auf dem Weg zur Chancengerechtigkeit

225          Die Bildungsrepublik entsteht

236          Frauen setzen sich durch

242          Aufstiegskultur motiviert zur Leistung

246Erfolg hat man ...

Werdegänge

248          Hans-Olaf Henkel

248          Andrea Nahles

248          Ibrahim Evsan

249          Erman Tanyildiz

249          Züleyha Parlak

249          Prof. Dr. Ulrike Detmers

249          Marko Marin

250          BodoHombach

250          Joachim Hunold

250          Dr. Carl -Heiner Schmid

251          Ingrid Hofmann

251          Dr. Felix Stellmaszek

252          Werner Wenning

252          Jochen Kienbaum

252          Prof. Dr. Julius Kuhl

253Literatur- und Quellenverzeichnis

256Fußnoten

Vorwort

Chancen für alle – eine Illusion?

„Auch aus Steinen, die dir in den Weg gelegt werden,

kannst du etwas Schönes bauen“

Erich Kästner

Viele Bürger Deutschlands scheinen resigniert zu haben. Sie glauben nicht daran, ihr eigenes Glück schmieden zu können. Sie nehmen Deutschland als Hartz-IV-Republik und als Absteigerrepublik wahr. Sie empfinden sich als Absteiger, als Ausgeschlossene, ausgeschlossen vom „Wohlstand für alle“, wie ihn Ludwig Erhard versprach, ausgeschlossen vom Aufstieg durch Bildung und Leistung, wie ihn alle Parteien verheißen. Ist das Ideal unseres Landes von einer Leistungsrepublik, ist die von den Parteien propagierte „Chancengesellschaft“ nur eine Fiktion, die die sozial Benachteiligten über ihre Chancenlosigkeit hinwegtäuschen und ruhig stellen soll?

Vierzig Prozent der berufstätigen Bevölkerung und fast 60 Prozent der gering verdienenden Berufstätigen sind überzeugt, dass die sozialen Schichten zementiert sind und sie ihren sozialen Status nicht durch Leistung beeinflussen können1. Allensbach-Chefin Renate Köcher nennt dies „Statusfatalismus“.

Jeder zweite Deutsche glaubt nicht daran, dass Erfolg vor allem aus harter Arbeit resultiert. Jeder vierte Deutsche hält Erfolg in erster Linie für Glücksache und eine Folge der richtigen Beziehungen.

„Das Märchen von der Chancengleichheit“ titelte denn auch ein Wochenmagazin2 und erklärte, warum Herkunft und Beziehungen mehr zählen als Leistung: „Neue Studien enthüllen den Selbstbetrug der Deutschen: Noch immer ist die Elite eine geschlossene Gesellschaft. Eines der wichtigsten politischen Ziele der Nachkriegsgeschichte wurde verfehlt“. Das war 2003. Sechs Jahre später hatte sich der Tenor nicht verändert. „Geschlossene Gesellschaft“ hieß die Headline einer Serie über Deutschland3. Die Magazin-Berichte können sich auf wissenschaftliche Befunde stützen, auf prominente Soziologen wie Professor Michael Hartmann. Der Darmstädter Soziologieprofessor wählte für seine Forschungsergebnisse über die Karrierechancen Promovierter aus verschiedenen sozialen Schichten den ernüchternden Titel: „Der Mythos von den Leistungseliten“4. Er wird in diesem Buch zu Wort kommen.

Ist Aufstieg allein durch Leistung, wenn man von Doping und Wettbetrug absieht, nur im Sport und vielleicht noch in der Wissenschaft möglich? Entscheiden in anderen Gesellschaftsbereichen, vor allem in den Topetagen der Wirtschaft, letztlich doch soziale Herkunft und Habitus, informelle Verhaltenscodes und Beziehungen darüber, wer es nach oben schafft?

Die gefühlte Aufstiegsohnmacht, wie sie sich in den Umfragen spiegelt, hat gravierende Folgen für die Bildungs- und Leistungsbereitschaft in einer Gesellschaft, in der bis weit in die Mittelschichten hinein die Abstiegsängste wachsen. Noch schwerwiegender sind die Folgen dort, wo sich das Gefühl der Ohnmacht zur Gewissheit wandelt. Das Vertrauen in die Soziale Marktwirtschaft sinkt seit Jahren5 − und zwar nicht nur, weil die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 sowie die schwere Rezession Zweifel an ihrer Effizienz geweckt haben, sondern weil viele nicht mehr davon überzeugt sind, dass sie eine sozial gerechte Ordnung ist. Eines der wichtigsten Gerechtigkeitsmerkmale ist die glaubhafte Chance, sozial aufsteigen zu können. Die Aufstiegschance hält eine Gesellschaft zusammen, in der die sozialen Gegensätze wachsen. Die Durchlässigkeit des Bildungssystems und die Durchlässigkeit der Gesellschaft entscheiden ganz wesentlich über das Vertrauen in die Wirtschaftsordnung und in die politische Ordnung. Der Frage, warum die Bundesrepublik diese Bewährungsprobe bei der Erfüllung des Aufstiegsversprechens in den Augen vieler nicht mehr besteht, gehe ich im ersten Teil des Buches nach.

Nicht jeder kann trotz vielfältiger Förderung aufsteigen. Es wird ja auch nicht jeder Olympiasieger oder Fußballweltmeister. Aber jeder Mensch hat ein Recht auf Bildung und gleiche Startchancen. Und jeder ist der Unternehmer seines Lebens, wie es Abtprimas Notker Wolf formuliert. Gerade eine alternde und schrumpfende Gesellschaft kann es sich nicht leisten, Potenziale ungenutzt oder verkümmern zu lassen. Der demografische Umbruch bringt viele Herausforderungen mit sich. Dass darin auch Chancen zum beruflichen Aufstieg stecken, die der mit dem Wandel einhergehende Fachkräftemangel bietet, wird kaum gesehen. Schlechte Nachrichten sind für viele Medien gute Nachrichten. Sie steigern die Auflage. Aber wenn die guten Nachrichten untergehen und sich die Medien auf Missstände und Probleme fokussieren, trägt das zur Entmutigung der Menschen bei. Viele glauben dann, dass sie wirklich keine Chance haben. Dieses Buch korrigiert diesen Eindruck. Es will dazu beitragen, Statusfatalismus gar nicht erst aufkommen und das Ideal einer Meritokratie, einer „Aufsteigerrepublik“, Wirklichkeit werden zu lassen. Wie könnte dies besser geschehen als durch Vorbilder, die Mut zur Bildung, zur Anstrengung und Leistung machen?

