Die Chiemsee Elfen - Yvonne Elisabeth Reiter - E-Book

Die Chiemsee Elfen E-Book

Yvonne Elisabeth Reiter

0,0
11,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Endlich, der 130. Geburtstag! Am Grund des Chiemsees, im Reich Shenja, steht die Elfenwelt kopf, denn die liebenswerte Elfenprinzessin Nimue feiert in wenigen Tagen ihr Uaneala-Fest! Das ist im Reich etwas ganz Besonderes: Aus dem Kind wird eine junge Erwachsene. Die Vorbereitungen für das große Fest auf dem Schloss laufen und Nimue überlegt währenddessen fieberhaft, was ihr Uaneala-Wunsch sein soll. Mit gemischten Gefühlen schaut die außergewöhnliche Elfe auf das bevorstehende Fest und den neuen Lebensabschnitt. Ruhe findet sie bei ihrer schützenden Eiche Aaro. Während sie der Hektik am Hof dorthin entflieht, bekommt das behütet aufgewachsene Elfenmädchen eine unangenehme Ahnung davon, dass es auch Gefahren in ihrem Leben geben wird. Und dass die größte Gefahr nicht nur aus der Schatten- und Dunkelwelt kommen könnte, sondern in nächster Nähe lauert. Kann sie ihrer inneren Stimme vertrauen? Und ist sie der Verantwortung für das Reich Shenja und für ihre geliebte Familie gewachsen? Sie erfährt von einem Stein, der große Hoffnung, aber auch Gefahren bergen kann. Nimue stellt sich der Herausforderung an. Das Abenteuer beginnt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Yvon­ne Eli­sa­beth Rei­ter

Die Chiem­see El­fen

1. Auf­la­ge 2020Co­py­right ©2020 Yvon­ne Eli­sa­beth Rei­ter

Chiem­gau­er Ver­lags­hausDah­li­en­weg 5, 83254 Breit­brunnwww.chiem­gau­e­r­ver­lags­haus.deAlle Rech­te vor­be­hal­ten

Il­lus­tra­ti­o­nen/Zeich­nun­gen: Ste­fa­nie Dir­scherl, Ber­nau am Chiem­see

Co­ver­de­sign: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de

Co­ver­bil­der: ©ze­rems­ki­mi­lan, ©Vla­dis­lav Gu­dovs­kiy, ©Alekss, ©Li­l­ya, ©ja­boo2a­[email protected], ©Jo­chen Netz­ker, ©Lau­ra Pas­h­ke­vich, ©ze­ni­na – stock.ad­o­be.com

E-Book Kon­ver­tie­rung: Con­stan­ze Kra­mer, co­ver­bou­tique.de

Der Stein des Orisolus

»Bit­te, bit­te, Se­anair«, bet­tel­te Ni­mue und zog wild an dem Rock­zip­fel ih­res Groß­va­ters. Mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen starr­te sie ihn an und be­merk­te, dass sich nun end­lich sei­ne Ge­sichts­zü­ge ent­spann­ten. Sie wuss­te ge­nau, war­um dies ge­sch­ah; es war das Wort Se­anair. Es be­deu­tet auf Gä­lisch Groß­va­ter, die Spra­che ih­rer Ah­nen. Wenn Ni­mue im Ge­gen­satz zu ih­rem Groß­va­ter et­was un­be­dingt woll­te, sprach sie ein paar Wor­te in Gä­lisch und schon be­kam sie bei­na­he je­den Wunsch er­füllt.

»Bit­te, Se­anair, er­zähl mir von mei­nen Vor­fah­ren und ih­rer al­ten Hei­mat«, be­kräf­tig­te sie noch ein­mal ihre Bit­te.

Ihr Groß­va­ter nahm lang­sam in ei­nem ex­tra gro­ßen Oh­ren­ses­sel Platz. Er hol­te tief Luft.

»Nun gut, mei­ne Klei­ne, dann pass auf«, er­wi­der­te Aar und sank da­bei tief in den pur­pur­ro­ten, samt­wei­chen Stuhl.

Ni­mue lieb­te die­sen gro­ßen Ses­sel, in dem sie nie­mals selbst saß. Die brei­ten Arm­leh­nen so­wie auch die Füße wa­ren aus al­tem Ei­chen­holz. Er sah ma­je­stä­tisch aus und trotz­dem ge­müt­lich. Sie setz­te sich auf den Bo­den und lehn­te ih­ren Kopf an die Bei­ne ih­res Groß­va­ters. Da­bei blick­te sie auf das pras­seln­de Feu­er im Ka­min, das den Raum mit ei­nem sanf­ten oran­ge-gel­ben Licht er­hell­te.

Aar leg­te sei­ne Hand auf ih­ren Kopf und strei­chel­te sanft über ihr Haar. Da be­gann er mit wei­cher Stim­me zu er­zäh­len: »Dei­ne Vor­fah­ren stam­men aus dem schot­ti­schen Hoch­land, wel­ches in Gä­lisch A‘Ghàid­he­al­tachd ge­nannt wird. Im Wald, am Rand des klei­nen Dörf­chens Crid­he, wuch­sen sie auf. Der Ort war be­son­ders schön ge­le­gen, di­rekt an ei­ner Steil­küs­te der Nord­see.«

Ni­mue ver­such­te sich in Ge­dan­ken Crid­he vor­zu­stel­len. Da­bei ent­deck­te sie Holz­häu­ser, die hoch oben auf ei­nem Fel­sen über dem Meer stan­den. Die­se wur­den schein­bar von ei­nem in die Höhe wach­sen­den, dich­ten Wald be­schützt, der nur we­ni­ge grü­ne Flä­chen frei­gab. Das sich zu Wel­len auf­bäu­men­de Was­ser der Nord­see glit­zer­te im Son­nen­licht. Mit ei­ner Wucht prall­te es ge­gen die Fel­sen und doch ließ sich das alte Ge­stein nicht da­von be­ein­dru­cken. Die Vor­stel­lung ei­ner der­ar­tig schö­nen Na­tur lös­te eine Wär­me in Ni­mue aus, die die wei­te­ren Wor­te ih­res Groß­va­ters noch tie­fer in sie sin­ken lie­ßen.

»Sie wa­ren gro­ße Ge­stal­ten mit lan­gen blon­den oder brau­nen Haa­ren und so hübsch, wie du es bist.«

Ni­mue grins­te ihn fröh­lich an und frag­te: »Sie wa­ren grö­ßer als wir, nicht wahr, Opa?«

Er nick­te. »Ja, grö­ßer als wir es heu­te sind. Auf­grund der lan­gen und be­schwer­li­chen Rei­se durch Land und Was­ser ha­ben sich un­se­re Vor­fah­ren den Um­stän­den ent­spre­chend an­ge­passt und sind da­her in ih­rer Grö­ße um meh­re­re Zen­ti­me­ter klei­ner ge­wor­den.«

Er­staunt über die­se Tat­sa­che lehn­te sie ih­ren Kopf zu­rück an sein Bein und lausch­te wei­ter sei­nen Wor­ten.

»Wäh­rend sie in der Tie­fe des Mee­res ent­lang­zo­gen, wur­de die Be­weg­lich­keit im­mer wich­ti­ger. Sie woll­ten so schnell wie mög­lich eine neue Hei­mat fin­den. Eine ge­rin­ge­re Grö­ße un­ter­stütz­te ihre Fort­be­we­gung im Was­ser. Trotz­dem dau­er­te es Hun­der­te von Jah­ren bis sie den Oze­an durch­quert hat­ten« – kurz hielt er inne und at­me­te tief ein, um die wei­te­ren Wor­te weich und sanft aus der Tie­fe sei­nes Kör­pers glei­ten zu las­sen – »vor­her je­doch, da wa­ren sie gro­ße Wal­del­fen, die über Jahr­tau­sen­de fried­lich in ih­rem Kö­nig­reich ge­lebt hat­ten. Da­mals re­gier­te Kö­nig Aar, der, wie du weißt, dein Ur-Ur-Ur­groß­va­ter war. Mei­ne Mut­ter hat mir aus ih­rer tie­fen Ver­bun­den­heit her­aus sei­nen Na­men ge­ge­ben.«

Ni­mue nick­te, ohne sei­ne Aus­sa­ge mit Wor­ten zu be­stä­ti­gen.

»Ich habe ge­hört«, schwärm­te er dar­auf­hin, »dass die Blu­men fort­wäh­rend blüh­ten, und die Bäu­me wa­ren das gan­ze Jahr über vol­ler Blät­ter. Nur die Fa­r­ben ver­ri­e­ten die je­wei­li­gen Jah­res­zei­ten. Der Früh­ling zeig­te sich hell- bis sma­ragd­grün, der Som­mer ver­misch­te das Grün mit Gelb und Oran­ge, der Herbst färb­te es braun ein und der Win­ter ver­wan­del­te die Blät­ter lang­sam wie­der zu ei­nem strah­len­den Grün.«

»Oh, wie schön, Opa.«

»Ja, das war es«, stimm­te er Ni­mue zu. Da än­der­te sich sei­ne Ton­la­ge, die nun einen Ernst und eine Trau­rig­keit ent­hielt und da­mit sei­ne nächs­ten Wor­te mit ih­rer Schick­sals­schwe­re un­ter­strich: »Bis die Dun­kelel­fen ka­men und un­ser Volk ver­trie­ben.«

»War­um ha­ben sie das ge­tan?«

»Der Kampf um Macht und Herr­schaft trieb sie an. Weißt du, wer die Dun­kelel­fen sind?«

Ni­mue hat­te na­tür­lich be­reits über die­se We­sen et­was ge­hört, den­noch woll­te sie ihr Ge­dächt­nis auf­fri­schen. Sie schüt­tel­te ih­ren Kopf, um ihre Un­wis­sen­heit an­zu­deu­ten.

»Die Dun­kelel­fen sind vom glei­chen Urel­fen­stamm, wie wir es sind, und so sind wir Schwes­tern und Brü­der. Die Ge­burt un­se­rer Ur­vä­ter hat ein Gleich­ge­wicht auf der Erde ge­schaf­fen, in­dem das Uni­ver­sum dem Gu­ten und dem Bö­sen als Zwil­lings­paar zu glei­chen Tei­len das Le­ben schenk­te. Wir ge­hö­ren zu den Lich­tel­fen, wie du weißt. Den­noch sind die Dun­kelel­fen mit uns ver­wandt. Ihre We­sen­heit ist je­doch grund­ver­schie­den. Sie sind hin­ter­häl­tig und böse. Ich kann dir ra­ten, ih­nen im­mer aus dem Weg zu ge­hen. Lass dich nie­mals von ih­nen täu­schen« – sei­ne Stim­me wur­de aus­drucks­voll tief – »denn auf den ers­ten Blick wir­ken sie ge­win­nend und freund­lich. Man merkt ih­nen ihre wah­ren Ab­sich­ten nicht so­fort an.«

Ni­mue spür­te, wie sich ein ei­gen­ar­ti­ges, un­an­ge­neh­mes Ge­fühl in ih­rer Brust aus­brei­te­te.

»Wie kann ich wis­sen, ob eine Elfe eine Licht- oder eine Dun­kelel­fe ist?«, wun­der­te sie sich.

Er lä­chel­te sie lie­be­voll an und strich ihr da­bei sanft übers Haar.

»Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben. Ver­traue dei­nem in­ne­ren Ge­fühl und es wird dir nichts pas­sie­ren. Die Men­schen nen­nen es In­tu­i­ti­on. Sie wird dich im­mer gut und si­cher lei­ten.«

Ni­mue war nicht ge­ra­de zu­frie­den mit die­ser Ant­wort. Was soll­te das hei­ßen: in­ne­res Ge­fühl? Und wie konn­te sie die­ses ak­ti­vie­ren? Sie be­schloss, erst sei­nen Wor­ten wei­ter zu lau­schen und dann spä­ter noch ein­mal dar­auf zu­rück­zu­kom­men.

»Nach­dem sie Crid­he ver­las­sen ha­ben, wan­der­ten sie öst­lich der Küs­te ent­lang nach Eng­land. Weißt du, was Crid­he be­deu­tet?«

Sie schüt­tel­te ih­ren Kopf, so­dass ihr lan­ges Haar leicht im Wind weh­te.

