Die Clique - Brigitte Blobel - E-Book

Die Clique E-Book

Brigitte Blobel

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Beschreibung

Lara ist raus aus der Clique. Ihrem Tagebuch vertraut sie an, wie alles begonnen hat - mit ihrer großen Liebe Carus, ihrer Freundin Sonja und der Clique. Wie schön es war, alles gemeinsam zu machen, einfach dazuzugehören. Wie es dann irgendwann anfing mit Bier und Rotwein … und weiterging mit kleinen bunten Pillen. Und wie schnell auf einmal klar war: Wer nicht mitmacht, ist draußen!

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Brigitte Blobel

Die Clique

Wenn die Gruppe Druck macht

Ebenfalls von Brigitte Blobel als Arena-Taschenbuch erschienen (Auswahl): Herzsprung. Wenn Liebe missbraucht wird (Band 2774)Jeansgröße 0. Kein Gramm zu viel (Band 2772) Alessas Schuld. Die Geschichte eines Amoklaufs (Band 2766) Rote Linien. Ritzen bis aufs Blut (Band 2733) Liebe wie die Hölle. Bedroht von einem Stalker (Band 2734) Meine schöne Schwester. Der Weg in die Magersucht (Band 2735) Eine Mutter zu viel. Adoptiert wider Wissen (Band 2745) Getrennte Wege. Wenn eine Familie zerbricht (Band 2755) Liebe passiert (Band 50112) Einfach nur glücklich (Band 2289) Drama Princess. Topmodel um jeden Preis (Band 50177) Shoppingfalle (Band 50211) Party Girl (Band 50291) Blind date. Wenn Liebe sehen lässt (50385)

 

 

 

Brigitte Blobel,1942 geboren, studierte Politik und Theaterwissenschaft. Heute arbeitet sie als erfolgreiche Journalistin und schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen sowie Romane für Erwachsene und Jugendliche, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie ist eine der beliebtesten deutschen Autorinnen.

Brigitte Blobel ist zweifellos eine der besten deutschenJugendbuchautorinnen in Deutschland. WESTFÄLISCHE NACHRICHTEN

 

Für Paula Lilli

Informationen zu Unterrichtsmaterialien unter www.arena-klassenlektuere.de

1. Auflage als limitierte Sonderausgabe im Arena-Taschenbuch 2013 © 2002 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung und -typografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg, unter Verwendung eines Fotos von Adamsmith / Superstock ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80360-9

www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

1. Kapitel

Ich möchte als Fisch wiedergeboren werden. Einer von diesen Fischen, die im warmen Meer schwimmen, Indischer Ozean oder so. Ich möchte vor einer Insel an einem Riff leben, wo es bunte Korallen gibt und ganz viele andere Fische, die sich alle von Algen und Plankton ernähren und den winzigen kleinen Krebsen. Winzige sandfarbene Krebse, die nur dazu da sind, von Fischen gefressen zu werden. Auch komisch, wenn du als Futter zur Welt kommst. Hoffentlich denken die Krebse nicht darüber nach. Wer weiß, vielleicht bilden selbst diese minikleinen Krebse Familien und große Lebensgemeinschaften, so was wie Dörfer oder Städte. Ich hab keine Ahnung.

Aber darauf würde ich auch keine Rücksicht nehmen. Das könnte ich gar nicht, wenn ich ein bunter Fisch wäre, ein Korallenfisch, der am Korallenriff lebt. Es gibt Fische, die sind vollkommen königsblau, haben silberne Flossen und rote Köpfe. Oder sind gelb mit breiten Mäulern und durchsichtigen Augen. Es gibt breite Flossen und schmale. Schnelle und langsame, schlanke und dicke Fische. Ich wäre ein schlanker, schöner Fisch mit großen Augen und einem weichen Maul. Vielleicht würde ich doch nur Algen fressen und keine Krebse. Ich glaube, ich möchte ein vegetarischer Fisch sein, wenn ich wieder auf die Welt komme. Ein friedlicher Fisch, der niemandem etwas tut.

Hoffentlich werden Fische wie ich nicht sofort von irgendwelchen Barrakudas oder Haien gefressen, weil wir so schön sind oder so selten oder einfach nur, weil wir uns nicht so gut verstecken können. Es gibt Fische, die haben genau die gleiche Farbe wie die Korallen, eine Tarnfarbe, sie können sich also zwischen den Korallen verstecken und warten, wenn ein Killerfisch vorbeischwimmt. Der sieht sie einfach nicht.