Die in diesem Buch porträtierten Vorbilder sind Aufsteiger. Sie sind entweder im Vergleich zu der Berufs-, Bildungs- oder Einkommensposition der Eltern (Generationenmobilität) aufgestiegen oder haben sich während ihrer Berufslaufbahn nach oben gearbeitet, ihr Einkommen oder ihren Status verbessert (Karrieremobilität). Ich danke allen dafür, dass sie freimütig aus ihrem Leben berichtet haben. So können sich die Leser selbst ein Urteil darüber bilden, ob der Aufstiegspessimismus eines großen Teils der deutschen Gesellschaft berechtigt ist.

Die Aufsteigergeschichten zeigen Menschen, die nicht aufgegeben, sondern an sich und ihre Kräfte geglaubt haben. Es sind Geschichten von Zufallsglück, Ehrgeiz, Einfällen, eisernem Willen, Leistung und großer Beharrlichkeit. Es sind Geschichten über menschliche Kraftwerke mit einer sich wundersam erneuernden Energie. Aufsteiger wissen, was sie können. Ein gesundes Selbstbewusstsein paart sich mit der Fähigkeit der Selbstdarstellung, bei einigen auch mit dem Talent zur Selbstvermarktung. Viele beherrschen die Kunst der Selbstführung, lassen sich von ihren Visionen und Lebensentwürfen leiten, andere optimieren die Zufälle des Lebens zu einer Aufsteigerkarriere. Es sind keine „Success-Stories“, die sich zu einer einzigen Erfolgsformel zusammenziehen lassen. Eine solche Formel gibt es ohnehin nicht. Die Porträts zeigen, wie Menschen auf höchst unterschiedliche Art ihr eigenes Glück geschmiedet und den Aufstieg geschafft haben. Sie könnten mit Frank Sinatra singen „I did it my way“ − mit Selbstvertrauen und kaum zu erschütternder Zuversicht. Auch auf die Gefahr hin, dass es abgedroschen und wenig originell klingt, das Fazit dieser Vorbilder kann nur lauten: „Yes you can!“

Wer tiefe Einblicke in das eigene Leben gestattet, hat das Recht zu bestimmen, was aus seinem Leben berichtet wird. Diesen notwendigen Autorisierungen der Porträts sind einige Szenen voller Dramatik zum Opfer gefallen. So gibt es in diesem Buch angedeutete, aber doch verborgene Geschichten. Das allzu Private und Verborgene hat mich dazu bewogen, mit dem Persönlichkeits- und Motivationsforscher Professor Julius Kuhl ein Gespräch über das Thema zu führen: „Was Aufsteiger antreibt“.

Das Porträt einer Handwerksmeisterin konnte nicht erscheinen. Mein Fremdbild und das Selbstbild der Meisterin unterschieden sich zu sehr. Das ist besonders bedauerlich, weil diese Meisterin mit 37 Jahren zu einer beispiellosen Aufholjagd aufgebrochen ist, einen Betrieb mit nach kurzer Zeit mehr als 70 Beschäftigten gegründet und parallel den Gesellenbrief und Meisterbrief erworben hat, vereidigte Sachverständige, eine renommierte Gutachterin und Mentorin für Unternehmensgründerinnen geworden ist. Die hohe Energieleistung dieser Frau zeigt, welche Kräfte ein starker Aufstiegswille freisetzen kann.

Ein weiteres Vorbild, oder besser, eine Inspirationsquelle für dieses Buch war „Hildegard“ aus Ulla Hahns Entwicklungsroman „Das verborgene Wort“. Darin beschreibt die Autorin, wie sich ihre Heldin von der sozialen, kulturellen und auch mundartlichen Enge ihres Elternhauses emanzipiert.

Die Hildegards von heute kommen häufig aus Zuwandererfamilien. Kann Deutschland ihnen die Chance zur Entfaltung ihrer Talente und Fähigkeiten bieten und sie so zur Bereicherung unserer Gesellschaft werden lassen? Oder trägt unsere Gesellschaft dazu bei, dass sie hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben? Die 16. Shellstudie6 über Jugendliche zwischen 12 und 25 Jahren zeigt, dass die jungen Menschen des Jahres 2010 pragmatisch, leistungsbereit, ehrgeizig und optimistisch sind, aber die soziale Kluft wird immer größer. Jugendliche aus der Ober- und Mittelschicht sind zu 80 Prozent und mehr zufrieden mit ihrem Leben, in den sozial schwierigen Verhältnissen sind es nur 40 Prozent. Von den Jugendlichen aus sozial benachteiligten Familien schaut nur noch jeder dritte seiner Zukunft zuversichtlich entgegen, während insgesamt 59 Prozent optimistisch sind.

Auch haben besonders Frauen immer noch Grund, sich über fehlende Chancengleichheit vor allem in der „Männerwelt“ der Wirtschaft zu beklagen. Einige Aufsteigerinnen lassen sich davon jedoch nicht entmutigen, sondern zeigen in diesem Buch, was „Frauenpower“ vermag.

Bei den Recherchen zu diesem Buch habe ich eine überraschende Erfahrung gemacht: Es gibt nicht nur „verschämte Arme“ sondern auch „verschämte Aufsteiger“. Ich habe mir bei sehr bekannten Aufsteigern viele Körbe geholt. Bei manchen Top-Entscheidern in Wirtschaft und Politik und bei manchen Spitzenwissenschaftlern sitzt die Furcht tief, als Außenseiter und Emporkömmling zu gelten, wenn ihre soziale Herkunft oder die Mühen ihres Aufstiegs bekannt werden. Einige Vorbilder haben ihre Zusagen zu einem Porträt nicht eingehalten, nachdem sie mein kleines Gesprächsdrehbuch mit den mir besonders wichtigen Fragen erhalten haben. Sie hat der Mut verlassen, ein Vorbild zu sein. Es stimmt nachdenklich, wenn Vorstandsvorsitzende von Weltunternehmen am liebsten verschweigen, dass sie aus einfachen Verhältnissen oder aus einer ehrbaren Handwerkerfamilie stammen. Und man fragt sich schon, was die Sonntagsreden einiger Spitzenpolitiker zum „Aufstieg durch Bildung“ wert sind, wenn sie im Gegensatz zu Gerhard Schröder ihren Werdegang für strikt privat erklären, obwohl sie selbst ein Paradebeispiel für Aufsteiger abgeben. Derartige Parvenue-Phobien passen nicht zur Propagierung des Aufstiegs durch Bildung und Leistung.

