Feuerprüfung - Brigitte Blobel - E-Book

Feuerprüfung E-Book

Brigitte Blobel

4,8
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Früher waren Coco und Nelly ein Herz und eine Seele. Doch seit Cocos Unfall dreht sich alles nur noch um die ältere Schwester. Da kommt Nelly die neue Aufmerksamkeit von Mädchenschwarm Tomke gerade recht. Voller Hoffnung schließt sie sich seiner Clique an und gerät dabei nach und nach in einen Strudel aus Mutproben, Erpressung und Gewalt, aus dem nur Coco sie befreien kann.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 288

Bewertungen
4,8 (18 Bewertungen)
14
4
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Brigitte Blobel

Feuerprüfung

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Weitere Bücher von Brigitte Blobel im Arena Verlag:

Heart Crash

Blind Date. Wenn Liebe sehen lässt

Jeansgröße 0. Kein Gramm zu viel

Drama Princess. Topmodel – um jeden Preis

Eine Mutter zu viel. Adoptiert wider Wissen

Herzsprung. Wenn Liebe missbraucht wird

Alessas Schuld. Die Geschichte eines Amoklaufs

Rote Linien. Ritzen bis aufs Blut

Liebe wie die Hölle. Bedroht von einem Stalker

Meine schöne Schwester. Der Weg in die Magersucht

Die Clique. Wenn die Gruppe Druck macht

Getrennte Wege. Wenn eine Familie zerbricht

Party Girl

Liebe passiert

Shoppingfalle

Mensch, Pia

Einfach nur glücklich

 

1. Auflage 2014 © 2014 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Covergestaltung: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg, unter Verwendung eines Fotos von © mauritus images Satz: KCS GmbH · Verlagsservice & Medienproduktion, Stelle/Hamburg ISBN 978-3-401-80336-4

www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Für Hilde

Teil I

Coco

Prolog

Obwohl Coco es längst raushat, wie sie mit dem Fahrrad die meisten roten Ampeln umfahren kann, klappt es nicht immer. Dann zieht sie automatisch ihr Smartphone aus der Tasche und checkt ihre Nachrichten. Oder schickt eine SMS, meistens an Tomke. So wie jetzt. Dabei haben sie sich eben erst vor der Schule verabschiedet. Heute sogar mit einem Kuss! Und zwar vor Damian und Jorek, die auf Tomke gewartet haben. Die drei ziehen fast jeden Tag nach der Schule zusammen los.

Hi, alles klar? A. organisiert! Miss u! :-x

Als Coco auch an der nächsten Ampel halten muss, stellt sie enttäuscht fest, dass Tomke ihr nicht geantwortet hat. Dabei weiß sie, dass er nach der Schule praktisch nie auf ihre Nachrichten reagiert. Entschlossen schreibt sie eine neue SMS, diesmal an Jorek.

Hi, steh im Stau – was macht ihr gerade? :-)

Sie schickt die Nachricht vorsichtshalber auch noch an Damian, falls Jorek sein Handy mal wieder nicht hört.

Doch ihr Handy bleibt stumm, selbst als Coco an der nächsten Straßenkreuzung landet. Oh, wie sie diesen Freitagnachmittagsverkehr hasst. Und dass Tomke sich nicht meldet, bringt sie auch auf die Palme.

Was geht eigentlich nach der Schule immer so ab? Etwa Geheimnisse vor mir? Die krieg ich raus! >:)

Zufrieden steckt Coco das Smartphone wieder ein und radelt nach Hause.

1.

Das Opfer

Jetzt sitzt er tatsächlich schon wieder unten im Keller und heult. Weint seinem geklauten Fahrrad nach. Seit zwei Wochen geht das schon so. Fast jedes Mal, wenn Coco ihr Rad in den Keller trägt, hockt Rolli in der Ecke und schmollt. Unglaublich! Coco wäre jedenfalls früher nie auf die Idee gekommen, sich mit ihrer Trauer oder ihrem Schmerz in den muffigen Keller zu verziehen – zumal es da unten Mäuse gibt. Doch das, was andere ekelt, scheint den Nachbarsjungen nicht zu stören.

