Die Chroniken von Mistle End 1: Der Greif erwacht - Benedict Mirow - E-Book
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Die Chroniken von Mistle End 1: Der Greif erwacht E-Book

Benedict Mirow

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Beschreibung

Entdecke das Refugium der magischen Geschöpfe - Heimat für Hexen, Trolle und alle anderen übernatürlichen Wesen: Mistle End!

Der Greif stand aufgerichtet auf dem Dach, mit weit ausgebreiteten Schwingen und sah ihn an. Er neigte kurz sein Haupt und Cedrik hörte wieder die Stimme des Fabelwesens in seinem Kopf. „Da ist sie. Die Kraft, ich spüre sie. So alt, uralt ...“
Cedrik schluckte und nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Um was geht es hier?“
Der Greif musterte ihn mit seinen Adleraugen. „Ich muss wissen, welches Geheimnis du vor mir verbirgst. Du wirst dich meiner Prüfung unterziehen müssen.“

Ein phantastisches Kinderbuch ab 10 Jahren über einen jungen Druiden und die magischen Kräfte der Natur

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Das Buch

Der Greif stand aufgerichtet auf dem Dach, mit weit ausgebreiteten Schwingen und sah ihn an. Er neigte kurz sein Haupt und Cedrik hörte wieder die Stimme des Fabelwesens in seinem Kopf. „Da ist sie. Die Kraft, ich spüre sie. So alt, uralt ...“

Cedrik schluckte und nahm seinen ganzen Mut zusammen. „Um was geht es hier?“

Der Greif musterte ihn mit seinen Adleraugen. „Ich muss wissen, welches Geheimnis du vor mir verbirgst. Du wirst dich meiner Prüfung unterziehen müssen.“

Der Autor

© Matthias Boch

Benedict Mirow wurde 1974 in München geboren. Der Ethnologe und Regisseur schreibt, dreht und produziert seit vielen Jahren Dokumentarfilme aus den Bereichen Kunst und Kultur und erstellt Filmporträts über Künstler wie Daniel Hope, Lang Lang oder Paulo Coelho. Er konnte mit seinen Filmen zahlreiche internationale Preise gewinnen, wie u.a. einen Diapason d’Or, einen International Classical Music Award und einen KLASSIK ECHO; am Erfolg des OSCAR® Gewinners Nirgendwo in Afrika von Caroline Link war er als Ethnologischer Berater maßgeblich beteiligt. Nach Zeiten in Afrika und Wien lebt und arbeitet Benedict Mirow nun mit seiner Tochter und zwei Katzen in München und schreibt phantastische Romane für Kinder.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Für Emily

DER ZUG ANS ENDE DER WELT

Der Zug fuhr über eine Weiche, es gab einen scharfen Ruck, und sein Kopf schlug hart gegen die Fensterscheibe. Er stöhnte und rieb sich die pochende Stirn. Er war eingeschlafen und hatte schon wieder diesen Traum von dem brennenden Wald gehabt. Oder eher Albtraum. Wie vor ein paar Tagen. Er verzog das Gesicht und sah sich um. Die Gepäckablagen ihres Abteils waren bis unters Dach mit Kisten, Koffern und Taschen vollgestellt. Sie hatten schon früh die letzten Vororte Londons hinter sich gelassen, waren ein paarmal umgestiegen und befanden sich nun in diesem alten und völlig überheizten Zug nach Schottland.

Er schaute nach draußen. Schneeflocken wirbelten vor der vorbeiziehenden Hügellandschaft durch die Abenddämmerung.

Der Dauerregen Englands war irgendwann in dichtes Schneetreiben übergegangen und je weiter sie nach Norden fuhren, desto höher lag der Schnee auf den immer steiler werdenden Hängen rechts und links von der Bahnstrecke. Dabei waren sie nicht etwa auf dem Weg in die Winterferien, sondern unterwegs in ihr neues Zuhause – ein kleiner Ort hoch oben in den schottischen Highlands.

Mistle End.

»Cedrik?«

Eher End of the World.

»Cedrik!?«

Er sah auf. Dad.

Sein Vater Aengus O’Connor, den alle eigentlich immer nur O’Connor nannten, war jetzt wahrscheinlich schon zum hundertsten Mal aufgesprungen, um unruhig durch ihre Habseligkeiten zu wühlen. Er stand auf dem Sitzplatz neben ihm und sah ihn mit weit aufgerissenen Augen von oben herab an. »Cedrik, hast du auch ganz sicher die Kiste mit dem Lexikon der Fabelwesen mitgenommen!? Ich sehe sie nirgends!« Seine Stimme klang panisch.

Cedrik grinste müde. »Weil sie hinter dem Koffer steht, Dad! Du kannst sie da nicht sehen.«

Aengus O’Connor war Ende dreißig und hatte wie Cedrik braune Haare und leuchtend grüne Augen, die allerdings in seinem Fall hinter dicken Brillengläsern seltsam klein wirkten. Er war ein typischer Bücherwurm. Eine durchaus hilfreiche Eigenschaft als Wissenschaftler, Historiker und angesehener Experte für die Mythologie Großbritanniens. Als solcher war er noch vor Kurzem im »Königlichen Museum für Fabelwesen« in London angestellt gewesen.

Niemand hatte ahnen können, dass es nur wenige Tage nach Cedriks zwölftem Geburtstag schließen musste. Zu wenig Menschen interessierten sich noch für die alten Geschichten von Ungeheuern und magischen Kreaturen. Von einem Tag auf den anderen war Aengus arbeitslos.

Ihr Leben änderte sich schlagartig. Es gab wenig offene Stellen für Mythologen und da die beiden schon immer allein lebten, musste sein Vater letzten Endes eine Anstellung als Lehrer annehmen. In einem Ort, der so klein und unbedeutend zu sein schien, dass ihn Cedrik auf keiner Karte finden konnte, und wo ganz sicher kein Mensch leben wollte.

»Ein bescheuertes, kleines Dorf in den Bergen, voll schottischer Bergtrolle«, so hatte es Cedrik im Zorn genannt. Aber dann doch schweigend seinem Vater geholfen, ihre Habseligkeiten in die abgewetzten Koffer und Taschen zu packen. Er war erstaunt, als er merkte, dass sich ein kleiner Teil in ihm sogar auf die Berge freute. Und den Schnee. Viel war es ohnehin nicht, was er vermissen würde. Von seinem Freund Jack einmal abgesehen.

Die meisten Bücher hatte Aengus im Keller des Museums unterstellen können, für die wirklich wichtigen hatten sie einem benachbarten Weinhändler vier feste Holzkisten abgeschwatzt. Und am darauffolgenden Tag hatte Aengus O’Connor die Bahntickets nach Mistle End erhalten. 2. Klasse, für ihn und Cedrik. Ohne Rückfahrschein.

Sein Vater hatte sich wieder hingesetzt und schaute aus dem Fenster. »Ich wusste nicht, dass es hier so große Wälder gibt. Bäume, nichts als Bäume!«, sagte er. »Hier leben sicher Hirsche, vielleicht sogar Wölfe.«

Wölfe? Cedrik spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er presste seine Stirn an die Scheibe und starrte auf die immer düsterer werdende Landschaft. Inzwischen waren die vorbeiziehenden Bäume im dichten Schneetreiben nur noch als schemenhafte Schatten zu erkennen. Was gab es noch in diesen unendlichen Wäldern? Er hatte das Gefühl, dass da draußen mehr auf ihn wartete, als Bäume und Schnee. Wölfe! Er lachte heiser und leckte sich über die trockenen Lippen. Je länger sie fuhren, desto aufgeregter wurde er. Es fühlte sich an wie ... Ankommen. Oder war es doch Heimweh? Er spürte ein Ziehen, eine Spannung tief in seinem Innern, die er nicht verstand. Aber die sich gut anfühlte.