Vielleicht denken manche Leser nach der Lektüre dieses Buches, dass die porträtierten Aufsteigerinnen und Aufsteiger Ausnahmen von der Regel einer „geschlossenen Gesellschaft“ sind. Dann jedoch ist die Frage umso spannender, was Menschen befähigt, die Türen aufzustoßen und aufzusteigen. Mich hat die Arbeit an diesem Buch davon überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft bei weitem nicht so geschlossen ist, wie sie in manchen Medien und von einigen Wissenschaftlern abgebildet wird, sondern viele Chancen bietet. Eine Illusion? Dieser Frage geht das Schlusskapitel nach.

Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt hat mir manche Tür geöffnet. Dafür danke ich ihm ebenso wie Hans-Olaf Henkel und den anderen Porträtierten, die mir gezeigt haben, dass man vieles erreichen kann, wenn man an sich glaubt. Bitte überzeugen Sie sich.

Zwischen Absteigerrepublik

und Aufsteigerrepublik

Wohin steuert Deutschland?

Als der Soziologieprofessor Michael Hartmann 2002 die Ergebnisse seiner Erforschung der Spitzenkarrieren in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft präsentierte und sie unter dem provozierenden Titel „Der Mythos von den Leistungseliten“ veröffentlichte, saß der Schock tief. Hartmann hatte die Lebensläufe promovierter Ingenieure, Juristen und Wirtschaftswissenschaftler der Promotionsjahrgänge 1955, 1965, 1975 und 1985 − insgesamt 6500 Personen – unter die Lupe genommen und den fast schon zur Gewissheit gewordenen Glaubenssatz erschüttert, der Weg bis in die Spitzen der Wirtschaft und der Gesellschaft führe allein über Bildung, Anstrengung und Leistung.

Aufstieg durch Leistung statt durch Privilegien und Herkunft war nicht nur das Credo der aus Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangenen Sozialdemokratie, sondern aller Parteien im Deutschen Bundestag gewesen. Die Aufstiegsperspektive war eines der Kernversprechen der Sozialen Marktwirtschaft. Sie galt als Beweis einer trotz aller sozialen Gegensätze gerechten Ordnung, denn damit konnte doch jeder seines eigenen Glückes Schmied werden.

Hartmann hatte herausgefunden, dass das Sprichwort für die Topetagen der Wirtschaft nicht galt und für die Justiz nur mit Einschränkungen zutraf. Am häufigsten fanden sich noch „Glücksschmiede“ in der Wissenschaft und in der Politik. Er hatte den Glauben widerlegt, die Rekrutierung der Eliten erfolge vorrangig anhand der individuellen Leistung. Zugleich hatte der Forscher reichlich Wasser in den Wein der Bildungspolitiker gegossen. Sie hatten erwartet, die Bildungsexpansion würde nicht nur den Zugang zu höher qualifizierenden Bildungsgängen erleichtern, sondern auch den Aufstieg in Elitepositionen. Dies bestätigten Hartmanns Untersuchungen nicht.

Der Darmstädter Professor fand außerdem heraus, dass neben der Leistung noch etwas anderes über eine Spitzenposition in Großkonzernen und an den Bundesgerichten entscheidet: die richtige Herkunft, die Herkunft aus dem gehobenen Bürgertum und dem Großbürgertum. In den 400 größten deutschen Unternehmen waren die Aussichten auf eine Position im Vorstand oder in der Geschäftsführung bei vollkommen gleicher Qualifikation (Studiendauer, Promotionsalter, Auslandssemester etc.) für Kinder aus dem Großbürgertum durchschnittlich dreimal so hoch wie für Promovierte aus der restlichen Bevölkerung. Für Kinder aus dem Bürgertum waren sie immerhin noch doppelt so gut. Wer von den Promovierten aus dem Haushalt eines leitenden Angestellten kam, hatte sogar eine zehnmal so große Chance, in die erste Führungsebene eines Großkonzerns zu gelangen wie sein fachlich gleich guter Kommilitone aus einer Arbeiterfamilie. Hatte ein Promovierter einen Geschäftsführer oder ein Vorstandsmitglied zum Vater, waren dessen Chan cen auf einen Topjob siebzehn mal besser.

Hartmann behauptete nicht, die Wirtschaftselite sei keine Leistungselite. Die Nieten-in-Nadelstreifen-Polemik sei, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, sogar unsinnig. Aber Leistung allein öffne nicht den Weg in die Elite.

Wer es in der Wirtschaft nach oben schaffen will, muss aus dem gehobenen Bürgertum oder dem Großbürgertum stammen, lautet Hartmanns Erfahrungssatz. Doch wie kommt es zur„Gnade der richtigen Geburt“ als wichtigstes Selektionskriterium für Top-Manager? Hartmann erläutert dies anhand der von dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu7 herausgefundenen „feinen Unterschiede“, dem milieubedingten Habitus eines Kandidaten. Wer in die Vorstände und Geschäftsführungen großer Unternehmen will, muss sich ähnlich verhalten wie diejenigen, die dort schon sitzen. Er muss den gleichen „Stallgeruch“ haben, die Dress- und Benimmcodes beherrschen, über eine breite bildungsbürgerliche Allgemeinbildung verfügen, unternehmerisch denken, vor allem aber persönliche Souveränität ausstrahlen, keine mühsam antrainierte, sondern eine durch das Aufwachsen in einer großbürgerlichen Familie ganz nebenbei erworbene Souveränität. Nun kann man mit dem Kolumnisten und Hannoveraner Sozialwissenschaftler Holger Rust sagen, die Wirklichkeit tanze der Statistik mit ungezählten Einzelfällen auf der Nase herum. Trotz der Mutmaßung, dass Spitzenpositionen durch „soziale Adoption“ vergeben würden, seien letztlich alle Herkunftsmilieus vertreten. Aber solche Einwände fechten Hartmann nicht an. Klaus Kleinfeld, dessen Vater sich vom Arbeiter zum Betriebsingenieur hoch gearbeitet hat, und der selbst Heinrich von Pierer als Siemens-Chef folgte, zählt ebenso wie BMW-Chef Norbert Reithofer, der in einem Metzgerhaushalt groß wurde, für Hartmann zu den Ausnahmen, die die Regel bestätigen. Nur zwischen 13 und 16 Prozent schaffen es nach seinen Forschungsergebnissen auch ohne den richtigen „Stallgeruch“ in das Topmanagement. Erlernen könne man vielleicht Dress- und Benimm-Codes, beim bildungsbürgerlichen Wissen werde es schwierig, der selbstverständliche Umgang mit diesem Wissen gelinge kaum. Schon das Gefühl, ein Manko zu haben, sorge für Unsicherheit.

Die Regel sieht für Hartmann so aus: Die deutsche Wirtschaftselite rekrutiert sich seit Jahrzehnten zu über vier Fünfteln aus dem Bürger- und Großbürgertum. Ungefähr jeder zweite Spitzenmanager kommt aus dem Großbürgertum. Ein weiteres Drittel stammt aus dem Bürgertum und nur 15 Prozent kommen aus der Arbeiterschaft und den Mittelschichten, zu denen 96,5 Prozent der Bevölkerung zählen. Hartmanns Fazit: eine geschlossene Gesellschaft.

