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Daniel Leese

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Beschreibung

Die „Große Proletarische Kulturrevolution“ zählt zu den prägendsten Ereignissen der neueren chinesischen Geschichte. Die Auswirkungen dieses Kontinuitätsbruchs prägen die Kommunistische Partei Chinas und die chinesische Gesellschaft bis heute. Gegen die noch immer andauernde Mystifizierung der Kulturrevolution setzt Daniel Leese auf eine umfassende Historisierung. Anschaulich informiert er über Ursachen, Verlauf und Folgen. Im Fokus steht nicht nur die Rolle Mao Zedongs, sondern auch gesellschaftliche Entwicklungen und regionale Unterschiede.

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Daniel Leese

DIE CHINESISCHEKULTURREVOLUTION1966–1976

Verlag C.H.Beck

Zum Buch

Die Große Proletarische Kulturrevolution (1966–1976) fasziniert die Nachwelt noch immer, auch fünfzig Jahre nach ihrem Ausbruch. Der Versuch des Parteivorsitzenden Mao Zedong, die Wiederkehr kapitalistischen Denkens und Wirtschaftens in der Volksrepublik China dauerhaft zu verhindern, markiert bis heute eine bedeutende Ausnahme nicht nur in der chinesischen Geschichte, sondern auch in der Globalgeschichte des Kommunismus. Kein anderer Parteiführer mobilisierte Teile der Bevölkerung gegen das Parteiestablishment und nahm bürgerkriegsähnliche Zustände und Anarchie willentlich in Kauf. Als das Experiment nicht die gewünschten Resultate zeitigte, hatte der «Große Vorsitzende» allerdings auch keine Skrupel, mit Hilfe des Militärs eine brutale Willkürherrschaft durchzusetzen, die Millionen Opfer forderte. Das vorliegende Buch bietet einen anschaulichen Überblick über Ursachen, Verlauf und Folgen der Kulturrevolution.

Zum Autor

Daniel Leese lehrt Sinologie mit dem Schwerpunkt «Geschichte und Politik des Modernen China» an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg.