Auf einmal sprach sein Vater leise weiter, so, als hätte er vergessen, dass er nicht allein im Abteil saß. Er flüsterte fast. »Vielleicht hier. Wäre ein perfekter Lebensraum.«

»Für uns?«, fragte Cedrik.

Sein Vater schreckte hoch. »Ach, nein«, sagte Aengus rasch. Er wirkte verunsichert.

Cedrik drehte sich hastig weg. Er hasste es, wenn sein Vater diesen traurigen Ausdruck in den Augen hatte. Den hatte er in den letzten Wochen viel zu oft gesehen.

Sein Vater holte Luft, wandte sich ihm zu und schenkte ihm ein vorsichtiges Lächeln, das den Kummer in seinem Blick nur unzureichend verbarg. »Du wirst sehen, das wird großartig«, sagte er mit rauer Stimme. »Wir haben ein eigenes Haus und endlich bekommst du ein Zimmer, ganz für dich allein.«

Cedrik lächelte, dann musste er schlucken und wandte sich ab. London. Die kleine Wohnung in Hackney, inmitten der Stadt, lag längst in weiter Ferne. Sein Bett unter dem Dachfenster. Die Vögel, die sich, seit er denken konnte, bei Sonnenaufgang vor seinem Fenster gesammelt hatten. Gestern noch hatten sie ihn besucht und für einen kleinen Moment fühlte er Traurigkeit in sich aufsteigen. Ich hoffe, sie finden mich in Mistle End wieder, dachte Cedrik.

Die Abteiltür wurde plötzlich aufgerissen und ein groß gewachsener Schaffner mit gezwirbeltem Schnauzbart, tadelloser Uniform und blank polierten Messingknöpfen musterte streng den Haufen Gepäckstücke, die das ganze Abteil blockierten.

»Die Fahrkarten.« Er hob arrogant eine Augenbraue. »Bitte!«

Cedrik wollte eben nach der kleinen Ledertasche mit den Reiseunterlagen greifen, als ihn sein Vater zurückhielt. »Lass! Ich mach das, Cedrik.« Er kramte nach den Tickets und reichte sie, als er sie endlich gefunden hatte, lächelnd dem Schaffner. »Hier, bitte schön!«, sagte Aengus O’Connor. »Wir fahren nach Mistle End.«

Der Schaffner zuckte zurück, achtete kaum noch auf die Tickets, sondern starrte Cedrik und seinen Vater an. Er schien nervös, auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. »Sie ... Hrrhmm.« Der Schaffner verschluckte sich, musste sich räuspern und klammerte sich am Türrahmen fest. »Sie können dann ... Wir sind gleich ... Hrr-hmm, entschuldigen Sie!« Die Tickets in seiner Hand zitterten. »Ich muss ... Mein Gott!«

Der Schaffner drückte Aengus hastig die Fahrkarten in die Hand und machte, ohne die beiden aus den Augen zu lassen, einen Schritt nach hinten, zurück in den Gang. Laut krachend schob er die Abteiltür hinter sich zu und stolperte davon.

Cedrik runzelte die Stirn. »Was war das denn?! Hast du gesehen, wie der uns angestarrt hat? Als hätten wir die Pest, oder so was!«

O’Connor wickelte sich bereits in seine Wintersachen. »Was hast du gesagt?« Cedrik war sofort klar, dass sein Vater wieder einmal nichts von dem mitbekommen hatte, was sich eben in ihrem Abteil abgespielt hatte. Er hatte sich seinen Schal und die heiß geliebte Mütze mit den Ohrenklappen angezogen und sagte: »Komm schon, wir müssen unsere Sachen runterräumen.«

Cedrik nickte tapfer und checkte ein letztes Mal die Empfangsbalken auf seinem Handy. Kein Netz, schon seit ein paar Stationen. Es wunderte ihn nicht, dass er noch keine Antwort von seinem Freund Jack bekommen hatte. Enttäuscht stopfte er das Telefon zurück in seine Jackentasche und begann mit seinem Vater die Gepäckstücke aus den Ablagen zu holen.

Es schepperte und die Tür wurde erneut aufgeschoben. Eine Frau, ganz in Schwarz, mit einem kleinen Hund auf dem Arm, streckte den Kopf ins Abteil. »Darf ich?«

Aengus richtete sich auf. »Bitte, natürlich«, erwiderte er freundlich. »Wir müssen ohnehin gleich aussteigen.«

Die ungewöhnlich grünen Augen der Frau blitzten hinter ihrer goldenen Brille auf.

»Soso. Sie wollen also nach ...« Sie zögerte.

»Mistle End«, ergänzte sein Vater freundlich.

Die Frau machte noch immer keine Anstalten, das Abteil zu betreten. Sie nickte, auf ihren Lippen ein schmales Lächeln. »Ein sehr besonderer Ort«, sagte sie.

Aengus warf Cedrik einen begeisterten Blick zu. Dann wandte er sich wieder an die Frau. »Ach, wie schön. Sind Sie etwa von dort?«

Die Frau lachte. Es klang künstlich. »Gott bewahre, nein. Aber ich kenne den einen oder anderen ... Bewohner.« Sie musterte Cedrik aus schmalen Augen, der Hund auf ihrem Arm knurrte.

Cedrik war verblüfft. Was hatte der Hund denn? Als er spürte, wie der Zug abbremste, wandte er sich nervös an seinen Vater. »Dad, wir müssen ...«

Sein Vater sah erschrocken aus dem Fenster. »Oh, du hast recht. Dann mal los!«

Aengus wollte eben eine Bücherkiste aus der Gepäckablage heben, als sich die Frau erstaunlich geschickt in ihr Abteil schlängelte und seinen Vater am Handgelenk packte. »Was wollen Sie dort?«, fuhr sie ihn an. »Was haben Sie vor, an diesem Ort?«

Der Hund auf ihrem Arm kläffte laut.

Sein Vater sah Frau und Hund verwirrt an, riss sich aber nicht los. »Ich bin ... ich bin Lehrer und werde dort unterrichten.«

Die Frau löste ihren Griff, fixierte ihn aber weiter misstrauisch. Der Hund bellte noch immer.

Die Bremsen quietschten laut und Cedrik erschrak. Wir müssen aussteigen! Jetzt! »Dad, wir sind da!«

Aengus nickte ihm zu und schob die Frau sanft beiseite. »Sie verzeihen ...«, sagte er höflich, aber bestimmt und begann, die Bücherkisten aus dem Abteil zu wuchten.

Als sich Cedrik mit seinen Taschen an der grimmigen Frau und ihrem zähnefletschenden Möchtegern-Monster vorbeidrückte, bemerkte er ein schweres und reich verziertes Goldkreuz unter ihrem schwarzen Mantel.

Panische Schaffner und verrückte Nonnen. Sind die im Norden alle so? Willkommen am Ende der Welt.

Ein hastiger Pfiff, und Aengus konnte seinen Schal nur mit einem beherzten Ruck aus dem Griff der sich viel zu schnell schließenden Tür retten. Als der Zug in einer Wolke aus schwarzem Dieselruß und aufwirbelnden Schneeflocken wieder anfuhr, stellte Cedrik enttäuscht fest, dass sie die Einzigen waren, die an dem kleinen Bahnhof von Mistle End ausgestiegen waren. Es war anders, als er es erwartet hatte. Schlimmer.

Da standen sie im dichten Schneetreiben, und waren völlig allein. Zwei kleine Laternen beleuchteten die schmale und tief verschneite Plattform, ansonsten war kaum etwas zu erkennen. Ein paar kahle, verkümmerte Bäume, aber kein Haus, nichts.