Geschlossen auch hinsichtlich der Geschlechter. Frauen haben in dieser Elite immer noch den Status von Paradiesvögeln, denn die deutschen Eliten sind männlich. Allerdings hat sich der Anteil der Frauen in Elitepositionen zwischen 1981 und 1995 von drei auf dreizehn Prozent erhöht. Aber diesen Zuwachs führt Hartmann fast ausschließlich auf die Politik und von ihr stark beeinflusste Sektoren zurück.

Eine umfangreiche Studie, die ein Team der Wirtschaftsuniversität Wien unter der Leitung von Professor Wolfgang Mayrhofer über die Karrierewege deutschsprachiger Manager8 anfertigte, kam zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Hartmann.

Trotz der Symbolkraft der Elite und den in ihr vertretenen Ausnahmen reichen diese nicht aus, um eine Gesellschaft insgesamt als durchlässig oder undurchlässig, als Abstiegs- oder Aufstiegsgesellschaft zu beurteilen. Hartmann zögert angesichts dürftiger Daten, der deutschen Nachkriegsgesellschaft insgesamt ein Etikett aufzukleben. In den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren nach seiner Auffassung soziale Aufstiege vor allem in Berufen leichter, für die, wie für den Journalismus, keine formalen Zugangsvoraussetzungen galten, weil der Krieg große Lücken gerissen hatte und Millionen Flüchtlinge einen neuen Start versuchen mussten. In der Politik habe es deutlich mehr soziale Aufstiege als heute gegeben. In klassischen akademischen Berufen, in der Verwaltung und in der Justiz, für die das Studium die Eingangsvoraussetzung geblieben war, sei intergenerative Mobilität selten gewesen. Das habe sich erst in den siebziger Jahren geändert. Zwar will Professor Hartmann die Bundesrepublik des Jahres 2010 nicht als eine „Absteigerrepublik“ bezeichnen, jedoch ist sie für ihn eine zunehmend gespaltene Republik. Der Trend zur Polarisierung sei unverkennbar. Er sieht einen immer größer werdenden Prozentsatz von Menschen, deren Chancen auf einen Einstieg oder Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt gering seien. Der Anteil derjenigen, die nur 60 Prozent oder weniger des durchschnittlichen Einkommens erzielten, habe sich verdreifacht. Zugleich habe sich der Anteil derjenigen verdoppelt, die mehr als 130 Prozent des Durchschnittseinkommens erreichen. Die statistische Mitte schrumpfe.

Zu diesem Ergebnis kam auch dass Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin auf der Grundlage des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP). Nach der DIW-Studie (10/2008) ist die Mittelschicht9 in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2006 um rund fünf Millionen Personen geschrumpft. Der Anteil der Bezieher mittlerer Einkommen in der gesamten Bevölkerung ging von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 54 Prozent (rund 44 Millionen) im Jahr 2006 zurück. In den 80er Jahren gehörten in Westdeutschland rund zwei Drittel der Bevölkerung zur mittleren Einkommensschicht. Auch im ersten Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung blieb die Mittelschicht weitgehend stabil. Während anschließend aber die Mittelschicht schrumpfte, verfestigten sich die Schichten an den Rändern der Einkommensverteilung. Die unterste Einkommensschicht wuchs seit 2000 um knapp sieben Prozent und betrug im Jahr 2006 über ein Viertel der gesamten Bevölkerung.

Für diese Zunahme machen die DIW-Forscher nicht nur die konjunkturelle Schwächephase in dem beobachteten Zeitraum, sondern auch die Änderung der Beschäftigungsstruktur, die Zunahme der Zeitarbeit, der befristeten Arbeit, der Teilzeitarbeit und der geringfügigen Arbeit verantwortlich.

Der obere Einkommensbereich wuchs um zwei Prozent und lag im Jahr 2006 bei über einem Fünftel der Bevölkerung. Dieser Zuwachs ging ausschließlich auf die Gruppe mit dem höchsten Einkommen zurück. Soweit die DIW-Forscher. Ob sich dieser Trend auch in dem Aufschwung des Jahres 2007 mit einem realen Wachstumsplus von 2,5 Prozent und einem Anstieg der Erwerbstätigenzahl um 1,2 Millionen fortgesetzt hat, ließ sich zu Jahresbeginn 2010 so wenig beurteilen wie die Auswirkungen der schweren Rezession mit einem Schrumpfen des Bruttoinlandsproduktes 2009 um fast 5 Prozent und dem Anstieg der Kurzarbeiterzahl auf 1,3 Millionen. Der Sachverständigenrat Wirtschaft urteilte in seinem Jahresgutachten 2009/2010, im Vergleich zur Situation Mitte der 1980er Jahre sei in Deutschland und in vielen anderen OECD-Ländern eine Zunahme der Ungleichheit zu verzeichnen. Der Rat konstatierte wie das DIW eine Verfestigung an den Rändern der Einkommensverteilung.

Hartmann hat beobachtet, dass der Zugang zu Führungspositionen nach unten und zur Mitte immer stärker abgeschottet wird. Viele empfänden heute sozialen Aufstieg nicht mehr als ein Versprechen und als Chance, sondern als Bedrohung ihrer erreichten Position. In der Mitte selbst lebten viele in der Angst abzusteigen, aber es gebe immer noch Aufsteiger, wenn auch weniger als Absteiger.

Selbst im Bildungssystem überwiege nach der vierten Klasse, nach der 40 Prozent eines Jahrganges auf höhere Schulen − einschließlich der Fachoberschulen − wechselten, der Abstieg und nicht der Aufstieg. Es gebe dann noch kleine Schüleranteile, die auf Umwegen den Hochschulzugang erreichten, aber eine wirkliche Durchlässigkeit des Bildungssystems sei damit nicht gegeben, meint Hartmann.

Die Fachhochschulen, die ehemaligen Ingenieurschulen, seien früher dominiert worden von sozialen Aufsteigern, heute seien sie immer mehr zu Reservehochschulen für Akademikerkinder geworden, die die allgemeine Hochschulreife nicht geschafft haben. Sie retteten eher einen Status als ihn zu erhöhen.