»Mensch, Rolli!«, ruft Coco, als sie das Fahrrad absetzt und die Kellertür aufdrückt. »Was ist denn nur los mit dir?«

Coco verharrt in der Bewegung und lauscht. Das Weinen klingt jetzt so nah, als brauchte sie nur die Hand auszustrecken, um Rolli zu trösten. Aber sie zögert. Soll sie sich wirklich den schönen Tag vermiesen lassen? Wo doch heute alles so entspannt und superschön war: eine Drei plus für die komplizierte Aufgabe, die sie in Algebra an der Tafel lösen musste, und dann ein langer Kuss von Tomke in der großen Pause. Nicht heimlich, sondern richtig so, dass alle es sehen konnten – genau wie vorhin am Fahrradständer. Bei dem Gedanken daran spürt Coco ein warmes Ziehen im Bauch. Ja, sie ist ganz schön verliebt. Eigentlich war sie in den letzten Wochen jeden Tag ein bisschen mehr verliebt, sodass es an diesem Freitagmorgen, als sie aufgewacht ist, kaum noch auszuhalten war, weil es richtig wehtat.

Es ist Ende August und die erste Schulwoche nach den Sommerferien liegt hinter ihr. Jetzt ist endlich Wochenende und über der Kellertreppe, jenseits des Wellblechdaches, lockt ein wunderbar warmer Spätsommertag. Ein Tag wie aus dem Bilderbuch, an dem man zwangsläufig gut drauf sein sollte. Ein Tag, der Lust auf Schwimmbad macht, auf Party. Auf Spaß und Knutschen. Und am Abend ist sie mit Tomke und der Clique verabredet. Tomke hat ihr zum Abschied noch ins Ohr gehaucht: »Ich freu mich auf heute Abend.«

Ich mich auch! Ich mich auch!, hat sie gedacht.

An so einem Tag darf in ihrer Gegenwart einfach niemand traurig sein!

»Hallo?«, ruft Coco erneut. »Rolli?«

Ob er sich auch heute einfach wieder aus dem Staub machen würde, wie die letzten Male? Dabei kennt sie ihn doch schon, seit er auf der Welt ist. Sie wohnen im selben Mietshaus: drei Stockwerke mit je zwei Parteien. Rolli und seine Eltern wohnen unten rechts, Coco lebt mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester Nelly im ersten Stock links.

Das Weinen hat aufgehört. Coco lauscht in den dämmrigen Keller, aber sie hört weder ein heftiges Atmen noch davonhuschende Schuhsohlen. Sie hört einfach gar nichts.

Da nur die Notfunzel zum Aufgang ins Treppenhaus rötlich flimmert, tastet Coco nach dem Lichtschalter. Doch die Neonröhre scheint endgültig ihren Geist aufgegeben zu haben.

»Ich bin’s nur, Coco«, sagt sie vorsichtig. »Mensch, Rolli, jetzt mach mir keine Angst!«

Der Kellerflur ist vielleicht zehn Meter lang. Rechts und links neben der Tür zum Hof befindet sich jeweils eine Nische, in der man sein Rad abstellen kann. Sonst nichts als nackte Betonwände. Eigentlich alles so wie immer. Wenn nur diese plötzliche Stille nicht so irritierend wäre.

Coco lehnt ihr Fahrrad an die Wand und tastet sich langsam vorwärts. Sie versucht, mit ihren Flipflops nicht dieses klatschende Geräusch zu machen, das ihrer Mutter immer so auf die Nerven geht. Es ist totenstill und Coco kann nicht verhindern, dass sich die Härchen auf ihren nackten Unterarmen aufrichten.

Und plötzlich hört sie Rolli doch. Erst zieht er scharf die Luft ein, dann folgt ein explosionsartiges Niesen und schließlich ein leise gestöhntes »Oh, Mann!«.

»Rolli!«, ruft Coco. »Mensch, hast du mich erschreckt!«

Robert, genannt Rolli, kauert in der linken Nische, wo bis vor Kurzem immer sein Rex Bike stand. Das Geschenk zu seinem zehnten Geburtstag war sein ganzer Stolz. Aber als er das Rad vor zwei Wochen am Eingang vor dem Kiosk abgestellt hat, wo er seine tägliche Ration Gummibärchen kauft, wurde es ihm geklaut.

Coco kann in dem dämmrigen Licht nicht viel erkennen, doch sie sieht, dass Roberts Gesicht tränenüberströmt ist und sein weiches Kinn bebt. Verlegen fährt er sich mit dem Sweatshirtärmel über die Augen.

»Hau ab!«, faucht er, ohne zu ihr hochzusehen. Neben ihm liegt sein offener Schulrucksack, der eher wie ein überquellender Müllbeutel aussieht.