Der Wind blies eiskalt und Cedrik warf seinem Vater einen fragenden Blick zu.

O’Connor wippte auf seinen Füßen vor und zurück, während er Cedrik durch den Wind zurief: »Es kommt sicher gleich jemand. Sie haben ja geschrieben, dass wir abgeholt werden.« Er konnte hören, wie sich sein Vater bemühte, seine Stimme zuversichtlich klingen zu lassen.

Aber niemand war da.

Cedrik kaute beunruhigt auf seiner Unterlippe und stapfte im Schnee auf und ab, um sich warm zu halten. Was für eine doofe Idee, mitten im Winter umzuziehen. Mit dem Zug! Die Kälte kroch unter seinen Parka und der immer stärker werdende Wind peitschte ihm den Schnee ins Gesicht. Ob irgendwo da draußen jetzt ein Wolf stand und sich bereits das Maul leckte? Vorstellen konnte er es sich durchaus. Und erstaunlicherweise machte es ihm keine Angst. Dafür war ihm viel zu kalt.

Nach weiteren zehn Minuten klang sein Vater nicht mehr so optimistisch. »Wenn sie nicht bald kommen, rufen wir einfach ein Taxi.«

Cedrik schaute sich um. Der ganze Bahnhof sah so alt aus, als wäre hier die Zeit einfach irgendwann stehen geblieben. Lange vor der Erfindung von Telefonzellen und Handymasten. Da blieb ihnen wohl nichts anderes übrig, als die Nacht am Bahnhof zu verbringen. Es schneite immer noch wie verrückt, und er fror inzwischen erbärmlich. Der nächste Zug fuhr wahrscheinlich erst morgen früh, aber wenigstens kamen sie dann wieder raus aus der Kälte. Wenn sie nicht vorher erfroren oder vom Wolf gefressen worden waren.

Ein freudiger Aufschrei seines Vaters schreckte ihn aus seinen düsteren Gedanken. »Da!«, verkündete er begeistert. »Da sind sie! Hab ich’s nicht gesagt?«

Tatsächlich erschienen etwas entfernt zwei Lichter auf einer Straße, ein Auto näherte sich durch die Dunkelheit dem Bahnhof.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Die Scheinwerfer bewegten sich nicht auf einer geraden Linie, sondern schlingerten und hüpften, sprangen mal hierhin, mal dorthin: Das Auto fuhr beängstigende Schlangenlinien.

Himmel! War der Fahrer etwa betrunken?

»Ähm, na ja«, stöhnte O’Connor, »vielleicht kommen die ja doch ...« Er schniefte. »Ich mein, die wollen sicher jemanden anderen ...« Er zog hörbar die Luft ein und riss die Hand vor den Mund.

Das Auto schleuderte, drehte sich einmal um die eigene Achse und fürchterlich quietschend schlitterte ein ebenso verbeulter wie verrosteter Land Rover Geländewagen auf den Bahnhofsvorplatz.

»Ach, du meine Güte!«

Der auberginefarbene Lack war an vielen Stellen abgeblättert, und als sich das Auto plötzlich in einem Schneehaufen festfuhr, löste sich ein Seitenspiegel und knallte scheppernd gegen den Kotflügel.

Die Beifahrertür sprang auf und eine in einen moosgrünen Mantel mit Pelzkragen gehüllte Frau stieg aus dem Fahrzeug. Als sie Cedrik und seinen Vater auf dem Bahnsteig entdeckte, winkte sie den beiden begeistert. »Willkommen! Willkommen!«, rief die Frau schon von Weitem und stapfte mit ihren hochhackigen Stiefeln durch den Schnee auf sie zu.

Cedrik war von ihrem Auftreten beeindruckt. Die Frau schien von innen zu leuchten.

»Willkommen in Mistle End! Ich bin Esmeralda Golden.« Ihre blauen Augen funkelten vor Freude, als sie O’Connor heftig die Hand schüttelte. Blonde Locken tanzten um ihr schmales Gesicht.

»Guten Abend! Ich bin Aengus O’Connor – und das hier ist Cedrik, mein Sohn!«

Esmeralda ergriff Cedriks Hand und schien tatsächlich erfreut. »Wie schön, Sie beide kennenzulernen!«

Die Fahrertür des Geländewagens öffnete sich und ein beleibter, älterer Mann mit Boxernase wuchtete sich schwerfällig aus dem Auto. Er trug einen abgewetzten Mantel, eine Schirmmütze und eine Nickelbrille mit zersprungenen Brillengläsern, die er sich mit dem Handrücken wieder zurück auf die Nase schob. »Verfluchtes Teufelsding!«, fluchte der Fahrer. »Was für eine verdammte Mistkarre!« Wütend knallte er die Autotür ins Schloss, doch anstatt einzurasten, sprang sie wieder auf. Der verärgerte Fahrer warf sich daraufhin so lange und heftig gegen die laut krachende Tür, bis es schnappte, und sie geschlossen blieb. »Geh doch endlich kaputt, du Biest!«

Esmeralda legte angestrengt eine Hand an ihre Schläfe. »Mr McKanaghan, also bitte! Die Gäste!« Sie verzog für einen kurzen Moment peinlich berührt ihr Gesicht und wandte sich dann wieder an Aengus und Cedrik. »Aber, hach, was sag ich denn, Gäste – Neuankömmlinge, Mitbürger, Freunde! Ja, Freunde werden wir sein! Unbedingt! Lassen Sie uns endlich Ihr Gepäck in das Auto räumen. Sie müssen ja erschöpft sein, von der langen Reise.« Ihr Ton wurde schärfer: »Mr McKanaghan, wären Sie so freundlich?«

Mr McKanaghan, der sich gerade mit einem löchrigen Taschentuch seine triefende Nase geputzt hatte, richtete sich sofort auf und antwortete: »Jawohl, Ma’am!«

Fehlte nur noch, dass er salutierte.

Er kam durch den Schnee auf sie zu und schüttelte Aengus und Cedrik die Hand. »Guten Abend, Mister. Hallo, mein Junge. Willkommen am kältesten Punkt südlich des Polarkreises! Na, dann wollen wir mal ...« Er packte eine der schweren Holzkisten und zerrte sie umständlich durch den Schnee Richtung Auto. Cedrik beeilte sich, ihm zu helfen.

Esmeralda richtete ihren Blick auf Aengus O’Connor und lächelte ihm entschuldigend zu. »Sie müssen wissen, Mr McKanaghan ist nicht nur die gute Seele unseres kleinen Ortes, er ist auch der Einzige, der ein solches Automobil fahren kann.«

O’Connor nickte. »Natürlich, ich verstehe!« Dann schien er zu stutzen. »Hat denn sonst niemand in Mistle End einen Führerschein?!«

Esmeralda antwortete mit einem merkwürdigen Kichern. »Nun, nicht für dieses ... Fortbewegungsmittel. Aber manchmal ist so ein Fahrzeug doch ganz hilfreich. Besonders, wenn es so viele Kisten und Koffer zu transportieren gibt.« Sie hob neugierig ihre Augenbrauen. »Was ist denn eigentlich ...«

»Bücher. Alles Bücher«, warf Cedrik ein und bückte sich nach der nächsten Kiste. »Sie müssen wissen, eigentlich ist mein Vater Wissenschaftler. Mythologe.«

Esmeralda nickte freundlich. »Mythologe, soso.« Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, dann zwinkerte sie Cedrik zu und meinte: »Wie aufregend!«

Wie aufregend?! Das ist immer die Reaktion der Leute, wenn sie eigentlich sagen wollen: Wie langweilig!