Wer sich dieses Bild zu eigen macht, mag leicht zu dem Schluss kommen, wir lebten in einer Absteigerrepublik. Dafür finden sich unter Hartz-IV-Beziehern plakative Beispiele. Neben den Schatten gibt es jedoch auch Licht. Forschungsergebnisse des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) zeigen, dass sich mit dem Sozialgesetzbuch II (Hartz IV) die Arbeitsmarktchancen für diesen Personenkreis verbessert haben. „Daraus ist vorsichtig abzuleiten, dass sich die Arbeitsmarktpolitik auch und gerade im Rahmen des SGB II auf dem richtigen Weg befindet. Es wurde die Basis dafür geschaffen, einer Verfestigung der Langzeitarbeitslosigkeit entgegenzuwirken und eine Überwindung der Arbeitsmarktkrise bei der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Erholung zu beschleunigen“, hieß es in dem Bericht10. In dieser Studie zogen die IAB-Forscher eine Bilanz der fünf Jahre, seit denen das SGB II mit der Einführung der Grundsicherung galt. Kernstück des SGB II ist eine umfassende Aktivierung, die auf eine Stärkung der Eigenverantwortung und Autonomie der Betroffenen zielt. Auch wenn dies noch nicht voll zum Tragen komme, habe die strukturelle Arbeitslosigkeit verringert werden können, urteilten die Arbeitsmarktforscher. Es gibt also keinen Grund, alles schwarz in schwarz zu malen.

Mehrere IAB-Studien der letzten Jahre belegen, dass die Teilnahme an arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im SGB II generell zu einer Verbesserung der individuellen Eingliederungschancen beiträgt. So konnte gezeigt werden, dass arbeitsmarktnahe Instrumente – wie Eingliederungszuschüsse und betriebliche Trainingsmaßnahmen – bei Hartz-IV-Empfängern ähnlich gut wirken wie bei Arbeitslosengeldbeziehern nach dem SGB III. Das IAB berichtete auch über erste Ergebnisse zur Förderung der beruflichen Weiterbildung (FbW) im SGB II. Sie verdeutlichen, dass Weiterbildungsmaßnahmen auch im Bereich der Grundsicherung ein effektives Instrument sein können.

Auch der Niedriglohnbereich ist nicht für alle dort Beschäftigten eine Sackgasse. Das IAB kam in einer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass etwa 13 Prozent der Beschäftigten, die im Niedriglohnsektor anfangen – also etwa jedem Achten – der Aufstieg in einen besser bezahlten Bereich gelingt11. Jeder fünfte Mann schafft den Aufstieg, von den Frauen nur jede zehnte.

Wer sich um Details bemüht, findet viele Daten für eine differenzierte Beurteilung und Korrektur des Bildes einer Absteigerrepublik.

Eine Studie, die das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) 2009 für das Roman-Herzog-Institut zum „Recht auf Aufstieg“ angefertigt hat, zeigte, dass die Aufstiegschancen der Deutschen besser sind, als sie meinen. Die Einkommensmobilität bewegt sich in Deutschland im internationalen Rahmen. Die Aufstiegschancen, gemessen am Einkommen, sind nicht einmal in den USA wesentlich höher. Sowohl in Deutschland als auch in den USA schaffen jeweils rund ein Drittel der Menschen aus der untersten Einkommensschicht den sozialen Aufstieg. Zieht man die Daten des Sozio-Ökonomischen Panels für 1995 und 2007 heran, sind sogar 55 Prozent der Menschen in Deutschland in der Einkommensschichtung aufgestiegen, die meisten davon allerdings nur in die beiden nächst höheren Einkommensgruppen. Fünf Prozent schafften es in die höchste Einkommensgruppe. Die tatsächliche Aufwärtsmobilität ist erheblich höher als die wahrgenommene Chance auf einen Aufstieg. Allerdings kommt auch das IW zu dem Befund, dass sich die Aufwärtsmobilität der untersten Einkommensschicht in den letzten Jahren verringert hat. Dies führen die Autoren der Studie jedoch unter anderem auf den Wandel der Haushaltsstrukturen zu mehr Ein-Personen- und Alleinerziehenden-Haushalten zurück.

Besonders hoch ist die Einkommensmobilität von Universitätsabsolventen. Fast drei Viertel von ihnen konnten sich binnen zwölf Jahren um eine oder mehrere Einkommensgruppen verbessern. Die Daten der IW-Arbeitsmarktexperten zeigen, dass sozialer Aufstieg auch in Deutschland vor allem von der Leistung abhängt − also über Bildung und Arbeit erfolgt.

Dies bestätigt auch eine Wiederholungsbefragung der Hochschul-Informations-System GmbH von Universitäts- und FH-Absolventen unter dem Titel „Aufgestiegen und erfolgreich“. Zehn Jahre nach dem 1997 abgelegten Examen waren 16 Prozent (FH) bzw. 13 Prozent (Uni) der Absolventen leitende Angestellte. Zusammen mit den Gruppen der wissenschaftlichen Angestellten und der Selbstständigen bzw. Freiberufler sowie der Beamten nahmen die Absolventinnen und Absolventen zu ganz überwiegenden Anteilen angemessene Positionen ein. Die Einkommen der Vollzeiterwerbstätigen nach FH- oder Universitätsstudium lagen inklusive aller Zulagen durchschnittlich gleichermaßen hoch.

Besonders viele soziale Aufsteiger im Sinne der Generationenmobilität gibt es unter den Professoren der Ingenieurwissenschaften und der Informatik. Nach Befragungen der Forscher Manfred Nagel und Gerhard Müller12 haben 64 Prozent der Befragten Eltern, die beide nicht studiert haben. Überdurchschnittlich viele Professoren stammen aus handwerklich geprägten Familien. Die in letzter Zeit gesunkene Zahl der sozialen Aufsteiger in den Ingenieurwissenschaften erklären die Forscher mit dem Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft und der Zunahme der Akademikerquote. Kinder sozial „Angekommener“ könnten nun einmal selbst keine sozialen Aufsteiger mehr werden. Wie sehr Bildung und Weiterbildung Karrieren fördern, zeigen die Ergebnisse der Aufstiegsfortbildung. Im Handwerk machen Jahr für Jahr mehr als 20 000 Gesellen die Meisterprüfung. Als Motiv für die Meisterprüfung geben die Jungmeister vor allem den Wunsch an, beruflich voranzukommen und persönlich aufzusteigen. Die Meisterschule bleibt damit die wichtigste Aufstiegsfortbildung für die nichtakademischen Teile der Gesellschaft. 2010 strebte – wie in den Vorjahren – fast die Hälfte der Meisterjahrgänge in die Selbstständigkeit. Knapp ein Zehntel ist bereits selbstständig, für die anderen steht dieser Schritt in absehbarer Zeit an.