»Crid­he ge­hört der Spra­che dei­ner Vor­fah­ren an und heißt über­setzt: das Herz. Es be­zeich­net auch den Ur­sprung, also den Kern ei­ner Sa­che, und trägt in sich die Fä­hig­keit, mu­tig zu sein. Als Dorf­na­me ver­kör­per­te es das Herz des Vol­kes, das in die­sem Ort ge­mein­sam leb­te, also das Ge­mein­schafts­herz des El­fen­stam­mes Shen­ja. Alle dort le­ben­den El­fen wa­ren gute We­sen. Die­se po­si­ti­ve Ener­gie ließ das Ge­mein­schafts­herz stark und kräf­tig schla­gen.«

Ein Mo­ment der Stil­le trat ein, in der Aar nach­denk­lich wirk­te. »In die­sem Dorf leb­ten nicht nur El­fen, son­dern auch Men­schen. Der klei­ne Bru­der von Kö­nig Aar ver­lieb­te sich in ein Men­schen­mäd­chen und hei­ra­te­te sie. Ihr Name war Jo­se­phi­ne und bei­de leb­ten im Kö­nigs­schloss. Sie wa­ren ein glü­ck­li­ches Paar, das am Tage ih­rer Hoch­zeit in eine präch­ti­ge Zu­kunft blick­te. Die­ses Schick­sal soll­te sich je­doch wen­den und so muss­ten sie mit ih­rem Volk flie­hen, um ihr Le­ben zu ret­ten. Auf der Rei­se ge­bar Jo­se­phi­ne zwei ge­sun­de Kin­der, die sie an der Küs­te von Corn­wall mit ih­rem Mann wei­ter durchs Was­ser zie­hen ließ.«

»War­um hat sie das ge­tan? Hat­te sie ihre Kin­der nicht lieb, Opa?«

Aar schüt­tel­te leicht den Kopf und mein­te: »Nein, nein, das war nicht der Grund. Ganz im Ge­gen­teil. Es war viel zu ge­fähr­lich, die Kin­der zu­rück­zu­las­sen, und so gab Jo­se­phi­ne sie frei, um sie zu schüt­zen.«

»Wie meinst du das?«

»Um durch das Was­ser zie­hen zu kön­nen, brauch­te sie die fein­stoff­li­che Hül­le ei­ner El­fen­haut. Als Mensch war es ihr nicht mög­lich, sich der schwie­ri­gen Um­ge­bung an­zu­pas­sen so­wie so lan­ge un­ter Was­ser zu blei­ben. Durch die Schwan­ger­schaf­ten mit El­fen­kin­dern hat­te sich ihre Haut be­reits ver­wan­delt, den­noch nicht ge­nug, um die Rei­se zu über­ste­hen.«

Sei­ne Wor­te ver­stumm­ten, so­dass Ni­mue auf­sah und in sein nach­denk­li­ches Ge­sicht blick­te.

»Viel­leicht«, sag­te er hoff­nungs­voll und strich mit sei­nem Zei­ge­fin­ger über ihre Nase, »ist sie noch am Le­ben. Durch die Schwan­ger­schaf­ten hat sie vie­le Fä­hig­kei­ten und Ei­gen­schaf­ten der El­fen über­nom­men. Die Men­schen re­a­gie­ren al­ler­dings sehr in­di­vi­du­ell dar­auf.«

Da be­schleu­nig­te sich Ni­mu­es Herz­schlag und sie frag­te auf­ge­regt: »Wo könn­te Jo­se­phi­ne jetzt sein? Soll­ten wir sie nicht su­chen? Sie ge­hört doch zur Fa­mi­lie.«

»Ja, das tut sie. Trotz­dem ist es sehr un­wahr­schein­lich, dass sie noch lebt. Ihr Ehe­mann hat die Hoff­nung bis zu sei­nem letz­ten Atem­zug nicht auf­ge­ge­ben. Er hat mit al­len Mit­teln ver­sucht, sie zu fin­den; ver­ge­bens. Man glaubt, dass die Dun­kelel­fen sie ge­tö­tet ha­ben.«

Ni­mue lief bei die­sem Ge­dan­ken ein kal­ter Schau­er über den Rü­cken.

Aar be­merk­te dies und er­wähn­te so­gleich: »Weißt du, dass sie da­mals die Grup­pen­see­le un­se­res Vol­kes ganz schön durch­ein­an­der­ge­bracht hat?«

»Grup­pen­see­le?«

»Ja. Ein Volk hat nicht nur ein ge­mein­sam schla­gen­des Herz, son­dern auch eine See­le. Die­se wird bei El­fen so­wie bei Men­schen durch Emo­ti­o­nen be­rührt, und Jo­se­phi­ne war ein sehr emo­ti­o­na­ler Mensch. Da­her be­ein­fluss­te sie die Grup­pen­see­le über­aus stark und das be­weg­te das gan­ze Kö­nig­reich. Wenn sie wein­te, fühl­te je­der ihre Trau­rig­keit und um­ge­kehrt, wenn sie lach­te, ihre Fröh­lich­keit. Ihr gro­ßer Ein­fluss war ei­gen­ar­tig, den­noch war er deut­lich zu spü­ren.«

Er hielt einen Mo­ment lang inne.

Ni­mue wand­te sich ihm zu und be­merk­te den lee­ren Aus­druck sei­ner Au­gen. Sie konn­te sich die­se Lee­re nur der­art er­klä­ren, dass er tief in sei­nen Ge­dan­ken ver­sun­ken war.

»Wo wa­ren wir ste­hen ge­blie­ben?«, un­ter­brach er die Stil­le, »eh, ge­nau, sie wa­ren auf der Su­che nach ei­ner neu­en Hei­mat. Ur­sprüng­lich woll­ten sie sich an der Küs­te von Corn­wall an­sie­deln, da die­se Halb­in­sel ein be­son­ders schö­ner Teil der Erde ist. Die dor­ti­gen Volks­s­täm­me je­doch mach­ten es ih­nen un­mög­lich. Sie ver­tei­dig­ten ihr Land um je­den Preis. Da un­se­re Vor­fah­ren schon im­mer ein fried­lie­ben­des Volk wa­ren, ent­schlos­sen sie sich wei­ter­zu­zie­hen und zwar nach Frank­reich. Die Ent­schei­dung über oder un­ter Was­ser zu rei­sen war ein­fach, da die Pi­ra­ten­geis­ter eine grö­ße­re Ge­fahr als die ein­zel­nen Mee­res­be­woh­ner dar­stell­ten.«

Ni­mue mein­te auf­ge­wühlt: »Da hat Jo­se­phi­ne ihre Fa­mi­lie zum letz­ten Mal ge­se­hen?«

»Ja, mei­ne Klei­ne, dort pas­sier­te es. Das Ziel war nun der an­de­re Teil von Eu­r­o­pa. Der Teil, den sie noch nicht kann­ten. Sie hat­ten von den vor­bei­zie­hen­den Vö­geln viel über des­sen Schön­heit ge­hört. Aus die­sem Grund wa­ren sie vol­ler Hoff­nung, dort ein neu­es und schö­nes Zu­hau­se zu fin­den. Es dau­er­te je­doch Hun­der­te von Jah­ren, bis sie an der fran­zö­si­schen Küs­te an­ka­men.«

»War­um dau­er­te es so lan­ge, Opa?«, frag­te Ni­mue er­staunt.

»Weil der eng­li­sche Ka­nal dicht be­sie­delt ist und die Be­woh­ner nicht ge­ra­de er­freut wa­ren, von ei­ner Her­de El­fen ge­stört zu wer­den. Es kos­te­te vie­le an­stren­gen­de Ver­hand­lun­gen mit den je­wei­li­gen Stam­mes­füh­rern, um die Er­laub­nis der Durch­rei­se zu er­hal­ten. Sie muss­ten Kom­pro­mis­se ein­ge­hen und sich den stän­di­gen Ver­än­de­run­gen der Um­ge­bung an­pas­sen. Dies al­les kos­te­te Zeit. Trotz al­le­dem ha­ben sie letzt­end­lich ihr Ziel ver­wirk­licht und für ihre Nach­fah­ren ein neu­es Reich auf­ge­baut, in dem Frie­den und Har­mo­nie herr­schen.«

»Du meinst das Reich Shen­ja und un­ser tol­les Schloss?«

Er nick­te zu­stim­mend. »Ja, das mei­ne ich. Ha­ben wir es hier nicht be­son­ders schön?«

Sie lä­chel­te ihn zu­frie­den an. »Das ha­ben wir, Opa. Aber wie sind sie den wei­ten Weg hier­her­ge­kom­men?«

»Erst ein­mal sind sie an der Küs­te in Frank­reich ge­lan­det. Frank­reich hat ih­nen sehr gut ge­fal­len, da die dor­ti­ge Le­bens­wei­se fast ei­nem Hof­ze­re­mo­ni­ell äh­nel­te. Sie ge­nos­sen das gute fran­zö­si­sche Es­sen und ihre zu­meist klas­si­sche Mu­sik. Die Men­schen fei­er­ten fröh­lich und dies auf eine so schö­ne, re­spekt­vol­le Art und Wei­se, dass sie sich ger­ne an­schlos­sen. Nach dem lan­gen Was­ser­auf­ent­halt woll­ten sie wie­der an Land le­ben und so durch­fors­te­ten sie die Wäl­der nach ei­nem Ort, an dem sie ihr Reich auf­bau­en könn­ten. Die Su­che war je­doch ver­ge­bens, denn dort leb­te be­reits eine gro­ße An­samm­lung von Men­schen. Kein Platz war mehr frei und so muss­ten sie wei­ter­zie­hen. Dar­auf­hin tra­fen sie auf ein Land na­mens Ita­li­en. Erst wa­ren sie be­geis­tert von dem gu­ten Es­sen und auch der Wein war dort be­son­ders rein und da­her für El­fen gut ver­träg­lich. Doch die Men­schen spra­chen so laut mit­ein­an­der, dass es ih­nen un­ge­müt­lich er­schien. Sie ent­schlos­sen sich, wei­ter­zu­zie­hen. Zu die­ser Zeit be­geg­ne­ten sie kurz vor ei­ner Stadt na­mens Rom freund­li­chen Wald­geist­be­woh­nern. Die­se lu­den sie ein, bei ih­nen ein­zu­keh­ren, um sich für die wei­te­re Rei­se aus­zu­ru­hen und zu stär­ken. Der Geis­ter­kö­nig nann­te sich Rory, was so viel wie ro­ter Kö­nig be­deu­te­te und rot war er auch im­mer. Ich mei­ne, er lieb­te ro­ten Wein und nach ein paar Glä­sern färb­te sich sei­ne Geis­ter­hül­le ge­nau­so rot wie die Fa­r­be des Weins. Noch heu­te hört man die Men­schen über die ei­gen­tüm­lich rote Fa­r­be spre­chen, die manch­mal über den Dä­chern von Rom wie ein Schlei­er schwebt. Kö­nig Aar er­zähl­te, dass Rory ein fre­cher, aber lie­bens­wer­ter Ge­sel­le war und oft Scha­ber­nack mit den Men­schen trieb. Da­bei hat er Kir­chen­uh­ren mehr­fach zu un­ge­wöhn­li­chen Zei­ten läu­ten las­sen oder Uh­ren ver­stellt. Am liebs­ten je­doch hat­te er die Glä­ser Fei­ern­der aus­ge­trun­ken, schnell und heim­lich. Dies ver­wirr­te vie­le Men­schen und führ­te zu un­g­lü­ck­li­chen Zei­ten, denn sie dach­ten, dass die Ver­wir­rung krank­haf­ter Na­tur sei.«

Ni­mue ver­stand nicht. »Und dann?«

»Dann gin­gen sie in Hos­pi­tä­ler und lie­ßen ihre schwe­re Er­kran­kung be­han­deln.«

Aar lach­te laut­stark, was Ni­mue auch zum La­chen brach­te. Trotz­dem hat­te sie kei­ne Ah­nung, was dar­an so lus­tig war.

Nach ei­ni­gen Freu­den­trä­nen wur­de er wie­der ernst und er­zähl­te sei­ne Ge­schich­te wei­ter: »Der rote Kö­nig sprach oft und viel mit Kö­nig Aar. Ei­nes Ta­ges er­klär­te er mei­nem Ur­groß­va­ter, wie sehr er hoff­te, dass un­ser Volk eine schö­ne Hei­mat fin­den wür­de. Dort, wo gu­ter Wein wächst und die Men­schen ger­ne fei­ern. Dort, wo das Reich der Geis­ter und El­fen Früch­te trägt und das Dunk­le kei­nen Zu­gang hat.« Da klopf­te er sanft auf Ni­mu­es Kopf und er­klär­te: »Üb­ri­gens, Kö­nig Aar war da­mals schon sehr alt. Er hat­te das üb­li­che El­fe­n­al­ter schon weit über­schrit­ten. Al­ler­dings wuss­te er, dass er sich erst auf­lö­sen kann, wenn sich sein Volk in Si­cher­heit an ei­nem schö­nen Platz an­ge­sie­delt hat. Er war wild ent­schlos­sen, eine neue Hei­mat für sein Volk zu fin­den, und so in­for­mier­te er sich über die nächst­lie­gend an­gren­zen­den Län­der zu Ita­li­en. Bei ei­nem sei­ner all­abend­li­chen Ge­sprä­che mit Rory er­zähl­te ihm die­ser von Bay­ern. Der rote Kö­nig selbst war noch nie dort ge­we­sen, al­ler­dings hör­te er von Vor­bei­rei­sen­den im­mer nur Gu­tes dar­über. Zu­dem lie­fen die Han­dels­ge­schäf­te zwi­schen Ita­li­en und Bay­ern be­son­ders in­ten­siv, und so kann­te der Geis­ter­kö­nig einen Han­dels­weg zu Lan­de, der von Ve­ne­dig über Inns­bruck nach Bay­ern führ­te. Auf die­sem Pfad konn­ten sie es nicht ver­feh­len, so war er sich si­cher. Aus ei­nem mir un­be­kann­ten Grund je­doch ka­men sie in Ös­ter­reich vom Weg ab und über­quer­ten die Al­pen der­art, dass sie di­rekt am Fuße des Chiem­sees die baye­ri­sche Vor­al­pen­land­schaft be­tra­ten, und da pas­sier­te es.«

»Was, Opa, was pas­sier­te da?«, rief Ni­mue auf­ge­regt.