Das wäre auch schön, wenn man in seiner Umgebung so verschwinden könnte, dass man gar nicht auffiele, aber trotzdem für sich irgendwie einzigartig und besonders wäre.

Aber wahrscheinlich komme ich doch bloß als Scholle oder Dorsch auf die Welt und muss in der kalten Ostsee herumschwimmen und werde von blöden Fischern in ihren Gummilatzhosen, die bis unter die Achseln gehen, gejagt. Egal. Gegen das kalte Wasser hat man dann eben die Fettschicht, da macht einem das nichts aus. Als Scholle oder Dorsch weiß ich ja auch nichts von den schönen türkisfarbenen Buchten der Karibischen Inseln. Als Fisch bin ich zufrieden, so wie ich bin, weil ich perfekt bin. Niemand erwartet von mir etwas anderes als das, was ich bin: ein Korallenfisch, der herumschwimmt, sich von Algen ernährt, sich zwischen Korallen versteckt, mit anderen Korallenfischen spielt.

Oder nein, ich fang noch mal an.

Ich möchte als Fisch wiedergeboren werden, weil Fische stumm sind. Weil sie in der Stille leben, schwerelos, weil sie, wenn ihnen eine Gegend nicht gefällt, einfach weiterschwimmen können in die nächste Bucht oder weit hinaus in den Ozean, wo sie keiner kennt.

Ich glaube, dass ein Fisch das glücklichste Wesen überhaupt ist. Delfine sind ja eigentlich keine Fische, weil sie Säugetiere sind, aber sie leben im Meer, tummeln sich herum, tauchen manchmal auf und dann sieht es aus, als würden sie lächeln. Das liegt natürlich nur an ihrem Maul, das so nach oben gebogen ist. Und wir Menschen beurteilen ja alle Wesen nach ihrer Ähnlichkeit mit uns. Es heißt, dass Gott uns nach seinem Ebenbilde gemacht hat. Also, dass er uns Menschen ähnlich ist. Aber sind wir Gott immer noch ähnlich? Ich habe da meine Zweifel.

Zu viel ist schiefgelaufen und noch mehr wird schieflaufen, wenn wir so weitermachen auf dieser Welt.

Manchmal wünschte ich, am Himmel würde so ein großes rot-weißes Schild auftauchen, auf dem STOPP steht.

Bis hierhin und nicht weiter! Hört auf! Besinnt euch!

Solche Sachen gehen mir durch den Kopf und manchmal hab ich davon Albträume und deshalb sitze ich jetzt am Computer und versuche, das in Worte zu fassen, was in mir vorgeht.

Versuche, meine Erlebnisse irgendwie in den Griff zu bekommen, indem ich sie aufschreibe. Vielleicht versteh ich dann alles besser, am Ende.

Eine Weile bin ich herumgelaufen wie eine Blinde. Als hätte ich mir selber ein schwarzes, undurchdringliches Tuch über die Augen gebunden. Ich wollte einfach nicht sehen. Aber ich wollte auch nichts hören. Man nennt das, glaube ich: verdrängen.

Es gibt Augenblicke im Leben, da entscheidet sich der Weg für die nächsten Monate, Jahre, vielleicht auch für das ganze Leben. Aber man wird ja nicht gewarnt. Man weiß nicht, dass zum Beispiel dieser Augenblick, als die Clique mich unter Druck gesetzt hat, damals, in der S-Bahn nach Friedrichshain, der Wendepunkt für mich war.

Eigentlich ein normaler Tag wie jeder andere. Eigentlich ein schöner Tag. Ich gondelte mit meiner Clique, meinen Freunden, mit der S-Bahn durch Berlin. Es war der Tag, an dem Madonna in die Stadt kam und alles auf den Beinen war. In der Luft Musik. So ein Beat-Rhythmus.

Aber ich bin schon mitten in der Geschichte. Und dabei wollte ich es doch machen wie ein Profi. Ein richtiger Anfang. Man muss richtig anfangen.