Was junge Handwerker motiviert, die Meisterprüfung abzulegen, haben die Handwerkskammern13 in den Jungmeisterumfragen 2010 wissen wollen. Mehr als die Hälfte gibt als Grund „die Freude an der Weiterbildung“ an. Fast zwei Drittel äußern den Wunsch nach beruflichem Aufstieg. Auch das Kernmotiv „berufliche Selbstständigkeit“ wird durch die Umfrage bestätigt. Jeweils rund vier von zehn Befragten betonen den Zusammenhang „Meisterprüfung – Selbstständigkeit“ und „Aufstieg durch Selbstständigkeit“. Im Meisterbrief sehen sie die Basis für verantwortliche Aufgaben als Führungskraft im Angestelltenverhältnis. Bei den Industrie- und Handelskammern haben seit der Wiedervereinigung mehr als 830 000 Menschen eine Prüfung als Fachkaufmann, Fachwirt, Industriemeister, Bilanzbuchhalter oder Betriebswirt gemacht. Die Weiterbildung hat sich für sie gelohnt: 70 Prozent sind aufgestiegen oder haben einen größeren Verantwortungsbereich erhalten, 61 Prozent haben mehr verdient.

Der individuelle und der gesellschaftliche Nutzen der Weiterbildung wird sich noch erhöhen, wenn in den kommenden Jahrzehnten aufgrund des demografischen Wandels der Fachkräftemangel zunehmen und sich der Strukturwandel zur Dienstleistungsgesellschaft beschleunigen wird. Je nach Berechnungsart könnte das deutsche Erwerbspersonenpotenzial bis 2025 um bis zu sieben Millionen schrumpfen. Die voraussehbaren Engpässe auf dem Arbeitsmarkt können kaum durch eine höhere Zuwanderung überwunden werden. Not tun eine höhere Erwerbsbeteiligung der Älteren und der Frauen sowie eine Qualifizierung für die stark expandierenden unternehmensnahen Dienstleistungen. 2008 und 2009 haben etwa ein Viertel aller Beschäftigten an Weiterbildungsmaßnahmen teilgenommen. Das ist ein guter, aber kein ausreichender Wert. Wer sich qualifiziert, wird angesichts des steigenden Fachkräftemangels weitaus bessere Beschäftigungs- und Aufstiegschancen als in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts haben.

Beim Blättern im „Buch der Bildungsrepublik“14 findet man Dutzende von faszinierenden Aufstiegskarrieren gerade auch von Migranten oder deren Kindern. Handicaps und Benachteiligungen von jungen Menschen mit einer familiären Zuwanderungsgeschichte abzubauen, ist nicht nur eine Frage der Chancengerechtigkeit, sondern auch der Ausschöpfung des Nachwuchspotenzials, auf das die alternde und schrumpfende deutsche Gesellschaft angewiesen ist. Wie groß diese Herausforderung ist, spiegelt sich darin, dass 40 Prozent der Kinder aus Migrantenfamilien − fast dreimal so viele wie deutsche Jugendlichen − keinen beruflichen Abschluss haben und 17,5 Prozent die Schulen ohne Abschluss verlassen. Die Wahrscheinlichkeit von Hauptschülern mit einem Migrationshintergrund eine Lehre zu beginnen, liegt nur bei 32 Prozent, fast 60 Prozent landen zunächst in Übergangssystemen. Das erhöht nicht nur die Armutsgefahr und das Risiko der Arbeitslosigkeit, sondern erschwert die Integration.

Die Frage, wohin Deutschland steuert, entscheidet sich auch an der Antwort, welche Ausbildungs- und Aufstiegschancen es seinen Migranten bietet. Fast jeder fünfte Einwohner Deutschlands (19 Prozent) bzw. 15,6 Millionen von 82,1 Millionen hatte 2008 einen Migrationshintergrund. Darunter waren 7,3 Millionen Ausländer und 8,3 Millionen Deutsche. Aus der Türkei stammten 2,9 Millionen. Im Handwerk haben 400 000 bis 450 000 Mitarbeiter (acht bis neun Prozent gegenüber 7,1 Prozent in der Gesamtwirtschaft) einen ausländischen Pass, aber noch weitaus mehr kommen aus eingebürgerten Migrantenfamilien. Und in den Lehrgängen der Bildungsstätten des Handwerks haben weitaus mehr, nämlich 70 bis 80 Prozent der Teilnehmer einen Migrationshintergrund. Um den Trend zu verdeutlichen, formuliert der Zentralverband des deutschen Handwerks: „Der Meister der Zukunft ist ein Türke“. „Der Türke“ steht als Synonym für eine Person mit Migrationshintergrund. Damit will das Handwerk bewusst machen, dass es aufgrund des demografischen Wandels immer schwieriger werden wird, Angehörige der Mehrheitsgesellschaft für eine handwerkliche Ausbildung zu interessieren. Die Gruppe der Migranten stellt für das Handwerk ein großes Potenzial zur Nachwuchssicherung dar, und an Aufstiegswillen mangelt es den meisten Migrantenkindern nicht. Stellvertretend für viele andere benennt es der in seinen ersten Schuljahren unter einer Legasthenie leidende Fernsehmoderater, der „fröhlichste Morgenwecker der Nation“, Cherno Jobatey: „Mein Ticket aus den Berliner Hinterhöfen war Bildung, Wissen, Glück und jede Menge harte Arbeit.“15

Wie die hier zusammengetragenen Daten zeigen, sind die Alternativen „Absteiger- oder Aufsteigerrepublik“ nicht zur Beschreibung der gesellschaftlichen Entwicklung geeignet. Die „Absteigerrepublik“ ist ein Zerrbild, das die von Millionen Menschen wahrgenommen Aufstiegschancen ausblendet, die „Aufsteigerrepublik“ ist ein Wunschbild, das das Schrumpfen der Mittelschicht und die Abstiege in die Hartz-IV-Grundsicherung ignoriert.

Doch die Polarisierung der Gesellschaft in „die da unten“ und „die da oben“ hat zugenommen. Zumindest scheint es so, wenn man den Medien Glauben schenkt. Nach dem Motto „Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht“ finden sich Berichte über Probleme und Versäumnisse öfter auf den Titelseiten als Meldungen über Gelungenes. In manchen Fällen ist es auch die Angst, der „Hofberichterstattung“ verdächtigt zu werden, die die Medien lieber zur überkritischen Brille greifen lässt.