Coco kennt Robert gut: ein übergewichtiger Junge, der von allen nur Rolli genannt wird – Rolli wie Rollmops. Sie weiß, dass Robert schon zweimal eine Fastenkur gemacht hat, aber wenige Wochen später hatte er den verlorenen Speck bereits wieder auf den Hüften. Er stopft einfach alles, was er kriegen kann, in sich hinein. Seit diesem Jahr besucht er dieselbe Schule wie Coco: das Goethe-Gymnasium. Doch während Coco eigentlich in keinem Fach wirklich gut ist, ist Robert in seiner Klasse der Beste, obwohl er erst im Frühjahr von der Grundschule auf das Gymnasium gewechselt ist. Robert konnte eine Klasse überspringen und jetzt ist er in seiner Klasse der Jüngste – und leider auch der Dickste.

Coco hat Robert einmal in der Turnhalle gesehen: Da hing er am Reck wie ein nasser Sack. Er tat ihr so leid, weil alle anderen Schüler grinsten und über ihn herzogen, so laut, dass er es hören musste. Wenig später war ihr dann aufgefallen, dass Robert sich in den Pausen gar nicht mehr auf dem Schulhof blicken ließ, sondern sich in der Bibliothek versteckte. Und dann war am Ende der Sommerferien das mit dem Fahrrad passiert.

Coco kniet sich neben den Jungen, der sich wütend die Spuren seiner Verzweiflung aus dem Gesicht zu wischen versucht. »Mensch, du Armer«, sagt sie mitfühlend, »weinst du immer noch wegen deinem Fahrrad?«

Robert starrt sie an und zerrt wortlos den schweren Schulrucksack auf seinen Schoß. »Geh weg!«

Aber Coco bricht es das Herz, den Kleinen so unglücklich zu sehen. Sie will ihn umarmen, doch er schiebt sie widerwillig beiseite.

»Hörst du nicht? Du sollst abhauen!«

So schnell gibt Coco allerdings nicht auf. »Es geht also nicht um dein Fahrrad?«, bohrt sie nach.

Schweigen. Schmollen. Schniefen.

»Was hast du dann? Mir kannst du’s doch sagen.«

»Ich will aber nicht!«

»Tut dir was weh?«

»Nein!«

»Soll ich bei deinen Eltern klingeln?«

»Die arbeiten doch.«

»Ach ja. Willst du vielleicht mit zu uns hochkommen? Nelly hat eine neue Spielkonsole«, versucht sie, ihn zu locken.

Doch Robert schüttelt nur beharrlich den Kopf, den Blick starr auf den Boden gerichtet. Er schnieft und zieht den Schnodder hoch. Lässt die Schultern hängen. Ein rundes Häufchen Elend. Wenn Nelly früher so unglücklich war, hat Coco immer den Clown gegeben, um ihre Schwester aufzuheitern. Aber allmählich ist sie hier mit ihrem Latein am Ende.

»Es tut mir leid, dass du so traurig bist«, sagt sie schließlich, als sie sich wieder aufrichtet. »Dabei ist heute so ein schöner Tag.« Sie blickt sehnsüchtig den dunklen Kellergang entlang.

»Das ist ein Scheißtag!«, stößt Rolli hervor. »Jeder verdammte Tag, den ich zur Schule muss, ist ein Scheißtag.«

Plötzlich kommt Coco eine Idee. »Hast du eine Klassenarbeit verhauen?«, fragt sie mitfühlend.

Robert stößt ein verächtliches Schnauben aus. »Ich verhaue keine Arbeiten. Und jetzt lass mich endlich in Ruhe!«

Coco weiß, sie sollte aufstehen und gehen. Er will sich nicht helfen lassen, also ist ihm auch nicht zu helfen.

Aber sie mag Rolli. Deshalb nimmt sie einen letzten Anlauf, hockt sich neben ihn auf den kalten Betonboden und legt ihren Arm um seine Schultern. »Also, ich hör dir zu. Was ist passiert?«

»Nichts.«

»Du lügst doch.«

Robert versucht, sie wegzuschieben. »Na und? Lügen ist lange nicht so schlimm wie das, was du machst.«

Coco starrt ihn an. »Was? Ich?«

»Ja, du und die anderen! Die ganzen Wichser!«

»Wie bitte? Wie redest du denn? Welche anderen?« Coco spürt, wie ihr Mitleid mit Robert schmilzt wie Eis in der Sonne.

»Ihr seid doch alle Scheißtypen, ihr wollt die Kleinen doch nur abziehen und fertigmachen … Und ihr findet das auch noch geil!«

»Hey, tickst du noch richtig? Von wem redest du eigentlich?«

»Ich hasse euch!«, stößt Rolli zitternd hervor.