Als sie die Koffer und Kisten endlich alle verstaut hatten, quetschten sich Cedrik und sein Vater zwischen die zahlreichen Gepäckstücke auf die Rückbank des Wagens.

Mr McKanaghan versuchte bereits seit einigen Minuten erfolglos das Auto zu starten. Esmeralda, die wieder auf dem Beifahrersitz saß, wandte sich an O’Connor. »Wir freuen uns sehr, dass wir Sie für die Stelle bei uns gewinnen konnten. Sie haben ganz ausgezeichnete Referenzen.«

Sein Vater, der neue Lehrer, lächelte gequält und Cedrik spürte einen Stich in seinem Herzen.

»Wissen Sie, dass mein Vater ein königliches Institut geleitet hat, bevor er sich dazu entschlossen hat, Grundschullehrer zu werden?«, sagte er. Seine Stimme zitterte leicht.

O’Connor fiel seinem Sohn hastig ins Wort. »Cedrik, lass doch, bitte!«

Doch Esmeralda schien sich an Cedriks Bitterkeit nicht zu stören. »Natürlich weiß ich das. Und finde es sehr bemerkenswert.« Sie machte eine kleine Pause. »Und du? Glaubst du daran?«

»Woran?«

»Na, an diese wunderbaren Dinge, die dein Vater erforscht«, erklärte Esmeralda.

Cedrik runzelte die Stirn. »Sie meinen an so etwas wie Gnome, Trolle und Elfen?«

McKanaghan hatte es immer noch nicht geschafft, den Motor zu starten und fluchte leise vor sich hin.

»Ganz genau!«, sagte Esmeralda und warf Cedrik über die Schulter einen verschmitzten Blick zu.

»Nein. Schon lange nicht mehr«, erwiderte Cedrik. »Als ich noch kleiner war, vielleicht, ja, ein wenig. Aber jetzt ... Ich weiß nicht. Und Sie? Glauben Sie daran oder denken Sie wie die meisten, dass all diese Erscheinungen irgendwelche natürlichen Ursachen haben?«

Esmeralda lachte auf, hell und perlend. »Natürliche Ursachen? Oh, da magst du recht haben.«

O’Connor beugte sich auf seinem Sitz vor und schob sich so zwischen Cedrik und Esmeralda. »Ach, lassen wir das doch jetzt, Fabelwesen, Mythologie und all das. Meine Zeit im Museum ist vorbei«, sagte er, sichtlich um gute Laune bemüht. »Wissen Sie, worauf ich mich freue? Auf meinen neuen Job als Lehrer. Und auf die Kinder von Mistle End!«

»Und die Kinder auf Sie, mein Lieber!«, antwortete Esmeralda herzlich.

Endlich war es McKanaghan gelungen, das Auto zu starten. Der Motor heulte auf, und er wendete den Geländewagen auf dem kleinen Bahnhofsplatz. Es schien tatsächlich nur eine Straße vom Bahnhof wegzuführen, und dieser folgten sie nun, schneebedeckt und kurvig wie sie war, hoch in die Berge. Zu beiden Seiten säumten niedrige Mauern aus unbehauenen Felssteinen den Weg. Wie lange Finger tasteten die Autoscheinwerfer durch das Dunkel und warfen ihr Licht auf Abertausende Schneeflocken, die vor ihnen über die Straße wirbelten. Die Strecke stieg steil an, und wenn sich das Fahrzeug durch den immer höher liegenden Schnee kämpfte, jaulte der Motor laut auf.

»Beeindruckend, sehr beeindruckend!«, staunte O’Connor. »In London haben wir selten so einen Schneefall.«

»Das ist noch gar nichts!«, erwiderte McKanaghan. »Vorige Woche hatten wir hier so viel Schnee, ich sag Ihnen, der ging bis über –«

»Vorsicht!«

McKanaghan hatte sich mit den letzten Worten zu seinen Gästen auf der Rückbank umgedreht, und dabei das Fahrzeug mit einer unkontrollierten Bewegung des Lenkrades aus der Spur gerissen. Der Wagen geriet ins Schleudern und schoss direkt auf eine der steinernen Straßenbefestigungen zu.

Cedriks Herz machte einen Sprung und ihm stockte der Atem. Die Mauer!

Er klammerte sich mit beiden Händen an eine schwere Bücherkiste und verfluchte sich gleichzeitig, weil er nicht einmal versucht hatte, sich anzuschnallen.

Der Wagen schlingerte heftig, der Motor heulte auf, doch bevor das Auto mit voller Geschwindigkeit in das Gemäuer rasen konnte, gab es einen kräftigen Ruck, der Wagen machte einen gewaltigen Satz zur Seite – und war wieder in der richtigen Spur. Mr McKanaghan hatte keinen Finger gerührt, das Lenkrad sogar losgelassen. Da war sich Cedrik ganz sicher.

O’Connor hatte seine Hände in den Sitz vor ihm verkrallt und saß kreidebleich auf seinem Platz. »Ach du meine Güte!«

Mr McKanaghan dagegen schien von der ganzen Aktion völlig ungerührt. Die angsterfüllten Schreie seiner beiden Fahrgäste dagegen hatten ihn scheinbar verärgert. »Was habt ihr denn?«, empörte er sich und starrte Vater und Sohn im Rückspiegel böse an. »So ein Theater!«

Esmeralda, die das Schauspiel bisher mit größter Fassung ertragen hatte, fuhr McKanaghan wütend an: »Passen Sie doch auf! Müssen Sie uns so erschrecken?«

Der Getadelte brauste auf. »Was denn? Der Wagen ist doch ...«

»Mr McKanaghan, ich darf ja wohl bitten!«, unterbrach ihn Esmeralda scharf und wandte sich sofort, nun wieder liebenswürdig lächelnd, an Cedrik und seinen Vater. »Bitte verzeihen Sie den wilden Fahrstil unseres, ähem, lieben Mr McKanaghan, aber die gute Nachricht ist: Wir sind gleich da!«

Cedrik seufzte, O’Connor nickte, das bleiche Grau in seinem Gesicht war inzwischen einem leichten Grün gewichen, und McKanaghan kratzte sich verlegen unter seiner Schirmmütze. »Sorry, Ma’am.«

Ihr Weg hatte die kleine Gruppe im Land Rover auf ein Hochplateau geführt, das den Blick auf ein Tal freigab, an dessen Ende – umrahmt von sanft ansteigenden, tief verschneiten Hügeln – die Lichter einer kleinen Ortschaft aufleuchteten. Hier oben hatte der Himmel aufgeklart und der Mond zeigte sich hinter vorbeiziehenden Wolkenfetzen.

»Ist es das?«, fragte Cedrik.

»Mistle End«, erwiderte Esmeralda und nickte. »Ich bin mir sicher, es wird dir gefallen!«

Die Straße schraubte sich entlang schroffer Hänge tiefer in das Tal und führte in einen düsteren, laublosen Eichenwald, der das Dorf wieder vor ihnen verbarg.

Cedrik stieß sich den Kopf, als der Wagen durch ein unter dem Schnee verborgenes Schlagloch rumpelte. Esmeralda sog scharf die Luft ein, sagte aber kein Wort. Im fahlen Licht des Mondes sahen die Bäume seltsam verkümmert aus, wie vom Alter gebeugte Greise, die ihre langen, dürren Arme nach ihnen ausstreckten. Cedrik fühlte sich auf einmal wie ein Eindringling.