»Kö­nig Aar traf auf den Ur-Ur-Ur­groß­va­ter dei­nes Freun­des Hub­si.«

»Oh, und dann?«

»Dann hat die­ser mit dei­nem Ur-Ur-Ur­groß­va­ter Aar Freund­schaft ge­schlos­sen und ihm den frei­en Raum am Bo­den des Sees an­ge­bo­ten. Erst woll­te er sein Volk nicht im Was­ser an­sie­deln, da wir ja ur­sprüng­lich ein Wald­volk wa­ren. Des­halb bist du nicht nur eine See-, son­dern auch eine Wal­del­fe.« Er stups­te mit sei­nem rech­ten Zei­ge­fin­ger auf ihre Nase. »Nach vie­len Ge­sprä­chen und Be­sich­ti­gun­gen der Ge­gend ent­schied er sich den­noch für das Land Bay­ern und das Le­ben hier. Der Schutz, den das Was­ser zwi­schen un­se­rem Reich und der Was­ser­o­ber­flä­che mit sich brach­te, über­zeug­te ihn au­ßer­dem von ei­nem Le­ben am Bo­den des Chiem­sees. Dar­auf­hin ha­l­fen alle zu­sam­men. Die Was­ser­geis­ter, eine Troll­fa­mi­lie, die oben auf der Frauen­in­sel leb­te, und vie­le an­de­re Licht­we­sen bau­ten ge­mein­sam un­ser Kö­nig­reich Shen­ja auf. Nach ein paar Mo­na­ten war es fer­tig und alle über­le­ben­den Wald- und See­el­fen konn­ten ein­zie­hen. Da­mals wa­ren es nur noch 123 El­fen, samt dem Heer.«

»So we­ni­ge, Opa«, wun­der­te sie sich. »Was pas­sier­te da­nach mit un­se­rem Kö­nig?«

»Als al­les fer­tig auf­ge­baut und das gro­ße Ein­wei­hungs­fest in vol­lem Gan­ge war, rief er sei­ne äl­tes­te Toch­ter Cara, sei­nen ers­ten Sohn Tad­gh, sei­nen zwei­ten Sohn Oi­sin und sei­ne jüngs­te Toch­ter Anna zu sich. Die Kö­ni­gin versta­rb wäh­rend der an­stren­gen­den Rei­se und so war die engs­te Fa­mi­lie voll­stän­dig. Er er­klär­te, dass Tad­gh, mein Groß­va­ter, sein Nach­fol­ger wer­den soll­te. Zu­dem mein­te er, dass es nun an der Zeit sein wür­de, zu ge­hen, um Platz für neue We­sen sei­ner Art, also Nach­kom­men, zu schaf­fen.«

»War­um, Opa? War­um kön­nen wir hier nicht ein­fach alle zu­sam­men wei­ter­le­ben?«

»Weil der Raum zu eng wird, die Ener­gi­en zu dicht und wie auch bei den Men­schen ir­gend­wann der Platz aus­ge­hen wür­de. Je en­ger der Le­bens­raum, umso mehr Rei­be­rei­en ent­ste­hen und das er­schwert je­des Le­ben. Je­des We­sen braucht sei­nen na­tür­li­chen Be­reich, um frei und kre­a­tiv exis­tie­ren zu kön­nen. Zu­dem wird die Wei­ter­ent­wick­lung ge­för­dert, da Al­tes durch Neu­es er­setzt wird, auch wenn es uns schwer­fällt, das Alte los­zu­las­sen. Un­se­re See­len sind je­doch im­mer mit­ein­an­der ver­bun­den, auch wenn wir kei­ne Kör­per mehr mit un­se­ren El­fe­n­au­gen se­hen kön­nen.«

»Ja, Opa, das weiß ich«, ant­wor­te­te Ni­mue er­leich­tert über die­ses Be­wusst­sein. Trotz­dem woll­te sie an eine der­ar­ti­ge Ver­än­de­rung in ih­rer Fa­mi­lie noch nicht den­ken, denn ihr Ur­groß­va­ter war be­reits 999 El­fen­jah­re alt, und was das zu be­deu­ten hat­te, war ihr klar. Ir­gend­wann wür­de auch er sie ver­las­sen.

»Was hat Kö­nig Aar dann ge­macht?«, frag­te sie neu­gie­rig.

»Er hat al­len sei­ne Lie­be ver­si­chert und auch ei­nes je­den zu­künf­ti­ge Auf­ga­ben er­läu­tert. Dann küss­te er die Wan­gen sei­ner Kin­der, dreh­te sich um und ver­schwand hin­ter der di­cken Ei­chen­tür. Der da vor­ne!« Er zeig­te auf die nächst­lie­gen­de Tür ge­gen­über dem Oh­ren­ses­sel. »Sei­ne Kin­der hör­ten ihn kurz dar­auf die knar­ren­de Holz­trep­pe zum Süd­turm hin­auf­ge­hen. Da­nach wur­de er nie mehr ge­se­hen.«

Ni­mue stell­te sich den Süd­turm bild­lich vor. Sie dach­te an die obers­te Kam­mer, ihr Lieb­lings­zim­mer, in dem sie mit ih­ren Ge­schwis­tern schon oft ge­spielt hat­te. An die­sem Ort muss­te sei­ne El­fen­see­le sei­nen Kör­per ver­las­sen ha­ben. Kein an­de­rer Raum kam da­für in­fra­ge.

Da er­klan­gen die Wor­te ei­ner wei­chen, den­noch durch­drin­gen­den Frau­en­stim­me: »Aar, wo bleibst du nur?«

Es war ihre Groß­mut­ter Oona, die be­reits seit vier El­fen­stun­den auf ih­ren Mann war­te­te, der ihr im Ge­wächs­haus bei der Pfle­ge der Pflan­zen hel­fen soll­te.

Oona stamm­te aus dem El­fen­reich Lara. Die­ser El­fen­stamm leb­te und lieb­te die Ein­sam­keit im Schut­ze ei­nes Zau­ber­wal­des, wel­che sie nach ih­rer Hoch­zeit kom­plett auf­ge­ben muss­te. Trotz­dem fühl­te sie sich im Reich Shen­ja sehr wohl. Dies er­klär­te sie sich aus den Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten ih­res Va­ters, der von ei­ner be­son­ders wil­den und aus Feu­er be­ste­hen­den El­fen­fa­mi­lie ab­stamm­te. Er litt sehr un­ter der Zu­rück­ge­zo­gen­heit und Stil­le des Fa­mi­li­en­stam­mes sei­ner Frau und doch ver­zich­te­te er auf sei­ne Lei­den­schaf­ten aus Lie­be zu ihr. Sein El­fen­stamm moch­te, ge­nau­so wie der El­fen­stamm Shen­ja, die Mu­sik, das Es­sen und das Tan­zen. Bei­de glaub­ten an den be­son­de­ren Zau­ber der fei­er­li­chen Ma­gie und die vie­len klei­nen Ge­schen­ke dar­in. So ver­kör­per­te Oona in ih­rer neu­en Hei­mat aus ih­rer Na­tür­lich­keit her­aus das ge­erb­te Feu­er ih­res Va­ters. Oo­nas Mut­ter da­ge­gen wies eine Be­son­der­heit auf. Ihr Volk war ur­sprüng­lich ein Feen­volk und hat­te nur we­ni­ge El­fe­n­an­tei­le, auch wenn an der Spit­ze ih­res Stamm­bau­mes eine Elfe stand. Sie war eine sehr licht­vol­le Fee. Ihr Cha­rak­ter zeich­ne­te sich durch Lie­bens­wür­dig­keit und eine Art kind­li­cher Ver­spielt­heit aus. Die­se Ei­gen­schaf­ten hat­te auch Oona, wel­che Ni­mu­es Groß­va­ter sehr an sei­ner Frau lieb­te.

Oona hat­te hell­blaue Au­gen und wei­ße lan­ge Haa­re, die sie ge­floch­ten oder in ei­nem Dutt trug. Sie glich op­tisch den schot­ti­schen El­fen, al­ler­dings mit nur an­ge­haucht spit­zen Oh­ren. Ihr Ge­sicht glich ei­nem har­mo­ni­schen Kunst­werk, das durch schö­ne, gleich­mä­ßi­ge Ge­sichts­zü­ge be­son­ders hübsch aus­sah. Sie war groß, ein paar Zen­ti­me­ter grö­ßer als ihr Ehe­mann.

Nachts schwamm sie oft an die Was­ser­o­ber­flä­che und setz­te sich ans Ufer der Frauen­in­sel, um dort die At­mo­sphä­re zu ge­ni­e­ßen. Die Men­schen konn­ten dann im Mond­licht ein Glit­zern und Fun­keln am Was­se­ru­fer be­ob­ach­ten, denn ihre Schön­heit durch­brach den ma­gi­schen Schlei­er zwi­schen den Wel­ten, auch wenn sie sich ih­rer Um­ge­bung nicht zeig­te. Tat sie es den­noch, konn­te sie durch ihre Er­schei­nung Paa­re zu­sam­men­füh­ren und Ver­ei­ni­gun­gen al­ler Art mit Glück be­schen­ken. Auch die­se Ei­gen­schaf­ten lieb­te ihr Ehe­mann an ihr.

»Komm ja schon, Oona«, er­wi­der­te Aar, wor­auf Ni­mue zur Sei­te rück­te, um Aar Platz zu ma­chen. Kurz dar­auf ver­schwand er hin­ter der gro­ßen Ein­gangs­tür mit den Wor­ten: »Bis bald, mei­ne Klei­ne.«

Ru­hig und ge­dan­ken­ver­lo­ren saß sie nun al­lein im Ka­min­zim­mer. Sie dach­te an Oona und an die vie­len Er­zäh­lun­gen ih­rer Cou­si­ne Cara, die von ih­rer ge­mein­sa­men Oma spra­chen.

Cara leb­te seit ih­rer Ge­burt auf ei­ner klei­nen Zau­be­r­in­sel, nahe an der Frauen­in­sel ge­le­gen. Ihre El­tern woll­ten nicht im Was­ser le­ben. Des­halb hat­ten sie sich dort in ei­ner Höh­le an ei­nem Hü­gel an­ge­sie­delt. Ihre Nach­barn wa­ren vie­le ver­schie­de­ne We­sen, wie Wich­tel, Ko­bol­de, eine Fa­mi­lie der Wald­schra­te und klei­ne an­de­re We­sen, die sich mit ih­ren Fa­mi­li­en vor Tau­sen­den von Jah­ren dort an­ge­sie­delt hat­ten.

Ni­mue hat Cara oft be­sucht. Da­bei hat­te Cara ihr von Oo­nas Er­schei­nun­gen und ih­ren Aus­wir­kun­gen auf Men­schen er­zählt. Auf dem Land sprach man viel über die­se un­ge­wöhn­li­che Frau, die aus dem Nichts er­schien und wie­der dar­in ver­schwand. Da sie im­mer nur Gu­tes be­wirk­te, hat­te man kei­ne Angst vor ihr und so wur­de sie über die Jah­re hin­weg zu ei­ner Le­gen­de.

Ni­mue lä­chel­te stolz, als sie mur­mel­te: »Das ist mei­ne Oma.«

Da fiel ihr die so­eben er­zähl­te Ge­schich­te wie­der ein und sie staun­te in Ge­dan­ken: »Was ha­ben mei­ne Vor­fah­ren nur al­les er­lebt? Die gan­ze Welt ha­ben sie ge­se­hen. Ich möch­te auch so ger­ne die Welt er­kun­den und all die Aben­teu­er er­le­ben, die dar­in ste­cken.«

Sie dach­te da­bei an das le­cke­re Es­sen in Ita­li­en, die ge­ho­be­ne Le­bens­phi­lo­so­phie der Fran­zo­sen, an die schot­ti­sche Hei­mat ih­rer Vor­fah­ren und wie schön es wäre, die­se ste­tig blü­hen­de Na­tur ein­mal zu se­hen. Doch dann er­in­ner­te sie sich an die Dun­kelel­fen und ihre zer­stö­re­ri­sche Macht. So­gleich über­fiel sie ein kal­ter Schau­er und über­schat­te­te ihre freu­di­ge Auf­re­gung. Sie setz­te sich zum Ka­min und streck­te ihre Hän­de über das Feu­er. Die­ses wärm­te nicht nur ih­ren Kör­per, son­dern ver­trieb auch ihre Ängs­te.

»Sláin­te!«, hör­te Ni­mue ih­ren Ur­groß­va­ter Seo­ras im gro­ßen Ta­fel­saal ru­fen, wäh­rend sie den Ar­ka­den­gang ent­lang dar­auf zu ging. Da­nach klan­gen vie­le Stim­men im Raum durch­ein­an­der. Ni­mue nahm es als einen woh­lein­ge­stimm­ten Ge­sang wahr. Dar­auf­hin pros­te­ten sich die an­we­sen­den El­fen zu und er­öff­ne­ten da­mit das Fes­tes­sen.