Coco holt tief Luft. Okay, noch mal von vorn, denkt sie. Sie muss rauskriegen, wovon Rolli da spricht.

»Sag mal, hast du eben gesagt, dass du mich hasst? Rolli? Schau mich an!«

Rolli schaut nicht auf. Aber er schnieft und nickt. »Ja! Dich und die anderen.«

Fassungslos mustert Coco den Nachbarsjungen, als würde sie ihn gerade zum ersten Mal sehen. Dann nimmt sie einen neuen Anlauf. »Ich glaube, du bringst da was durcheinander. Meinst du, mir tut das nicht leid, was dir passiert ist? Ich finde es auch total ätzend, dass irgendwelche Idioten dein Rad geklaut haben.«

»Ach ja?«, sagt Rolli. »Glaub ich dir nicht. Du gehörst doch auch zu denen, Mann! Denkst du, ich bin blöd? Denkst du, ich check das nicht?« Er stößt Coco mit aller Kraft, die in seinen dicken Armen steckt, heftig von sich. Dann rappelt er sich wortlos auf und schnappt sich seinen Rucksack. Doch Coco ist schneller auf den Beinen und versperrt ihm den Weg.

»So nicht, Robert! Ich will jetzt verdammt noch mal wissen, was los ist! Vorher kommst du hier nicht raus.«

Als sie Rolli an den Schultern packt, sieht Coco in seinen Augen die blanke Angst. Da ist kein Trotz mehr, keine Wut. Nur noch Angst. Er weicht vor ihr zurück.

Erschrocken lässt sie ihn los. Hebt ihre Arme über den Kopf. »Sag mal, glaubst du etwa, ich würde dir was tun?«, fragt sie fassungslos.

»Ne, du vielleicht nicht«, murmelt Rolli trotzig, »aber die anderen.«

»Welche anderen?«

»Sag ich doch die ganze Zeit! Tu nicht so, als würdest du das nicht kapieren!« Rolli wirft ihr noch einen bösen Blick zu, dann schiebt er sich an ihr vorbei und steigt die Stufen zum Hausflur hoch.

Ratlos läuft Coco ihm hinterher und wartet neben seiner Wohnungstür, während er in seinem chaotischen Rucksack nach dem Haustürschlüssel kramt.

Sie schaut zu, wie er mit zitternden Fingern den Schlüssel in das Sicherheitsschloss steckt. Trotzig dreht er sich zu ihr um. »Was willst du noch?«

»Sag mir bitte endlich, was los ist. Ich kann mit deinen Andeutungen nichts anfangen. Hat es was mit unserer Schule zu tun?«

Robert holt tief Luft, nickt. »Ich dachte, nach den Sommerferien würdet ihr aufhören. Ich dachte, ihr sucht euch vielleicht endlich mal ein neues Opfer. Aber ihr hört ja nie auf!«

Coco hat auf einmal genug von dem Spiel. Irgendetwas in Roberts Art, immer ihr zu sagen, macht sie richtig wütend.

»Drehst du jetzt völlig durch? Ich bin doch nicht die ganze Schule!« Ihre Stimme überschlägt sich. »Ich kann nichts dafür, dass da ein paar Idioten rumlaufen, die euch Kleine mobben!«

Robert brüllt zurück, mit hochrotem Kopf: »Und was ist mit meinem iPod, den ihr mir weggenommen habt? Mann, der war erst eine Woche alt! Und ich Idiot hab ihn dir vorgestern auch noch gezeigt.«

Verständnislos sieht sie ihn an. Sie begreift nicht, was er sagt. Oder sagen will.

»Woher wussten die anderen denn, dass ich einen funkelnagelneuen iPod habe? Weil du es ihnen gesagt hast!«

Robert schleudert seinen Rucksack durch den Türspalt in den Wohnungsflur. Er keucht, er ist außer Atem. Aber er schaut ihr jetzt fest in die Augen.

»So, jetzt mal langsam«, sagt Coco nach zehn Sekunden, in denen sie seinem Blick standgehalten hat. »Jemand hat dir also heute deinen iPod geklaut.«

»Ja, Mann!«, schreit Robert.

»Und du weißt, wer es getan hat.«

Robert nickt. Streicht sich mürrisch die Haare aus der nassen Stirn.