Also, noch einmal:

Ich bin Lara Weisskamp, vierzehn Jahre alt und besuche seit zwei Jahren das Helene-Lange-Gymnasium in Berlin. Ich habe Fotos von mir als Baby gesehen, die Bilder von der Taufe, nein, stimmt gar nicht, von der Taufe gibt es ein Video, mein Papa rannte, als ich klein war, immer nur mit der Videokamera herum. Lara, dreh dich mal um, lächel mal. Lara, steh mal auf, geh mal rüber da zu der Schaukel, nein, nicht so hastig, langsame Bewegungen und jetzt zu mir schauen, nein, nicht blinzeln, mach die Augen weit auf … Ja, und jetzt puste deine Geburtstagskerzen aus. Schön lächeln dabei.

Ich glaube, wenn Papi wissen will, wie ich als Kind wirklich war, muss er sich die Filme reinziehen. Aber es macht nichts, ich hab ihn trotzdem lieb.

Wenn ich in meinem nächsten Leben als Fisch wieder auf die Welt komme, werden meine Eltern natürlich nicht da sein. Frau Dohse, meine Biolehrerin, mit der ich über die Wiedergeburt und so was rede, sagt ja, das sei alles vollkommen unerforscht, wie eine Wiedergeburt überhaupt vor sich geht. Ob es das wirklich gibt. Es gibt Religionen, in denen glaubt man ganz fest daran. Der Buddhismus zum Beispiel, er lebt sozusagen von der Idee, dass man mit jedem Leben dem Nirwana näher kommt, der ewigen Seligkeit.

Dass man sich vorarbeitet zum Glück, in jedem Leben ein bisschen mehr. Im indischen Glauben ist es ähnlich. Ob man als Tier oder als Mensch auf die Welt kommt, hängt von den guten oder schlechten Taten ab, die man im vorherigen Leben begangen hat. Das ist das Karma, das große Weltengehirn sozusagen.

Meine Mama findet es blöde, dass ich über Wiedergeburt und so was nachdenke. Wir leben im christlichen Glauben und der sagt, es gibt ein Leben und danach trittst du vor deinen Gott und er wird deine guten und deine schlechten Taten wiegen, und wenn du ein böser Mensch gewesen bist, kommst du in die Hölle, wenn du aber gut warst, darfst du im Himmel weiterleben. Oder wie immer man das dann nennt.

Mir kommt das mittelalterlich vor. Der Himmel – wo soll der sein? Zwischen den Flugbahnen der Flugzeuge? Und düst manchmal ein Satellit genau durch die Gegend, in der wir das Himmelreich vermuten? Und verursacht ein großes Gemetzel?

Der Himmel hat in unserer Vorstellung ja nur so lange Gott gehört, wie wir keine Flugzeuge und Spaceshuttles und so was gebaut haben. So lange wir keine Möglichkeit hatten, das Universum zu erforschen.

Jedenfalls glaube ich, dass alle Lebewesen eine Seele haben. Und ich glaube – aber nein, ehrlicherweise hat das meine Biolehrerin gesagt –, die Seele: Das ist wie eine Energie. Eine unsichtbare, unmessbare Energie. Bis heute jedenfalls haben wir nichts gefunden, womit wir die Seele messen und fühlen können.

Aber ich weiß, dass es eine Seele gibt. Es ist der Teil des Körpers, der so wahnsinnig wehtut, wenn du traurig bist. Wenn jemand dich beleidigt oder ausgelacht hat. Es ist der Teil im Körper, der weinen kann, ohne dass du Tränen siehst. Und der dich zum Beispiel an schöne Dinge wie ein blaues Meer denken lässt, wenn eigentlich die Welt um dich herum gerade in Trümmer zerfällt, weil deine beste Freundin dich belogen hat, oder wenn solche Dinge passieren wie die, die ich gerade jetzt … Aber nein, ich will nicht von den Schmerzen meiner Seele reden.

Ich will nicht. Ich will nicht. Ich hasse Benni, ich hasse Sonja und Carus sowieso. Carus ist ein widerlicher, aufgeblasener, eitler und brutaler Spinner. Der dreht jetzt völlig durch. Dass ich einen Jungen wie Carus mal geliebt habe, will mir überhaupt nicht mehr in den Sinn. Ich verstehe auch gar nicht, wieso ich seine Fotos noch nicht zerrissen habe oder die Seiten, die er in meinem Tagebuch vollgekritzelt hat.