Dies war ein abend­li­ches Ri­tu­al, wel­ches stets vom Kö­nig selbst, Ni­mu­es Ur­groß­va­ter, er­öff­net wur­de. Nicht an je­dem Abend pfleg­ten sie die­ses Ri­tu­al, son­dern haupt­säch­lich an den un­ge­ra­den Ta­gen. Der Sinn dar­in lag nicht al­lein im Ver­zehr von Nah­rung, son­dern der Eh­rung des Ge­mein­schafts­geis­tes. Und so soll­ten an die­sen Aben­den so vie­le Wald- und See­el­fen wie mög­lich zu­sam­men­kom­men, um ihre Ge­mein­schaft zu fei­ern.

Ni­mue kam an die­sem Abend zu spät, da sie nicht auf­hö­ren konn­te, ih­rer Fan­ta­sie frei­en Lauf zu las­sen und ge­dank­lich durch auf­re­gen­de Pfa­de in Rich­tung Schott­land zu rei­sen. Lang­sam schlich sie sich in den Saal hin­ein, in dem sich be­reits vie­le Schloss­be­woh­ner tum­mel­ten. Dort hör­te sie Stim­men durch­ein­an­der­spre­chen, hie und da eine Elfe laut la­chen, Be­cher auf­ein­an­der fal­len und Mu­sik, die im Hin­ter­grund eine fest­li­che Stim­mung ver­brei­te­te. Es dau­er­te nicht lan­ge und sie er­reich­te ih­ren Platz am Haupt­tisch, an dem auch der Kö­nig saß. Denn Ni­mue war eine di­rek­te Nach­kom­min des der­zei­ti­gen Kö­nigs Seo­ras. Dar­über hin­aus mun­kel­te man be­reits, dass ihr Groß­va­ter Aar bald den Thron be­stei­gen wür­de. Da­nach – und da be­stand Ei­nig­keit un­ter al­len El­fen – soll­te sie die ers­te Kö­ni­gin des Rei­ches Shen­ja wer­den. Sie war noch sehr jung mit ih­ren 129 Jah­ren und muss­te bis da­hin noch viel ler­nen, und doch schien sich das Reich be­reits dar­auf ein­zu­stel­len. Sie selbst war sich als jüngs­te von vier Töch­tern dar­über nicht im Kla­ren. Es war un­üb­lich, dass die Jüngs­te auf den Thron nach­fol­gen soll­te, und dann wa­ren da ja noch die Söh­ne von Ni­mu­es Tan­ten und On­keln. Da es im Reich Shen­ja noch nie eine Kö­ni­gin ge­ge­ben hat­te, lag es nahe, dass nach Aar ei­ner von ih­nen das Kö­nig­reich über­neh­men soll­te.

Ni­mue mach­te sich über eine Re­gent­schaft kei­ne Ge­dan­ken. Sie lieb­te das Le­ben und hat­te einen auf­ge­weck­ten, eher wil­den Cha­rak­ter. Ihre Gro­ß­el­tern nann­ten sie oft Rao’ra, was für den Ti­ger und des­sen Wild­heit stand. Zu­dem un­ter­schie­den sich Ni­mu­es Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten von de­nen ih­rer Ge­schwis­ter, Cou­si­nen und Cous­ins. Sie war aben­teu­er­lus­tig, wiss­be­gie­rig und konn­te nicht lan­ge still­hal­ten. Sie lieb­te die Na­tur und die Tie­re und lern­te schnell, die Fä­hig­kei­ten ih­res El­fen­stam­mes best­mög­lich zu nut­zen. Und das wa­ren so ei­ni­ge, denn die El­fen aus dem Reich Shen­ja wa­ren in der Lage, ih­ren fest­stoff­li­chen Kör­per in einen fein­stoff­li­chen um­zu­wan­deln, so­dass die Men­schen sie nicht se­hen konn­ten. Dazu hat­te die­ser El­fen­stamm be­son­ders ge­schärf­te Sin­ne, wie un­ter an­de­rem Hell­hö­rig­keit. Wenn sie woll­ten, konn­ten sie selbst von der tiefs­ten Stel­le des Sees die Men­schen am See­u­fer spre­chen hö­ren. Au­ßer­dem wa­ren sie in der Lage, Ge­rü­che stark wahr­zu­neh­men. Egal, ob an Land oder in der Tie­fe des Sees, sie konn­ten auf meh­re­re Ki­lo­me­ter Ein­zel­hei­ten ei­nes Ge­ru­ches be­stim­men. Dann wa­ren da noch ihre spe­zi­el­len Au­gen. Ge­schärft wie ein Pfeil konn­ten sie über Mei­len hin­weg se­hen und da­bei Klei­nig­kei­ten ex­akt de­fi­nie­ren; und dies bei Tag und bei Nacht, im Was­ser oder an Land. Sie wa­ren in je­der Hin­sicht an­pas­sungs­fä­hig und doch re­a­gier­ten sie sehr sen­si­bel auf ihre Um­welt. Sie lieb­ten das Fei­ern, doch die­se Fes­te wa­ren nicht laut oder un­sitt­lich. Auch wenn sie ger­ne aßen und tran­ken, schos­sen sie nie­mals über das Ziel hin­aus, denn Völ­le­rei mach­te ihre Kör­per krank.

Das El­fen­volk aus dem Reich Shen­ja gab sich stets ru­hig und fried­voll, was nicht hei­ßen soll, dass sie ohne Mut und Stär­ke ge­we­sen wä­ren. Sie stell­ten sich un­ver­meid­ba­ren Krie­gen und sieg­ten, ge­nau­so wie sie ei­ni­ge Schlach­ten ver­lo­ren. Ihr Fa­mi­li­en­be­wusst­sein schloss alle Schloss­be­woh­ner mit ein und ihr Zu­sam­men­halt war au­ßer­ge­wöhn­lich. Op­tisch ver­än­der­ten sie sich im Ge­gen­satz zu ih­ren Vor­fah­ren be­trächt­lich. Ihre frü­her leicht grü­ne Haut­fa­r­be wech­sel­te über die Jahr­tau­sen­de in eine braun-blaue Mi­schung, so­wie ihre Haa­r­fa­r­be von Blond bis Brü­nett reich­te. Je mehr eine Elfe das Land be­such­te, des­to mehr färb­te sich ihre Haut bräun­lich.

Ihre An­pas­sungs­fä­hig­keit war ein­zig­ar­tig un­ter den El­fen­stäm­men. Böse Zun­gen be­haup­te­ten, dass sie gar kei­ne ech­ten El­fen wa­ren, son­dern ein kun­ter­bun­ter Mix aus an­de­ren, klei­ne­ren We­sen, wie zum Bei­spiel Wich­ten. Tat­säch­lich galt dies in der El­fen­welt als un­mög­lich, da sich El­fen nur mit ih­res­glei­chen oder Men­schen ver­mähl­ten. So­mit war es eine Un­ter­stel­lung, die auf ihre ge­rin­ge und un­üb­li­che Grö­ße be­grün­det wur­de. Zu­dem wa­ren Wich­te für ihre star­ken Sin­nes­wahr­neh­mun­gen be­kannt. Auch hier un­ter­schied sich Ni­mu­es Fa­mi­lie von den an­de­ren El­fen­stäm­men. Ihre aus­ge­präg­ten Sin­ne stell­ten je­doch eine Fol­ge der jahr­zehn­te­lan­gen aben­teu­er­li­chen Rei­se dar und die da­bei le­bens­er­hal­ten­de Not­wen­dig­keit zur An­pas­sung. Der stän­di­ge Ein­satz trai­nier­te ihre Sin­ne nicht nur, son­dern ver­bes­ser­te ihre Gene so­zu­sa­gen und in­ten­si­vier­te ihre Fein­heit und Stär­ke.

Die Kri­tik an ih­ren be­son­de­ren Fä­hig­kei­ten stör­te nie­man­den im Reich Shen­ja, denn »was küm­mert einen schon das dum­me und un­wah­re Ge­schwätz von Nei­dern«, be­merk­te Ni­mu­es Groß­va­ter im­mer mit ei­nem Lä­cheln auf sei­nen Lip­pen. »Neid ist ein bö­ser Feind, doch ge­währt man ihm kei­ne Macht, wen­det er sich wie­der ab und schenkt sei­ne Auf­merk­sam­keit de­nen, die da­ge­gen an­kämp­fen. Mei­ne Klei­ne, wich­tig ist«, be­ton­te er stets, »dass du ehr­lich und gut zu an­de­ren bist. Da­bei musst du dir nicht al­les ge­fal­len las­sen, aber denk im­mer dar­an: So wie du von an­de­ren be­han­delt wer­den möch­test, so ver­fah­re auch du mit ih­nen. Ach­te vor al­lem auf dich selbst«, er­klär­te er da­nach für ge­wöhn­lich. »So oft muss ich se­hen, wie Men­schen sich selbst ver­leug­nen, um Ide­a­le oder all­ge­mei­ne Mei­nun­gen an­de­rer nach­zu­ah­men. Oder sie sind von Selbst­zwei­feln be­fan­gen, so­dass sie sich dar­in ver­lie­ren, dar­un­ter lei­den und da­durch einen falschen Weg ein­schla­gen. Krank­heit, Elend und Trau­er re­sul­tie­ren dar­aus und zer­stö­ren das schö­ne, ur­sprüng­lich strah­len­de Ich des Lei­den­den. Du selbst, mit al­lem was da­zu­ge­hört, bist wich­tig, mei­ne Rao’ra, denn wer dir im­mer er­hal­ten bleibt, bist du dir selbst. So pfle­ge dein Ich, so wie du dei­ne Lieb­lings­blu­me müt­te­r­lich pflegst, und du wirst auf die glei­che, wun­der­schö­ne Wei­se er­b­lü­hen, wie sie es im­mer tut.«

Ni­mue konn­te sich nicht jede Le­bens­weis­heit ih­res Opas auf An­hieb er­klä­ren. Es soll­ten je­doch noch Zei­ten auf sie zu­kom­men, in de­nen sie das eine oder an­de­re ver­ste­hen lern­te, ohne da­nach zu fra­gen.

Ni­mue war mit ei­ner Grö­ße von etwa 1,64 Me­ter für ihr Al­ter sehr statt­lich ge­wach­sen und über­rag­te da­mit die meis­ten gleich­alt­ri­gen El­fen. Ihre Haut­fa­r­be war Hell­braun mit ei­nem leich­ten blau­en Schim­mer. Sie hat­te lan­ges, dun­kel­brau­nes Haar und trug schon als Kind oft jun­gen­haf­te Klei­dung. Die Schloss­be­woh­ner wa­ren sich ei­nig, dass ihre El­tern an der bur­schi­ko­sen Ent­wick­lung schuld sei­en, denn die­se hat­ten sich nach drei Mäd­chen einen Jun­gen ge­wünscht. Trotz­dem, das vier­te Kind wur­de er­neut ein Mäd­chen und so er­klär­te es sich von selbst, dass sie einen klei­nen Jun­gen dar­aus mach­ten. Dies ent­sprach je­doch nicht der Wahr­heit. Wenn ihre El­tern zu die­ser Ent­wick­lung einen Bei­trag leis­te­ten, dann nur der­art, dass sie ihr die Frei­heit ga­ben, so sein zu dür­fen, wie sie es woll­te, und sie lieb­te jede Art von Klei­dung. Sie zog Klei­der an, wenn es die Tra­di­ti­on ver­lang­te, wie zum Bei­spiel zum tra­di­ti­o­nel­len Abend­es­sen. An­sons­ten be­vor­zug­te sie Ho­sen, vor al­lem, wenn sie durch den Wald rann­te oder ritt. Sie ver­fin­gen sich nicht in den Äs­ten und er­leich­ter­ten da­mit jede Be­we­gung. An ih­rem gro­ßen Ge­burts­tag wür­de sie ganz be­stimmt ein Kleid tra­gen.

Ni­mue freu­te sich schon sehr auf das Fest, da der Kö­nig die­sen ma­gi­schen 130s­ten Ge­burts­tag be­son­ders ehr­te. Seit Ta­gen konn­te sie vor Auf­re­gung nicht mehr schla­fen, denn in elf El­fen­ta­gen war es so weit. An die­sem Tag hat­te sie einen gro­ßen Wunsch frei und die­ser war be­reits in ih­ren Ge­dan­ken ma­ni­fes­tiert: die Er­laub­nis ih­res Ur­groß­va­ters, ih­res Groß­va­ters und ih­res Va­ters für eine Zeit bei ih­rer Cou­si­ne auf der Zau­be­r­in­sel zu le­ben und da­bei die Welt der Men­schen zu ent­de­cken. Sie hat­te vie­le tol­le Ge­schich­ten von ih­rer Cou­si­ne ge­hört und woll­te nun ein Teil da­von wer­den.