»Wer? Wer war es?«, fragt Coco. »Sag mir den Namen, dann geh ich mit dir zur Schulleitung und wir –«

»Du?«, sagt Robert völlig verdutzt. »Ausgerechnet du willst mit mir zur Schulleitung gehen? Das glaub ich dir nicht! Du verpetzt doch nicht deine Freunde. Kein Mensch tut so was. Ne, ich weiß, dass es immer so weitergehen wird.« Seine Stimme bekommt auf einmal wieder etwas Weinerliches, Hilfloses. »Aber wieso immer ich? Kannst du mir das mal sagen? Ihr wollt immer bloß mich fertigmachen. Immer mich. Aber warum? Was hab ich euch denn getan?«

»Rolli! Hör gut zu. Sag nicht immer du und ihr! Ich hab damit nichts zu tun.«

Rolli überhört ihren Einwurf. »Ihr zockt immer dieselben ab. Jonas und Jennifer und die Zwillinge aus der Fünften … Das ist so fies! So gemein!«

Coco reißt die Augen weit auf. »Was sagst du da?« Ihre Stimme klingt plötzlich heiser.

»Sie wissen genau, mit wem sie es machen können. Die belauern mich! Egal, welche neuen Sachen ich habe, sie wissen es und dann lauern sie mir auf und zwingen mich, es herauszugeben.«

»Wer? Wer lauert dir auf?« Cocos Stimme klingt fast flehend.

»Ich muss denen mein Taschengeld geben. Und wenn ich nichts mehr habe, dann drohen sie …« Er kann nicht mehr weitersprechen. Tränenüberströmt schaut er sie an.

»Und was habe ich damit zu tun, Rolli? Was?«, fragt Coco.

Robert starrt sie an. Lange. Fassungslos. »Hör endlich auf, mich für blöd zu verkaufen. Das sind doch alles deine Freunde«, schluchzt er.

»Meine Freunde? Welche Freunde?«

»Mit denen du immer in den Pausen zusammen abhängst. Auf dem Schulhof.« Robert schluckt seine Tränen herunter und blickt Coco trotzig an. »Oder ist das etwa nicht dein Freund? Dieser Typ mit dem Skateboard unter dem Arm.«

»Meinst du Darian? Den mit der Gelfrisur?«

»Ja, der Affe. Wie der mich schon angrinst. Keine Ahnung, wie der heißt. Und dieser andere, der in die Zwölfte geht und immer so obercool tut mit dieser Zigarette, die ihm an der Lippe klebt.«

»Jorek?«, fragt Coco vorsichtig.

»Ja, genau der. Und dann diese Barbie mit den roten Haaren.«

»Eylin?« Cocos Herz hat angefangen, in einem seltsamen Rhythmus gegen ihre Brust zu hämmern. »Und Miriam? Die immer mit Highheels herumläuft?«

»Was ist das?«

»Stöckelschuhe.«

»Ja, kann sein.«

Robert ist mit einem Mal viel ruhiger. Aber Coco fühlt sich, als wäre sie kurz vor dem Erstickungstod. Eine Frage hat sie noch. Eine Frage, die ihr auf der Seele brennt.

»Kennst du auch Tomke?«

Robert nickt. »Das ist der mit dem roten Roller, oder?«

Coco hat das Gefühl, als hätte sie sich ein übergroßes Stück Käse in den Mund gestopft. Sie bekommt kaum noch Luft, aber diese Frage muss sie einfach stellen: »War Tomke auch dabei, als sie … als sie das mit dir gemacht haben?«

Robert starrt sie an, als wäre sie nicht bei Verstand. »Der ist doch der Boss«, sagt er. »Die anderen gehorchen doch nur.« Und so fix, wie Coco es ihm niemals zugetraut hätte, springt Robert plötzlich an ihr vorbei und knallt ihr die Wohnungstür direkt vor der Nase zu.

Wie versteinert bleibt Coco stehen. »Ich glaub dir nicht!«, schreit sie schließlich. »Du lügst!«

Ihr Herz wummert und sie beginnt, am ganzen Körper zu zittern, als sie mit den Fäusten auf die Tür einhämmert, hinter der Robert sich verschanzt hat. »Rolli? Mach sofort auf!«

Sie wartet. In ihren Ohren rauscht das Blut. Was denkt Rolli sich eigentlich dabei, sie hier einfach so stehen zu lassen? Coco hämmert weiter gegen die Wohnungstür.

»So geht das nicht, Rolli. Du kannst nicht einfach irgendwelche Anschuldigungen in die Welt setzen über Leute, mit denen ich befreundet bin!«

»Selber schuld, wenn du dich mit solchen Scheißtypen abgibst.«

Roberts Stimme ist so nah, dass Coco sich vorstellt, wie er an der Innenseite der Tür lehnt. Wie sie nur durch eine dünne Holzwand getrennt sind …

Ich muss es anders machen, denkt sie, ich darf ihn nicht so unter Druck setzen. Sanft kratzt Coco mit ihren Fingernägeln über die glatte Türfläche. Das macht ein interessantes, fast zärtliches Geräusch.