Unheimlich, dachte er, und bemerkte ein flackerndes Licht zwischen den Bäumen. Erstaunt verdrehte er den Kopf, um besser sehen zu können, was da hinter den Autofenstern an ihnen vorbeizog: Unter einer riesenhaften Krüppeleiche, auf einer kleinen Anhöhe mitten im Wald, standen eine Handvoll Männer und Frauen im Schnee und bildeten, Fackeln in der Hand, einen Kreis um einen Jungen. Über ihnen, im Geäst des kahlen Baumes, baumelten leere Flaschen und Knochen. Spiegelscherben schaukelten im Wind und warfen schaurige Blitze durch die Nacht. War das ein Vogel auf der Schulter des Jungen?!

Cedrik konnte nicht erkennen, was genau die Leute unter dem Baum dort taten, aber der Junge in der Mitte hob den Kopf und blickte in seine Richtung. Im Licht der Fackeln schienen seine Augen aufzuleuchten. Cedrik lief ein Schauer über den Rücken.

Sie fuhren um eine Kurve und er konnte die geisterhafte Szenerie nicht weiter beobachten.

Der Wald lichtete sich und vor ihnen öffnete sich der Talboden. Je näher sie dem Ort kamen, desto deutlicher zeichneten sich die schmalen Häuser mit ihren schneebedeckten Dächern und den verspielten Wasserspeiern im Mondlicht ab. Er war größer, als Cedrik erwartet hatte. Er sah kleine Türme und pittoreske Wetterfahnen, ein Fluss strömte aus der Stadt und schlängelte sich wie ein dunkles Band durch die sanft beschienene Ebene.

Das kleine Dorf war von einer mittelalterlichen, zinnenbewehrten Mauer umgeben, und als sie mit dem Auto durch ein düster wirkendes Tor einfuhren, hatte Cedrik das Gefühl, in eine Welt aus längst vergangenen Tagen einzutauchen. Und was aus der Ferne noch fremd, kalt und abweisend gewirkt hatte, empfing sie nun mit einer erstaunlichen Wärme, ja fast schon Festtagsstimmung. Der Schnee, der überall auf der Straße lag, glitzerte golden im Licht altmodisch wirkender Straßenlaternen. Die meisten Häuser des Dorfes waren aus dunklem Sandstein, schmal und hoch, im gotischen Stil erbaut. Sie wirkten mit ihren Treppengiebeln, Erkern und reich verzierten Fassaden auf fast magische Weise verwunschen. In fast allen Häusern brannte Licht, über so manchen Türen und Fensterrahmen konnte Cedrik Misteln oder Stechpalmenzweige erkennen. Wenn ihnen plötzlich eine Kutsche oder ein Pferdeschlitten entgegengekommen wäre, hätte Cedrik das wenig gewundert. Mr McKanaghan kurvte erstaunlich vorsichtig durch die immer enger werdenden Gassen, bis sie durch eine steinerne Toreinfahrt fuhren und auf einem von hohen Bäumen gefassten Innenhof stehen blieben.

»Da wären wir. Aberdeen Square 13. Die Schule von Mistle End.«

Das Schulgebäude an der Stirnseite des Platzes erinnerte Cedrik mit seinen spätmittelalterlichen Giebelfenstern, seinem mit Eisen beschlagenen Tor und den verzierten Schornsteinen an eine der berühmten Universitäten, in die er seinen Vater so oft hatte begleiten müssen.

Aber das hier war anders. Besser, irgendwie. Es gefiel ihm. Vielleicht lag es am Schnee. Oder an den Bergen und Wäldern.

»Das ist es. Hier werden Sie ab heute wohnen.«

Das Gebäude, auf das Esmeralda zeigte, war eigentlich ein kleiner Seitenflügel der Schule. Wie das Hauptgebäude war auch dieses Haus über und über mit froststarrem Efeu bedeckt. Trotzdem sah es einladend aus, mit den erleuchteten Fenstern.

»Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen«, sagte Esmeralda. »Wir haben für Sie in den Kaminen Feuer anzünden lassen.«

»Vielen Dank, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen«, antwortete Aengus.

Sie stiegen aus, und Esmeralda übergab Cedriks Vater einen schweren Eisenschlüssel. »Willkommen in Ihrem neuen Zuhause!«

Als sie endlich das ganze Gepäck aus dem Land Rover geladen und vor dem Haus im Schnee gestapelt hatten, reichte Aengus Esmeralda die Hand, um sich zu verabschieden.

Doch die zögerte – und lächelte dann vorsichtig. »Wenn Sie möchten, könnte ich Sie noch heute Abend dem Rat vorstellen. Aber ich nehme an, Sie sind zu erschöpft von der Reise?«

»Ganz und gar nicht!«, fiel ihr Aengus begeistert ins Wort. »Ich komme gerne mit.« Entschlossen wandte er sich an Cedrik. »Du hörst es selbst: Mich ruft die Pflicht. Aber du kannst ja schon einmal unsere Sachen ins Haus tragen, in Ordnung? Und such dir einfach das schönste Zimmer aus.«

»Was?! Aber ...«

»Bis später, Cedrik! Ich bin gleich wieder zurück«, unterbrach ihn Aengus bestimmt.

Cedrik schloss enttäuscht den Mund. Wenn sein Dad so war, konnte ihn niemand aufhalten.

Aengus stieg mit Esmeralda zurück in den Wagen, winkte ihm fröhlich zum Abschied und McKanaghan startete den Motor. Das Auto wendete und schlingerte über das schneebedeckte Kopfsteinpflaster Richtung Dorfmitte. Nicht ohne mit einem kleinen Satz einer fauchenden Katze auszuweichen, die vor dem Fahrzeug über die Straße gehuscht war.

Cedrik schüttelte verwirrt den Kopf. Autos springen nicht. Er gähnte und rieb sich die Augen. Bestimmt hatte er sich das nur eingebildet. Kein Wunder, er war hundemüde.

DAS HAUS AN DER MAUER

Erschöpft stand er vor dem Gepäck mit den ganzen Kisten und spürte, wie die Wut in ihm hochkochte. Kaum gab es wirklich mal etwas zu tun, war sein Vater auf wundersame Weise verschwunden, und er konnte sehen, wie er den ganzen Kram in ihr neues Haus brachte.

Mit einem Mal lief Cedrik ein Schauer über den Rücken. Wie im Auto, als er das Licht zwischen Bäumen gesehen hatte. Ganz schwach und doch spürte er es. Jemand beobachtete ihn. Blitzschnell drehte er sich um, aber niemand war zu sehen.

Er verharrte kurz, lauernd, aber außer der kleinen rot getigerten Katze, die mit aufgerecktem Schwanz durch den Schnee stakste, war keine Menschenseele zu entdecken. Da war nichts ... außer einem nagenden Loch in seinem Bauch. Ob es im Haus irgendetwas zu essen gab?

Jetzt, wo er allein davorstand, fand er das Gebäude doch irgendwie unheimlich. Der Efeu wirkte fast schon gefräßig, wie er da über die gesamte Vorderfront des Hauses wucherte. Winzige Eiszapfen hingen an den Blättern und erinnerten Cedrik an spitze Zähne. Wie eine fleischfressende Pflanze.

Er schüttelte sich und schaute nach oben. Hinter den Fenstern im ersten Stock konnte er den flackernden Schein eines Kaminfeuers erahnen, und plötzlich merkte er wieder, wie kalt ihm war.

Entschlossen bückte er sich, um die erste schwere Kiste hochzuheben, als wie aus dem Nichts ein Junge vor ihm stand. Cedrik prallte zurück.

Der Typ fixierte ihn, ein spöttisches Grinsen auf den Lippen. »Du bist also der Neue!«

Breitbeinig, mit einem Mantel und einer Fellmütze auf den aschblonden Haaren, hatte er sich zwischen Cedrik und das Haus gestellt. Er musterte ihn aus schmalen, dunklen Augen. Cedrik lächelte den fremden Jungen freundlich an und streckte ihm die Hand entgegen. »Hi! Ich bin Cedrik.«

Der Junge ignorierte die Geste und starrte ihn weiter an.