Inhalt

I. Vexierbild Kulturrevolution

Kontroversen und staatliche Zensur

Chronologien

II. Ursachen und ideologische Grundlagen

Machtpolitische Ursachen

Ideologische Ursachen

Gesellschaftliche Ursachen

III. Historische Allegorien und der Sturz des Parteiestablishments

Gezielte Putsche

Aufruhr an Schulen und Universitäten

Großes Chaos unter dem Himmel

IV. Kulturrevolution

Führerkult und Roter Terror

Rotgardisten und die Frage des Klassenhintergrunds

Die Shanghai-Kommune und die ersten Revolutionskomitees

Wuhan-Zwischenfall

Gewaltsame Konflikte in den Regionen

Der große strategische Plan und das Ende der Massenbewegung

V. Staatliche Repression und Militärdominanz

Säuberungskampagnen und Opferzahlen

Neunter Parteitag und Kriegsszenarien

Die Lin-Biao-Affäre

VI. Nachfolgekämpfe und gesellschaftlicher Wandel

Innenpolitische Konsolidierung und außenpolitische Wende

Kulturrevolution und Wirtschaft

Gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen

Nachfolgekonflikte und der Tod Mao Zedongs

Schluss

Abkehr und offizielle Bewertung

Jenseits von Nostalgie und politischer Instrumentalisierung

Wichtige Akteure der Kulturrevolution

Literaturempfehlungen

Quellen, Bilder und Hilfsmittel

Literatur

Erinnerungsliteratur

Online-Ressourcen

Personen- und Ortsregister

I. Vexierbild Kulturrevolution

Wie kein anderes Ereignis in der Geschichte der Volksrepublik China symbolisiert die «Große Proletarische Kulturrevolution» einen Kontinuitätsbruch, dessen Auswirkungen die Kommunistische Partei Chinas und die chinesische Gesellschaft bis heute prägen. Ohne den radikalen Versuch des Parteivorsitzenden Mao Zedong, sein revolutionäres Erbe ohne Rücksicht auf Opfer oder Loyalitäten durch einen Angriff auf Parteibürokratie und Überreste traditioneller Kultur zu sichern, wäre die breite Unterstützung für Deng Xiaopings Reformpolitik nach 1978 kaum denkbar gewesen. Gleichzeitig übte kein anderes Ereignis der jüngeren chinesischen Geschichte zeitgenössisch eine solche Faszination aus, nicht nur auf die chinesische Jugend, sondern auch auf Teile der internationalen Öffentlichkeit. Die Propagierung einer von jugendlichen Rotgardisten getragenen Revolution, der Kult um Schriften und Person Mao Zedongs sowie die Aussicht der Errichtung einer egalitären Gesellschaftsordnung fanden auf unterschiedlichste Weise Anklang bei radikalen Gruppierungen, sowohl in westlichen Metropolen als auch bei Guerillakämpfern von Nepal bis Peru. Die Anziehungskraft hatte dabei oft weniger mit den realen Ereignissen der Kulturrevolution in China zu tun als mit den Assoziationen, welche die Bilder und die oftmals kryptischen politischen Mitteilungen, die von der Parteiführung in Publikationen wie der Peking Rundschau, China im Aufbau oder China im Bild verbreitet wurden, in ihrer jeweils spezifischen Übertragung auf andere Kontexte hervorriefen.

Auch fünfzig Jahre nach ihrem Ausbruch besteht ein andauernder Dissens über die historische Bedeutung der Kulturrevolution. Die konkurrierenden Deutungen reichen in ihren Extremen von einer Charakterisierung der Bewegung als Holocaust bis hin zu einer Verteidigung der Kulturrevolution als letztem, wenngleich gescheiterten Versuch der Errichtung einer gerechten sozialistischen Gesellschaftsordnung jenseits der totalitären Parteidiktatur. Für die Partei stellt die Kulturrevolution noch immer das größte Trauma der Parteigeschichte dar. Offiziell als tragische Verfehlung eines großen Parteiführers deklariert, der die Einheit von Volk und Partei durch seine zunehmend radikalisierte Klassenkampfdoktrin beinahe zerstört habe, liegt die tiefere Furcht in der kulturrevolutionären Kritik an der Parteibürokratie begründet. Gestützt auf einen überbordenden Personenkult, war die Frühphase der Kulturrevolution gekennzeichnet durch eine direkte Mobilisierung des Volkes jenseits der Massenorganisationen, welche die kommunistische Parteipolitik gemäß der Lenin’schen Diktion als «Transmissionsriemen» kontrolliert in der Gesellschaft verankern sollten. Das Konzept der Kulturrevolution stellte, zumindest in der Anfangsphase der Bewegung, die Grundlagen der Parteiherrschaft infrage. Die Furcht vor alternativen Ordnungsentwürfen und charismatischen Führern sitzt bis heute tief. Im März 2012 warnte der damalige Ministerpräsident Wen Jiabao in Anbetracht des Wiederauflebens eines Personenkults um den später verhafteten, aus der Partei ausgeschlossenen und zu lebenslanger Haft verurteilten Parteisekretär der südwestchinesischen Metropole Chongqing, Bo Xilai, vor einer möglichen Wiederkehr kulturrevolutionärer Zustände in China. Das Schreckensszenario eines durch öffentliche Empörung getragenen populären Führers, der die Partei spalten und die Volksrepublik in einen Strudel chaotischer Konflikte reißen könnte, bildet den Hintergrund, vor dem die Partei die Notwendigkeit kollektiver Führung zur Aufrechterhaltung ihrer diktatorischen Ordnungsfunktion legitimiert. Auch die Gefahr eines neuen Bürgerkriegs mit einhergehendem staatlichem Zerfall wird als Menetekel an die Wand gezeichnet.