Ja, so dämlich war ich mal: Ich hab Carus nicht nur mein Tagebuch lesen lassen, nein, er durfte mit seiner ekligen Klaue und seinen siffigen Filzstiften da sogar was reinschreiben!!!

Ich bin ein so blöder, riesiger Idiot.

Aber ich lass mich von denen nicht fertigmachen. Nein, nein!

Das habe ich mir geschworen. Wer bin ich denn, dass ich nachts zehn Papiertücher vollheule? Nur wegen dieser blöden Clique? Wegen diesen gehirnamputierten Schwachköpfen?

Als wenn die Welt nicht voller schöner Dinge wäre. Als wenn ich nicht wunderbar anders Spaß haben könnte. Ich müsste ein Hobby haben, das wäre es überhaupt. So was wie Bienen züchten oder Kieselsteine sammeln oder Tennis spielen. Ich könnte ja auch was Vernünftiges lernen, für mich selbst, nähen zum Beispiel. Ich kann ja nicht mal stricken. Meine Mutter hat früher, als sie zur Schule ging, dicke Norweger-Pullis (mit Muster!) in den Deutschstunden gestrickt. Das war damals erlaubt. Heute, glaube ich, würde Herr Paulsen mich hochkant rausschmeißen, wenn ich anfangen würde, die Maschen zu zählen, während er mir die tragische Liebe von Romeo und Julia erklären will. Aber mich interessiert die tragische Liebe von Romeo und Julia auch viel mehr als ein Strickmuster für einen Norweger-Pulli. Insofern bin ich ganz anders als meine Mama. Vielleicht wurde ich ja bei der Geburt vertauscht. Aber das war jetzt wirklich nur ein Scherz. Könnte ich durchstreichen. Aber ich lass es lieber stehen, weil es vielleicht einer der wenigen witzigen Sätze wird, die ich zustande kriege. Jedenfalls, wenn mein Zustand sich nicht in Kürze bessert.

Ich bin total schlecht drauf.

Ich seh aus wie das heulende Elend. Man könnte auch sagen: wie ausgekotzt.

Das muss anders werden. Ab sofort. Ich zwinge mich einfach, positiver zu denken, die blöden Typen zu vergessen, Carus sowieso. An Carus verschwende ich keinen einzigen Gedanken mehr. Wenn ich mir vorstelle, dass ich das ganze Geld, was ich mit Babysitten bei den Gerhards verdient habe, in sein Weihnachtsgeschenk investiert hab! Und die zwanzig Euro, die er sich von mir gepumpt hat, hab ich bis heute nicht wieder. Kurze Zeit später ist er ja das erste Mal mit Sophie aufgekreuzt, dieser Scheißkerl.

Im Grunde war nach den Weihnachtsferien schon alles kaputt. Da wollte ich es bloß nicht wahrhaben.

Ich möchte ein Fisch sein. Am liebsten sofort. Wieso kann man nicht, wenn man ein Mensch ist, zwischendurch mal kurz in einen Fisch verwandelt werden?

Nichts mehr sagen. Nur kleine Luftbläschen ausstoßen, die dann bis an die Wasseroberfläche steigen. Das ist alles.

Nichts hören. Das ist das Wichtigste. Nicht gezwungen sein, jeden Morgen in die Schule zu gehen, jeden Morgen diese Gesichter, diese Grimassen. Dieses Getuschel und Hinter-dem-Rücken-Geflüster. Oh, wie ich das hasse. Ich bin so krank davon.

Vielleicht gehe ich morgen einfach nicht in die Schule. Ja, ich bin krank. Ich hab was mit dem Magen. Vielleicht eine Fischvergiftung?

Jetzt bin ich vollkommen übergeschnappt!

Seitenlang schreib ich mir die Finger wund, dass ich gerne ein Fisch sein möchte, und denke mir nichts dabei, Fische zu essen.

Fische haben mir immer gut geschmeckt, besser als Fleisch.

Fleisch esse ich schon ziemlich lange nicht mehr, höchstens Hühnchen. Aber auch nicht mehr richtig gerne.

Ich werde auch keine Fische mehr essen. Nicht mal Heringe, obwohl es von denen Schwärme gibt, milliardenfach. Aber macht nichts. Jeder Hering ist ein einzelnes Wesen, das Gott liebt. Falls es einen Gott gibt. Jeder Hering könnte die Seele von einem guten Menschen sein.

