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Endlich, der 130. Geburtstag! Am Grund des Chiemsees, im Reich Shenja, steht die Elfenwelt kopf, denn die liebenswerte Elfenprinzessin Nimue feiert in wenigen Tagen ihr Uaneala-Fest! Das ist im Reich etwas ganz Besonderes: Aus dem Kind wird eine junge Erwachsene. Die Vorbereitungen für das große Fest auf dem Schloss laufen und Nimue überlegt währenddessen fieberhaft, was ihr Uaneala-Wunsch sein soll. Mit gemischten Gefühlen schaut die außergewöhnliche Elfe auf das bevorstehende Fest und den neuen Lebensabschnitt. Ruhe findet sie bei ihrer schützenden Eiche Aaro. Während sie der Hektik am Hof dorthin entflieht, bekommt das behütet aufgewachsene Elfenmädchen eine unangenehme Ahnung davon, dass es auch Gefahren in ihrem Leben geben wird. Und dass die größte Gefahr nicht nur aus der Schatten- und Dunkelwelt kommen könnte, sondern in nächster Nähe lauert. Kann sie ihrer inneren Stimme vertrauen? Und ist sie der Verantwortung für das Reich Shenja und für ihre geliebte Familie gewachsen? Sie erfährt von einem Stein, der große Hoffnung, aber auch Gefahren bergen kann. Nimue stellt sich der Herausforderung an. Das Abenteuer beginnt.
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Yvonne Elisabeth Reiter
Die Chiemsee Elfen
1. Auflage 2020Copyright ©2020 Yvonne Elisabeth Reiter
Chiemgauer VerlagshausDahlienweg 5, 83254 Breitbrunnwww.chiemgauerverlagshaus.deAlle Rechte vorbehalten
Illustrationen/Zeichnungen: Stefanie Dirscherl, Bernau am Chiemsee
Coverdesign: Constanze Kramer, coverboutique.de
Coverbilder: ©zeremskimilan, ©Vladislav Gudovskiy, ©Alekss, ©Lilya, ©jaboo2a[email protected], ©Jochen Netzker, ©Laura Pashkevich, ©zenina – stock.adobe.com
E-Book Konvertierung: Constanze Kramer, coverboutique.de
»Bitte, bitte, Seanair«, bettelte Nimue und zog wild an dem Rockzipfel ihres Großvaters. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an und bemerkte, dass sich nun endlich seine Gesichtszüge entspannten. Sie wusste genau, warum dies geschah; es war das Wort Seanair. Es bedeutet auf Gälisch Großvater, die Sprache ihrer Ahnen. Wenn Nimue im Gegensatz zu ihrem Großvater etwas unbedingt wollte, sprach sie ein paar Worte in Gälisch und schon bekam sie beinahe jeden Wunsch erfüllt.
»Bitte, Seanair, erzähl mir von meinen Vorfahren und ihrer alten Heimat«, bekräftigte sie noch einmal ihre Bitte.
Ihr Großvater nahm langsam in einem extra großen Ohrensessel Platz. Er holte tief Luft.
»Nun gut, meine Kleine, dann pass auf«, erwiderte Aar und sank dabei tief in den purpurroten, samtweichen Stuhl.
Nimue liebte diesen großen Sessel, in dem sie niemals selbst saß. Die breiten Armlehnen sowie auch die Füße waren aus altem Eichenholz. Er sah majestätisch aus und trotzdem gemütlich. Sie setzte sich auf den Boden und lehnte ihren Kopf an die Beine ihres Großvaters. Dabei blickte sie auf das prasselnde Feuer im Kamin, das den Raum mit einem sanften orange-gelben Licht erhellte.
Aar legte seine Hand auf ihren Kopf und streichelte sanft über ihr Haar. Da begann er mit weicher Stimme zu erzählen: »Deine Vorfahren stammen aus dem schottischen Hochland, welches in Gälisch A‘Ghàidhealtachd genannt wird. Im Wald, am Rand des kleinen Dörfchens Cridhe, wuchsen sie auf. Der Ort war besonders schön gelegen, direkt an einer Steilküste der Nordsee.«
Nimue versuchte sich in Gedanken Cridhe vorzustellen. Dabei entdeckte sie Holzhäuser, die hoch oben auf einem Felsen über dem Meer standen. Diese wurden scheinbar von einem in die Höhe wachsenden, dichten Wald beschützt, der nur wenige grüne Flächen freigab. Das sich zu Wellen aufbäumende Wasser der Nordsee glitzerte im Sonnenlicht. Mit einer Wucht prallte es gegen die Felsen und doch ließ sich das alte Gestein nicht davon beeindrucken. Die Vorstellung einer derartig schönen Natur löste eine Wärme in Nimue aus, die die weiteren Worte ihres Großvaters noch tiefer in sie sinken ließen.
»Sie waren große Gestalten mit langen blonden oder braunen Haaren und so hübsch, wie du es bist.«
Nimue grinste ihn fröhlich an und fragte: »Sie waren größer als wir, nicht wahr, Opa?«
Er nickte. »Ja, größer als wir es heute sind. Aufgrund der langen und beschwerlichen Reise durch Land und Wasser haben sich unsere Vorfahren den Umständen entsprechend angepasst und sind daher in ihrer Größe um mehrere Zentimeter kleiner geworden.«
Erstaunt über diese Tatsache lehnte sie ihren Kopf zurück an sein Bein und lauschte weiter seinen Worten.
»Während sie in der Tiefe des Meeres entlangzogen, wurde die Beweglichkeit immer wichtiger. Sie wollten so schnell wie möglich eine neue Heimat finden. Eine geringere Größe unterstützte ihre Fortbewegung im Wasser. Trotzdem dauerte es Hunderte von Jahren bis sie den Ozean durchquert hatten« – kurz hielt er inne und atmete tief ein, um die weiteren Worte weich und sanft aus der Tiefe seines Körpers gleiten zu lassen – »vorher jedoch, da waren sie große Waldelfen, die über Jahrtausende friedlich in ihrem Königreich gelebt hatten. Damals regierte König Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Urgroßvater war. Meine Mutter hat mir aus ihrer tiefen Verbundenheit heraus seinen Namen gegeben.«
Nimue nickte, ohne seine Aussage mit Worten zu bestätigen.
»Ich habe gehört«, schwärmte er daraufhin, »dass die Blumen fortwährend blühten, und die Bäume waren das ganze Jahr über voller Blätter. Nur die Farben verrieten die jeweiligen Jahreszeiten. Der Frühling zeigte sich hell- bis smaragdgrün, der Sommer vermischte das Grün mit Gelb und Orange, der Herbst färbte es braun ein und der Winter verwandelte die Blätter langsam wieder zu einem strahlenden Grün.«
»Oh, wie schön, Opa.«
»Ja, das war es«, stimmte er Nimue zu. Da änderte sich seine Tonlage, die nun einen Ernst und eine Traurigkeit enthielt und damit seine nächsten Worte mit ihrer Schicksalsschwere unterstrich: »Bis die Dunkelelfen kamen und unser Volk vertrieben.«
»Warum haben sie das getan?«
»Der Kampf um Macht und Herrschaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dunkelelfen sind?«
Nimue hatte natürlich bereits über diese Wesen etwas gehört, dennoch wollte sie ihr Gedächtnis auffrischen. Sie schüttelte ihren Kopf, um ihre Unwissenheit anzudeuten.
»Die Dunkelelfen sind vom gleichen Urelfenstamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwestern und Brüder. Die Geburt unserer Urväter hat ein Gleichgewicht auf der Erde geschaffen, indem das Universum dem Guten und dem Bösen als Zwillingspaar zu gleichen Teilen das Leben schenkte. Wir gehören zu den Lichtelfen, wie du weißt. Dennoch sind die Dunkelelfen mit uns verwandt. Ihre Wesenheit ist jedoch grundverschieden. Sie sind hinterhältig und böse. Ich kann dir raten, ihnen immer aus dem Weg zu gehen. Lass dich niemals von ihnen täuschen« – seine Stimme wurde ausdrucksvoll tief – »denn auf den ersten Blick wirken sie gewinnend und freundlich. Man merkt ihnen ihre wahren Absichten nicht sofort an.«
Nimue spürte, wie sich ein eigenartiges, unangenehmes Gefühl in ihrer Brust ausbreitete.
»Wie kann ich wissen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dunkelelfe ist?«, wunderte sie sich.
Er lächelte sie liebevoll an und strich ihr dabei sanft übers Haar.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Vertraue deinem inneren Gefühl und es wird dir nichts passieren. Die Menschen nennen es Intuition. Sie wird dich immer gut und sicher leiten.«
Nimue war nicht gerade zufrieden mit dieser Antwort. Was sollte das heißen: inneres Gefühl? Und wie konnte sie dieses aktivieren? Sie beschloss, erst seinen Worten weiter zu lauschen und dann später noch einmal darauf zurückzukommen.
»Nachdem sie Cridhe verlassen haben, wanderten sie östlich der Küste entlang nach England. Weißt du, was Cridhe bedeutet?«
Sie schüttelte ihren Kopf, sodass ihr langes Haar leicht im Wind wehte.