Ihre El­tern, Ya­vi­ra und Hu­bert, fühl­ten schon lan­ge, dass ihre Toch­ter bald auf Rei­sen ge­hen wür­de. Ei­ner­seits freu­ten sie sich für Ni­mue und an­de­rer­seits stell­ten die Dun­kelel­fen eine Ge­fahr für Ni­mue dar. Au­ßer­halb des Schlos­ses war die­se nicht zu kon­trol­lie­ren, was die Welt ober­halb des Chiem­sees ge­fähr­lich für Ni­mue mach­te.

Ach ja, der Name ih­res Va­ters war für El­fen na­tür­lich sehr un­ge­wöhn­lich. Oona wähl­te ihn we­gen ei­nes Men­schen, der Hu­bert hieß und ur­sprüng­lich auf der Frauen­in­sel leb­te. Als Ni­mu­es Groß­mut­ter mit Hu­bert schwan­ger war, hat­te sie gro­ße Pro­ble­me, das Kind zu ge­bä­ren. Sie schrie laut und dies war un­ge­wöhn­li­cher­wei­se auch für einen Men­schen am Ufer der Frauen­in­sel zu hö­ren. Er mach­te sich gro­ße Sor­gen, dass je­mand ge­ra­de er­trin­ken wür­de, und sprang ins Was­ser, um die­se sich in ver­meint­li­cher Not be­fin­den­de Per­son zu ret­ten. Nach­dem er tie­fer und tie­fer ge­taucht war, ver­lor er das Be­wusst­sein. Doch Schank­ti, die Me­di­zi­nel­fe, ret­te­te ihn. Durch die Hei­lung durch­flu­te­ten sei­nen Men­schen­kör­per et­li­che El­fen­stof­fe und so wur­de er ein Hal­bel­fe. Von die­sem Tag an leb­te er im Reich Shen­ja. Sein Name war Hu­bert. Das Be­son­de­re lag je­doch in dem Er­eig­nis, das wäh­rend sei­ner Hei­lung und so­mit Trans­for­ma­ti­on pas­sier­te. Es schien, als ob sei­ne Ver­wand­lung auch Ni­mu­es Groß­mut­ter heil­te, denn es ging ihr schlag­ar­tig bes­ser. Kurz dar­auf ge­bar sie einen ge­sun­den männ­li­chen El­fen. Alle glaub­ten, dass er Oona durch sei­ne selbst­lo­sen und warm­her­zi­gen Ener­gi­en ge­ret­tet hat­te, und so wur­de Ni­mu­es Va­ter nach ihm be­nannt.

Ni­mue wur­de am sieb­ten Tag des drit­ten Ster­nen­mo­nats ge­bo­ren. Da der zwei­te Ster­nen­mo­nat in vol­lem Gan­ge war, lie­fen die Vor­be­rei­tun­gen für das Fest be­reits auf vol­len Tou­ren. Bei­na­he je­der Schloss­be­woh­ner hat­te eine oder meh­re­re Auf­ga­ben, denn die­se Fei­er soll­te et­was ganz Be­son­de­res wer­den. Zum einen, weil Ni­mue die Ur­en­ke­lin des Kö­nigs war. Zum an­de­ren, weil der Tag der Ua­ne­a­la-Ver­wand­lung einen be­son­de­ren Stel­len­wert im Le­ben ei­ner je­den Elfe hat­te. Er sym­bo­li­sier­te die Ent­wick­lung von ei­nem ver­spiel­ten Lamm in einen auf­ge­hen­den Schwan. Von die­sem Tag an wur­den El­fen nicht mehr als Kin­der an­ge­se­hen, son­dern als an­ge­hen­de Er­wach­se­ne. Da­nach rich­te­te sich ihr Fo­kus noch in­ten­si­ver auf das Ler­nen, je­doch nun nicht mehr aus­schließ­lich auf spie­le­ri­sche Art und Wei­se, son­dern deut­lich mehr zu­kunfts­o­ri­en­tiert. Zur Un­ter­stüt­zung dien­ten eine El­fen­schu­le und die Er­fah­run­gen der Vor­fah­ren, die stets von be­son­de­rer Be­deu­tung wa­ren. Da­bei lern­ten die jun­gen El­fen un­ter an­de­rem die Un­ter­schie­de zwi­schen ih­rem Ster­nen­ka­len­der und dem Men­schen­ka­len­der ken­nen. Auch die El­fen hat­ten Fei­er­ta­ge, an de­nen jede Elfe ihre Ar­beit nie­der­leg­te. Es wa­ren die ma­gi­schen Tage der El­fen, näm­lich je­weils der drit­te, sieb­te und 13te ei­nes Mo­nats. Die Zahl 13 war für die El­fen nicht nur eine ma­gi­sche Zahl, son­dern auch ihre Glücks­zahl.

Trotz der Un­ter­schie­de war der Ster­nen­ka­len­der dem Men­schen­ka­len­der sehr ähn­lich, da auch die El­fen die Zeit über die Mond­pha­sen be­rech­ne­ten. Den­noch hat­ten sie 13 Ster­nen­mo­na­te. Neun Mo­na­te hat­ten 27 Tage, denn es hieß, dass sich je­weils am 27s­ten Tag Son­ne und Mond tref­fen, um ihre Be­stim­mung zu tei­len.

Die El­fen des Rei­ches Shen­ja wur­den viel äl­ter als Men­schen und hat­ten so­mit einen ganz an­de­ren Über­blick über die Tier- und Pflan­zen­welt. Die Na­tur lehr­te sie über die Jahr­tau­sen­de hin­weg viel über das Le­ben selbst und vor al­lem über das Le­ben mit ihr. Das alte Wis­sen ih­rer Vor­fah­ren, die im Wald be­hei­ma­tet wa­ren, ver­bun­den mit ih­rer neu­en Le­bens­wei­se un­ter Was­ser, mach­ten sie zu sehr wei­sen und er­fah­re­nen Ge­schöp­fen. So wur­de die Na­tur, egal wel­cher Art, zum Le­bens­eli­xier ei­ner Elfe, ohne die sie nicht zu über­le­ben fä­hig ge­we­sen wäre.

Ni­mue leb­te bis zu die­sem Tag bei­na­he aus­schließ­lich un­ter Was­ser. Sie war stets nur für kur­ze Zeit auf dem Land ge­we­sen, um die Fa­mi­lie ih­res On­kels auf der Zau­be­r­in­sel zu be­su­chen. Da­nach tauch­te sie im­mer wie­der ab. Die­se an­de­re Welt, die­ses an­de­re Da­sein woll­te sie ken­nen­ler­nen. Sie wuss­te, dass nach dem Ua­ne­a­la-Fest die Auf­ga­be ei­ner je­den Elfe die aus­ge­gli­che­ne Ent­wick­lung von Kör­per, Geist und See­le sein soll­te, wo­bei das Ler­nen von Wis­sen und Kön­nen im Vor­der­grund stand, um sich dann, vie­le El­fen­jah­re spä­ter, eine ei­ge­ne Exis­tenz auf­zu­bau­en oder in die Fuß­stap­fen ih­rer Vor­fah­ren zu tre­ten. Und Ni­mue woll­te gleich da­mit an­fan­gen, das Le­ben in ih­rer Viel­falt zu ent­de­cken.

Am 25s­ten Tag des zwei­ten Ster­nen­mo­nats lag Ni­mue am Mor­gen ge­müt­lich auf ih­rem Lie­ge­so­fa in ih­rem Zim­mer. Sie stu­dier­te ein Buch über Kräu­ter und ihre Heil­kräf­te, als sie plötz­lich El­fen­schrit­te auf dem Ar­ka­den­gang au­ßer­halb ih­res Zim­mers hör­te. Un­ru­hig fie­len sie schnell auf­ein­an­der und ver­mit­tel­ten ihr ein Ge­fühl von Ner­vo­si­tät. Da sprang sie neu­gie­rig auf und öff­ne­te die Tür. Auf dem Gang rann­ten ei­ni­ge El­fen has­tig an ihr vor­bei oder schweb­ten in ra­sen­der Ge­schwin­dig­keit in Rich­tung Ein­gangs­hal­le. Da­bei ent­deck­te sie eine jun­ge Kam­me­rel­fe, die sie mit weit auf­ge­ris­se­nen Au­gen an­sah. Ihre Wan­gen wa­ren tief­rot. Se­kun­den spä­ter war sie hin­ter dem Bo­gen in Rich­tung der gro­ßen Schloss­sä­le ver­schwun­den.

»Was geht hier nur vor?«, wun­der­te sich Ni­mue.

Ach ja, die El­fen vom Reich Shen­ja hat­ten einen Kör­per, wie auch der Mensch ihn be­sitzt. Der Un­ter­schied war nur der­art, dass die El­fen auch schwe­ben konn­ten. Das heißt, sie konn­ten in der ma­gi­schen Was­se­r­ener­gie des Rei­ches Shen­ja ihre Füße so mit­ein­an­der ver­schmel­zen, dass sie eins wur­den. Da­mit wa­ren sie schnel­ler als zu Fuß. Die­se Fä­hig­keit hat­ten sie al­ler­dings nur im Was­ser. An Land wa­ren sie ge­nau­so be­weg­lich wie Men­schen, ob­wohl sie flin­ker, wen­di­ger und schnel­ler wa­ren als sie. Den­noch konn­ten sie dort we­der über dem Bo­den schwe­ben, flie­gen oder ir­gen­d­et­was Der­ar­ti­ges tun.

Auf dem Gang nahm das Trei­ben ste­tig zu, so­dass Ni­mue ihr Zim­mer ver­ließ und ei­ner Kam­me­rel­fe hin­ter­her­rann­te. Ni­mue ver­such­te mit ihr zu spre­chen, doch die­se wink­te mit den Wor­ten ab: »Kei­ne Zeit.«

Nun war Ni­mu­es Neu­gier­de voll­kom­men ge­weckt und so schweb­te sie schnell in das Büro ih­res Groß­va­ters. Als sie dort an­kam, fand sie das Zim­mer ohne Aar vor, da­für mit ih­rer gro­ßen Schwes­ter So­phia. Die­se saß auf der Couch ge­gen­über dem Ka­min und las see­len­ru­hig ein Buch.

»So­phia«, platz­te es aus Ni­mue her­aus.

So­phia blick­te sie mit gro­ßen Au­gen an. »War­um er­schreckst du mich so? Du weißt, ich kann das nicht lei­den!«

»Was ist hier los? War­um geht es hier plötz­lich so hek­tisch zu?«, frag­te Ni­mue un­be­ein­druckt von der tie­fen Ton­la­ge ih­rer Schwes­ter.

»Ach so, das meinst du«, er­wi­der­te So­phia nun mit sanf­ter Stim­me, »wir be­kom­men Be­such. Der hat sich sehr kurz­fris­tig an­ge­kün­digt.«

Ni­mue schloss die Tür hin­ter sich und ging schnell auf So­phia zu.

»Wer ist es denn?«

»Rate mal?«

Ni­mue fing an, sich alle El­fen, Men­schen und an­de­re We­sen, die sie kann­te, bild­lich vor­zu­stel­len. Sie frag­te sich, wer einen sol­chen Wir­bel durch sei­nen Be­such ver­ur­sa­chen könn­te. Doch sie hat­te kei­ne Ah­nung und ver­mu­te­te: »Tan­te Hauch und Cara von der Zau­be­r­in­sel?«

»Nein«, er­wi­der­te So­phia gleich dar­auf mit ei­nem Kopf­schüt­teln.

»Ste­fan?«

»Nein. Wie du weißt, ist er ein Mensch und kann nur be­dingt bei uns blei­ben. Also, denk mal nach. Bald ist dein Ge­burts­tag und da be­kommst du …«

»Der Be­such kommt we­gen mir?«, un­ter­brach sie ihre Schwes­ter er­staunt.

»Yep, we­gen dir.«

Ni­mue streng­te sich nun noch mehr an, so­dass ihre Stirn Fal­ten zog. »Wer kann das nur sein?«, frag­te sie sich in Ge­dan­ken. Nach ei­ner Wei­le schoss es aus ihr her­aus: »Ka­tar, der Bru­der un­se­res Ur­groß­va­ters?«

So­phia sah sie zu­frie­den an. »Ge­nau, Ni­mue. Er kommt ex­tra we­gen dir und dei­nem Ua­ne­a­la-Tag. Es sieht so aus, als ob sie Gro­ßes mit dir vor­ha­ben.«

»Wie meinst du das, So­phia?«, woll­te Ni­mue ir­ri­tiert wis­sen.

»Na ja, Ka­tar hat Frank­reich noch nie ver­las­sen, um uns zu be­su­chen. Jetzt kommt er auf Bit­ten un­se­res Kö­nigs und das nur we­gen dei­nes Ge­burts­tags. Das soll doch et­was hei­ßen, oder?«

»Kö­nig!«, är­ger­te sich Ni­mue, ohne So­phia da­mit zu be­ein­dru­cken, denn sie moch­te es ganz und gar nicht, wenn ihre Ge­schwis­ter ih­ren Ur­groß­va­ter stets »Kö­nig« nann­ten. Für Ni­mue klang dies kalt und un­per­sön­lich. Er war ihr Ur­groß­va­ter und da­bei war es ihr egal, wel­chen Rang er in­ne­hat­te.