Kontroversen und staatliche Zensur

Die Debatten über die Bedeutung der Kulturrevolution gehen in vielen Fällen von widersprüchlichen Annahmen darüber aus, was während dieser Jahre wirklich geschah, und die Kommunistische Partei hat wenig zu einer öffentlichen Klärung der historischen Ereignisse beigetragen. Im Juni 1981 verabschiedete die Führung um Deng Xiaoping eine Resolution zur Parteigeschichte, in welcher die Verantwortung für die Kulturrevolution auf ideologischer Ebene Mao Zedong angelastet wurde, der durch übergroße Selbstgewissheit und Loslösung von den gesellschaftlichen Realitäten die existierenden Konflikte in der chinesischen Gesellschaft überspitzt habe. Scharf unterschieden wurde zwischen diesen ideologischen «Fehlern» und den konkreten Straftaten einer Reihe von «Karrieristen». Letztere Gruppierung umfasste gemäß offizieller Darstellung einen Kreis von rund zehn Personen, der sogenannten Viererbande um Mao Zedongs Frau Jiang Qing, sowie eine Reihe von Generälen aus dem Umfeld des 1971 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommenen Verteidigungsministers Lin Biao. Beiden Gruppierungen wurde die Subversion des Parteistaats aus persönlichen Motiven unterstellt. Anfang 1981 verurteilte ein Sondergerichtshof in Peking die Angeklagten zu langjährigen Haftstrafen.

Die geschichtspolitische Resolution des Jahres 1981 definiert bis heute die Grenzen dessen, was offiziell in China über die Kulturrevolution geschrieben werden kann. Kritische Forschung ist dort nur im privaten Rahmen oder über den Umweg einer Publikation in Hongkong, Taiwan oder nach Übersetzung in westliche Sprachen möglich. Unter dem Schlagwort der staatlich propagierten «umfassenden Verneinung» der Kulturrevolution wird jegliche Differenzierung der Frage nach historischer Verantwortung unterbunden, ohne dass Täter- oder Opferstatus überzeugend definiert wurden, so dass alte Konflikte und Traumata bis heute keine Klärung erfahren haben. Die Zentrale Propagandaabteilung erließ in den 1980er Jahren mehrere Richtlinien, welche detaillierte Untersuchungen über den Zeitraum der Kulturrevolution oder über das moralische Verhalten einzelner Parteikader untersagten. Verschärft wurde das Publikationsverbot ein weiteres Mal im November 2013, als die Parteiführung unter Generalsekretär Xi Jinping die Destabilisierung der gegenwärtigen Politik mittels historischer Beispiele ebenso brandmarkte wie die Kritik an der Vergangenheit auf Basis aktueller politischer Entwicklungen.

Eine umfassende Kontrolle des gesellschaftlichen Diskurses über die Vergangenheit ist jedoch auch in einer Parteidiktatur wie der Volksrepublik China illusorisch. De facto ist die innerchinesische Diskussion über die Kulturrevolution von unterschiedlichen Konjunkturen staatlicher Repression gekennzeichnet. Die Partei selbst unternahm eine Reihe umfassender interner Untersuchungen hinsichtlich der Verantwortlichkeit für die schlimmsten Gewalttaten der Kulturrevolution, die allerdings nur parteiintern und in geringer Stückzahl zirkulierten. Vereinzelt gelangten diese Untersuchungen an die Öffentlichkeit, wobei insbesondere die Berichte über Kannibalismus in der Autonomen Region Guangxi für Aufsehen sorgten. Darüber hinaus wurden Todesfälle und Gewalttaten in vielen Landesteilen zumeist auf Basis von Nachforschungen lokaler Parteikomitees, oft auch mehrfach, überprüft und teilweise verfolgt. Das zentrale Motiv für die Nachforschungen war allerdings weniger die Aufarbeitung historischer Vergehen als vielmehr eine Evaluierung des Verhaltens lokaler Parteikader hinsichtlich ihrer Loyalität zur Führung um Deng Xiaoping. Einige Ergebnisse dieser Untersuchungen finden sich in den Tausenden von Lokalchroniken, in denen gemäß der Vorgabe Deng Xiaopings, die Geschichte dieses Zeitraums «mit breitem Pinselstrich und nicht zu vielen Details» zu erzählen, verstreute Angaben über lokale Vorkommnisse während der Kulturrevolution zu finden sind.