»Cridhe gehört der Sprache deiner Vorfahren an und heißt übersetzt: das Herz. Es bezeichnet auch den Ursprung, also den Kern einer Sache, und trägt in sich die Fähigkeit, mutig zu sein. Als Dorfname verkörperte es das Herz des Volkes, das in diesem Ort gemeinsam lebte, also das Gemeinschaftsherz des Elfenstammes Shenja. Alle dort lebenden Elfen waren gute Wesen. Diese positive Energie ließ das Gemeinschaftsherz stark und kräftig schlagen.«
Ein Moment der Stille trat ein, in der Aar nachdenklich wirkte. »In diesem Dorf lebten nicht nur Elfen, sondern auch Menschen. Der kleine Bruder von König Aar verliebte sich in ein Menschenmädchen und heiratete sie. Ihr Name war Josephine und beide lebten im Königsschloss. Sie waren ein glückliches Paar, das am Tage ihrer Hochzeit in eine prächtige Zukunft blickte. Dieses Schicksal sollte sich jedoch wenden und so mussten sie mit ihrem Volk fliehen, um ihr Leben zu retten. Auf der Reise gebar Josephine zwei gesunde Kinder, die sie an der Küste von Cornwall mit ihrem Mann weiter durchs Wasser ziehen ließ.«
»Warum hat sie das getan? Hatte sie ihre Kinder nicht lieb, Opa?«
Aar schüttelte leicht den Kopf und meinte: »Nein, nein, das war nicht der Grund. Ganz im Gegenteil. Es war viel zu gefährlich, die Kinder zurückzulassen, und so gab Josephine sie frei, um sie zu schützen.«
»Wie meinst du das?«
»Um durch das Wasser ziehen zu können, brauchte sie die feinstoffliche Hülle einer Elfenhaut. Als Mensch war es ihr nicht möglich, sich der schwierigen Umgebung anzupassen sowie so lange unter Wasser zu bleiben. Durch die Schwangerschaften mit Elfenkindern hatte sich ihre Haut bereits verwandelt, dennoch nicht genug, um die Reise zu überstehen.«
Seine Worte verstummten, sodass Nimue aufsah und in sein nachdenkliches Gesicht blickte.
»Vielleicht«, sagte er hoffnungsvoll und strich mit seinem Zeigefinger über ihre Nase, »ist sie noch am Leben. Durch die Schwangerschaften hat sie viele Fähigkeiten und Eigenschaften der Elfen übernommen. Die Menschen reagieren allerdings sehr individuell darauf.«
Da beschleunigte sich Nimues Herzschlag und sie fragte aufgeregt: »Wo könnte Josephine jetzt sein? Sollten wir sie nicht suchen? Sie gehört doch zur Familie.«
»Ja, das tut sie. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie noch lebt. Ihr Ehemann hat die Hoffnung bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufgegeben. Er hat mit allen Mitteln versucht, sie zu finden; vergebens. Man glaubt, dass die Dunkelelfen sie getötet haben.«
Nimue lief bei diesem Gedanken ein kalter Schauer über den Rücken.
Aar bemerkte dies und erwähnte sogleich: »Weißt du, dass sie damals die Gruppenseele unseres Volkes ganz schön durcheinandergebracht hat?«
»Gruppenseele?«
»Ja. Ein Volk hat nicht nur ein gemeinsam schlagendes Herz, sondern auch eine Seele. Diese wird bei Elfen sowie bei Menschen durch Emotionen berührt, und Josephine war ein sehr emotionaler Mensch. Daher beeinflusste sie die Gruppenseele überaus stark und das bewegte das ganze Königreich. Wenn sie weinte, fühlte jeder ihre Traurigkeit und umgekehrt, wenn sie lachte, ihre Fröhlichkeit. Ihr großer Einfluss war eigenartig, dennoch war er deutlich zu spüren.«
Er hielt einen Moment lang inne.
Nimue wandte sich ihm zu und bemerkte den leeren Ausdruck seiner Augen. Sie konnte sich diese Leere nur derart erklären, dass er tief in seinen Gedanken versunken war.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, unterbrach er die Stille, »eh, genau, sie waren auf der Suche nach einer neuen Heimat. Ursprünglich wollten sie sich an der Küste von Cornwall ansiedeln, da diese Halbinsel ein besonders schöner Teil der Erde ist. Die dortigen Volksstämme jedoch machten es ihnen unmöglich. Sie verteidigten ihr Land um jeden Preis. Da unsere Vorfahren schon immer ein friedliebendes Volk waren, entschlossen sie sich weiterzuziehen und zwar nach Frankreich. Die Entscheidung über oder unter Wasser zu reisen war einfach, da die Piratengeister eine größere Gefahr als die einzelnen Meeresbewohner darstellten.«
Nimue meinte aufgewühlt: »Da hat Josephine ihre Familie zum letzten Mal gesehen?«
»Ja, meine Kleine, dort passierte es. Das Ziel war nun der andere Teil von Europa. Der Teil, den sie noch nicht kannten. Sie hatten von den vorbeiziehenden Vögeln viel über dessen Schönheit gehört. Aus diesem Grund waren sie voller Hoffnung, dort ein neues und schönes Zuhause zu finden. Es dauerte jedoch Hunderte von Jahren, bis sie an der französischen Küste ankamen.«
»Warum dauerte es so lange, Opa?«, fragte Nimue erstaunt.
»Weil der englische Kanal dicht besiedelt ist und die Bewohner nicht gerade erfreut waren, von einer Herde Elfen gestört zu werden. Es kostete viele anstrengende Verhandlungen mit den jeweiligen Stammesführern, um die Erlaubnis der Durchreise zu erhalten. Sie mussten Kompromisse eingehen und sich den ständigen Veränderungen der Umgebung anpassen. Dies alles kostete Zeit. Trotz alledem haben sie letztendlich ihr Ziel verwirklicht und für ihre Nachfahren ein neues Reich aufgebaut, in dem Frieden und Harmonie herrschen.«
»Du meinst das Reich Shenja und unser tolles Schloss?«
Er nickte zustimmend. »Ja, das meine ich. Haben wir es hier nicht besonders schön?«
Sie lächelte ihn zufrieden an. »Das haben wir, Opa. Aber wie sind sie den weiten Weg hierhergekommen?«
»Erst einmal sind sie an der Küste in Frankreich gelandet. Frankreich hat ihnen sehr gut gefallen, da die dortige Lebensweise fast einem Hofzeremoniell ähnelte. Sie genossen das gute französische Essen und ihre zumeist klassische Musik. Die Menschen feierten fröhlich und dies auf eine so schöne, respektvolle Art und Weise, dass sie sich gerne anschlossen. Nach dem langen Wasseraufenthalt wollten sie wieder an Land leben und so durchforsteten sie die Wälder nach einem Ort, an dem sie ihr Reich aufbauen könnten. Die Suche war jedoch vergebens, denn dort lebte bereits eine große Ansammlung von Menschen. Kein Platz war mehr frei und so mussten sie weiterziehen. Daraufhin trafen sie auf ein Land namens Italien. Erst waren sie begeistert von dem guten Essen und auch der Wein war dort besonders rein und daher für Elfen gut verträglich. Doch die Menschen sprachen so laut miteinander, dass es ihnen ungemütlich erschien. Sie entschlossen sich, weiterzuziehen. Zu dieser Zeit begegneten sie kurz vor einer Stadt namens Rom freundlichen Waldgeistbewohnern. Diese luden sie ein, bei ihnen einzukehren, um sich für die weitere Reise auszuruhen und zu stärken. Der Geisterkönig nannte sich Rory, was so viel wie roter König bedeutete und rot war er auch immer. Ich meine, er liebte roten Wein und nach ein paar Gläsern färbte sich seine Geisterhülle genauso rot wie die Farbe des Weins. Noch heute hört man die Menschen über die eigentümlich rote Farbe sprechen, die manchmal über den Dächern von Rom wie ein Schleier schwebt. König Aar erzählte, dass Rory ein frecher, aber liebenswerter Geselle war und oft Schabernack mit den Menschen trieb. Dabei hat er Kirchenuhren mehrfach zu ungewöhnlichen Zeiten läuten lassen oder Uhren verstellt. Am liebsten jedoch hatte er die Gläser Feiernder ausgetrunken, schnell und heimlich. Dies verwirrte viele Menschen und führte zu unglücklichen Zeiten, denn sie dachten, dass die Verwirrung krankhafter Natur sei.«
Nimue verstand nicht. »Und dann?«
»Dann gingen sie in Hospitäler und ließen ihre schwere Erkrankung behandeln.«
Aar lachte lautstark, was Nimue auch zum Lachen brachte. Trotzdem hatte sie keine Ahnung, was daran so lustig war.
Nach einigen Freudentränen wurde er wieder ernst und erzählte seine Geschichte weiter: »Der rote König sprach oft und viel mit König Aar. Eines Tages erklärte er meinem Urgroßvater, wie sehr er hoffte, dass unser Volk eine schöne Heimat finden würde. Dort, wo guter Wein wächst und die Menschen gerne feiern. Dort, wo das Reich der Geister und Elfen Früchte trägt und das Dunkle keinen Zugang hat.« Da klopfte er sanft auf Nimues Kopf und erklärte: »Übrigens, König Aar war damals schon sehr alt. Er hatte das übliche Elfenalter schon weit überschritten. Allerdings wusste er, dass er sich erst auflösen kann, wenn sich sein Volk in Sicherheit an einem schönen Platz angesiedelt hat. Er war wild entschlossen, eine neue Heimat für sein Volk zu finden, und so informierte er sich über die nächstliegend angrenzenden Länder zu Italien. Bei einem seiner allabendlichen Gespräche mit Rory erzählte ihm dieser von Bayern. Der rote König selbst war noch nie dort gewesen, allerdings hörte er von Vorbeireisenden immer nur Gutes darüber. Zudem liefen die Handelsgeschäfte zwischen Italien und Bayern besonders intensiv, und so kannte der Geisterkönig einen Handelsweg zu Lande, der von Venedig über Innsbruck nach Bayern führte. Auf diesem Pfad konnten sie es nicht verfehlen, so war er sich sicher. Aus einem mir unbekannten Grund jedoch kamen sie in Österreich vom Weg ab und überquerten die Alpen derart, dass sie direkt am Fuße des Chiemsees die bayerische Voralpenlandschaft betraten, und da passierte es.«
»Was, Opa, was passierte da?«, rief Nimue aufgeregt.