Erstaunlicherweise scheint die heutige junge Generation in Deutschland von den Schreckensmeldungen unberührt. Sie hat sich weder durch die Wirtschaftskrise der Jahre 2008 und 2009 noch durch die unsicher gewordenen Berufsverläufe und -perspektiven von ihrer optimistischen Grundhaltung abbringen lassen. Fast zwei von drei Jugendlichen blicken ihrer Zukunft zuversichtlich entgegen und fast drei von vier sind überzeugt davon, sich ihre beruflichen Wünsche erfüllen zu können. Mit dieser guten Nachricht wartete die Shell-Jugendstudie des Jahres 2010 auf. Für die Studie wurden mehr als 2.500 Jugendliche im Alter von zwölf bis 25 Jahren zu ihrer Lebenssituation, ihren Glaubens- und Wertvorstellungen sowie ihrer Einstellung zur Politik befragt. Eines der wichtigsten Ergebnisse: Die Jugend des Jahres 2010 zeichnet sich durch Optimismus und Selbstvertrauen aus, persönlicher Erfolg ist ihr wichtig, Fleiß und Leistungsbereitschaft stehen bei den meisten hoch im Kurs.

Die jungen Menschen wollen aus ihrem Leben etwas machen, vorwärts kommen, Erfolg haben und aufsteigen. So fatalistisch, wie andere Umfragen Glauben machen, sind viele nicht. Sie ahnen oder wissen auch, dass sie die Unternehmer ihres Lebens sind, dass der Schlüssel zum persönlichen Erfolg bei ihnen selbst liegt, bei ihrer Bildungs- und Leistu ngsbereitschaft.

Wie kann man sie in diesem Bemühen besser unterstützen als mit Beispielen, mit Vorbildern, die sie ermutigen, an die eigene Kraft zu glauben, an die eigene Selbstwirksamkeit, wie dies die Psychologen nennen. Der römische Dichter und Philosoph Seneca wusste: „Die Menschen glauben den Augen mehr als den Ohren. Lehren sind ein langweiliger Weg, Vorbilder ein kurzer, der schnell zum Ziel führt.“ Im Grunde ist es ein ganz altmodisches Konzept, weswegen in den Medien Anregungen und Tipps gerne von „Prominenten“ gegeben werden. Man muss aber nicht prominent sein, um ein gutes Vorbild abzugeben. Die folgenden Porträts zeigen solche Vorbilder. Sie kommen aus unterschiedlichen Welten, aber alle haben sie aus den Steinen, die ihnen im Weg lagen, schöne Dinge gebaut. Sie haben keinen Fahrstuhl zum Erfolg vorgefunden. Der schweißtreibende Weg nach oben führte sie über eine Treppe mit vielen Stufen. Was sie eint, ist der Mut, den ersten und viele weitere Schritte zu tun, um ihre Vorstellung von Erfolg und Glück zu verwirklichen.

Jeder ist der Unternehmer

seines Lebens

„Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt“

Nach dem griechischen Dichter Hesiod

Hans-Olaf Henkel

Der Freiheitskämpfer     

„Jeder Mensch verdient eine zweite Chance“

In den Bestseller-Listen stehen die Bücher von Hans-Olaf-Henkel im Januar und Februar 2010 auf einem der vorderen Plätze, unter den Wirtschaftsbüchern auf Platz eins. Sein sechstes Buch geht weg wie warme Semmeln.

Den Erfolg kann sich Henkel selbst nicht so recht erklären. Für das Buch wird nicht stark geworben. Den Leitmedien der Nation ist es nur Kurzrezensionen wert, einige ignorieren es. Vielleicht liegt es am Titel, meint der bald siebzigjährige Autor. „Die Abwracker“ hat Henkel sein Buch zur Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 genannt. Der Heyne-Verlag hat die Unterzeile hinzugefügt: „Wie Zocker und Politiker unsere Zukunft verspielen“.

Das Buch ist eine scharfsinnige Analyse der Ursachen der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit und eine knallharte Abrechnung mit Versagern unter Staatsbankern, Politikern, Spitzenbeamten und Managern. Henkel weist ihnen einen neuen Platz in der Gesellschaft zu: Die Hall of Shame.

Es ist ihm gleich, ob den von ihm Angeklagten die Scham- oder Zornesröte ins Gesicht steigt. Er bekennt sich zu seiner Subjektivität, der Innenansicht einer Krise, die er als Privatmann und als Aufsichtsratsmitglied großer Unternehmen miterlebt hat. Dieses persönliche Erleben der Krise, der Verführungen, der Verantwortungslosigkeit, der Überforderung und Fehlentscheidungen, erzählt im fesselnden Ich-Stil, macht „Die Abwracker“ spannend wie einen guten Kriminalroman.

„Im Auge des Hurrikans“ wollte Henkel das Buch zunächst nennen, aber als die Abwrackprämie fast zum Unwort des Jahres 2009 geworden wäre, fand er „Die Abwracker“ besser. Die politische Klasse kommt darin schlecht weg. Henkel sieht sie in der Verantwortung für das drohende Platzen der „Beschäftigungsblase“, der „Schuldenblase“, der „Sozialversicherungsblase“ und auch dafür, dass sein 13-Punkte-Reformprogramm wohl in der Ablage verschwinden dürfte.

Um „politische Korrektheit“ hat sich Henkel nie geschert, obwohl ihm die Reaktionen auf seine zuweilen provozierenden und polarisierenden Äußerungen nicht gleichgültig sind. Nach dem Erscheinen der „Abwracker“ hat ihn, obgleich er keine E-Mail-Adresse angegeben hat, eine Welle elektronischer Post überflutet. Er hat viel Zustimmung, aber auch üble Beleidigungen erhalten. Henkel tröstet sich damit, dass diejenigen, die ihn verunglimpfen, das Buch nicht gelesen haben.

Henkel liebt es trocken und direkt. Er weiß zuzuspitzen, spricht und schreibt Klar-Text, nicht um Auflage zu machen, sondern um aufzurütteln. Der ehemalige IBM-Top-Manager und frühere Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie ist ein bekennender Neoliberaler. Er ist Verfechter einer wertgebundenen, Regeln setzenden Ordnung, einer Wirtschaftsordnung der verantworteten Freiheit, in der sich Fürsorge für die Gesellschaft und die Freiheit die Waage halten. Ohne marktwirtschaftliche Befreiung können nach seiner Auffassung die Volkswirtschaft und die Gesellschaft nicht gesunden.

Mit dem scharfzüngigen Kämpfer für eine Marktwirtschaft ohne Attribute und Streiter gegen den Neosozialismus liegen viele über Kreuz. Es sind gerade die Reibflächen, die Henkel bietet, die ihn zu einem begehrten Gast in den Talkshows der Nation machen. An diesen Reibflächen lässt sich eine heiße Diskussion entzünden. Das schätzen die Dramaturgen der Shows. Wenn dann noch jemand das Charakterfach des kompromisslosen Marktwirtschaftlers so beherrscht wie Henkel und kämpft wie der letzte Samurai, ist er für die Regie eine Pflichtbesetzung. Es findet sich auch kaum ein anderer Wirtschaftssprecher, der es in der freien Rede mit Henkel aufnehmen könnte. „Der deutsche Vorstandschef“, spottet Henkel, „trennt sich eher von seiner Frau als von seinem Manuskript“.