»Hör mal, du kannst nicht einfach so was Abartiges über meine Clique behaupten. Ich kenne die alle. Ich würde für jeden Einzelnen meine Hand ins Feuer legen!«

»Dann sind deine Hände aber gleich verkohlt.«

»Komm mal langsam wieder runter. Du bist im Augenblick ganz durcheinander, das versteh ich ja.«

»Du verstehst gar nichts.«

»Also, wenn es an der Schule wirklich solche Typen gibt, die mit euch Kleinen so umgehen, dann helfe ich dir, versprochen, Rolli.«

Statt einer Antwort tritt Robert wütend gegen die Tür. »Ich. Heiße. Robert!«

»Ja, gut, ’tschuldigung, Robert. Mann, ich kenne dich, seit du auf der Welt bist. Ich war dein Babysitter, wenn deine Eltern aus waren. Ich hab mit dir Playmobil gespielt. Wir haben zusammen auf eurem Sofa das Dschungelbuch geguckt und Gummibärchen gefuttert. Hast du das alles vergessen?«

Aus der Wohnung kommt kein Laut. Coco lehnt erschöpft den Kopf gegen die Tür. Sie schließt die Augen. Noch vor einer Stunde war sie so gut drauf gewesen, so glücklich. Noch vor einer Stunde war die Welt in Ordnung gewesen.

»Ist das wahr, was du da gesagt hast?«, fragt Coco ganz ruhig. »Über Tomke, Jorek, Darian und die anderen?«

»Jaha.«

»Setzt du auch keine Gerüchte in die Welt?«

»Nein.«

»Das ist für mich ganz, ganz wichtig, verstehst du? Kannst du es schwören?«

»Ich schwöre!« Coco hört, wie Robert seinen Hinterkopf mehrmals gegen die Tür schlägt. Sie zuckt bei jedem Schlag zusammen. »Von mir aus kannst du deinen tollen Freunden ruhig erzählen, dass ich geflennt hab. Dass ich eine fette, heulende Memme bin. Ihr könnt euch gern über mich totlachen, ist mir jetzt auch egal. Heute haben sie gesagt, dass sie mich abstechen wollen wie einen Luftballon. Ja, das haben sie gesagt!«

»Ich … Mensch, ich kann einfach nicht glauben –«

Plötzlich reißt Robert die Tür auf. Sein Gesicht ist krebsrot vor Wut. »Dann frag sie doch, falls du dich traust! Frag sie, ob sie mein Rex Bike geklaut haben und meinen iPod, und frag sie auch, was sie mit dem neuen Jack-Wolfskin-Rucksack von Sandor gemacht haben! Und woher die ganze Kohle kommt, mit der sie in der Schule angeben, wenn sie mit einem fetten Schein in der Cafeteria ihre Kaugummis bezahlen!«

Mit einem Knall geht die Tür wieder zu.

»Okay.« Coco atmet tief durch. »Okay. Gut. Ich tu es. Ich frag sie. Heute noch. Versprochen. Also wenn das wahr ist … wenn es tatsächlich stimmen sollte, dann …« Sie stockt.

»Was ist dann?«

Coco atmet tief durch. »Dann … dann sind sie nicht mehr meine Freunde.« Als Coco das sagt, spürt sie auf einmal einen Stich im Herz. Sie will nicht, dass es wahr ist! Es darf nicht wahr sein. Doch sie zwingt sich, ihre Freunde mit Roberts Augen zu sehen. Wie er sie sieht. Wie er sie erlebt hat: als eine Gruppe von brutalen Typen. Hat er womöglich recht? Sind diese Leute, die – wenn auch erst seit Kurzem – ihre Freunde sind, im Grunde ganz anders, als sie glaubt? Hat sie tatsächlich so wenig Menschenkenntnis, so wenig Gespür? »Wenn du mit denen rumhängen willst, dann ohne uns«, haben ihre Freunde von früher zu ihr gesagt. Coco hat es als Neid abgetan. Denn Tomkes Clique ist die coolste an der ganzen Schule. Wenn sie zusammen über den Schulhof schlendern, dann folgen der Clique sehnsüchtige Blicke, und auf den Fluren wird über sie geflüstert. Ein paar Mädchen ahmen sogar Eylins ausgefallenen Modestil nach oder staksen wie Miriam auf hochhackigen Schuhen herum.