»König Aar traf auf den Ur-Ur-Urgroßvater deines Freundes Hubsi.«
»Oh, und dann?«
»Dann hat dieser mit deinem Ur-Ur-Urgroßvater Aar Freundschaft geschlossen und ihm den freien Raum am Boden des Sees angeboten. Erst wollte er sein Volk nicht im Wasser ansiedeln, da wir ja ursprünglich ein Waldvolk waren. Deshalb bist du nicht nur eine See-, sondern auch eine Waldelfe.« Er stupste mit seinem rechten Zeigefinger auf ihre Nase. »Nach vielen Gesprächen und Besichtigungen der Gegend entschied er sich dennoch für das Land Bayern und das Leben hier. Der Schutz, den das Wasser zwischen unserem Reich und der Wasseroberfläche mit sich brachte, überzeugte ihn außerdem von einem Leben am Boden des Chiemsees. Daraufhin halfen alle zusammen. Die Wassergeister, eine Trollfamilie, die oben auf der Fraueninsel lebte, und viele andere Lichtwesen bauten gemeinsam unser Königreich Shenja auf. Nach ein paar Monaten war es fertig und alle überlebenden Wald- und Seeelfen konnten einziehen. Damals waren es nur noch 123 Elfen, samt dem Heer.«
»So wenige, Opa«, wunderte sie sich. »Was passierte danach mit unserem König?«
»Als alles fertig aufgebaut und das große Einweihungsfest in vollem Gange war, rief er seine älteste Tochter Cara, seinen ersten Sohn Tadgh, seinen zweiten Sohn Oisin und seine jüngste Tochter Anna zu sich. Die Königin verstarb während der anstrengenden Reise und so war die engste Familie vollständig. Er erklärte, dass Tadgh, mein Großvater, sein Nachfolger werden sollte. Zudem meinte er, dass es nun an der Zeit sein würde, zu gehen, um Platz für neue Wesen seiner Art, also Nachkommen, zu schaffen.«
»Warum, Opa? Warum können wir hier nicht einfach alle zusammen weiterleben?«
»Weil der Raum zu eng wird, die Energien zu dicht und wie auch bei den Menschen irgendwann der Platz ausgehen würde. Je enger der Lebensraum, umso mehr Reibereien entstehen und das erschwert jedes Leben. Jedes Wesen braucht seinen natürlichen Bereich, um frei und kreativ existieren zu können. Zudem wird die Weiterentwicklung gefördert, da Altes durch Neues ersetzt wird, auch wenn es uns schwerfällt, das Alte loszulassen. Unsere Seelen sind jedoch immer miteinander verbunden, auch wenn wir keine Körper mehr mit unseren Elfenaugen sehen können.«
»Ja, Opa, das weiß ich«, antwortete Nimue erleichtert über dieses Bewusstsein. Trotzdem wollte sie an eine derartige Veränderung in ihrer Familie noch nicht denken, denn ihr Urgroßvater war bereits 999 Elfenjahre alt, und was das zu bedeuten hatte, war ihr klar. Irgendwann würde auch er sie verlassen.
»Was hat König Aar dann gemacht?«, fragte sie neugierig.
»Er hat allen seine Liebe versichert und auch eines jeden zukünftige Aufgaben erläutert. Dann küsste er die Wangen seiner Kinder, drehte sich um und verschwand hinter der dicken Eichentür. Der da vorne!« Er zeigte auf die nächstliegende Tür gegenüber dem Ohrensessel. »Seine Kinder hörten ihn kurz darauf die knarrende Holztreppe zum Südturm hinaufgehen. Danach wurde er nie mehr gesehen.«
Nimue stellte sich den Südturm bildlich vor. Sie dachte an die oberste Kammer, ihr Lieblingszimmer, in dem sie mit ihren Geschwistern schon oft gespielt hatte. An diesem Ort musste seine Elfenseele seinen Körper verlassen haben. Kein anderer Raum kam dafür infrage.
Da erklangen die Worte einer weichen, dennoch durchdringenden Frauenstimme: »Aar, wo bleibst du nur?«
Es war ihre Großmutter Oona, die bereits seit vier Elfenstunden auf ihren Mann wartete, der ihr im Gewächshaus bei der Pflege der Pflanzen helfen sollte.
Oona stammte aus dem Elfenreich Lara. Dieser Elfenstamm lebte und liebte die Einsamkeit im Schutze eines Zauberwaldes, welche sie nach ihrer Hochzeit komplett aufgeben musste. Trotzdem fühlte sie sich im Reich Shenja sehr wohl. Dies erklärte sie sich aus den Charaktereigenschaften ihres Vaters, der von einer besonders wilden und aus Feuer bestehenden Elfenfamilie abstammte. Er litt sehr unter der Zurückgezogenheit und Stille des Familienstammes seiner Frau und doch verzichtete er auf seine Leidenschaften aus Liebe zu ihr. Sein Elfenstamm mochte, genauso wie der Elfenstamm Shenja, die Musik, das Essen und das Tanzen. Beide glaubten an den besonderen Zauber der feierlichen Magie und die vielen kleinen Geschenke darin. So verkörperte Oona in ihrer neuen Heimat aus ihrer Natürlichkeit heraus das geerbte Feuer ihres Vaters. Oonas Mutter dagegen wies eine Besonderheit auf. Ihr Volk war ursprünglich ein Feenvolk und hatte nur wenige Elfenanteile, auch wenn an der Spitze ihres Stammbaumes eine Elfe stand. Sie war eine sehr lichtvolle Fee. Ihr Charakter zeichnete sich durch Liebenswürdigkeit und eine Art kindlicher Verspieltheit aus. Diese Eigenschaften hatte auch Oona, welche Nimues Großvater sehr an seiner Frau liebte.
Oona hatte hellblaue Augen und weiße lange Haare, die sie geflochten oder in einem Dutt trug. Sie glich optisch den schottischen Elfen, allerdings mit nur angehaucht spitzen Ohren. Ihr Gesicht glich einem harmonischen Kunstwerk, das durch schöne, gleichmäßige Gesichtszüge besonders hübsch aussah. Sie war groß, ein paar Zentimeter größer als ihr Ehemann.
Nachts schwamm sie oft an die Wasseroberfläche und setzte sich ans Ufer der Fraueninsel, um dort die Atmosphäre zu genießen. Die Menschen konnten dann im Mondlicht ein Glitzern und Funkeln am Wasserufer beobachten, denn ihre Schönheit durchbrach den magischen Schleier zwischen den Welten, auch wenn sie sich ihrer Umgebung nicht zeigte. Tat sie es dennoch, konnte sie durch ihre Erscheinung Paare zusammenführen und Vereinigungen aller Art mit Glück beschenken. Auch diese Eigenschaften liebte ihr Ehemann an ihr.
»Komm ja schon, Oona«, erwiderte Aar, worauf Nimue zur Seite rückte, um Aar Platz zu machen. Kurz darauf verschwand er hinter der großen Eingangstür mit den Worten: »Bis bald, meine Kleine.«
Ruhig und gedankenverloren saß sie nun allein im Kaminzimmer. Sie dachte an Oona und an die vielen Erzählungen ihrer Cousine Cara, die von ihrer gemeinsamen Oma sprachen.
Cara lebte seit ihrer Geburt auf einer kleinen Zauberinsel, nahe an der Fraueninsel gelegen. Ihre Eltern wollten nicht im Wasser leben. Deshalb hatten sie sich dort in einer Höhle an einem Hügel angesiedelt. Ihre Nachbarn waren viele verschiedene Wesen, wie Wichtel, Kobolde, eine Familie der Waldschrate und kleine andere Wesen, die sich mit ihren Familien vor Tausenden von Jahren dort angesiedelt hatten.
Nimue hat Cara oft besucht. Dabei hatte Cara ihr von Oonas Erscheinungen und ihren Auswirkungen auf Menschen erzählt. Auf dem Land sprach man viel über diese ungewöhnliche Frau, die aus dem Nichts erschien und wieder darin verschwand. Da sie immer nur Gutes bewirkte, hatte man keine Angst vor ihr und so wurde sie über die Jahre hinweg zu einer Legende.
Nimue lächelte stolz, als sie murmelte: »Das ist meine Oma.«
Da fiel ihr die soeben erzählte Geschichte wieder ein und sie staunte in Gedanken: »Was haben meine Vorfahren nur alles erlebt? Die ganze Welt haben sie gesehen. Ich möchte auch so gerne die Welt erkunden und all die Abenteuer erleben, die darin stecken.«
Sie dachte dabei an das leckere Essen in Italien, die gehobene Lebensphilosophie der Franzosen, an die schottische Heimat ihrer Vorfahren und wie schön es wäre, diese stetig blühende Natur einmal zu sehen. Doch dann erinnerte sie sich an die Dunkelelfen und ihre zerstörerische Macht. Sogleich überfiel sie ein kalter Schauer und überschattete ihre freudige Aufregung. Sie setzte sich zum Kamin und streckte ihre Hände über das Feuer. Dieses wärmte nicht nur ihren Körper, sondern vertrieb auch ihre Ängste.
»Sláinte!«, hörte Nimue ihren Urgroßvater Seoras im großen Tafelsaal rufen, während sie den Arkadengang entlang darauf zu ging. Danach klangen viele Stimmen im Raum durcheinander. Nimue nahm es als einen wohleingestimmten Gesang wahr. Daraufhin prosteten sich die anwesenden Elfen zu und eröffneten damit das Festessen.
Dies war ein abendliches Ritual, welches stets vom König selbst, Nimues Urgroßvater, eröffnet wurde. Nicht an jedem Abend pflegten sie dieses Ritual, sondern hauptsächlich an den ungeraden Tagen. Der Sinn darin lag nicht allein im Verzehr von Nahrung, sondern der Ehrung des Gemeinschaftsgeistes. Und so sollten an diesen Abenden so viele Wald- und Seeelfen wie möglich zusammenkommen, um ihre Gemeinschaft zu feiern.