Cedrik zuckte mit den Schultern und begann, eine der schweren Kisten mit den Büchern seines Vaters durch den Schnee Richtung Haus zu zerren.

Sein unbekannter Besucher versperrte ihm den Weg. »Du kannst dir die Mühen sparen. Ihr haut eh gleich wieder ab.«

Cedrik kannte diese Typen vom Schulhof, Jungs wie dieser hier suchten Streit. Und sie suchten ihn nur, wenn sie sich ganz sicher waren, dass ihr Opfer keine Chance gegen sie hatte. Er beschloss, den Blödmann einfach zu ignorieren, und zog die Holzkiste in einem Bogen um ihn herum.

Es schien, als hätte sein Gegenüber nur auf diese Gelegenheit gewartet. Der Junge machte einen Ausfallschritt und keilte seinen Fuß geschickt vor der Kiste in den eisigen Schnee: Der heftige Ruck kugelte Cedrik fast den Arm aus. Er strauchelte und fiel auf die Knie.

»Was soll das, du Blödmann?!«

»Ups! Bist du hingefallen?«

Stöhnend richtete sich Cedrik auf und rieb sich die schmerzende Schulter. »Was ist dein Problem!?«

Der andere war zwar fast einen Kopf kleiner als er, funkelte ihn aber trotzdem bösartig an.

»Musst du die schweren Sachen ganz allein durch den Schnee schleppen?« Er grinste fies. »Du Armer! Wie un–«

Weiter kam er nicht. Ein Schneeball zischte knapp an Cedrik vorbei und knallte dem anderen ins Gesicht. Die Wucht des Aufpralls ließ ihn rückwärts in den Schnee stolpern.

Erstaunt zog Cedrik den Kopf ein und sah sich um. Plötzlich war ein weiterer Junge zwischen den Schneebergen auf dem Schulplatz aufgetaucht und schaute belustigt auf den am Boden sitzenden Unruhestifter.

Der spuckte Schnee. »Waf pfum Pfeufel ...«

»Weißt du, Duncan, du hättest ihn in einfach in Ruhe lassen können.« Der Schneeball-Schütze trug einen grünen Mantel und spielte lässig mit einem zweiten Schneeball, den er von einer Hand in die andere hüpfen lies. Ein Mädchen trat neben ihn, ebenfalls in einen dunkelgrünen Mantel gehüllt. Wie der Junge hatte sie hellblonde Locken, ein Gesicht voller Sommersprossen und leuchtend blaue Augen.

Wo kam die denn auf einmal her?!

»Und sag nicht, wir hätten dich nicht gewarnt«, sagte sie und betrachtete den im Schnee sitzenden Duncan verächtlich. »Das hast du davon, wenn du Leute ärgerst.« Sie nickte trotzig, aber zufrieden und musterte Cedrik neugierig.

Duncan spuckte ein weiteres Mal aus, rappelte sich auf und klopfte sich wütend den Schnee vom Mantel. »Ihr natürlich, wer sonst!« Er zog eine Grimasse und es sah fast so aus, als fletschte er seine Zähne. »Das werdet ihr noch bereuen!«

Der Junge mit dem Schneeball schüttelte verächtlich den Kopf. »Warum gehst du nicht einfach und langweilst jemand anderen?«

Cedrik spürte den Hass zwischen den beiden und er hätte sich nicht gewundert, wenn sich die zwei jeden Moment an die Gurgel gesprungen wären. Doch der Blondschopf machte eine schnelle Bewegung, so als wolle er den zweiten Schneeball schleudern – und Duncan fiel erschrocken zurück in den Schnee.

Der Junge und das Mädchen lachten auf, und auch Cedrik konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

Als Duncan merkte, wie lächerlich er sich gemacht hatte, sprang er auf und stapfte schimpfend durch den Schnee davon.

Der Junge kicherte zufrieden, und das Mädchen wandte sich an Cedrik. Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. »Cedrik, stimmt’s? Hi, ich bin Emily!«

»Woher kennst du meinen Namen?«, fragte Cedrik verlegen und schüttelte ihr die Hand.

»Esmeralda Golden ist unsere Mutter!«

Die Mäntel, die Augen, dachte Cedrik.

Der Junge schleuderte seinen zweiten Schneeball nach einem Raben, der auf dem Dach der Schule saß und empört krächzend davonflog. »Außerdem reden wir schon seit Tagen von nichts anderem als von eurer Ankunft. Dürfen wir dir helfen?«

Cedrik lachte. »Habt ihr das nicht gerade? Aber sicher, gerne!«

»Dann lass mich mal!« Lässig bückte sich der Junge und hob die schwere Kiste mühelos mit einer Hand hoch. »Ich heiße übrigens Elliot!«

Cedrik stutzte. Ihm war es kaum gelungen, die Holzkiste hinter sich herzuzerren, geschweige denn, sie so lässig hochzuheben.

Emily hob nun ihrerseits die schwere Tasche mit den Schuhen hoch. Einfach so. Oder war die Tasche etwa gerade in ihre Hand gesprungen?! Sie drehte sich zu ihm. »Weißt du schon, wo die Sachen hinkommen?«

»Wie macht ihr das? Das Zeug ist doch irre schwer?!«

»Alles eine Frage der Übung.« Elliot lächelte breit. »Und? Welches Zimmer bekommst du denn jetzt?«

Cedrik war viel zu aufgedreht, um sich über die ungewöhnlichen Kräfte seiner beiden Beschützer weiter Gedanken zu machen. Er grinste zurück. »Ich darf mir eines aussuchen!«

»Na dann los!«, rief Emily und lief hinter Elliot die Stufen zur Eingangstür hinauf.

Noch bevor Cedrik den Schlüssel aus seiner Jackentasche kramen konnte, öffnete Elliot die Tür, die leise knarzend aufschwang. Als er Cedriks Erstaunen bemerkte, erwiderte Elliot unschuldig: »Wir schließen hier eigentlich nie ab.«

Sie betraten das Haus und Cedrik schaute sich um. Der lang gestreckte Eingangsraum hatte eine hölzerne, von geschnitzten Bögen gestützte Decke und auf beiden Seiten führten unterschiedlich steile Holztreppen nach oben. Auf einem Vorsprung gegenüber der Eingangstür tickte vielstimmig ein mechanisches Chronometer aus angelaufenem Silber. Cedrik erkannte darauf nicht nur eine prächtige Uhr, sondern auch die unterschiedlichsten Zeiger für Mondphasen, das aktuelle Sternzeichen und eine Scheibe, die mithilfe von gravierten Symbolen das zu erwartende Wetter anzeigte. Er entdeckte die Zeichen für Sonne, Wolken, Regen und Schnee. Nur das Symbol mit dem tanzenden Knochenmann konnte er sich nicht erklären.

»Ich vermute, hier wirst du nicht schlafen«, sagte Elliot und verschwand durch eine schmale Tür unterhalb des Chronometers. Seine Stimme klang dumpf aus dem dahinterliegenden Zimmer. »Obwohl, vielleicht wäre es doch nicht so schlecht. Wäre quasi direkt an der Quelle.«

Neugierig folgte ihm Cedrik drei kleine Steinstufen hinab in die Küche, einem ovalen Raum mit Spitzbogenfenstern und einem schweren Holztisch in der Mitte. Überall hingen Küchenwerkzeuge an geschmiedeten Haken, die gemauerte Feuerstelle war einfach riesig und nahm fast eine ganze Seite ein.