Ni­mue setz­te sich ne­ben ihre Schwes­ter auf die Couch und dach­te über Ka­tar nach. »Was hat mir Groß­va­ter al­les über ihn er­zählt?«, mur­mel­te sie vor sich hin. Dann ar­bei­te­te sie ge­dank­lich die be­reits er­hal­te­nen In­for­ma­ti­o­nen über Ka­tar ab. Sie wuss­te, dass er auf der gro­ßen Rei­se in Frank­reich ste­cken blieb, weil er eine Frau ken­nen- und lie­ben lern­te. Ka­tar leb­te von dort an mit Men­schen zu­sam­men und das in ei­nem klei­nen Häus­chen di­rekt am Meer. Ni­mue war sich si­cher, dass dies eine wun­der­schö­ne Ge­gend sein muss­te, da ihr Ur­groß­va­ter manch­mal da­von ge­schwärmt hat­te. Dort gab es viel Son­ne, das of­fe­ne Meer vor der Nase und gu­ten Käse. Alle El­fen lieb­ten gu­ten Käse und den fran­zö­si­schen moch­ten sie ganz be­son­ders gern.

»Weißt du et­was über Ka­tar, So­phia?«, frag­te Ni­mue.

So­phia war wie­der in ihr Buch ver­sun­ken und sah nur kurz auf, um zu er­wäh­nen: »Na­tür­lich, je­der weiß et­was über ihn.«

»Er ist Ur­groß­va­ters Lieb­lings­bru­der und muss ganz nett sein, oder?«

»Er ist der Bru­der un­se­res Kö­nigs, und viel­leicht ist er auch ganz nett. Aber jetzt lass mich end­lich le­sen, du Ner­ven­sä­ge«, for­der­te So­phia ihre klei­ne Schwes­ter ge­reizt auf.

»Wann kommt er bei uns an?«, frag­te sie den­noch und be­kam die knap­pe Ant­wort: »Mor­gen, glau­be ich.«

Ni­mue un­ter­drück­te noch wei­te­re Fra­gen, denn der scha­r­fe Blick ih­rer Schwes­ter zeig­te ihr, dass sie ein­deu­tig nicht mehr ge­stört wer­den woll­te. Auf Ze­hen­spit­zen ging sie in Rich­tung Tür, als die­se plötz­lich auf­sprang.

Ni­mue zuck­te zu­sam­men. Zur glei­chen Zeit kam ihre Groß­mut­ter Oona her­ein.

»Hal­lo, ihr bei­den.«

»Hal­lo«, hall­te Ni­mu­es und So­phi­as Stim­me syn­chron im Raum.

»Oma«, frag­te Ni­mue so­gleich, »be­sucht uns Ka­tar wirk­lich we­gen mei­nes Ge­burts­tags?«

»Ja, mei­ne Klei­ne, das tut er. Ist das nicht wun­der­schön?«

»Ja, Oma, das ist es.«

»Ich kom­me, um mit dir zu spre­chen, Ni­mue. Es ist an der Zeit, dass du dir über dei­nen Ge­burts­tags­wunsch ernst­haf­te Ge­dan­ken machst. Du weißt ja, dass du ihn ge­nau um 13 El­fen­stun­den nach Null vor al­len Gäs­ten aus­spre­chen darfst?«

»Ja, Oma, ich weiß«, be­merk­te Ni­mue auf­ge­regt. Ihre Wan­gen rö­te­ten sich leicht.

Da sprang die Tür noch ein­mal auf und Ni­mu­es Ge­schwis­ter Ma­rie und Aoi­fe ka­men her­ein.

»Hey, Ni­mue«, sag­te Aoi­fe, »eh­ren­vol­le Fei­er, huh? Die ha­ben wohl Gro­ßes mit dir vor.«

Nun hör­te Ni­mue die­se Aus­sa­ge das zwei­te Mal in der glei­chen Stun­de, was sie zu­neh­mend ir­ri­tier­te. »Was hat das zu be­deu­ten? Gro­ßes! Was ist eh­ren­voll groß oder mei­nen sie et­was ganz an­de­res?«, grü­bel­te sie nach, wäh­rend Oona mit Aoi­fe sprach.

Dann wand­te sich Oona wie­der Ni­mue zu. Sie setz­ten sich vor das Fens­ter auf zwei Holz­stüh­le und blick­ten hin­aus, wäh­rend sich die drei Schwes­tern im Hin­ter­grund laut­stark un­ter­hiel­ten.

»Oma, was hat man mit mir vor?«, woll­te Ni­mue wis­sen, fast ängst­lich auf die Ant­wort war­tend.

Oona lach­te. »Kei­ne Angst, mei­ne Klei­ne, nichts, was dir Sor­gen be­rei­ten soll­te.«

Dies war für Ni­mue eine äu­ßerst un­be­frie­di­gen­de Ant­wort. Was soll­te das hei­ßen: sich kei­ne Sor­gen ma­chen? Al­lein das Wort Sor­gen in die­sem Zu­sam­men­hang zu be­nut­zen, be­rei­te­te ihr schon ein un­an­ge­neh­mes Ge­fühl. Sie wuss­te, dass es sich nicht ge­hör­te, wei­ter nach­zu­fra­gen, konn­te ihre gro­ße Neu­gier­de aber nicht im Zaum hal­ten und frag­te un­ge­ach­tet des­sen: »Was ge­nau soll mir kei­ne Sor­gen be­rei­ten?«

»Dar­über wird dir dein Ur­groß­va­ter be­rich­ten, Ni­mue. Hab Ge­duld.«

»Aha«, dach­te sich Ni­mue, »jetzt ist es aus­ge­spro­chen.« Für sie war das eine kla­re Ant­wort, denn wenn sich ihr Ur­groß­va­ter da­mit be­schäf­tig­te, war es et­was Gro­ßes. Was auch im­mer groß be­deu­te­te, war ihr in die­sem Zu­sam­men­hang al­ler­dings nicht be­wusst.

»Lass dei­nen Ge­dan­ken frei­en Lauf, mei­ne Klei­ne. Ein Wunsch soll sich dir zei­gen. Erst, wenn du dir zu hun­dert Pro­zent si­cher bist, mein Kind, lass uns dar­über spre­chen. Ich bin im­mer für dich da.«

»Das ma­che ich, Oma.«

Der Wunsch, zu rei­sen und bei Cara auf der Zau­be­r­in­sel zu le­ben, war na­tür­lich prä­sent. Doch Ni­mue dach­te auf ein­mal, war­um nicht meh­re­re Wün­sche in Be­tracht zie­hen, um die­se dann mit ih­rer Groß­mut­ter zu be­spre­chen.

Als ers­tes kam ihr ein Pferd in den Sinn und zwar ein ganz be­son­de­res We­sen der Zau­ber­welt, das nur we­ni­ge be­sa­ßen. Es war schnel­ler, flin­ker, in­tel­li­gen­ter und grö­ßer als alle an­de­ren Pfer­de. Die El­fen nann­ten die­se Pfer­deras­se Tara, da Tara über­setzt Stern hieß, und ein sol­cher wies die­sen Ge­schöp­fen den Weg, um stets si­cher an ihr Ziel zu kom­men.

Die­se Tie­re wa­ren be­son­de­re Be­schüt­zer ih­rer Be­sit­zer. Durch ihre aus­ge­präg­te Sen­si­bi­li­tät konn­ten sie Emo­ti­o­nen al­ler Art früh­zei­tig auf­spü­ren und bei Ge­fahr han­deln. Sie wa­ren wun­der­schö­ne Pfer­de, die durch ihre leicht grün-bräun­li­che Fa­r­be mit der Na­tur bei­na­he ver­schmol­zen. Ihre Ras­se be­saß die Fä­hig­keit, sich je­der Um­welt an­zu­pas­sen, und wenn sie woll­ten, konn­ten sie sich den Men­schen sicht­bar ma­chen. Das mach­ten sie je­doch nur sehr sel­ten und so wur­de vie­ler­orts auf der Erde von den ge­heim­nis­vol­len Wind­böen ge­spro­chen, die un­sicht­bar an ih­nen vor­bei­rausch­ten.

»Un­er­klär­li­che na­tür­li­che Phä­no­me­ne« nann­te man sie, die die Men­schen mit na­tur­wis­sen­schaft­li­chen For­meln zu deu­ten ver­such­ten. Doch konn­ten sie die­sen Wind­s­tö­ßen nie auf den Grund ge­hen, und so blie­ben sie ih­nen ein ewi­ges Rät­sel.

Das Bild ei­nes Tara-Pferds ver­schwamm vor Ni­mu­es Au­gen, wor­auf ihre Ge­dan­ken ab­schweif­ten. Sie mur­mel­te: »Be­deu­tet das Wort Gro­ßes im­mer et­was Po­si­ti­ves? Oder hat es wo­mög­lich mit mei­ner feh­len­den Dis­zi­plin zu tun, vor al­lem in Be­zug auf die­se dif­fu­sen Re­geln, die man­che Leh­rer auf­stel­len. Mein neu­er Kunst­leh­rer, viel­leicht hat er …?« – Ni­mue stock­te und schüt­tel­te den Kopf – »nein, das kann es nicht sein.«

Ihr wur­de be­wusst, dass sie im Grun­de im­mer flei­ßig war. Au­ßer­halb ih­rer Un­ru­he und ih­rer manch­mal ab­leh­nen­den Art auf die für sie un­sin­ni­gen Schul­re­geln zu re­a­gie­ren, hat­te sie kei­ne Ab­mah­nun­gen er­hal­ten. Die für sie schlüs­si­gen Re­geln be­folg­te sie in der Tat.

»Was kann es nur sein?«, frag­te sie sich dar­auf­hin wie­der und wie­der, ob­wohl sie sich doch ei­gent­lich mit ih­rem Wunsch be­schäf­ti­gen soll­te. Sie fand kei­ne Ant­wort und so fin­gen ihre Ge­dan­ken an, sich wild im Kreis zu dre­hen. Ein Wirr­warr von Mög­lich­kei­ten brei­te­te sich aus. Da­bei be­merk­te sie, dass sie lei­se vor sich hin­plap­per­te. Sie schreck­te auf und sah um sich. Im Raum herrsch­te eine ge­spens­ti­sche Stil­le. Sie dreh­te sich um und blick­te in die Au­gen ih­rer Ge­schwis­ter, die alle auf sie ge­rich­tet wa­ren. So­gar So­phia kon­zen­trier­te sich nicht mehr auf ihr Buch. In die­sem Mo­ment spür­te Ni­mue, wie sich ihr Nacken lang­sam zu­sam­men­zog.

Oona be­merk­te ihre An­span­nung und ver­such­te, sie zu be­ru­hi­gen: »Kei­ne Angst, es wird dir ge­fal­len.«

Die­se Aus­sa­ge be­ru­hig­te Ni­mue tat­säch­lich, denn es war ein­deu­tig kein Mahn­ruf. Trotz­dem war das Wort es im­mer noch un­de­fi­nier­bar. Hat­te sie viel­leicht über den Wunsch und nicht über das gro­ße, eh­ren­vol­le Et­was ge­spro­chen? Ni­mue fühl­te sich in­ner­lich zer­ris­sen, als ihre Groß­mut­ter auf­stand.

Oona leg­te ihre Hand be­hut­sam auf Ni­mu­es lin­ke Schul­ter. »Komm, lass uns ins Ge­wächs­haus ge­hen.«

Ni­mue folg­te ihr so­gleich, wäh­rend sie zu­stim­mend nick­te, denn das Ge­wächs­haus war der Lieb­lings­platz ih­rer Groß­mut­ter. Dort herrsch­ten zwi­schen all den Pflan­zen Stil­le und Ge­bor­gen­heit und so fan­den an die­sem Ort vie­le wich­ti­ge Ge­sprä­che statt.

Im Gar­ten an­ge­kom­men, ent­deck­te Ni­mue mit Freu­de, dass die ver­schie­dens­ten Blu­men­ar­ten be­reits in vol­ler Pracht er­b­lüh­ten. Sie sah Pas­si­ons­blu­men, Ka­me­li­en, Li­li­en, Son­nen­blu­men, Ei­sen­hü­te, Ar­nika­kräu­ter, Glo­cken­blu­men, Stief­müt­te­r­chen und noch vie­le Pflan­zen mehr. Die Fa­r­ben ver­misch­ten sich vor ih­ren Au­gen, als ob ein bun­ter Blu­men­tep­pich vor ihr lie­gen wür­de.

Nach die­ser Blu­men- und Kräu­ter­viel­falt durch­streif­ten sie einen Be­reich des Gar­tens, der ein­zig und al­lein den Ro­sen ge­wid­met war. Auch sie blüh­ten in ih­ren präch­tigs­ten Fa­r­ben. Ni­mue lä­chel­te bei die­sem schö­nen An­blick. Die Rose war ihre Lieb­lings­blu­me, vor al­lem die, die hell­ro­sa­fa­r­be­ne Blü­ten hat­te. Als sie eine sol­che ent­deck­te, blieb sie ste­hen, um an ihr zu rie­chen.

»Dei­ne Blu­men sind so schön, Oma«, be­merk­te Ni­mue.