Nimue kam an diesem Abend zu spät, da sie nicht aufhören konnte, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen und gedanklich durch aufregende Pfade in Richtung Schottland zu reisen. Langsam schlich sie sich in den Saal hinein, in dem sich bereits viele Schlossbewohner tummelten. Dort hörte sie Stimmen durcheinandersprechen, hie und da eine Elfe laut lachen, Becher aufeinander fallen und Musik, die im Hintergrund eine festliche Stimmung verbreitete. Es dauerte nicht lange und sie erreichte ihren Platz am Haupttisch, an dem auch der König saß. Denn Nimue war eine direkte Nachkommin des derzeitigen Königs Seoras. Darüber hinaus munkelte man bereits, dass ihr Großvater Aar bald den Thron besteigen würde. Danach – und da bestand Einigkeit unter allen Elfen – sollte sie die erste Königin des Reiches Shenja werden. Sie war noch sehr jung mit ihren 129 Jahren und musste bis dahin noch viel lernen, und doch schien sich das Reich bereits darauf einzustellen. Sie selbst war sich als jüngste von vier Töchtern darüber nicht im Klaren. Es war unüblich, dass die Jüngste auf den Thron nachfolgen sollte, und dann waren da ja noch die Söhne von Nimues Tanten und Onkeln. Da es im Reich Shenja noch nie eine Königin gegeben hatte, lag es nahe, dass nach Aar einer von ihnen das Königreich übernehmen sollte.
Nimue machte sich über eine Regentschaft keine Gedanken. Sie liebte das Leben und hatte einen aufgeweckten, eher wilden Charakter. Ihre Großeltern nannten sie oft Rao’ra, was für den Tiger und dessen Wildheit stand. Zudem unterschieden sich Nimues Charaktereigenschaften von denen ihrer Geschwister, Cousinen und Cousins. Sie war abenteuerlustig, wissbegierig und konnte nicht lange stillhalten. Sie liebte die Natur und die Tiere und lernte schnell, die Fähigkeiten ihres Elfenstammes bestmöglich zu nutzen. Und das waren so einige, denn die Elfen aus dem Reich Shenja waren in der Lage, ihren feststofflichen Körper in einen feinstofflichen umzuwandeln, sodass die Menschen sie nicht sehen konnten. Dazu hatte dieser Elfenstamm besonders geschärfte Sinne, wie unter anderem Hellhörigkeit. Wenn sie wollten, konnten sie selbst von der tiefsten Stelle des Sees die Menschen am Seeufer sprechen hören. Außerdem waren sie in der Lage, Gerüche stark wahrzunehmen. Egal, ob an Land oder in der Tiefe des Sees, sie konnten auf mehrere Kilometer Einzelheiten eines Geruches bestimmen. Dann waren da noch ihre speziellen Augen. Geschärft wie ein Pfeil konnten sie über Meilen hinweg sehen und dabei Kleinigkeiten exakt definieren; und dies bei Tag und bei Nacht, im Wasser oder an Land. Sie waren in jeder Hinsicht anpassungsfähig und doch reagierten sie sehr sensibel auf ihre Umwelt. Sie liebten das Feiern, doch diese Feste waren nicht laut oder unsittlich. Auch wenn sie gerne aßen und tranken, schossen sie niemals über das Ziel hinaus, denn Völlerei machte ihre Körper krank.
Das Elfenvolk aus dem Reich Shenja gab sich stets ruhig und friedvoll, was nicht heißen soll, dass sie ohne Mut und Stärke gewesen wären. Sie stellten sich unvermeidbaren Kriegen und siegten, genauso wie sie einige Schlachten verloren. Ihr Familienbewusstsein schloss alle Schlossbewohner mit ein und ihr Zusammenhalt war außergewöhnlich. Optisch veränderten sie sich im Gegensatz zu ihren Vorfahren beträchtlich. Ihre früher leicht grüne Hautfarbe wechselte über die Jahrtausende in eine braun-blaue Mischung, sowie ihre Haarfarbe von Blond bis Brünett reichte. Je mehr eine Elfe das Land besuchte, desto mehr färbte sich ihre Haut bräunlich.
Ihre Anpassungsfähigkeit war einzigartig unter den Elfenstämmen. Böse Zungen behaupteten, dass sie gar keine echten Elfen waren, sondern ein kunterbunter Mix aus anderen, kleineren Wesen, wie zum Beispiel Wichten. Tatsächlich galt dies in der Elfenwelt als unmöglich, da sich Elfen nur mit ihresgleichen oder Menschen vermählten. Somit war es eine Unterstellung, die auf ihre geringe und unübliche Größe begründet wurde. Zudem waren Wichte für ihre starken Sinneswahrnehmungen bekannt. Auch hier unterschied sich Nimues Familie von den anderen Elfenstämmen. Ihre ausgeprägten Sinne stellten jedoch eine Folge der jahrzehntelangen abenteuerlichen Reise dar und die dabei lebenserhaltende Notwendigkeit zur Anpassung. Der ständige Einsatz trainierte ihre Sinne nicht nur, sondern verbesserte ihre Gene sozusagen und intensivierte ihre Feinheit und Stärke.
Die Kritik an ihren besonderen Fähigkeiten störte niemanden im Reich Shenja, denn »was kümmert einen schon das dumme und unwahre Geschwätz von Neidern«, bemerkte Nimues Großvater immer mit einem Lächeln auf seinen Lippen. »Neid ist ein böser Feind, doch gewährt man ihm keine Macht, wendet er sich wieder ab und schenkt seine Aufmerksamkeit denen, die dagegen ankämpfen. Meine Kleine, wichtig ist«, betonte er stets, »dass du ehrlich und gut zu anderen bist. Dabei musst du dir nicht alles gefallen lassen, aber denk immer daran: So wie du von anderen behandelt werden möchtest, so verfahre auch du mit ihnen. Achte vor allem auf dich selbst«, erklärte er danach für gewöhnlich. »So oft muss ich sehen, wie Menschen sich selbst verleugnen, um Ideale oder allgemeine Meinungen anderer nachzuahmen. Oder sie sind von Selbstzweifeln befangen, sodass sie sich darin verlieren, darunter leiden und dadurch einen falschen Weg einschlagen. Krankheit, Elend und Trauer resultieren daraus und zerstören das schöne, ursprünglich strahlende Ich des Leidenden. Du selbst, mit allem was dazugehört, bist wichtig, meine Rao’ra, denn wer dir immer erhalten bleibt, bist du dir selbst. So pflege dein Ich, so wie du deine Lieblingsblume mütterlich pflegst, und du wirst auf die gleiche, wunderschöne Weise erblühen, wie sie es immer tut.«
Nimue konnte sich nicht jede Lebensweisheit ihres Opas auf Anhieb erklären. Es sollten jedoch noch Zeiten auf sie zukommen, in denen sie das eine oder andere verstehen lernte, ohne danach zu fragen.
Nimue war mit einer Größe von etwa 1,64 Meter für ihr Alter sehr stattlich gewachsen und überragte damit die meisten gleichaltrigen Elfen. Ihre Hautfarbe war Hellbraun mit einem leichten blauen Schimmer. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar und trug schon als Kind oft jungenhafte Kleidung. Die Schlossbewohner waren sich einig, dass ihre Eltern an der burschikosen Entwicklung schuld seien, denn diese hatten sich nach drei Mädchen einen Jungen gewünscht. Trotzdem, das vierte Kind wurde erneut ein Mädchen und so erklärte es sich von selbst, dass sie einen kleinen Jungen daraus machten. Dies entsprach jedoch nicht der Wahrheit. Wenn ihre Eltern zu dieser Entwicklung einen Beitrag leisteten, dann nur derart, dass sie ihr die Freiheit gaben, so sein zu dürfen, wie sie es wollte, und sie liebte jede Art von Kleidung. Sie zog Kleider an, wenn es die Tradition verlangte, wie zum Beispiel zum traditionellen Abendessen. Ansonsten bevorzugte sie Hosen, vor allem, wenn sie durch den Wald rannte oder ritt. Sie verfingen sich nicht in den Ästen und erleichterten damit jede Bewegung. An ihrem großen Geburtstag würde sie ganz bestimmt ein Kleid tragen.
Nimue freute sich schon sehr auf das Fest, da der König diesen magischen 130sten Geburtstag besonders ehrte. Seit Tagen konnte sie vor Aufregung nicht mehr schlafen, denn in elf Elfentagen war es so weit. An diesem Tag hatte sie einen großen Wunsch frei und dieser war bereits in ihren Gedanken manifestiert: die Erlaubnis ihres Urgroßvaters, ihres Großvaters und ihres Vaters für eine Zeit bei ihrer Cousine auf der Zauberinsel zu leben und dabei die Welt der Menschen zu entdecken. Sie hatte viele tolle Geschichten von ihrer Cousine gehört und wollte nun ein Teil davon werden.
Ihre Eltern, Yavira und Hubert, fühlten schon lange, dass ihre Tochter bald auf Reisen gehen würde. Einerseits freuten sie sich für Nimue und andererseits stellten die Dunkelelfen eine Gefahr für Nimue dar. Außerhalb des Schlosses war diese nicht zu kontrollieren, was die Welt oberhalb des Chiemsees gefährlich für Nimue machte.