Ist es tatsächlich möglich, dass es diese Clique ist, die das Goethe-Gymnasium terrorisiert? Ihre Clique, auf die sie so stolz ist? Seit mehr als einem Jahr gibt es diese Gerüchte, dass Fünft- und Sechstklässler auf dem Schulweg von den Älteren drangsaliert und abgezockt werden. Dass einzelne Schüler gemobbt und gequält werden. Es fanden bereits mehrere Elternabende statt, bei denen hitzig über die Sicherheit an der Schule debattiert wurde. Eltern berichteten davon, dass ihre Kinder morgens nicht aus dem Bett wollten, weil sie Angst vor dem neuen Schultag hatten. Vor jedem Schultag. Cocos Eltern haben ihr davon erzählt. »Könnt ihr euch so was vorstellen?«, hat Cocos Mutter fassungslos gefragt. Coco hat Nein gesagt und Nelly hat nur mit dem Kopf geschüttelt.

Seit dem letzten Schuljahr bietet ein Schulpsychologe regelmäßig Sprechstunden für Betroffene an. Aber angeblich hat nie jemand Gesprächsbedarf. Es gibt nie etwas Konkretes. Keine Anhaltspunkte, keine Anzeigen, keine Schulverweise. Es kursieren immer nur Gerüchte, die sich mal verdichten und dann wieder weggelacht werden. »Hey, an unserer Schule ist doch alles in bester Ordnung!«, heißt es dann nur.

Ist es wirklich möglich, dass ausgerechnet Tomke und seine Freunde hinter alldem stecken? Können Menschen sich so verstellen? Natürlich, wenn Coco es sich genau überlegt … Irgendjemand von ihnen hat immer Geld. Irgendjemand von ihnen ist immer etwas zu aufgedreht, zu kumpelhaft, zu geheimniskrämerisch. Wie Darian zum Beispiel. Oder euphorisch, wie Eylin, die manchmal Lachanfälle bekommt, als würde sie gleich ersticken.

Es kam auch schon vor, dass ein Gespräch abrupt unterbrochen wurde, wenn Coco zur Gruppe stieß. Oder dass die anderen über irgendwelche »Aktionen« kicherten, bei denen sie nicht dabei gewesen war. Und als Tomke auf einmal stolz mit seinem neuen Roller ankam und sie ihn fragte, woher er das Geld hatte, da hatte er nur gelacht …

Aber wie kann es sein, dass sie sich in Tomke verliebt hat? Wie kann es sein, dass sie diese Gerüchte nie mit ihm in Verbindung gebracht hat? Andererseits: Woher sollte sie wissen, ob Robert das nicht alles nur erfand?

»Tomke auch? Wirklich?«, fragt sie leise und denkt: Nicht Tomke, bitte nicht er! Ausgerechnet Tomke, der alles von ihr weiß, mehr als ihre eigene Familie! Und die Clique, die jetzt auch ihre Clique ist. Die Leute, mit denen sie am liebsten abhängt. Mit denen sie gerade die coolste Zeit ihres Lebens hat. Diese Clique ist jetzt ihr Zuhause, ihre Welt. Das kann nicht sein!

Doch Robert kennt Tomke genau. Er muss ihm in der letzten Zeit hier im Treppenhaus öfter mal begegnet sein. Denn seit zehn Wochen sind Tomke und sie ein Paar. Wie sie innerlich gejubelt hat, als Tomke zu ihr gesagt hat: »Jetzt gehörst du nicht nur zu mir, sondern auch zur Clique.« Es war der glücklichste Moment in ihrem Leben.

»Tomke war nicht dabei, oder?«, flüstert sie.

Sie will hören, dass Robert sagt: »Nein, der nicht. Tomke war nie dabei. Nur die anderen …«

Aber Robert sagt die erlösenden Worte nicht. Er sagt jetzt gar nichts mehr. Er schweigt so beharrlich, dass Coco schließlich »Dann Tschüss, Robert« murmelt und sich die Treppe hoch in ihre Wohnung schleppt.

Niemand ist da. Ihre Eltern sind noch in der Firma, Nelly hat Gitarrenunterricht.

Coco schlurft in ihr Zimmer und wirft sich auf ihr Bett.

Und da bleibt sie liegen, die Augen starr gegen die Decke gerichtet, und denkt nach. Sie grübelt und hadert und zweifelt. Sie schluchzt eine Weile hilflos in ihr Kuschelkissen, ehe sie die Wut packt und sie mit geballten Fäusten gegen die Wand hämmert.