Ich esse keine Fische mehr.

Mir ist also von was anderem schlecht.

Pommes. Zu fettes Öl, altes Öl, Schmieröl. Heute verkaufen sie einem ja jeden Dreck. Ich habe eine Schmierölvergiftung, bleibe morgen einfach im Bett. So, danke schön, das war hilfreich.

In der Grundschule hatten wir einen Lehrer, der hat immer gesagt: Wenn ihr traurig seid, schreibt es in euer Tagebuch. Dann geht es euch gleich besser.

Oben in meinen Schrank liegen vier Tagebücher à fünfhundert Seiten. Danach zu urteilen, muss es mir immer ziemlich schlecht gegangen sein. Aber es stehen auch witzige Seiten in den Tagebüchern. Später schreibe ich Kurzgeschichten und Romane, das habe ich mir fest vorgenommen. Ich glaube, ich habe viel Fantasie. Vielleicht schreibe ich als Erstes eine Kurzgeschichte über einen Fisch. Wie könnte der mal heißen? Karolus? Regenbogenfisch? Aber nein, Karolus, das klingt so ähnlich wie Carus und ein Buch vom Regenbogenfisch gibt es schon. Das ist ein Bilderbuch. Ich aber will einen richtig dicken Roman schreiben. Mir fehlt nur noch das Thema. Darüber habe ich neulich mit meiner Omi geredet.

»Omi, ich schreibe vielleicht bald einen Roman.«

»Oh Larita! (Omi sagt immer Larita zu mir.) Wie herrlich! Aber hast du dazu auch die Geduld?«

»Wieso? Braucht man zum Schreiben Geduld?«

»Na ja, es dauert, bis man einen Roman geschrieben hat.«

»Ich kann ja aufhören, wenn ich mich langweile.«

»Aber ein guter Roman, der muss so sein, dass man selber mit den Figuren, die man erfindet, mitfiebert. Das darf einen nicht langweilen. Was hast du denn für eine Vorstellung vom Bücherschreiben?«

»Vielleicht fang ich mit einer Kurzgeschichte an.«

»Das ist eine gute Idee. Hast du denn schon ein Thema?«

»Nein, aber ich weiß, dass mir was einfällt, wenn ich erst einmal anfange. Du hast auch immer gesagt, dir fällt etwas ein, wenn du eine Seite Papier in die Maschine spannst.«

Meine Omi ist Schriftstellerin. Sie hat schon vierzig Bücher geschrieben und Drehbücher fürs Fernsehen. Damit verdient sie ziemlich viel Geld. Sie ist von niemandem abhängig. Von keinem Mann, keinem Büro, sie hat überhaupt keinen Chef. Unterschreibt einen Vertrag, in dem steht, dass sie sich verpflichtet, innerhalb von zwölf Monaten einen Roman abzuliefern, und dann kann sie einen Stapel weißes Papier nehmen, eine elektrische Schreibmaschine, Farbbänder und sich in irgendeinem schönen Hotel irgendwo auf der Welt auf die Terrasse setzen und anfangen.

Ich würde so anfangen:

Ich möchte als Fisch geboren werden.

Ich werde Omi fragen, ob das ein guter erster Satz für eine Kurzgeschichte ist. Meine Omi sagt, es kommt immer auf den ersten Satz an. Wenn der erste Satz gut ist, dann willst du weiterlesen, dann willst du alles wissen über diese Leute in dem Roman. Bis zum Schluss. Zum bitteren Ende. Oder zum Happy End, je nachdem.

Ich wünsche mir für mein eigenes Leben jedenfalls ein Happy End. Aber noch besser wäre es, wenn jedes Lebens-Kapitel ein Happy End hätte. Wenn ich zum Beispiel einmal im Monat richtig glücklich wäre. Das wäre genial.

»Mama, ich möchte mit dir über meinen Geburtstag reden.«

»Oh Gott, ja. Das kommt ja auch wieder auf uns zu! Willst du etwa wieder hundert Leute einladen und hier die Bude auf den Kopf stellen?«

Hundert Leute! Die Übertreibung des Jahres!