Ach ja, der Name ihres Vaters war für Elfen natürlich sehr ungewöhnlich. Oona wählte ihn wegen eines Menschen, der Hubert hieß und ursprünglich auf der Fraueninsel lebte. Als Nimues Großmutter mit Hubert schwanger war, hatte sie große Probleme, das Kind zu gebären. Sie schrie laut und dies war ungewöhnlicherweise auch für einen Menschen am Ufer der Fraueninsel zu hören. Er machte sich große Sorgen, dass jemand gerade ertrinken würde, und sprang ins Wasser, um diese sich in vermeintlicher Not befindende Person zu retten. Nachdem er tiefer und tiefer getaucht war, verlor er das Bewusstsein. Doch Schankti, die Medizinelfe, rettete ihn. Durch die Heilung durchfluteten seinen Menschenkörper etliche Elfenstoffe und so wurde er ein Halbelfe. Von diesem Tag an lebte er im Reich Shenja. Sein Name war Hubert. Das Besondere lag jedoch in dem Ereignis, das während seiner Heilung und somit Transformation passierte. Es schien, als ob seine Verwandlung auch Nimues Großmutter heilte, denn es ging ihr schlagartig besser. Kurz darauf gebar sie einen gesunden männlichen Elfen. Alle glaubten, dass er Oona durch seine selbstlosen und warmherzigen Energien gerettet hatte, und so wurde Nimues Vater nach ihm benannt.
Nimue wurde am siebten Tag des dritten Sternenmonats geboren. Da der zweite Sternenmonat in vollem Gange war, liefen die Vorbereitungen für das Fest bereits auf vollen Touren. Beinahe jeder Schlossbewohner hatte eine oder mehrere Aufgaben, denn diese Feier sollte etwas ganz Besonderes werden. Zum einen, weil Nimue die Urenkelin des Königs war. Zum anderen, weil der Tag der Uaneala-Verwandlung einen besonderen Stellenwert im Leben einer jeden Elfe hatte. Er symbolisierte die Entwicklung von einem verspielten Lamm in einen aufgehenden Schwan. Von diesem Tag an wurden Elfen nicht mehr als Kinder angesehen, sondern als angehende Erwachsene. Danach richtete sich ihr Fokus noch intensiver auf das Lernen, jedoch nun nicht mehr ausschließlich auf spielerische Art und Weise, sondern deutlich mehr zukunftsorientiert. Zur Unterstützung dienten eine Elfenschule und die Erfahrungen der Vorfahren, die stets von besonderer Bedeutung waren. Dabei lernten die jungen Elfen unter anderem die Unterschiede zwischen ihrem Sternenkalender und dem Menschenkalender kennen. Auch die Elfen hatten Feiertage, an denen jede Elfe ihre Arbeit niederlegte. Es waren die magischen Tage der Elfen, nämlich jeweils der dritte, siebte und 13te eines Monats. Die Zahl 13 war für die Elfen nicht nur eine magische Zahl, sondern auch ihre Glückszahl.
Trotz der Unterschiede war der Sternenkalender dem Menschenkalender sehr ähnlich, da auch die Elfen die Zeit über die Mondphasen berechneten. Dennoch hatten sie 13 Sternenmonate. Neun Monate hatten 27 Tage, denn es hieß, dass sich jeweils am 27sten Tag Sonne und Mond treffen, um ihre Bestimmung zu teilen.
Die Elfen des Reiches Shenja wurden viel älter als Menschen und hatten somit einen ganz anderen Überblick über die Tier- und Pflanzenwelt. Die Natur lehrte sie über die Jahrtausende hinweg viel über das Leben selbst und vor allem über das Leben mit ihr. Das alte Wissen ihrer Vorfahren, die im Wald beheimatet waren, verbunden mit ihrer neuen Lebensweise unter Wasser, machten sie zu sehr weisen und erfahrenen Geschöpfen. So wurde die Natur, egal welcher Art, zum Lebenselixier einer Elfe, ohne die sie nicht zu überleben fähig gewesen wäre.
Nimue lebte bis zu diesem Tag beinahe ausschließlich unter Wasser. Sie war stets nur für kurze Zeit auf dem Land gewesen, um die Familie ihres Onkels auf der Zauberinsel zu besuchen. Danach tauchte sie immer wieder ab. Diese andere Welt, dieses andere Dasein wollte sie kennenlernen. Sie wusste, dass nach dem Uaneala-Fest die Aufgabe einer jeden Elfe die ausgeglichene Entwicklung von Körper, Geist und Seele sein sollte, wobei das Lernen von Wissen und Können im Vordergrund stand, um sich dann, viele Elfenjahre später, eine eigene Existenz aufzubauen oder in die Fußstapfen ihrer Vorfahren zu treten. Und Nimue wollte gleich damit anfangen, das Leben in ihrer Vielfalt zu entdecken.
Am 25sten Tag des zweiten Sternenmonats lag Nimue am Morgen gemütlich auf ihrem Liegesofa in ihrem Zimmer. Sie studierte ein Buch über Kräuter und ihre Heilkräfte, als sie plötzlich Elfenschritte auf dem Arkadengang außerhalb ihres Zimmers hörte. Unruhig fielen sie schnell aufeinander und vermittelten ihr ein Gefühl von Nervosität. Da sprang sie neugierig auf und öffnete die Tür. Auf dem Gang rannten einige Elfen hastig an ihr vorbei oder schwebten in rasender Geschwindigkeit in Richtung Eingangshalle. Dabei entdeckte sie eine junge Kammerelfe, die sie mit weit aufgerissenen Augen ansah. Ihre Wangen waren tiefrot. Sekunden später war sie hinter dem Bogen in Richtung der großen Schlosssäle verschwunden.
»Was geht hier nur vor?«, wunderte sich Nimue.
Ach ja, die Elfen vom Reich Shenja hatten einen Körper, wie auch der Mensch ihn besitzt. Der Unterschied war nur derart, dass die Elfen auch schweben konnten. Das heißt, sie konnten in der magischen Wasserenergie des Reiches Shenja ihre Füße so miteinander verschmelzen, dass sie eins wurden. Damit waren sie schneller als zu Fuß. Diese Fähigkeit hatten sie allerdings nur im Wasser. An Land waren sie genauso beweglich wie Menschen, obwohl sie flinker, wendiger und schneller waren als sie. Dennoch konnten sie dort weder über dem Boden schweben, fliegen oder irgendetwas Derartiges tun.
Auf dem Gang nahm das Treiben stetig zu, sodass Nimue ihr Zimmer verließ und einer Kammerelfe hinterherrannte. Nimue versuchte mit ihr zu sprechen, doch diese winkte mit den Worten ab: »Keine Zeit.«
Nun war Nimues Neugierde vollkommen geweckt und so schwebte sie schnell in das Büro ihres Großvaters. Als sie dort ankam, fand sie das Zimmer ohne Aar vor, dafür mit ihrer großen Schwester Sophia. Diese saß auf der Couch gegenüber dem Kamin und las seelenruhig ein Buch.
»Sophia«, platzte es aus Nimue heraus.
Sophia blickte sie mit großen Augen an. »Warum erschreckst du mich so? Du weißt, ich kann das nicht leiden!«
»Was ist hier los? Warum geht es hier plötzlich so hektisch zu?«, fragte Nimue unbeeindruckt von der tiefen Tonlage ihrer Schwester.
»Ach so, das meinst du«, erwiderte Sophia nun mit sanfter Stimme, »wir bekommen Besuch. Der hat sich sehr kurzfristig angekündigt.«
Nimue schloss die Tür hinter sich und ging schnell auf Sophia zu.
»Wer ist es denn?«
»Rate mal?«
Nimue fing an, sich alle Elfen, Menschen und andere Wesen, die sie kannte, bildlich vorzustellen. Sie fragte sich, wer einen solchen Wirbel durch seinen Besuch verursachen könnte. Doch sie hatte keine Ahnung und vermutete: »Tante Hauch und Cara von der Zauberinsel?«
»Nein«, erwiderte Sophia gleich darauf mit einem Kopfschütteln.
»Stefan?«
»Nein. Wie du weißt, ist er ein Mensch und kann nur bedingt bei uns bleiben. Also, denk mal nach. Bald ist dein Geburtstag und da bekommst du …«
»Der Besuch kommt wegen mir?«, unterbrach sie ihre Schwester erstaunt.
»Yep, wegen dir.«
Nimue strengte sich nun noch mehr an, sodass ihre Stirn Falten zog. »Wer kann das nur sein?«, fragte sie sich in Gedanken. Nach einer Weile schoss es aus ihr heraus: »Katar, der Bruder unseres Urgroßvaters?«
Sophia sah sie zufrieden an. »Genau, Nimue. Er kommt extra wegen dir und deinem Uaneala-Tag. Es sieht so aus, als ob sie Großes mit dir vorhaben.«
»Wie meinst du das, Sophia?«, wollte Nimue irritiert wissen.
»Na ja, Katar hat Frankreich noch nie verlassen, um uns zu besuchen. Jetzt kommt er auf Bitten unseres Königs und das nur wegen deines Geburtstags. Das soll doch etwas heißen, oder?«
»König!«, ärgerte sich Nimue, ohne Sophia damit zu beeindrucken, denn sie mochte es ganz und gar nicht, wenn ihre Geschwister ihren Urgroßvater stets »König« nannten. Für Nimue klang dies kalt und unpersönlich. Er war ihr Urgroßvater und dabei war es ihr egal, welchen Rang er innehatte.
Nimue setzte sich neben ihre Schwester auf die Couch und dachte über Katar nach. »Was hat mir Großvater alles über ihn erzählt?«, murmelte sie vor sich hin. Dann arbeitete sie gedanklich die bereits erhaltenen Informationen über Katar ab. Sie wusste, dass er auf der großen Reise in Frankreich stecken blieb, weil er eine Frau kennen- und lieben lernte. Katar lebte von dort an mit Menschen zusammen und das in einem kleinen Häuschen direkt am Meer. Nimue war sich sicher, dass dies eine wunderschöne Gegend sein musste, da ihr Urgroßvater manchmal davon geschwärmt hatte. Dort gab es viel Sonne, das offene Meer vor der Nase und guten Käse. Alle Elfen liebten guten Käse und den französischen mochten sie ganz besonders gern.