»Wow, haben die hier für die ganze Ortschaft gekocht?«

Elliot zuckte mit den Schultern, bückte sich und öffnete eine kleine Holzluke, die im Steinboden eingelassen war und den Zugang zu einer Art Speisekammer bildete. »Schade. Leer.«

Emily polterte mit Cedriks Tasche bereits die Treppe nach oben. »Wo bleibt ihr denn? Hier geht’s lang!«

Sie stiegen ihr nach und erkundeten gemeinsam das Haus, ein Zimmer nach dem anderen. Die oberen Stockwerke waren mit dunklen Holztäfelungen versehen und dicke Dielen knarzten unter ihren Füßen. Kein Raum lag auf der gleichen Ebene. Wann immer sie von einem Zimmer in das nächste wechselten, mussten sie ein paar Stufen nach oben oder unten steigen. Überall standen Antiquitäten, die meisten aus hellem Holz und mit schwarzen Ornamenten versehen. In einem der Räume fanden sich ringsum leere Bücherregale.

Cedrik dachte an die Bücherkisten in der Eingangshalle und schmunzelte.

Eine weitere Treppe brachte sie in eine Kammer, die sich deutlich vom Rest des Hauses abhob: Während die anderen Zimmer mit Bildern oder Wandteppichen geschmückt waren, auf denen sich Landschaft und Leben der schottischen Highlands widerspiegelten, war dieses Zimmer offensichtlich dem Meer gewidmet. An den dunkelblauen Wänden hingen alte Ölgemälde von Schiffen, auf dem Kaminsims stand ein fein gearbeitetes Modell eines Dreimasters, so liebevoll und detailliert ausgearbeitet, dass sich Cedrik gut vorstellen konnte, wie winzige Seeleute in die Masten kletterten, um die Segel zu hissen.

Ein schwerer Teppich dämpfte ihre Schritte und zeigte eine Unterwasserwelt voller Nixen und Wassermänner, die ... Erschrocken sprang Cedrik zurück. Der Teppich bewegte sich!

Cedrik blinzelte. Hatte es für einen kurzen Moment nicht so gewirkt, als hätte der Wassermann gewunken? Und sein Bart sah aus, als würde er in den Wellen hin und her treiben! Er schaute noch einmal genauer hin, aber jetzt schien alles ganz normal. Ein stinknormaler Teppich. Er prustete leise.

Als Emily das Geräusch hörte, wirbelte sie herum und musterte ihn erstaunt. »Gefällt dir euer neues Haus nicht?«

Er schluckte. Das hier war nicht irgendein Haus, sondern ihr neues Zuhause. Cedrik musste wieder an ihre alte, winzige Wohnung in London denken, knappe zweieinhalb Zimmer für ihn und seinen Vater – und nun dieses Haus. Es erschien ihm so riesig und so anders als alles, was er kannte. Wahrscheinlich gab es einen Haken bei der Sache.

»Nun sag schon! Nicht schlecht, oder?«, fragte Elliot ungeduldig.

Cedrik strich mit seiner Hand über die glänzende Rückenlehne eines Ledersessels und zögerte. »Das Haus ist wirklich ... alt. Äh, ich mein, mit den ganzen Antiquitäten, und so. Als wär’s ein Museum.«

»Und das gefällt dir nicht«, stellte Emily nüchtern fest.

Elliot hob erstaunt seine Augenbrauen.

»Doch, doch, es ist wunderschön!«, beeilte sich Cedrik zu versichern und meinte, was er sagte. Er fand es wunderbar. Und was ihm am besten gefiel, war, dass tatsächlich in fast jedem Zimmer freundlich knisternde Feuer in den offenen, reich verzierten Kaminen brannten. Die flackernden Flammen und die behagliche Wärme weckten in Cedrik sofort ein Gefühl von Geborgenheit. »Dieses Haus ist echt der Wahnsinn!«

Elliot zeigte lässig auf die letzte Treppe nach oben. »Ich möchte wetten, da oben wird’s noch besser.«

Er hatte recht. Das Zimmer unterm Dach, für das sich Cedrik letzten Endes entschied, hatte nicht nur ein großzügiges Himmelbett, sondern auch eine schmale Wendeltreppe, die in eine darüber gelegene, winzige, achteckige Turmkammer führte. Dort gab es einen gemütlichen Ohrensessel und ein schweres Messingfernrohr, das auf einem hölzernen Dreibein stand. Halbrunde Fenster ringsum erlaubten eine weite Sicht über die Dächer und auf die nächtlichen Highlands. Hier verstaute er all seine Bücher, seine Zeichnungen und Comics. Emily half ihm dabei, während sich Elliot kurz entschlossen daranmachte, die restlichen Sachen nach oben zu tragen.

Neugierig sah Cedrik durch das Fernrohr und war erstaunt, wie gut er im hellen Mondlicht sogar einzelne Bäume auf dem gegenüberliegenden Berghang erkennen konnte. Er folgte mit dem Fernrohr der Straße und fand den Wald mit den verkrüppelten Steineichen. Von der seltsamen Gruppe mit den Fackeln aber war keine Spur zu entdecken. Er richtete das Messingrohr höher, auf den Mond, und bewunderte die Krater und Kometeneinschläge auf dessen leuchtender Oberfläche, bis sich ein riesenhaftes, blaues Auge über den Himmelskörper schob und er erschrocken zurückzuckte.

Emily lachte und zog das Fernrohr zu sich heran. »Schau da, am Ende eures Daches, das ist die Dorfmauer. Tagsüber hast du hier eine wunderbare Aussicht auf die umliegenden Wälder und Berge. Ich wette, mit dem Fernrohr kannst du sogar Wildtiere beobachten. Hier gibt es viele Hirsche.«

Cedrik wollte gerade etwas erwidern, als Elliot im Zimmer unter ihnen mit einem dumpfen Knall den letzten Koffer auf den Boden fallen ließ.

»Fertig!«

Emily sprang sofort die Treppe nach unten, Cedrik hinterher.

»Mensch, dein Dad liest gerne, was? Das sind eine Menge Bücher.« Lässig zog sich Elliot seine Handschuhe aus.

Cedrik nickte ernst. »Wenn ihr mir nicht geholfen hättet ...«

»Nicht der Rede wert!«, sagte Elliot und wischte Cedriks Bemerkung bescheiden beiseite.

Seine beiden Besucher wickelten sich aus ihren Schals, zogen ihre Mäntel aus und warfen sich in zwei kleine Sessel vor dem Kamin. Sie lächelten ihn an. Erst jetzt fiel Cedrik auf, wie sehr sich die beiden ähnelten.

Emily schmunzelte. »Elliot ist mein kleiner Bruder!«

»Aber ich bin größer!«, warf Elliot ein.

»Woher wusstet ihr, was ich gerade denke?«, fragte Cedrik erstaunt.

»Das ist immer die erste Frage, wenn uns die Leute so wie du gerade ansehen!«, erklärte Emily.

Die Ähnlichkeit der Geschwister Golden war wirklich unverkennbar.

»Ich bin froh, dass ich euch getroffen habe. Ich dachte schon, ihr seid hier alle so wie dieser Duncan von vorhin. Oder der alte Mr McKanaghan.«

Elliot kicherte. »Ach, der ... Weißt du, dass er früher sein Geld als Leichenwagenfahrer verdient hat?«

»Na ja, das passt zum Fahrstil«, erwiderte Cedrik trocken.

Emily und Elliot prusteten los.