Ein weiterer Überlieferungsstrang kulturrevolutionärer Ereignisse findet sich in der Vielzahl von Erinnerungstexten, die persönliche Erfahrungen als Memoiren, in Romanform, in Blogs und Foren oder als inoffizielle Online-Zeitschriften aufbereiten und dafür gesorgt haben, dass keineswegs von einem Tabu der Auseinandersetzung mit der Kulturrevolution gesprochen werden kann. Allerdings weist die Erinnerungsliteratur klar schichtspezifische Tendenzen auf. Insbesondere im Fall von Übersetzungen kulturrevolutionärer Erinnerungen in westliche Sprachen ist zu konstatieren, dass die überwiegende Mehrzahl der Titel entweder von ehemaligen Rotgardisten oder von vormals an Universitäten und Schulen tätigen Opfern der Bewegung verfasst wurden. Dieser auf dem Bildungsniveau der Verfasser basierende Selektionsmechanismus hat zu einem stark verzerrten Bild der Kulturrevolution in westlichen Debatten geführt. Die Titel konzentrieren sich beinahe ausschließlich auf die städtischen Opfer des Terrors in den Jahren 1966 und 1967 und auf die Phase der zwangsweisen Landverschickung der Rotgardisten, während die Hintergründe der Entwicklungen im ländlichen Raum und in den Grenzgebieten deutlich weniger Beachtung gefunden haben. Statistische Untersuchungen zeigen allerdings, dass die Kulturrevolution die meisten Opfer auf dem Land forderte, insbesondere in den Jahren 1968 bis 1971, als im Namen der neu gegründeten Revolutionskomitees staatliche Akteure und Militärs vermeintliche Gegner, Angehörige der «schwarzen Klassen» und vormalige Rebellen harsch unterdrückten.

Eine zentrale Debatte unter Zeitzeugen und chinesischen Historikern der Kulturrevolution betrifft die Frage nach der Existenz unterschiedlicher Dimensionen der Bewegung. Unter dem Schlagwort der «Theorie der zwei Kulturrevolutionen», zuerst von vormaligen Mitgliedern kulturrevolutionärer Rebellenorganisationen zu Beginn der 1980er Jahre formuliert, wurde die «umfassende Verneinung» der Kulturrevolution durch die Kommunistische Partei kritisiert und zwischen einer «offiziellen Kulturrevolution» und einer «Kulturrevolution des Volkes» unterschieden. Hierin spiegelte sich der Versuch, zwischen der Ebene politischer Machtkämpfe der Eliten einerseits und der Kritik an repressiven gesellschaftlichen Verhältnissen durch Teile des Volkes andererseits zu unterscheiden. Die strikte Trennung beider Sphären bot die Möglichkeit einer produktiven Anknüpfung an Debatten über Machtmissbrauch, Klassenhierarchien und Experimente mit Formen partizipatorischer Demokratie, welche durch die Komplettnegation der Kulturrevolution ansonsten ebenfalls dem Orkus der Geschichte anheimgefallen wären.