»Weißt du etwas über Katar, Sophia?«, fragte Nimue.
Sophia war wieder in ihr Buch versunken und sah nur kurz auf, um zu erwähnen: »Natürlich, jeder weiß etwas über ihn.«
»Er ist Urgroßvaters Lieblingsbruder und muss ganz nett sein, oder?«
»Er ist der Bruder unseres Königs, und vielleicht ist er auch ganz nett. Aber jetzt lass mich endlich lesen, du Nervensäge«, forderte Sophia ihre kleine Schwester gereizt auf.
»Wann kommt er bei uns an?«, fragte sie dennoch und bekam die knappe Antwort: »Morgen, glaube ich.«
Nimue unterdrückte noch weitere Fragen, denn der scharfe Blick ihrer Schwester zeigte ihr, dass sie eindeutig nicht mehr gestört werden wollte. Auf Zehenspitzen ging sie in Richtung Tür, als diese plötzlich aufsprang.
Nimue zuckte zusammen. Zur gleichen Zeit kam ihre Großmutter Oona herein.
»Hallo, ihr beiden.«
»Hallo«, hallte Nimues und Sophias Stimme synchron im Raum.
»Oma«, fragte Nimue sogleich, »besucht uns Katar wirklich wegen meines Geburtstags?«
»Ja, meine Kleine, das tut er. Ist das nicht wunderschön?«
»Ja, Oma, das ist es.«
»Ich komme, um mit dir zu sprechen, Nimue. Es ist an der Zeit, dass du dir über deinen Geburtstagswunsch ernsthafte Gedanken machst. Du weißt ja, dass du ihn genau um 13 Elfenstunden nach Null vor allen Gästen aussprechen darfst?«
»Ja, Oma, ich weiß«, bemerkte Nimue aufgeregt. Ihre Wangen röteten sich leicht.
Da sprang die Tür noch einmal auf und Nimues Geschwister Marie und Aoife kamen herein.
»Hey, Nimue«, sagte Aoife, »ehrenvolle Feier, huh? Die haben wohl Großes mit dir vor.«
Nun hörte Nimue diese Aussage das zweite Mal in der gleichen Stunde, was sie zunehmend irritierte. »Was hat das zu bedeuten? Großes! Was ist ehrenvoll groß oder meinen sie etwas ganz anderes?«, grübelte sie nach, während Oona mit Aoife sprach.
Dann wandte sich Oona wieder Nimue zu. Sie setzten sich vor das Fenster auf zwei Holzstühle und blickten hinaus, während sich die drei Schwestern im Hintergrund lautstark unterhielten.
»Oma, was hat man mit mir vor?«, wollte Nimue wissen, fast ängstlich auf die Antwort wartend.
Oona lachte. »Keine Angst, meine Kleine, nichts, was dir Sorgen bereiten sollte.«
Dies war für Nimue eine äußerst unbefriedigende Antwort. Was sollte das heißen: sich keine Sorgen machen? Allein das Wort Sorgen in diesem Zusammenhang zu benutzen, bereitete ihr schon ein unangenehmes Gefühl. Sie wusste, dass es sich nicht gehörte, weiter nachzufragen, konnte ihre große Neugierde aber nicht im Zaum halten und fragte ungeachtet dessen: »Was genau soll mir keine Sorgen bereiten?«
»Darüber wird dir dein Urgroßvater berichten, Nimue. Hab Geduld.«
»Aha«, dachte sich Nimue, »jetzt ist es ausgesprochen.« Für sie war das eine klare Antwort, denn wenn sich ihr Urgroßvater damit beschäftigte, war es etwas Großes. Was auch immer groß bedeutete, war ihr in diesem Zusammenhang allerdings nicht bewusst.
»Lass deinen Gedanken freien Lauf, meine Kleine. Ein Wunsch soll sich dir zeigen. Erst, wenn du dir zu hundert Prozent sicher bist, mein Kind, lass uns darüber sprechen. Ich bin immer für dich da.«
»Das mache ich, Oma.«
Der Wunsch, zu reisen und bei Cara auf der Zauberinsel zu leben, war natürlich präsent. Doch Nimue dachte auf einmal, warum nicht mehrere Wünsche in Betracht ziehen, um diese dann mit ihrer Großmutter zu besprechen.
Als erstes kam ihr ein Pferd in den Sinn und zwar ein ganz besonderes Wesen der Zauberwelt, das nur wenige besaßen. Es war schneller, flinker, intelligenter und größer als alle anderen Pferde. Die Elfen nannten diese Pferderasse Tara, da Tara übersetzt Stern hieß, und ein solcher wies diesen Geschöpfen den Weg, um stets sicher an ihr Ziel zu kommen.
Diese Tiere waren besondere Beschützer ihrer Besitzer. Durch ihre ausgeprägte Sensibilität konnten sie Emotionen aller Art frühzeitig aufspüren und bei Gefahr handeln. Sie waren wunderschöne Pferde, die durch ihre leicht grün-bräunliche Farbe mit der Natur beinahe verschmolzen. Ihre Rasse besaß die Fähigkeit, sich jeder Umwelt anzupassen, und wenn sie wollten, konnten sie sich den Menschen sichtbar machen. Das machten sie jedoch nur sehr selten und so wurde vielerorts auf der Erde von den geheimnisvollen Windböen gesprochen, die unsichtbar an ihnen vorbeirauschten.
»Unerklärliche natürliche Phänomene« nannte man sie, die die Menschen mit naturwissenschaftlichen Formeln zu deuten versuchten. Doch konnten sie diesen Windstößen nie auf den Grund gehen, und so blieben sie ihnen ein ewiges Rätsel.
Das Bild eines Tara-Pferds verschwamm vor Nimues Augen, worauf ihre Gedanken abschweiften. Sie murmelte: »Bedeutet das Wort Großes immer etwas Positives? Oder hat es womöglich mit meiner fehlenden Disziplin zu tun, vor allem in Bezug auf diese diffusen Regeln, die manche Lehrer aufstellen. Mein neuer Kunstlehrer, vielleicht hat er …?« – Nimue stockte und schüttelte den Kopf – »nein, das kann es nicht sein.«
Ihr wurde bewusst, dass sie im Grunde immer fleißig war. Außerhalb ihrer Unruhe und ihrer manchmal ablehnenden Art auf die für sie unsinnigen Schulregeln zu reagieren, hatte sie keine Abmahnungen erhalten. Die für sie schlüssigen Regeln befolgte sie in der Tat.
»Was kann es nur sein?«, fragte sie sich daraufhin wieder und wieder, obwohl sie sich doch eigentlich mit ihrem Wunsch beschäftigen sollte. Sie fand keine Antwort und so fingen ihre Gedanken an, sich wild im Kreis zu drehen. Ein Wirrwarr von Möglichkeiten breitete sich aus. Dabei bemerkte sie, dass sie leise vor sich hinplapperte. Sie schreckte auf und sah um sich. Im Raum herrschte eine gespenstische Stille. Sie drehte sich um und blickte in die Augen ihrer Geschwister, die alle auf sie gerichtet waren. Sogar Sophia konzentrierte sich nicht mehr auf ihr Buch. In diesem Moment spürte Nimue, wie sich ihr Nacken langsam zusammenzog.
Oona bemerkte ihre Anspannung und versuchte, sie zu beruhigen: »Keine Angst, es wird dir gefallen.«
Diese Aussage beruhigte Nimue tatsächlich, denn es war eindeutig kein Mahnruf. Trotzdem war das Wort es immer noch undefinierbar. Hatte sie vielleicht über den Wunsch und nicht über das große, ehrenvolle Etwas gesprochen? Nimue fühlte sich innerlich zerrissen, als ihre Großmutter aufstand.
Oona legte ihre Hand behutsam auf Nimues linke Schulter. »Komm, lass uns ins Gewächshaus gehen.«
Nimue folgte ihr sogleich, während sie zustimmend nickte, denn das Gewächshaus war der Lieblingsplatz ihrer Großmutter. Dort herrschten zwischen all den Pflanzen Stille und Geborgenheit und so fanden an diesem Ort viele wichtige Gespräche statt.
Im Garten angekommen, entdeckte Nimue mit Freude, dass die verschiedensten Blumenarten bereits in voller Pracht erblühten. Sie sah Passionsblumen, Kamelien, Lilien, Sonnenblumen, Eisenhüte, Arnikakräuter, Glockenblumen, Stiefmütterchen und noch viele Pflanzen mehr. Die Farben vermischten sich vor ihren Augen, als ob ein bunter Blumenteppich vor ihr liegen würde.
Nach dieser Blumen- und Kräutervielfalt durchstreiften sie einen Bereich des Gartens, der einzig und allein den Rosen gewidmet war. Auch sie blühten in ihren prächtigsten Farben. Nimue lächelte bei diesem schönen Anblick. Die Rose war ihre Lieblingsblume, vor allem die, die hellrosafarbene Blüten hatte. Als sie eine solche entdeckte, blieb sie stehen, um an ihr zu riechen.
»Deine Blumen sind so schön, Oma«, bemerkte Nimue.
»Danke! Ich würde mich sehr freuen, wenn du mir öfters bei der Pflege hilfst.«
Nimue nickte zustimmend, während sie ihr in ein Gewächshaus folgte, in dem Gemüse angebaut wurde. Als sie dieses durchquerten, sah sie durch ein Abtrennglas eine tiefrote Farbe schimmern. Dahinter waren große Tomaten, die an Sträuchern hingen und sie durch ihre Schwere nach unten drückten.