Mama ist nervös. Sie ist eigentlich schon die ganze Zeit nervös. Seit sie diesen neuen Job hat, bei Hansen. Hansen ist das neue Einrichtungshaus in der Mehdornstraße. Die haben unheimlich teure Sachen, Kleinmöbel und Teppiche, Stühle, Beistelltische, solche Sachen. Keine Betten, keine großen Schränke, aber Sessel. Bei Hansen kostet ein Sessel so viel wie bei IKEA die Einrichtung für eine Dreizimmerwohnung, sagt Mama, und die Leute, die bei Hansen kaufen, sind alle dementsprechend arrogant. Und eingebildet. Manchmal machen sie die Verkäufer richtig fertig, bloß weil das Rot einer Gardine nicht haargenau zu dem Rot eines Aschenbechers passt.

Einmal hatte eine Kundin zu Mama gesagt: »Sie haben ja einen Geschmack wie eine Kuh.« Da war Mama so krank, dass sie drei Tage nur mit Bauchschmerzen in die Firma gegangen ist. Mein Papa sagt: »Du kündigst. Ich lass doch nicht zu, dass meine Frau krank wird in ihrem Job. So nötig brauchen wir das Geld nun auch wieder nicht.«

Aber dann sagt Mama immer: »Irgendein Problem gibt’s doch immer bei der Arbeit. Dafür habe ich jetzt nette Kollegen, die halten zu mir. Die wissen, wie komisch die Kunden sein können. Und wenn ein Kunde sich beschwert, dann halten alle zusammen, da kann der Chef überhaupt nichts machen.«

»Und trotzdem hast du Bauchschmerzen.«

»Das verstehst du nicht.«

»Okay«, sagt mein Papa dann, »wenn ich das nicht verstehe, dann können wir die Unterhaltung ja auch abbrechen. Was gibt es heute zum Abendbrot?« Und alle beide sind beleidigt.

Mittags hat Mama zwei Stunden frei. Mittags zwischen ein und drei Uhr ist das Geschäft bei Hansen geschlossen. Deshalb essen wir immer zusammen Mittag und besprechen, was in der Schule abgelaufen ist und so. Klassenarbeiten oder wenn ich ein Referat halten muss. Das sind immer die ätzenden Tage, so ein Referat kann einem wie ein Stein im Magen liegen.

Aber im Augenblick liegt mir mein Geburtstag im Magen.

»Ich will nicht hundert Leute einladen, Mama. Außerdem waren es letztes Mal genau achtzehn.«

»Achtzehn verrückte Kinder in einer Dreizimmerwohnung.«

»Mama, wir waren den ganzen Nachmittag im Park. Übrigens ein super Picknick. Vielen Dank. Und außerdem ist man mit fünfzehn kein Kind mehr.« Mama legt ihre Gabel weg, stützt den Kopf auf und schaut mich an. Mama ist eine schöne Frau. Ich weiß nicht, wieso schöne Frauen wie Mama nicht ebenso schöne Töchter bekommen können.

Mama hat kastanienrote Naturlocken, Sommersprossen und eine ganz weiße Haut. Sie geht nie in die Sonne. Dafür ist ihre Haut viel zu empfindlich. Und sie benutzt einen ganz dunkelroten Lippenstift und zarten grünen Lidschatten. Ich finde Mama unheimlich schön. Leider seh ich total langweilig aus.

»Also«, sagt Mama, »du bedankst dich jetzt, vier Wochen vor deinem Geburtstag, für das Picknick von vor einem Jahr? Ein bisschen spät, oder?«

»Besser als gar nicht.«

Irgendwie, aber daran erinnere ich mich nicht mehr so genau, ist vielleicht bei meinem letzten Geburtstag schon etwas schiefgelaufen. Da hatte ich zum ersten Mal die Clique eingeladen. Es lag natürlich an den Jungen. Sobald du Jungen einlädst, verändert sich das Klima. Da sind die Mädchen nicht mehr so entspannt, alles verkrampft sich irgendwie und die Jungen ziehen ihre coole Show ab. Finden alles, was man sagt, bescheuert und lümmeln rum wie Typen in einem richtig schlechten Film, wo es immer irgendwie nur um Sex geht, obwohl das Wort Sex nie ausgesprochen wird. Aber die beömmeln sich schon, wenn einer eine Besenstange hochnimmt und zum anderen sagt: »Hey, ganz schön lang, was?« Da lachen die sich schlapp. Und die Mädchen fassen sich an den Kopf.