Im Zentrum der Debatte steht dabei die ungelöste Frage nach der Rolle Mao Zedongs. Beschränkte sich seine Rolle auf den Sturz innerparteilicher Rivalen und somit auf die «offizielle Kulturrevolution» oder sah er bereits die möglichen Konsequenzen wachsender Statusprivilegien und Kapitalakkumulation basierend auf der Sonderrolle der Parteikader voraus und versuchte diese mit der Kulturrevolution (erfolglos) zu unterbinden? War Mao also der eigentliche geistige Anführer der Rebellen und wenn ja, warum ließ er diese bereits im Herbst 1967 wieder fallen? Auch langjährige Kritiker der «Theorie der zwei Kulturrevolutionen» haben in Anbetracht der Korruptionsexzesse der vergangenen Jahre ihre Fundamentalkritik an positiven Elementen der Kulturrevolution relativiert, gleichzeitig aber auf die Unmöglichkeit einer radikalen Trennlinie zwischen «guten» und «schlechten» Elementen der Bewegung hingewiesen. In jüngster Zeit hat eine wachsende Zahl von Debattenbeiträgen alternative Deutungen der Kulturrevolution angeregt, die stärker auf status-, orts- und zeitspezifische Wahrnehmungen eingehen und insbesondere die Klassenfrage wieder in den Mittelpunkt gerückt haben. Auch steht nicht mehr nur das politische Geschehen im Zentrum, sondern kulturelle, gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen finden zunehmende Beachtung. So lassen sich frühere Darstellungen der Kulturrevolution als eines zehn Jahre unverändert andauernden Schreckensregimes kritisch hinterfragen und die spezifischen Formen der Gewalt genauer zeitlich und räumlich verorten.

Eine stärkere Betonung regionaler Entwicklungen und der Widersprüchlichkeit von Zielen und Konsequenzen der Bewegung ist dringend notwendig. Gleichzeitig erscheint es geboten, durch eine umfassende Historisierung der noch immer andauernden Mystifizierung der Kulturrevolution entgegenzuwirken, denn in vielerlei Hinsicht gleicht die Kulturrevolution einem Vexierbild, in welches je nach politischem Hintergrund unterschiedlichste Absichten hineininterpretiert werden können. Eine Mystifizierung der Kulturrevolution findet einerseits von Seiten der Parteiführung statt, welche den Zeitabschnitt als historische Ausnahmeerscheinung zu proklamieren trachtet, die keinerlei Kontinuität mit den Epochen zuvor und danach aufweise. Andererseits dient die Kulturrevolution noch immer als Anknüpfungspunkt radikaler Utopien, deren Befürworter zwischen den korrekten Intentionen Mao Zedongs und den bedauerlichen sozialen Konsequenzen zu unterscheiden bemüht sind. Die Gewaltexzesse der Kulturrevolution sind von den ideologischen und politischen Grundlagen der Bewegung jedoch nicht zu trennen. Die Intentionen Mao Zedongs, soweit sie sich bei heutigem Kenntnisstand rekonstruieren lassen, waren vielfältig und dienten auch Motiven, die sich keineswegs nur auf einen hehren emanzipatorischen Grundkern reduzieren lassen. Überdies unterlagen sie einem rasanten zeitlichen Wandel und eignen sich daher nicht als die historischen Umstände transzendierende, absolute Wahrheiten. Eine Unterscheidung verschiedener Phasen der Bewegung erscheint daher geboten.

Chronologien

Gemäß der offiziellen Parteidoktrin wird die Kulturrevolution als «zehnjährige Katastrophe» bezeichnet. Der Zeitraum umspannt die Jahre 1966 bis 1976, gefolgt von einer meist als «Interregnum» bezeichneten zweijährigen Phase unter dem Vorsitz von Mao Zedongs direktem Nachfolger Hua Guofeng. Der Beginn der Reform- und Öffnungsperiode wird mit dem Dritten Plenum des Elften Parteitags im Dezember 1978 und der machtpolitischen Durchsetzung Deng Xiaopings angesetzt. Diese offizielle Datierung dient einem doppelten Zweck: Durch die kollektive Schuldzuweisung für alle während der Kulturrevolution begangenen Vergehen an die Mitglieder der «Viererbande» und der «Lin-Biao-Clique» wird die weit komplexere Verstrickung anderer Parteiführer während der gesamten Dekade verschwiegen und eine begrenzte Projektionsfläche für Kritik, Wut und Schmerz geboten. Andererseits delegitimiert die Datierung Maos direkten Nachfolger Hua Guofeng und stellt Deng Xiaoping als den alleinigen Vater der chinesischen Reformpolitik dar. Die Stilisierung des Dritten Plenums als kairotischem Wendepunkt wird auch von der wissenschaftlichen Forschung noch zu selten problematisiert. Erst in den letzten Jahren beginnt, insbesondere unter chinesischen Historikern, eine Neubewertung der Rolle zentraler Parteiführer in den späten 1970er Jahren ebenso wie eine Debatte über die komplexen Ursprünge der Reformpolitik.