»Oma, die sind aber groß geworden«, meinte Nimue und deutete auf einen Strauch mit vielen unterschiedlich großen Tomaten.
»Das stimmt. Diese besonders saftige Fleischtomate haben wir extra für deinen Geburtstag angebaut«, erwiderte Oona, »und auch den Rest, den du hier siehst. Das wird ein großes Fest, Nimue.« Sie zeigte mit ihrer Hand auf die vielen unterschiedlichen Gemüse- und Obstsorten rundherum.
Der Raum war groß und lang gezogen und an beiden Enden mit Glasscheiben von anderen Gewächshäusern abgetrennt. Auf einer Seite erblickte Nimue in sorgfältig angebauten Reihen Karotten, Lauch, Sellerie, Kartoffeln und mehrere Salatsorten. Auf der anderen Seite war das Obst. Kleine Bäume voll mit Früchten ragten aus dem Boden.
Sie sah so viele verschiedene Obst- und Gemüsesorten, dass sie staunte: »Oh, so viel Obst und Gemüse, und das alles nur für meinen Geburtstag.«
Oona nahm derweilen an einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes Platz. Nimue tat das Gleiche und hörte die Worte ihrer Großmutter, während ihre Augen weiter auf die Fülle der außergewöhnlichen Früchte gerichtet waren.
»Also, meine Kleine, du weißt, dass du zum 130sten Geburtstag einen Wunsch frei hast.«
Nimue nickte und wandte sich ihrer Großmutter zu.
»Pass gut auf, was du dir wünschst, Nimue, denn Seoras wird es dir gewähren. Die Tradition unseres Elfenstammes besagt, dass jeder Elfe an ihrem Uaneala-Tag ein Wunsch erfüllt werden muss. Da gibt es so gut wie keine Ausnahmen. Also, was ich damit sagen will, ist ganz einfach: Wünsch dir etwas, das du wirklich willst, und sei dir im Klaren darüber, dass es in Erfüllung gehen wird.«
Nimue erwiderte freudig: »Ja, Oma. Soll ich dir meinen größten von allen Wünschen sagen?«
»Nein, nicht so vorschnell. Denk darüber nach. Du hast noch zehn Tage Zeit. Geh in dich und finde dort die Wahrheit deiner Wünsche, denn je nachdem könnte er dein Leben stark verändern. Dies ist der erste Schritt zum Erwachsenwerden, Nimue. Handle weise und wohlüberlegt. Stell dir die Fragen: was und warum du es dir wünschst, und danach, welche Folgen es für dich, dein Leben und auch für deine Familie haben wird.«
Auf einmal fühlte Nimue eine Schwere, die sich langsam in ihrer Brust ausbreitete. War es nun so weit, sollte sie jetzt für ihre Entscheidungen allein verantwortlich sein? War sie schon bereit dafür? Konnte sie die volle Tragweite begreifen, die ihre Großmutter von ihr verlangte? Oder verstand sie ihre Worte falsch?
»Oma, kann ich nicht mit dir und Opa über meinen Wunsch sprechen?«
Oona schüttelte leicht den Kopf.
»Wir müssen ja nicht über den einen großen reden. Vielleicht über die vielen anderen kleineren?«, schlug Nimue daraufhin vor.
»Nein, dein Wunsch und du, ihr sollt eine Einheit darstellen. Ich meine, keine äußeren Einflüsse sollen dabei auf dich einwirken. Genauer gesagt, dein Wunsch soll frei von anderen gehegt, gepflegt und gestellt werden.«
Nimue verstummte, während sie über die Worte ihrer Großmutter nachdachte.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Wenn du deiner inneren Stimme folgst und dir Zeit gibst, sie zu verstehen, kann dir nichts passieren. Die nächsten Tage werden sehr wichtig für dich sein. Nimm dir Zeit und vor allem gib dir Ruhe, denn nur in Ruhe kannst du dich richtig entscheiden.«
»Innere Stimme?«, dachte Nimue, »Hat mir Opa nicht auch schon davon erzählt?«
Nimue konnte sich nicht mehr erinnern, wie genau ihre innere Stimme klingen sollte und noch dazu hatte sie den Wunsch zu reisen und die Welt zu entdecken. Sollte sie trotzdem mit ihrer inneren Stimme sprechen? Ihr vielleicht sogar den Wunsch sagen und ihre Meinung dazu hören? Vielleicht tendiert ihre innere Stimme ja mehr zu einem Tara-Pferd, ist sich Nimue nun unsicher.
Da wollte sie wissen: »Ist die innere Stimme die, die mich meinem Traum näherbringt oder die, die mir meinen Wunsch bestätigt?«
»Deine innere Stimme ist die Stimme deiner Seele und sie entspricht der höchsten Wahrheit.«
»Aha«, staunte Nimue.
»Du sollst in dich hineinfühlen und genau hinhören, denn durch ungesunde Emotionen kann es passieren, dass du keinen direkten, reinen Zugang zu deiner inneren Stimme hast.« Oona blickte in Nimues irritiertes Gesicht und erkannte, dass sie ihre Aussage nicht im Detail verstand. Deshalb holte sie ein Beispiel hervor: »Ich meine, und das ist wirklich nur ein Beispiel, du wünschst dir eine sprechende Puppe, allerdings nur, weil alle in deinem Alter eine solche besitzen. Dieser Wunsch ist von der Emotion getragen, die einem Muster und der daraus resultierenden Vorstellung folgt. Alle haben diese eine Puppe, also willst du auch eine. Das gilt auch dann, wenn die Eifersucht keine oder nur eine geringe Rolle dabei spielt. Erkennst du den Ursprung nicht, kann dir der wahre, tief in dir versteckte Wunsch verborgen bleiben. Du denkst an die Puppe und konzentrierst dich allein darauf. Leider ist es üblich, dass die äußere Schale, also das Oberflächliche und dessen Gegebenheiten, uns oft mehr im Griff haben, als unser schönes inneres Ich.«
»Aha«, äußerte sich Nimue noch einmal voller Ehrfurcht über das große Wissen ihrer Großmutter. »Wie kann ich meine innere Stimme klar hören? Und vor allem, wie weiß ich, ob der Wunsch von außen oder innen gesteuert wird?«
»Lass dir Zeit und komm zur Ruhe. Hektik und Stress halten dich davon ab, und versuche jegliche Emotionen von dir fern zu halten. Denk nur an dein inneres Ich und lerne es kennen.«
Nimue zweifelte plötzlich an ihrem Wunsch. Wollte sie wirklich bei ihrer Cousine auf der Zauberinsel leben? Oder war es nur, weil es Cara tat und ihr die Geschichten so imponierten? Steckte dahinter womöglich eine versteckte Eifersucht ihrer Cousine gegenüber? Sie wusste es nicht und fragte verzweifelt: »Oma, was soll ich tun?«
»Geh an Plätze der Einsamkeit, an denen du dich wohlfühlst und denke über deinen großen Wunsch nach. Geh in dich und versuche herauszufinden, ob dieser oder ein anderer Wunsch es sein soll, und werde dir über dessen Tragweite bewusst.« Die großen verunsicherten Augen von Nimue machten Oona Sorgen und sie fügte hinzu: »Keine Angst, meine Kleine, du wirst dein wahres Ich finden. Das Erwachsenwerden kann einer jeden Elfe Angst machen. Das muss es aber nicht, denn meistens sieht alles viel schlimmer aus, als es in der Wahrheit ist.«
»Aber was passiert, wenn ich mir etwas wünsche, das für andere Folgen hat, die ich nicht auf Anhieb erkennen kann? Folgen für mich und andere hat es doch in jedem Fall, nicht wahr?«
»Solange keine bösen Absichten dahinterstecken und du niemanden willentlich verletzt, sollen die Auswirkungen kein hinderlicher Grund sein.« Oona blickte Nimue tief in die Augen. Dabei strich sie ihr sanft über die Wange. Gleich darauf wechselte Oona das Thema: »In ein paar Tagen ist hier Erntezeit. Dann werden wir ein großes Mahl für dich und deine Gäste vorbereiten. Eines kann ich dir schon verraten: Deine Lieblingsnachspeise, süßer Gemüsebrei, ist auch dabei.« Sie lächelte ihre Enkelin liebevoll an.
»Kommt Katar wirklich nur wegen mir?«, fragte Nimue nun freudestrahlend.
»Ja, das tut er.«
»Wegen etwas Großem, das er oder wer anderes mit mir vorhat oder mir schenkt, nicht wahr?«
Oona nickte.
»Was ist etwas Großes, Oma?«
»Du bist des Königs Lieblingsenkelin und allein das ist schon etwas Großes. Zudem bist du etwas ganz Besonderes, meine kleine Rao’ra. Deine Aufgewecktheit und Lebensfreude, dein ausgeprägter Sinn für Wahrheit, deine Liebe zur Natur und den Tieren, deine Offenheit und fröhliche Energie, dein Sinn für Gleichberechtigung und Gleichheit unter allen, deine Treue zu deinen Lieben, deine Integrität und dein großer Glaube an all das, was wir besitzen, all dies und noch vieles mehr machen dich einzigartig.«
Nimue war verblüfft über das soeben Gesagte. »Ist nicht jeder so, Oma?«
Oona lachte. »Nein, mein Kind, nicht jeder kann diese Wesensmerkmale sein Eigen nennen. Siehst du diese Tomaten hier?« Oona zeigte auf einen Strauch voller roter Paradeiser.
Nimue nickte.
»Sie sind alle vom gleichen Stamm, aber keine gleicht der anderen.«
Nimue nickte erneut. Sie hatte verstanden. Auch wenn man von derselben Elfenrasse abstammt, jeder ist einzigartig und hat unterschiedliche Wesenseigenschaften, und manche besitzen die gleichen Anlagen, nutzen sie aber unterschiedlich. Da entdeckte sie zwei Tomaten, die an einem Zweig nebeneinander hingen. Sie sahen beinahe identisch aus, dennoch hatte die eine einen kleinen grünen Fleck. Nimue grinste.