Es lag etwas in der Luft an diesem Geburtstag, aber man konnte es noch nicht richtig fassen, nicht richtig benennen.

Ich war so glücklich. Ich hatte tolle Geschenke bekommen (diesen Computer, an dem ich sitze), eine Pink-CD und ein unheimlich hübsches lila Top für einen Blümchen-Rock.

Alle Freunde waren gekommen. Noah mit einer Sonnenblume! Total süß. Sonja hat für mich ein Tiramisu gemacht, ganz allein – sie hat gesagt, ihre Mutter habe kein bisschen geholfen. Und auf dieses Tiramisu, oben auf das Kakaopulver, hat sie mit einer Spritze in Vanillecreme FÜR LARA gekrakelt.

Mann, haben wir reingehauen und nachher war uns schlecht.

Aber das kann auch an der kalten Pizza gelegen haben. Pizza muss heiß sein, aber wie kriegt man das alles hin?

Dörte hatte ihren Gettoblaster dabei und extra für meinen Geburtstag ein super Medley auf einer Kassette zusammengeschnitten. Die meisten Hits haben wir mitgegrölt. Und dann kam Carus auf die absolut wahnsinnige Idee, Blinde Kuh zu spielen, und das war so irre, weil wir durch den Park gerannt sind, immer vor einem her, der mit ausgestreckten Armen und zugebundenen Augen gegen die Bäume rannte. Und dann hat Sonja ihm einmal, als seine Augen verbunden waren, ihren Po hingestreckt. Und er hat gerufen: »Hey, was ist das??« Und wir haben gekreischt vor Lachen. Und wie er rot geworden ist, als wir gesagt haben, du, das war Sonjas Hintern.

Irgendwie alles total schön und ohne Hintergedanken und ich hab gedacht, oh Mann, so muss das Leben bleiben.

An dem Geburtstag war auch Paula dabei, die dann später in die Clique von Didi gegangen ist. Danach hatte ich kaum noch Kontakt mit ihr. Oder Xavier, der Spanier, der konnte auf dem Kopf stehen und dabei aus der Zeitung vorlesen. Xavier ist danach, kurz nach meinem Geburtstag, mit seinen Eltern zurück nach Madrid gezogen. Schade. Vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, wenn Leute wie Xavier oder Beate (die dicke Beate, die immer alle mit selbst gestrickten Mützen beglückte) in der Stadt geblieben wären. Beate ist nach Potsdam gezogen und auf eine andere Schule gekommen. Vielleicht strickt sie immer noch Mützen. Vielleicht hat sie uns alle längst vergessen. Und Xavier ist in eine Spanierin verliebt und die Sonne scheint ihm auf den Kopf. Hier regnet es in Strömen.

Mann, damals war ich vierzehn und richtig superglücklich. Ich kann’s kaum fassen, wie schnell sich alles geändert hat. Jetzt steht wieder ein Geburtstag an und ich hab überhaupt keine Lust. Zu gar nichts. Ich fürchte mich richtig davor. Wieso kann man einen Geburtstag nicht einfach ausfallen lassen? Man wird doch jeden Tag älter. Wieso ist dann der eine Tag wichtiger als alle anderen?

Ich weiß nicht mal, was ich mir wünschen soll.

Ich schlurfe durch die Fußgängerzone, an all den Schaufenstern vorbei, ich seh die Klamotten und denke, na toll, aber ich brauch das nicht. Ich brauch gar nichts.

Ich rolle mich nachts in meine Decke und versuche, an nichts zu denken. Aber das ist unmöglich. Auch wenn man die Augen ganz fest zukneift und sich Watte in die Ohren stopft – der Kopf arbeitet weiter.

Letztes Jahr war auch Oskar noch auf meinem Geburtstag. Alle fanden es total okay, dass er dabei war. Und er hat sich gefreut. Und gelacht. Und ist immer von einem zum anderen und hat sich denen an den Hals gehängt. Und geholfen hat er. Die Limoflaschen zusammengeräumt (zuerst fanden es alle total okay, dass es nur Limo gab. Erst später fing irgendeiner an: Hey, wieso gibt es kein Bier? Auf einer anständigen Geburtstagsfete muss es Bier bis zum Abwinken geben.)