»Dan­ke! Ich wür­de mich sehr freu­en, wenn du mir öf­ters bei der Pfle­ge hilfst.«

Ni­mue nick­te zu­stim­mend, wäh­rend sie ihr in ein Ge­wächs­haus folg­te, in dem Ge­mü­se an­ge­baut wur­de. Als sie die­ses durch­quer­ten, sah sie durch ein Ab­trenn­glas eine tief­ro­te Fa­r­be schim­mern. Da­hin­ter wa­ren gro­ße To­ma­ten, die an Sträu­chern hin­gen und sie durch ihre Schwe­re nach un­ten drück­ten.

»Oma, die sind aber groß ge­wor­den«, mein­te Ni­mue und deu­te­te auf einen Strauch mit vie­len un­ter­schied­lich gro­ßen To­ma­ten.

»Das stimmt. Die­se be­son­ders saf­ti­ge Fleisch­to­ma­te ha­ben wir ex­tra für dei­nen Ge­burts­tag an­ge­baut«, er­wi­der­te Oona, »und auch den Rest, den du hier siehst. Das wird ein gro­ßes Fest, Ni­mue.« Sie zeig­te mit ih­rer Hand auf die vie­len un­ter­schied­li­chen Ge­mü­se- und Obst­sor­ten rund­her­um.

Der Raum war groß und lang ge­zo­gen und an bei­den En­den mit Glas­schei­ben von an­de­ren Ge­wächs­häu­sern ab­ge­trennt. Auf ei­ner Sei­te er­blick­te Ni­mue in sorg­fäl­tig an­ge­bau­ten Rei­hen Ka­rot­ten, Lauch, Sel­le­rie, Kar­tof­feln und meh­re­re Sa­lat­sor­ten. Auf der an­de­ren Sei­te war das Obst. Klei­ne Bäu­me voll mit Früch­ten rag­ten aus dem Bo­den.

Sie sah so vie­le ver­schie­de­ne Obst- und Ge­mü­se­sor­ten, dass sie staun­te: »Oh, so viel Obst und Ge­mü­se, und das al­les nur für mei­nen Ge­burts­tag.«

Oona nahm der­wei­len an ei­nem klei­nen Tisch in der Mit­te des Rau­mes Platz. Ni­mue tat das Glei­che und hör­te die Wor­te ih­rer Groß­mut­ter, wäh­rend ihre Au­gen wei­ter auf die Fül­le der au­ßer­ge­wöhn­li­chen Früch­te ge­rich­tet wa­ren.

»Also, mei­ne Klei­ne, du weißt, dass du zum 130s­ten Ge­burts­tag einen Wunsch frei hast.«

Ni­mue nick­te und wand­te sich ih­rer Groß­mut­ter zu.

»Pass gut auf, was du dir wünschst, Ni­mue, denn Seo­ras wird es dir ge­wäh­ren. Die Tra­di­ti­on un­se­res El­fen­stam­mes be­sagt, dass je­der Elfe an ih­rem Ua­ne­a­la-Tag ein Wunsch er­füllt wer­den muss. Da gibt es so gut wie kei­ne Aus­nah­men. Also, was ich da­mit sa­gen will, ist ganz ein­fach: Wünsch dir et­was, das du wirk­lich willst, und sei dir im Kla­ren dar­über, dass es in Er­fül­lung ge­hen wird.«

Ni­mue er­wi­der­te freu­dig: »Ja, Oma. Soll ich dir mei­nen größ­ten von al­len Wün­schen sa­gen?«

»Nein, nicht so vor­schnell. Denk dar­über nach. Du hast noch zehn Tage Zeit. Geh in dich und fin­de dort die Wahr­heit dei­ner Wün­sche, denn je nach­dem könn­te er dein Le­ben stark ver­än­dern. Dies ist der ers­te Schritt zum Er­wach­sen­wer­den, Ni­mue. Hand­le wei­se und wohl­über­legt. Stell dir die Fra­gen: was und war­um du es dir wünschst, und da­nach, wel­che Fol­gen es für dich, dein Le­ben und auch für dei­ne Fa­mi­lie ha­ben wird.«

Auf ein­mal fühl­te Ni­mue eine Schwe­re, die sich lang­sam in ih­rer Brust aus­brei­te­te. War es nun so weit, soll­te sie jetzt für ihre Ent­schei­dun­gen al­lein ver­ant­wort­lich sein? War sie schon be­reit da­für? Konn­te sie die vol­le Trag­wei­te be­grei­fen, die ihre Groß­mut­ter von ihr ver­lang­te? Oder ver­stand sie ihre Wor­te falsch?

»Oma, kann ich nicht mit dir und Opa über mei­nen Wunsch spre­chen?«

Oona schüt­tel­te leicht den Kopf.

»Wir müs­sen ja nicht über den einen gro­ßen re­den. Viel­leicht über die vie­len an­de­ren klei­ne­ren?«, schlug Ni­mue dar­auf­hin vor.

»Nein, dein Wunsch und du, ihr sollt eine Ein­heit dar­stel­len. Ich mei­ne, kei­ne äu­ße­ren Ein­flüs­se sol­len da­bei auf dich ein­wir­ken. Ge­nau­er ge­sagt, dein Wunsch soll frei von an­de­ren ge­hegt, ge­pflegt und ge­stellt wer­den.«

Ni­mue ver­stumm­te, wäh­rend sie über die Wor­te ih­rer Groß­mut­ter nach­dach­te.

»Du brauchst kei­ne Angst zu ha­ben. Wenn du dei­ner in­ne­ren Stim­me folgst und dir Zeit gibst, sie zu ver­ste­hen, kann dir nichts pas­sie­ren. Die nächs­ten Tage wer­den sehr wich­tig für dich sein. Nimm dir Zeit und vor al­lem gib dir Ruhe, denn nur in Ruhe kannst du dich rich­tig ent­schei­den.«

»In­ne­re Stim­me?«, dach­te Ni­mue, »Hat mir Opa nicht auch schon da­von er­zählt?«

Ni­mue konn­te sich nicht mehr er­in­nern, wie ge­nau ihre in­ne­re Stim­me klin­gen soll­te und noch dazu hat­te sie den Wunsch zu rei­sen und die Welt zu ent­de­cken. Soll­te sie trotz­dem mit ih­rer in­ne­ren Stim­me spre­chen? Ihr viel­leicht so­gar den Wunsch sa­gen und ihre Mei­nung dazu hö­ren? Viel­leicht ten­diert ihre in­ne­re Stim­me ja mehr zu ei­nem Tara-Pferd, ist sich Ni­mue nun un­si­cher.

Da woll­te sie wis­sen: »Ist die in­ne­re Stim­me die, die mich mei­nem Traum nä­her­bringt oder die, die mir mei­nen Wunsch be­stä­tigt?«

»Dei­ne in­ne­re Stim­me ist die Stim­me dei­ner See­le und sie ent­spricht der höchs­ten Wahr­heit.«

»Aha«, staun­te Ni­mue.

»Du sollst in dich hin­ein­füh­len und ge­nau hin­hö­ren, denn durch un­ge­sun­de Emo­ti­o­nen kann es pas­sie­ren, dass du kei­nen di­rek­ten, rei­nen Zu­gang zu dei­ner in­ne­ren Stim­me hast.« Oona blick­te in Ni­mu­es ir­ri­tier­tes Ge­sicht und er­kann­te, dass sie ihre Aus­sa­ge nicht im De­tail ver­stand. Des­halb hol­te sie ein Bei­spiel her­vor: »Ich mei­ne, und das ist wirk­lich nur ein Bei­spiel, du wünschst dir eine spre­chen­de Pup­pe, al­ler­dings nur, weil alle in dei­nem Al­ter eine sol­che be­sit­zen. Die­ser Wunsch ist von der Emo­ti­on ge­tra­gen, die ei­nem Mus­ter und der dar­aus re­sul­tie­ren­den Vor­stel­lung folgt. Alle ha­ben die­se eine Pup­pe, also willst du auch eine. Das gilt auch dann, wenn die Ei­fer­sucht kei­ne oder nur eine ge­rin­ge Rol­le da­bei spielt. Er­kennst du den Ur­sprung nicht, kann dir der wah­re, tief in dir ver­steck­te Wunsch ver­bor­gen blei­ben. Du denkst an die Pup­pe und kon­zen­trierst dich al­lein dar­auf. Lei­der ist es üb­lich, dass die äu­ße­re Scha­le, also das Ober­fläch­li­che und des­sen Ge­ge­ben­hei­ten, uns oft mehr im Griff ha­ben, als un­ser schö­nes in­ne­res Ich.«

»Aha«, äu­ßer­te sich Ni­mue noch ein­mal vol­ler Ehr­furcht über das gro­ße Wis­sen ih­rer Groß­mut­ter. »Wie kann ich mei­ne in­ne­re Stim­me klar hö­ren? Und vor al­lem, wie weiß ich, ob der Wunsch von au­ßen oder in­nen ge­steu­ert wird?«

»Lass dir Zeit und komm zur Ruhe. Hek­tik und Stress hal­ten dich da­von ab, und ver­su­che jeg­li­che Emo­ti­o­nen von dir fern zu hal­ten. Denk nur an dein in­ne­res Ich und ler­ne es ken­nen.«

Ni­mue zwei­fel­te plötz­lich an ih­rem Wunsch. Woll­te sie wirk­lich bei ih­rer Cou­si­ne auf der Zau­be­r­in­sel le­ben? Oder war es nur, weil es Cara tat und ihr die Ge­schich­ten so im­po­nier­ten? Steck­te da­hin­ter wo­mög­lich eine ver­steck­te Ei­fer­sucht ih­rer Cou­si­ne ge­gen­über? Sie wuss­te es nicht und frag­te ver­zwei­felt: »Oma, was soll ich tun?«

»Geh an Plät­ze der Ein­sam­keit, an de­nen du dich wohl­fühlst und den­ke über dei­nen gro­ßen Wunsch nach. Geh in dich und ver­su­che her­aus­zu­fin­den, ob die­ser oder ein an­de­rer Wunsch es sein soll, und wer­de dir über des­sen Trag­wei­te be­wusst.« Die gro­ßen ver­un­si­cher­ten Au­gen von Ni­mue mach­ten Oona Sor­gen und sie füg­te hin­zu: »Kei­ne Angst, mei­ne Klei­ne, du wirst dein wah­res Ich fin­den. Das Er­wach­sen­wer­den kann ei­ner je­den Elfe Angst ma­chen. Das muss es aber nicht, denn meis­tens sieht al­les viel schlim­mer aus, als es in der Wahr­heit ist.«

»Aber was pas­siert, wenn ich mir et­was wün­sche, das für an­de­re Fol­gen hat, die ich nicht auf An­hieb er­ken­nen kann? Fol­gen für mich und an­de­re hat es doch in je­dem Fall, nicht wahr?«

»So­lan­ge kei­ne bö­sen Ab­sich­ten da­hin­ter­ste­cken und du nie­man­den wil­lent­lich ver­letzt, sol­len die Aus­wir­kun­gen kein hin­der­li­cher Grund sein.« Oona blick­te Ni­mue tief in die Au­gen. Da­bei strich sie ihr sanft über die Wan­ge. Gleich dar­auf wech­sel­te Oona das The­ma: »In ein paar Ta­gen ist hier Ern­te­zeit. Dann wer­den wir ein gro­ßes Mahl für dich und dei­ne Gäs­te vor­be­rei­ten. Ei­nes kann ich dir schon ver­ra­ten: Dei­ne Lieb­lings­nach­spei­se, sü­ßer Ge­mü­se­brei, ist auch da­bei.« Sie lä­chel­te ihre En­ke­lin lie­be­voll an.

»Kommt Ka­tar wirk­lich nur we­gen mir?«, frag­te Ni­mue nun freu­de­strah­lend.

»Ja, das tut er.«

»We­gen et­was Gro­ßem, das er oder wer an­de­res mit mir vor­hat oder mir schenkt, nicht wahr?«

Oona nick­te.

»Was ist et­was Gro­ßes, Oma?«

»Du bist des Kö­nigs Lieb­lings­en­ke­lin und al­lein das ist schon et­was Gro­ßes. Zu­dem bist du et­was ganz Be­son­de­res, mei­ne klei­ne Rao’ra. Dei­ne Auf­ge­weckt­heit und Le­bens­freu­de, dein aus­ge­präg­ter Sinn für Wahr­heit, dei­ne Lie­be zur Na­tur und den Tie­ren, dei­ne Of­fen­heit und fröh­li­che Ener­gie, dein Sinn für Gleich­be­rech­ti­gung und Gleich­heit un­ter al­len, dei­ne Treue zu dei­nen Lie­ben, dei­ne In­te­gri­tät und dein gro­ßer Glau­be an all das, was wir be­sit­zen, all dies und noch vie­les mehr ma­chen dich ein­zig­ar­tig.«

Ni­mue war ver­blüfft über das so­eben Ge­sag­te. »Ist nicht je­der so, Oma?«

Oona lach­te. »Nein, mein Kind, nicht je­der kann die­se We­sens­merk­ma­le sein Ei­gen nen­nen. Siehst du die­se To­ma­ten hier?« Oona zeig­te auf einen Strauch vol­ler ro­ter Pa­ra­dei­ser.

Ni­mue nick­te.