Manche Menschen tragen einen Kompass in sich. Er hilft ihnen, ihr Leben lang Kurs zu halten. Für Henkel ist dies die Suche nach Freiheit. Sie steckt hinter der Auflehnung des kleinen Jungen gegen seine Mutter, hinter dem Aufbegehren gegen die Internatslehrer, hinter dem Abweichen von vorgezeichneten Karrierewegen. Henkel braucht zur Entfaltung seiner Talente und Fähigkeiten Freiräume so nötig wie Fische das Wasser. „Freiheit ist eine Macht, die nur der entdeckt, der sie sich erarbeitet“, schreibt Henkel in seinen 2001 erschienen Erinnerungen. Er hat seine bei Econ verlegten Memoiren – seinen ersten Bestseller – mit dem Titel „Die Macht der Freiheit“ versehen. Diese Erinnerungen, viele Interviews und Moderationen aus meiner Chefredakteurszeit sowie ein Anfang Februar 2010 geführtes, mehrstündiges Gespräch bilden die Grundlage für dieses Porträt.

Henkel akzeptiert das Etikett des „Freiheitskämpfers“ noch aus einem anderen Grund. Es passt für ihn auch, weil er sich als Mitglied von amnesty international für die Freiheit anderer Menschen engagiert, viele Petitionen geschrieben hat und weil er überzeugt ist, dass Marktwirtschaft, Demokratie und Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind. Zu seinem sechzigsten Geburtstag im Jahr 2000 hat er statt persönlicher Geschenke um Spenden für ai gebeten. 130 000 D-Mark sind zusammengekommen. Das in dem Wort „Freiheitskämpfer“ mitschwingende Pathos mag er allerdings nicht. Dazu ist er zu sehr Hanseat.

Über Henkels Kindheit liegt wie ein dunkler Schatten der frühe Tod des geliebten Vaters. Hans Henkel wird nur 39 Jahre alt. Das Glück, das der Vater mit seiner kleinen Familie und der florierenden Generalvertretung für Papierbedarf hat, endet abrupt. Hans Henkel stirbt im Januar 1945 im Kessel von Budapest. Als Hans-Olaf Henkel Jahre später erfährt, dass sein Vater auf dem Gräberfeld des Budapester Zentralfriedhofes zusammen mit neuntausend deutschen Soldaten bestattet ist, kann er die Tränen nicht unterdrücken. Er besucht den Friedhof und entdeckt den Namen des Vaters auf einer von drei Bronzetafeln. Im Abstand von wenigen Jahren kehrt er immer wieder an das Grab zurück.

Der Vater Hans Henkel war ein Erfolgsmensch, die Mutter, eine nordische, aus einfachen Verhältnissen stammende Schönheit, war es auch. Sie wollte aufsteigen, hatte den Willen zum Glück und fand es in der Ehe mit dem tüchtigen und lebenslustigen Geschäftsmann Hans Henkel. Hans-Olaf, sechs Jahre nach seiner Schwester Karin geboren, ist in seinen ersten Schuljahren alles andere als ein Erfolgsmensch. Das eine Mal fliegt er von der Schule, das andere Mal muss er sie verlassen, weil er nicht mitkommt, dann wieder muss er eine neue Schule besuchen, weil er umzieht. Während seiner Kindheit besucht er sieben Schulen und lebt in drei Heimen.

Mit der Mutter, die nicht weniger erfolgreich als der Vater die Generalvertretung weiterführt, stößt der kleine Hans-Olaf immer häufiger zusammen. Sie ist ihm nicht nur zu exzentrisch, sondern auch zu streng, zu autoritär. Der aufmüpfige Sohn verträgt das nicht. Selbstkritisch räumt Henkel ein, er habe seiner Mutter mit seinen ständigen Widerworten und dem Infragestellen ihrer Autorität häufig Unrecht getan. Die drei Henkel-Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen, fühlen sich nicht innig geliebt. Noch heute klingt ihnen die Warnung der Mutter im Ohr: „Schafft euch bloß keine Kinder an.“ Die Kinder sind der Mutter, die schon durch das Geschäft stark gefordert ist, zu einer Last geworden, die sie schwer allein tragen kann. Da sie selbst auf eigenen Füßen stehen muss, sollen auch ihre Kinder früh selbstständig werden. Das Fördern früher Selbstständigkeit ist ein eigentlich Erfolg versprechendes Erziehungsprinzip. Aber Hans-Olaf Henkel, von der Mutter für einundeinhalbes Jahr in ein strenges katholisches Nonnenstift gesteckt, fühlt sich ausgestoßen.

Nach zwei weiteren Schulwechseln und erneuten Auseinandersetzungen meldet die Mutter den Vierzehnjährigen im „Rauhen Haus“ an. Der Name trügt, wie Henkel bald bemerkt. Er rührt nicht von rauen Erziehungsmethoden, sondern von der rauen Außenfassade des ersten Hauses des 1832 gegründeten Wichern-Stiftes her. Aus dem Stift hat sich die Diakonie entwickelt. Das „Rauhe Haus“ gilt als Heim für problematische Kinder. Die Kinder und Heranwachsenden werden dort nach dem Familienprinzip erzogen. Ein Diakon betreut wie ein älterer Bruder jeweils zehn bis zwölf Kinder. Henkel verbringt ein halbes Jahr im „Rauhen Haus“. Die Fürsorge der Diakone tut ihm gut. Der Knoten platzt. Er fühlt sich an die Hand genommen und beginnt zu lernen. Später, auf der Hochschule für Wirtschaft und Politik, wird er bei Ralf Dahrendorf eine Abschlussarbeit mit dem Thema schreiben: „Die soziale Herkunft der Diakone der Inneren Mission und Gründe für den Eintritt in die Diakonie“.

Anderes als zu lernen bleibt ihm auch nicht übrig, denn die Mutter hat ihm Auswege versperrt. Henkel entdeckt, dass ihm im „Rauhen Haus“ mehr Freiheit gewährt wird, wenn er sich anstrengt. Das weckt seinen Ehrgeiz und trägt Früchte. Nach kurzer Zeit steigt er in eine andere Familie auf, in der es weniger streng zugeht. Er wird einer der besten Schüler in der Klasse und darf das Heim verlassen. Es ist ein erstes Erfolgserlebnis, er hatte aus eigener Kraft etwas erreicht. Auf einer Schule im Hamburger Stadtteil Poppenbüttel macht Henkel die mittlere Reife. Das Abschlusszeugnis fällt durchschnittlich aus.