Oskar ist zehn und hat das Downsyndrom. Natürlich sieht man es ihm an. Sein Gesicht, die schmalen Augen und dass er nicht richtig deutlich sprechen kann. Seine Bewegungen geraten manchmal auch ein bisschen schief. Und dann fällt er hin. Aber er weint dann nie, er lacht sich selber aus und sagt: »Blöder Oskar.«

Oskar wohnt im Nachbarhaus.

Irgendwann haben seine Eltern mich gefragt, ob ich mal stundenweise auf ihn aufpassen kann. Weil Oskar sich immer sofort auf mich geworfen hat, wenn er mich sah. Und weil ich ihn auch so lieb fand, so sanft und so zärtlich irgendwie. Manchmal kommt es mir auch vor, als könne er verstehen, dass er anders ist. Und als wäre er darüber traurig. Das ergreift mich richtig, dass er in seinem Körper gefangen ist und dass es kein Mittel gibt, ihn zu befreien.

Jedenfalls hab ich ziemlich viel Geld verdient durch das Babysitten. Da war Oskar allerdings gar kein Baby mehr. Aber er konnte eben viele Sachen, die andere mit fünf können, überhaupt noch nicht. Alles geht nur mit viel Liebe und viel Geduld. Oskars Mutter sagt immer, ich sei begabt für so etwas. Sie meint, ich müsste unbedingt Abitur machen und nachher etwas studieren wie Medizin oder Psychologie. Aber ich weiß nicht. Im Augenblick sind meine Noten ziemlich im unteren Drittel und ich finde, dass Schule einen ganz schön nerven kann. Der Notenstress. Ich möchte mir das einfach noch offenhalten, ob ich Abi mache oder nicht. Es gibt so viele Dinge, die man lernen oder studieren kann. Medizin? Ach, ich weiß nicht. Kann mir das nicht vorstellen. Aber das sag ich Oskars Mama lieber nicht. Sie ist so beseelt von dem Gedanken, dass Leute wie die kleine Lara Weisskamp eines Tages etwas finden, das ihren Oskar gesund macht. Oder fit für diese Gesellschaft. Dass die Gesellschaft ihn respektiert, so wie er ist, und nicht Unmögliches verlangt.

Sonja hat neulich gesagt: Oskar, der Schizo. Ich bin fast ausgerastet. Oskar ist überhaupt kein Schizo. Eher ist sie schizophren. Eher ist die Gesellschaft daneben.

Ich finde es eigentlich todtraurig, dass, wenn ich jetzt an meinen Geburtstag denke, Oskar irgendwie keine Rolle dabei spielt. Weil ich weiß, dass er nicht akzeptiert wird. Und was mich am meisten ärgert: dass ich nichts dagegen unternehme. Mann, ich bin so schwach. Ich könnte mich ohrfeigen.

»Ich denke, wir wollen über deinen Geburtstag reden«, sagt Mama. Ich weiß auch nicht, was mit meinem Kopf ist. Er weicht immer ab. Meine Gedanken sind wie ein Zug, den man auf die Schienen setzt und der nachher auf dem falschen Bahnhof ankommt.

Also gut, mein Geburtstag: Ich habe am 8. Juni Geburtstag. Eigentlich der schönste Monat. Und meistens auch gutes Wetter. Berlin hat ja ein klasse Klima, besser als jede andere Stadt in Deutschland. Man kann gut Picknicks und Grillabende und so was planen im Sommer, weil es meistens warm genug ist.

»Ich möchte überhaupt keine Party machen«, sage ich.

»Wir können doch auch zu dritt was Tolles unternehmen.

Papa, du und ich.«

Mama schaut dauernd auf die Uhr. Dabei ist es erst zwei.

Sie steht auf, räumt die Teller zusammen.

»Lass das stehen, Mama, ich wasch ab.«

»Du brauchst es nur in die Spülmaschine zu stellen.« »Weiß ich doch.«

Mama rennt rum, macht dies, macht jenes. Eine steile Falte hat sich auf ihrer Stirn gebildet.

Ist sie jetzt etwa nervös, weil ich mit meinen Eltern Geburtstag feiern will?

Plötzlich bleibt sie stehen. »Und wieso willst du keine Party machen?«

»Weil ich keine Lust habe.«

»Und wieso hast du keine Lust? Partys waren doch immer dein Leben!«