»Sie sind alle vom glei­chen Stamm, aber kei­ne gleicht der an­de­ren.«

Ni­mue nick­te er­neut. Sie hat­te ver­stan­den. Auch wenn man von der­sel­ben El­fen­ras­se ab­stammt, je­der ist ein­zig­ar­tig und hat un­ter­schied­li­che We­sens­ei­gen­schaf­ten, und man­che be­sit­zen die glei­chen An­la­gen, nut­zen sie aber un­ter­schied­lich. Da ent­deck­te sie zwei To­ma­ten, die an ei­nem Zweig ne­ben­ein­an­der hin­gen. Sie sa­hen bei­na­he iden­tisch aus, den­noch hat­te die eine einen klei­nen grü­nen Fleck. Ni­mue grins­te.

»Darf ich bei der Ern­te da­bei sein?«

»Wenn du willst«, er­wi­der­te Oona mit Freu­de, »na­tür­lich.«

Stun­den spä­ter saß Ni­mue in ih­rem Zim­mer und grü­bel­te über die Wor­te ih­rer Groß­mut­ter nach. Sie war un­ge­dul­dig und woll­te so­bald wie mög­lich mit ih­rer in­ne­ren Stim­me spre­chen, um ih­ren wah­ren Wunsch zu er­fah­ren. Doch wie soll­te sie das an­stel­len? Da dach­te sie an ih­ren Lieb­lings­platz im Wald. Schlag­ar­tig sprang sie auf und ver­ließ mit schnel­len Schrit­ten das Zim­mer. Über den Ar­ka­den­gang und die dar­auf­fol­gen­de Ein­gangs­hal­le lief sie in den Schloss­hof hin­aus. Kurz dar­auf pas­sier­te sie die Pfer­de­stäl­le und ei­ni­ge Hun­de­häu­ser und ver­ließ den Hof in Rich­tung Wald. In die­sem hat­te sie ein klei­nes Ver­steck, eine klei­ne Höh­le im Baum­stamm ei­ner präch­ti­gen Ei­che. Klein war sie nur der­art, dass im Ver­hält­nis zur Ge­samt­hö­he des Baum­stam­mes von drei Me­tern eine cir­ca zwei Me­ter hohe Aus­höh­lung ge­rin­ger war.

Die­ser Ort war ihr Rü­ck­zugs­punkt, wann im­mer sie Streit mit ih­ren Ge­schwis­tern hat­te oder an­de­re Sor­gen sie plag­ten. Nie­mand kann­te die­ses Ver­steck, au­ßer ei­ni­ge Wald­be­woh­ner und na­tür­lich der Baum selbst. Sie nann­te ihn Aaro, von ih­rem Groß­va­ter Aar ab­ge­lei­tet, denn die­ser Name gab ihr das Ge­fühl von Stär­ke. Bei­de hat­ten für Ni­mue alte Wur­zeln, einen gro­ßen Stamm­baum und stets kraft­vol­le und wei­se Wor­te. Dem Baum war es egal, wie sie ihn nann­te. Für ihn zähl­te aus­schließ­lich ihre gute Freund­schaft. In Wirk­lich­keit je­doch war sein Name Amur und da nahm er ein­mal schmun­zelnd an: »Aaro äh­nelt Amur so­gar ir­gend­wie. Hm, so ein biss­chen.«

Kurz be­vor Ni­mue ih­ren Freund se­hen konn­te, rief sie laut: »Hal­lo, Aaro.«

»Hal­lo, Ni­mue«, hall­te es im Wald wi­der.

Nur noch ein paar Schrit­te und schon stand sie vor ihm. Sie hol­te tief Luft, als er frag­te: »Wie geht es dir?«

»Ei­gent­lich gut.«

»Was heißt ei­gent­lich?«

»In zehn Ta­gen habe ich doch Ge­burts­tag. Bis da­hin soll ich mir über mei­nen Wunsch im Kla­ren sein.« Sie zuck­te mit ih­ren Schul­tern. »Aber wie soll das ge­hen?«

Ni­mue run­zel­te ihre Stirn der­art tief, dass Aaro lach­te.

Dann fiel ihr Ka­tar ein und ihre Ge­sichts­zü­ge er­hell­ten sich. Mit dem Feu­er der Vor­freu­de spru­del­te es aus ihr her­aus: »Hast du ge­wusst, dass Ka­tar bald zu uns kommt?«

»Die Vö­gel ha­ben mir da­von be­rich­tet. Das ist eine gro­ße Ehre, Ni­mue. Ka­tar war noch nie­mals hier bei uns im Reich Shen­ja.«

»Ich weiß, Aaro. Ich freue mich sehr dar­über. Aber war­um ma­chen alle so ein Tamtam dar­aus?«

»Was meinst du mit Tam Tam?«

»Mei­ne Schwes­tern be­haup­ten, dass Ka­tar nur des­halb kommt, weil mein Ur­groß­va­ter et­was Gro­ßes mit mir vor­hat. Noch dazu hat mich Oma auf mei­nen Wunsch an­ge­spro­chen. Jede Elfe darf doch zu ih­rem 130s­ten Ge­burts­tag einen gro­ßen Wunsch aus­spre­chen.« Ni­mue zog ihre lin­ke Au­gen­braue fra­gend hoch.

»Kla­ro, und was wünschst du dir?«

»Ei­gent­lich woll­te ich …«, stot­ter­te Ni­mue, »ei­gent­lich, du weißt doch, Cla­ra und die Zau­be­r­in­sel, hm, aber jetzt …«

Aaro lach­te, so­dass sich sei­ne Äste wild um­her­be­weg­ten. »So, so, was nun?«

»Ich weiß es jetzt auch nicht mehr. Oma sagt, ich muss erst mit mei­ner in­ne­ren Stim­me spre­chen, um dann her­aus­zu­fin­den, was ich wirk­lich will. Kei­ne Ah­nung, was mir mei­ne in­ne­re Stim­me sagt.«

»Ach so, die in­ne­re Stim­me«, er­wi­der­te der Ei­chen­baum mit ru­hi­gen, lang­schwin­gen­den Tö­nen.

»Kennst du die in­ne­re Stim­me?«, platz­te es aus Ni­mue her­aus, denn sie hat­te das Ge­fühl, dass sei­ne letz­ten Wor­te dar­auf deu­te­ten.

»Ja, die ken­ne ich schon. Mit der spre­che ich im­mer, wenn ich mir mit Ent­schei­dun­gen ganz si­cher sein muss.«

»Mit mei­ner in­ne­ren Stim­me?«, staun­te Ni­mue.

»Nein, mit mei­ner na­tür­lich!«

»Aha, und wie machst du das?«

»Ganz ein­fach: ich gehe in mich und las­se mich von nie­man­den rund­her­um stö­ren.« Dann er­hob er sei­ne Stim­me, so­dass ihn auch die um­lie­gen­den Bäu­me hö­ren konn­ten. »Was hier in die­sem Wald wirk­lich schwer ist, mit all den Plap­per­mäu­lern um mich her­um.« Da­nach senk­te sich sei­ne Stim­me wie­der, als er frag­te: »Des­halb kommst du heu­te zu mir, oder?«

Ni­mue nick­te. »Weißt du, wie ich mit mei­ner in­ne­ren Stim­me spre­chen kann? Das habe ich noch nie ge­macht.«

»Das musst du sel­ber her­aus­fin­den. Je­der hat sei­ne ei­ge­ne Art und Wei­se, mit sei­ner in­ne­ren Stim­me zu kom­mu­ni­zie­ren. Ich habe ge­hört, dass man­che Men­schen ex­tra auf Her­ren­chiem­see fah­ren, um dort zu me­di­tie­ren. Weißt du, Ni­mue, dort ist es be­son­ders still.«

»Me­di­tie­ren, was ist denn das?«

»Sie set­zen sich mit ver­schränk­ten Bei­nen auf den Bo­den. Man­che le­gen die Hän­de auf die Knie und hal­ten ihre ers­ten drei Fin­ger vom Dau­men an zu­sam­men. An­de­re hal­ten sie in Ge­bets­stel­lung, das heißt, ihre fla­chen Hän­de auf­ein­an­der­ge­legt in Höhe der Brust. Ich glau­be, dass der Schnei­der­sitz zu ei­ner bes­se­ren Kör­per­hal­tung bei­trägt. An­sons­ten, den­ke ich, dass dei­ne Sitz­hal­tung egal ist, und auch, wie du dei­ne Hän­de da­bei hältst. Ma­che es ein­fach so, dass du dich wohl­fühlst. An­de­ren­falls wird es schwie­rig.«

»Was wird schwie­rig?«, pack­te sie die Neu­gier­de.

»Na ja, wenn die Men­schen in die­ser Po­si­ti­on am Bo­den sit­zen, dann ge­hen sie in sich, den­ke ich. Des­we­gen tun sie es ja! Da­für ist es wich­tig, dass der Kör­per ih­nen Ruhe ver­schafft und nicht an al­len Ecken und En­den schmerzt.«

»In sich ge­hen«, wie­der­hol­te Ni­mue, »das habe ich jetzt schon öf­ter ge­hört. Was ist denn da in mir?«

»Dei­ne See­le, Ni­mue, das weißt du doch.«

Ni­mue nick­te, nur we­nig über­zeugt, ihre See­le zu ken­nen, und er­wi­der­te: »Viel­leicht. Und sie ist mei­ne in­ne­re Stim­me, nicht wahr?«

»Mehr oder we­ni­ger, so ganz ge­nau weiß ich das auch nicht. Das musst du sel­ber her­aus­fin­den.«

»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«

»Lass den Kopf nicht hän­gen, das ist nicht so schwer, wie du meinst. Pro­bie­re es aus und habe Ge­duld mit dir.«

»Ge­duld?! Ich muss in ge­nau zehn Ta­gen, in der 13ten El­fen­stun­de nach Null, mei­nen Wunsch aus­spre­chen, und was, wenn ich bis da­hin mei­ne in­ne­re Stim­me nicht ge­fun­den habe und sie mir nichts über mei­nen wah­ren Wunsch sa­gen konn­te?«

Aaro lach­te laut auf. Da­bei fin­gen sei­ne Äste an, wie wild um­her­zu­sch­win­gen. Ni­mue muss­te ei­nem aus­wei­chen, in­dem sie einen Schritt zu­rück­sprang.

Ein we­nig ver­är­gert be­ton­te sie dar­auf­hin: »Lus­tig fin­de ich das über­haupt nicht!«

»Geh hin­ein, ich ma­che es dir ge­müt­lich warm.«

»Dan­ke« mur­mel­te sie und ver­schwand in der Höh­le im Bau­min­ne­ren.

Sie be­grüß­te Stúh­ly, die Stuhlda­me, die im In­ne­ren der Baum­höh­le leb­te. Ni­mue deu­te­te an, sich set­zen zu wol­len, doch vor­her muss­te sich Stúh­ly nach rechts und links aus­deh­nen.

Seit Lan­gem war Stúh­ly mehr als ge­nervt, dass sich Ni­mue kei­nen grö­ße­ren Stuhl zu­leg­te. Zum einen mach­te ihr das Deh­nen zu schaf­fen, zum an­de­ren hät­te sie ger­ne einen Spiel­ge­fähr­ten ge­habt. Der Ei­chen­baum je­doch hat­te da et­was Ent­schei­den­des da­ge­gen, und so konn­te auch Ni­mue nicht über sei­nen Kopf hin­weg Ent­schei­dun­gen fäl­len.

Stúh­ly räus­per­te sich und Ni­mue setz­te sich. Da hör­ten sie das Ra­scheln von Blät­tern. Es war Aaro, der sei­nen Stamm von au­ßen schloss, in­dem er Ei­chen­blät­ter auf den Ein­gang leg­te. Dar­auf­hin kehr­te eine Stil­le ein. Nur noch ein paar Wür­mer und Kä­fer un­ter­hiel­ten sich mit­ein­an­der. An­sons­ten war da nichts; nicht ein­mal das Atem­ge­räusch der Ei­che war mehr zu hö­ren.

»Hey«, be­grüß­te Ni­mue un­er­war­tet ein klei­ner ro­ter Kä­fer.

»Hal­lo.«

Aaro hat­te dies ge­hört und so­gleich hall­te sei­ne tie­fe Stim­me im Raum: »Halt dein Maul, Stein­kä­fer Lili! Ni­mue braucht voll­kom­me­ne Ruhe. Sie soll ihre in­ne­re Stim­me fin­den. Da braucht sie dein Ge­schwätz ganz be­stimmt nicht.«

Der Kä­fer ki­cher­te, be­vor er flüs­ternd, den­noch mit ei­nem spöt­ti­schen Un­ter­ton mein­te: »Die in­ne­re Stim­me, haha. Viel Glück, Ni­mue, ich will dich nicht wei­ter stö­ren.«

Ni­mue ant­wor­te­te nicht, denn ei­gent­lich war sie froh, dass Lili da war. Ab­len­kung ist im­mer gut, wenn man nicht wei­ter­weiß.

Als der Kä­fer wie­der ver­schwun­den war, flüs­ter­te sie: »Nun gut, mei­ne in­ne­re Stim­me, ich bin ru­hig und könn­te dir zu­hö­ren.«