Elliot sprang auf. »Argh, mein Magen knurrt. Ich könnte ein ganzes Blech Kekse verdrücken. Mit dem Blech!«

Cedrik schüttelte lachend den Kopf. »Ich habe auch Hunger. Aber ich glaube nicht, dass wir etwas dahaben.«

»Aber wir!« Emily zauberte aus ihrer Manteltasche ein kleines, in kariertes Tuch eingeschlagenes Päckchen hervor und verkündete: »Unsere Eltern haben die Bäckerei hier im Ort.« Sie wickelte das Stofftuch auseinander und zum Vorschein kamen duftende Kekse. »Bitte, bedien dich!«

Elliot schnappte sich sofort einen, schob ihn sich ganz in den Mund und erklärte schmatzend: »Nischt gud! Voll äääklich! Ööörch!« Er zog eine Grimasse, als müsse er sich gleich übergeben, verschluckte sich an einem Brösel und musste gleichzeitig husten wie lachen und steckte Cedrik damit an.

Emily verdrehte die Augen und hielt Cedrik das aufgeschlagene Tuch mit dem Gebäck hin. »Das ist Shortbread, schottisches Buttergebäck. Mit Karamell. Nimm dir lieber schnell, bevor Elliot dir alle wegschnappt!«

Cedrik griff dankbar zu und die nächsten Minuten herrschte zufriedenes Schweigen, nur unterbrochen von gelegentlichem Schmatzen. Die Kekse waren weich mit knusprigen Stückchen und schmeckten Cedrik sehr. Im Kamin knackte ein Holzscheit und Funken wirbelten Richtung Schornstein. Cedrik lächelte.

Da saß er nun, in seinem ersten, richtig eigenen Zimmer, aß mit den beiden Geschwistern schottisches Shortbread und hatte immer mehr das Gefühl, dass es ihm in Mistle End vielleicht doch besser gefallen könnte, als er es noch am Morgen erwartet hatte.

Cedrik biss gerade in seinen letzten Keks, als Elliot ihn mit gerunzelter Stirn anstarrte. Verwirrt hielt Cedrik inne. »Was ist los?«, fragte er unsicher.

Emily flüsterte: »Da sitzt eine riesige Spinne auf deinem Kopf.«

Cedrik machte leise »Oh!«, stopfte sich den restlichen Keks in den Mund und griff behutsam nach dem Tier. Vorsichtig setzte er die Spinne auf den Boden.

Emily kräuselte amüsiert die Nase, als sie sah, wie das Krabbeltier in einer Bodenritze unter dem Bett verschwand.

»Findest du die nicht eklig?«, fragte Elliot ungläubig.

Cedrik grinste und zuckte verlegen mit den Schultern. Er mochte Tiere. Und die Tiere ihn.

Emily nickte fröhlich, dann machte sie plötzlich ihm und ihrem Bruder ein Zeichen, still zu sein. Sie schloss die Augen und verharrte völlig regungslos. Dann lächelte sie. »Dein Vater ist zurück.«

Tatsächlich hörte auch Cedrik fast im gleichen Augenblick, wie der Wagen draußen vor dem Haus knirschend im Schnee stehen blieb. Er ging ans Fenster und konnte sehen, wie sein Vater aus dem klapprigen Land Rover stieg. Die Stimmen waren durch das dünne Glas gut zu hören.

»Herzlichen Dank, Mr McKangahanagan ... äh, Mr Kana... nun ja, bis morgen. Auf Wiedersehen und gute Nacht!«

»Gute Nacht, Mr O’Connor!« McKanaghan kurbelte das Fenster nach oben, wendete das Auto und fuhr wieder vom Hof. Aengus entdeckte Cedrik und winkte freudig nach oben.

Emily und Elliot standen auf.

»Wir müssen jetzt sowieso nach Hause.«

»Schon?«, sagte Cedrik enttäuscht. Dann fiel ihm ein, wie spät es bereits war. »Äh, klar! Danke euch noch mal.« Unsicher stocherte er mit dem Schürhaken im Kamin herum. »Was macht ihr denn mor–«

»Na, dir Mistle End zeigen!«, unterbrach ihn Elliot gelassen.

Emily boxte ihm auf den Arm. »Glaubst du, wir lassen uns das entgehen?!«

Cedrik rieb sich grinsend die schmerzende Stelle.

Aengus, noch immer im Mantel und mit Schnee an den Stiefeln, betrat das Zimmer. »Oh, hallo, ihr drei! Wie ich sehe, hast du schon Freunde gefunden! Wie schön, wie schön!«

Cedrik verdrehte mit gespielter Empörung die Augen. »Dad, du machst alles nass!«

Aengus hastete zurück ins Erdgeschoss, während Emily und Elliot kichernd in ihre Mäntel schlüpften.

Nachdem sich die beiden Geschwister verabschiedet hatten, zeigte Cedrik seinem Vater ihr neues Haus. Aengus war begeistert und berichtete, wie glücklich die Ratsmitglieder darüber gewesen waren, endlich wieder einen Lehrer für ihre Kleinsten gefunden zu haben. »Stell dir vor, die Stelle war schon seit zwei Jahren unbesetzt. Es war wohl nicht ganz einfach, einen passenden Bewerber zu finden«, sagte er. »Ach, Cedrik, ich bin mir sicher, es wird herrlich hier. Aber jetzt ab ins Bett, es ist ja schon nach Mitternacht.« Er nahm Cedrik kurz in den Arm und drückte ihn fest. »Gute Nacht, mein Großer!«

Cedrik gab sich keine Mühe, seine Freude über die gelungene Ankunft zu verstecken. »Gute Nacht, Dad!«

Als er sich wenig später auf sein neues Himmelbett plumpsen ließ, schloss Cedrik mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung die Augen. Seine Glieder schmerzten vom Kistenschleppen, und er freute sich, wie weich Matratze und Decke waren. Er gähnte. Mit ein bisschen Glück konnte das hier vielleicht wirklich ein neues Zuhause für sie werden. Mistle End und das Haus waren schräg, aber irgendwie auch ... besonders.

Genau wie Elliot und Emily. Ein Lächeln breitete sich in seinem Gesicht aus. Jetzt musste er nur noch hoffen, dass ihn die Vögel fanden. Sie waren bisher immer wiedergekommen, Spatzen, Amseln, manchmal sogar Möwen oder Krähen. Nicht täglich, aber doch von solcher Regelmäßigkeit, dass sie irgendwie zu seinem Leben dazugehörten. Und hier, in den Bergen, gab es ganz bestimmt viele, die ihn morgens an seinem Turmfenster besuchen konnten. Bisher hatte er niemandem davon erzählt, aber mit Elliot und Emily würde er vielleicht eines Tages sein Geheimnis teilen.

Im Kamin knackte das Feuer. Er schloss die Augen, sog den Duft des brennenden Holzes ein und war kurz darauf eingeschlafen.

DER BESUCHER AUF DEM DACH

Irgendetwas stimmte nicht. Cedrik hatte das Gefühl, erst vor wenigen Sekunden die Augen geschlossen zu haben, als er von einem seltsamen Geräusch aus dem Schlaf gerissen wurde.

Er war mit einem Schlag hellwach. Ganz deutlich hatte er es gehört. Ein Scharren, nein, eher ein Tapsen. Das waren keine Vögel, das waren schwere Schritte. Oben, auf dem Dach. Oder im Turmzimmer? Da! Noch einmal!

Cedrik schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett. Sein Herz klopfte bis zum Hals. In seinem Zimmer war es dunkel, aber hinter den Vorhängen konnte er das helle Licht des Mondes erahnen. So leise er konnte, stieg er die Wendeltreppe nach oben. Vorsichtig schielte er über den Rand der letzten Stufe, doch soweit er es erkennen konnte, war die Turmkammer außer dem Stuhl, dem Fernglas und seinen Büchern leer. Wieder hörte er das Geräusch. Das Scharren kam vom Dach!