Die Unzulänglichkeiten und politischen Motivationen der offiziellen Chronologie sind mehrfach zum Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen geworden. Für die Zwecke des vorliegenden Buches erscheint eine Einteilung der Kulturrevolution in vier Phasen plausibel. (1) Kulminierungsphase: November 1965 bis August 1966. Mit der Publikation der Streitschrift Yao Wenyuans über die Neuinszenierung des Theaterstücks «Hai Rui wird aus dem Amt entlassen» beginnt eine Folge sukzessiver Intrigen, die zum Sturz bedeutender politischer und militärischer Parteikader führen und die machtpolitische Basis für die Kulturrevolution schaffen. Im Anschluss an die erweiterte Politbürositzung im Mai 1966 kommt es zu einem ersten Experimentieren im Umgang mit der beginnenden Kulturrevolution an Schulen und Universitäten unter weitgehender Abwesenheit Mao Zedongs. (2) Kulturrevolution: August 1966 bis Herbst 1968. Mit der Verabschiedung des «16-Punkte-Programms» am 8. August 1966 beginnt die Kernphase der Massenbewegung unter Führung Mao Zedongs, deren Kritik sich zunächst gegen überkommene Kultur und Ideen, ab Oktober 1966 zunehmend gegen Personen innerhalb der Partei richtete, die den «kapitalistischen Weg» gegangen seien. Der Zeitraum ist von einer partiellen Zerstörung der Lenkungsfunktionen der Parteiorgane, durch zunehmende Fraktionsbildung und gewaltsame Konflikte in allen Landesteilen gekennzeichnet. Die Phase endet mit der Errichtung von Revolutionskomitees auf Provinzebene und der Landverschickung der Rotgardisten. Aufgrund der lokal unterschiedlichen Umsetzung ist der Übergang zu Phase 3 zeitlich nicht scharf zu begrenzen. (3) Staatliche Repression und Militärdominanz: Herbst 1968 bis September 1971. Mit der landesweiten Etablierung der Revolutionskomitees, in denen zumeist das Militär die stärkste Kraft bildete, erreichte die staatliche Repression ihren Höhepunkt. Kampagnen wie die «Säuberung der Klassenränge» forderten die höchsten Opferzahlen des Jahrzehnts. Währenddessen stiegen Generäle in höchste Parteiämter auf und verschärften die Militarisierung der Gesellschaft, die durch die Furcht vor einem atomaren Erstschlag der Sowjetunion noch bestärkt wurde. Das Zerwürfnis zwischen Mao und Lin Biao sowie die anschließende Flucht und der Tod Lins bilden den Abschluss dieser Periode. (4) Politische Machtkämpfe und gesellschaftlicher Wandel: September 1971 bis Oktober 1976. Die vierte Phase schließlich ist gekennzeichnet von inhaltlichen und persönlichen Konflikten konkurrierender Gruppierungen an der Parteispitze, abrupten Kurswechseln in der Außenpolitik und dem beginnenden Kampf um das Erbe Mao Zedongs. Gleichzeitig setzte im Gefolge der Lin-Biao-Affäre eine zunehmende gesellschaftliche Skepsis gegenüber der politischen Führung ein, die sich in einem partiellen Rückzug ins Private äußerte. Auf lokaler Ebene fanden gesellschaftliche Veränderungen und erste wirtschaftliche Experimente statt, die spätere Differenzierungsprozesse und Reformen zumindest in Teilen bereits ankündigten. Die Phase endet mit dem Tod Maos im September 1976 und der Verhaftung der Viererbande einen Monat später.