»Darf ich bei der Ernte dabei sein?«
»Wenn du willst«, erwiderte Oona mit Freude, »natürlich.«
Stunden später saß Nimue in ihrem Zimmer und grübelte über die Worte ihrer Großmutter nach. Sie war ungeduldig und wollte sobald wie möglich mit ihrer inneren Stimme sprechen, um ihren wahren Wunsch zu erfahren. Doch wie sollte sie das anstellen? Da dachte sie an ihren Lieblingsplatz im Wald. Schlagartig sprang sie auf und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Über den Arkadengang und die darauffolgende Eingangshalle lief sie in den Schlosshof hinaus. Kurz darauf passierte sie die Pferdeställe und einige Hundehäuser und verließ den Hof in Richtung Wald. In diesem hatte sie ein kleines Versteck, eine kleine Höhle im Baumstamm einer prächtigen Eiche. Klein war sie nur derart, dass im Verhältnis zur Gesamthöhe des Baumstammes von drei Metern eine circa zwei Meter hohe Aushöhlung geringer war.
Dieser Ort war ihr Rückzugspunkt, wann immer sie Streit mit ihren Geschwistern hatte oder andere Sorgen sie plagten. Niemand kannte dieses Versteck, außer einige Waldbewohner und natürlich der Baum selbst. Sie nannte ihn Aaro, von ihrem Großvater Aar abgeleitet, denn dieser Name gab ihr das Gefühl von Stärke. Beide hatten für Nimue alte Wurzeln, einen großen Stammbaum und stets kraftvolle und weise Worte. Dem Baum war es egal, wie sie ihn nannte. Für ihn zählte ausschließlich ihre gute Freundschaft. In Wirklichkeit jedoch war sein Name Amur und da nahm er einmal schmunzelnd an: »Aaro ähnelt Amur sogar irgendwie. Hm, so ein bisschen.«
Kurz bevor Nimue ihren Freund sehen konnte, rief sie laut: »Hallo, Aaro.«
»Hallo, Nimue«, hallte es im Wald wider.
Nur noch ein paar Schritte und schon stand sie vor ihm. Sie holte tief Luft, als er fragte: »Wie geht es dir?«
»Eigentlich gut.«
»Was heißt eigentlich?«
»In zehn Tagen habe ich doch Geburtstag. Bis dahin soll ich mir über meinen Wunsch im Klaren sein.« Sie zuckte mit ihren Schultern. »Aber wie soll das gehen?«
Nimue runzelte ihre Stirn derart tief, dass Aaro lachte.
Dann fiel ihr Katar ein und ihre Gesichtszüge erhellten sich. Mit dem Feuer der Vorfreude sprudelte es aus ihr heraus: »Hast du gewusst, dass Katar bald zu uns kommt?«
»Die Vögel haben mir davon berichtet. Das ist eine große Ehre, Nimue. Katar war noch niemals hier bei uns im Reich Shenja.«
»Ich weiß, Aaro. Ich freue mich sehr darüber. Aber warum machen alle so ein Tamtam daraus?«
»Was meinst du mit Tam Tam?«
»Meine Schwestern behaupten, dass Katar nur deshalb kommt, weil mein Urgroßvater etwas Großes mit mir vorhat. Noch dazu hat mich Oma auf meinen Wunsch angesprochen. Jede Elfe darf doch zu ihrem 130sten Geburtstag einen großen Wunsch aussprechen.« Nimue zog ihre linke Augenbraue fragend hoch.
»Klaro, und was wünschst du dir?«
»Eigentlich wollte ich …«, stotterte Nimue, »eigentlich, du weißt doch, Clara und die Zauberinsel, hm, aber jetzt …«
Aaro lachte, sodass sich seine Äste wild umherbewegten. »So, so, was nun?«
»Ich weiß es jetzt auch nicht mehr. Oma sagt, ich muss erst mit meiner inneren Stimme sprechen, um dann herauszufinden, was ich wirklich will. Keine Ahnung, was mir meine innere Stimme sagt.«
»Ach so, die innere Stimme«, erwiderte der Eichenbaum mit ruhigen, langschwingenden Tönen.
»Kennst du die innere Stimme?«, platzte es aus Nimue heraus, denn sie hatte das Gefühl, dass seine letzten Worte darauf deuteten.
»Ja, die kenne ich schon. Mit der spreche ich immer, wenn ich mir mit Entscheidungen ganz sicher sein muss.«
»Mit meiner inneren Stimme?«, staunte Nimue.
»Nein, mit meiner natürlich!«
»Aha, und wie machst du das?«
»Ganz einfach: ich gehe in mich und lasse mich von niemanden rundherum stören.« Dann erhob er seine Stimme, sodass ihn auch die umliegenden Bäume hören konnten. »Was hier in diesem Wald wirklich schwer ist, mit all den Plappermäulern um mich herum.« Danach senkte sich seine Stimme wieder, als er fragte: »Deshalb kommst du heute zu mir, oder?«
Nimue nickte. »Weißt du, wie ich mit meiner inneren Stimme sprechen kann? Das habe ich noch nie gemacht.«
»Das musst du selber herausfinden. Jeder hat seine eigene Art und Weise, mit seiner inneren Stimme zu kommunizieren. Ich habe gehört, dass manche Menschen extra auf Herrenchiemsee fahren, um dort zu meditieren. Weißt du, Nimue, dort ist es besonders still.«
»Meditieren, was ist denn das?«
»Sie setzen sich mit verschränkten Beinen auf den Boden. Manche legen die Hände auf die Knie und halten ihre ersten drei Finger vom Daumen an zusammen. Andere halten sie in Gebetsstellung, das heißt, ihre flachen Hände aufeinandergelegt in Höhe der Brust. Ich glaube, dass der Schneidersitz zu einer besseren Körperhaltung beiträgt. Ansonsten, denke ich, dass deine Sitzhaltung egal ist, und auch, wie du deine Hände dabei hältst. Mache es einfach so, dass du dich wohlfühlst. Anderenfalls wird es schwierig.«
»Was wird schwierig?«, packte sie die Neugierde.
»Na ja, wenn die Menschen in dieser Position am Boden sitzen, dann gehen sie in sich, denke ich. Deswegen tun sie es ja! Dafür ist es wichtig, dass der Körper ihnen Ruhe verschafft und nicht an allen Ecken und Enden schmerzt.«
»In sich gehen«, wiederholte Nimue, »das habe ich jetzt schon öfter gehört. Was ist denn da in mir?«
»Deine Seele, Nimue, das weißt du doch.«
Nimue nickte, nur wenig überzeugt, ihre Seele zu kennen, und erwiderte: »Vielleicht. Und sie ist meine innere Stimme, nicht wahr?«
»Mehr oder weniger, so ganz genau weiß ich das auch nicht. Das musst du selber herausfinden.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Lass den Kopf nicht hängen, das ist nicht so schwer, wie du meinst. Probiere es aus und habe Geduld mit dir.«
»Geduld?! Ich muss in genau zehn Tagen, in der 13ten Elfenstunde nach Null, meinen Wunsch aussprechen, und was, wenn ich bis dahin meine innere Stimme nicht gefunden habe und sie mir nichts über meinen wahren Wunsch sagen konnte?«
Aaro lachte laut auf. Dabei fingen seine Äste an, wie wild umherzuschwingen. Nimue musste einem ausweichen, indem sie einen Schritt zurücksprang.
Ein wenig verärgert betonte sie daraufhin: »Lustig finde ich das überhaupt nicht!«
»Geh hinein, ich mache es dir gemütlich warm.«
»Danke« murmelte sie und verschwand in der Höhle im Bauminneren.
Sie begrüßte Stúhly, die Stuhldame, die im Inneren der Baumhöhle lebte. Nimue deutete an, sich setzen zu wollen, doch vorher musste sich Stúhly nach rechts und links ausdehnen.
Seit Langem war Stúhly mehr als genervt, dass sich Nimue keinen größeren Stuhl zulegte. Zum einen machte ihr das Dehnen zu schaffen, zum anderen hätte sie gerne einen Spielgefährten gehabt. Der Eichenbaum jedoch hatte da etwas Entscheidendes dagegen, und so konnte auch Nimue nicht über seinen Kopf hinweg Entscheidungen fällen.
Stúhly räusperte sich und Nimue setzte sich. Da hörten sie das Rascheln von Blättern. Es war Aaro, der seinen Stamm von außen schloss, indem er Eichenblätter auf den Eingang legte. Daraufhin kehrte eine Stille ein. Nur noch ein paar Würmer und Käfer unterhielten sich miteinander. Ansonsten war da nichts; nicht einmal das Atemgeräusch der Eiche war mehr zu hören.
»Hey«, begrüßte Nimue unerwartet ein kleiner roter Käfer.
»Hallo.«
Aaro hatte dies gehört und sogleich hallte seine tiefe Stimme im Raum: »Halt dein Maul, Steinkäfer Lili! Nimue braucht vollkommene Ruhe. Sie soll ihre innere Stimme finden. Da braucht sie dein Geschwätz ganz bestimmt nicht.«
Der Käfer kicherte, bevor er flüsternd, dennoch mit einem spöttischen Unterton meinte: »Die innere Stimme, haha. Viel Glück, Nimue, ich will dich nicht weiter stören.«
Nimue antwortete nicht, denn eigentlich war sie froh, dass Lili da war. Ablenkung ist immer gut, wenn man nicht weiterweiß.
Als der Käfer wieder verschwunden war, flüsterte sie: »Nun gut, meine innere Stimme, ich bin ruhig und könnte dir zuhören.«