Schließlich greift sie nach ihrem Handy und wählt Tomkes Nummer. Nur die Mailbox. Fluchend wählt sie die Nummer von Linus. Der ist ihr aus der Clique der Zweitliebste. Natürlich nach Tomke. Besetzt.

Coco legt das Handy auf ihren Bauch. Starrt wieder gegen die Decke. Kleine Details fallen ihr ein, Erinnerungsfetzen, die nicht in das Gesamtbild passen.

Wieso eigentlich, denkt Coco, bringt Tomke mich nach der Schule nie nach Hause? Andere Mädchen aus ihrer Klasse werden immer von ihren Freunden ein Stück begleitet. Aber Tomke, Darian und Jorek hauen immer zusammen ab, gleich nach dem Abschiedskuss am Fahrradständer. Tomke mit dem Roller, auf dem Skateboard Jorek, der sich an Tomkes Gepäckträger festhält, und Darian, der den beiden hinterherradelt.

Wohin fahren sie? Was machen sie dann?

Coco fixiert eine Fliege, die im Zickzack über die Zimmerdecke spaziert, als ihre Schwester auf einmal neben ihrem Bett auftaucht und mit großen Augen auf sie heruntersieht. »Was ist denn mit dir los? Bist du krank?«

»Oh! Hallo, Schwesterherz. Ne, bin ich nicht. Nur ein bisschen müde.« Coco richtet sich auf, schüttelt sich ihre Mähne aus dem Gesicht und schenkt Nelly ihr Schwesterlächeln. »Mir geht’s immer gut. Weißt du doch. Ich denk bloß nach.«

Es ist das erste Mal, dass sie ihre Schwester belügt. »Mach die Tür wieder hinter dir zu«, sagt sie, damit Nelly endlich geht. Die wirft ihr einen fragenden Blick zu, geht aber ohne zu murren aus dem Zimmer.

Coco muss allein sein. Muss sich konzentrieren. Nachdenken. Planen. Zu einem Entschluss kommen. Noch an diesem Nachmittag. Denn abends würde sie alle wiedersehen, am Elbstrand, die gesamte Clique.

Und natürlich Tomke, ihren Tomke. Diesen lässigen Typen mit den wunderschönen braunen Wuschelhaaren. Tomke, der auf einer Blattrispe I can’t get no satisfaction pfeifen kann. Tomke, gerade achtzehn geworden, der sich täglich mit Rasierschaum rasiert und stolz kleine Heftpflaster am Kinn trägt, wenn er sich geschnitten hat. Tomke, der seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und geschluchzt hat, nachdem seine Eltern ihm eröffnet hatten, dass sie sich trennen würden, weil sie sich auseinandergelebt hätten. Dieser Tomke, den sie liebte. So sehr, dass sich ihr Bauch jedes Mal zusammenzog, wenn sie an ihn dachte.

2.

Die Clique

Um drei viertel sieben sitzt Coco schon abfahrbereit auf der Eingangstreppe. Sie trägt ihr orange-rotes Ringelkleid und dazu silberfarbene Ballerinas. Außerdem hat sie sich vorhin noch eine geschlagene Stunde an ihren Haaren abgearbeitet.

Nelly hat die ganze Zeit auf dem Badewannenrand gesessen und ihr zugeguckt. Nelly ist immer fasziniert, egal was die große Schwester macht. Nelly ist Cocos größter Fan. Das hat Coco eigentlich immer als ganz schön empfunden. Aber seit Coco ihre Clique hat, verspürt sie immer weniger Lust, ihre kleine Schwester über alle Details auf dem Laufenden zu halten. Obwohl, so klein war Nelly eigentlich gar nicht mehr. In wenigen Wochen würde sie ihren vierzehnten Geburtstag feiern.

»Wieso stylst du dich so auf?«, hat Nelly gefragt, die die dunklen Haare und den dunklen Teint ihres Vaters geerbt hat, während Coco ganz nach ihrer zierlichen blassen Mutter kommt.

»Na, weil ich toll aussehen will.«

»Tomke betet dich doch sowieso an. Der fände dich bestimmt auch super, wenn du wie eine Filzlaus aussehen würdest«, hatte ihre Schwester gemeint und albern gekichert.

Coco will an diesem Abend aber besonders toll aussehen. Aufregend. Sie möchte eine Erscheinung sein. Eine, die sich den anderen ins Gedächtnis brennt. Das ist Teil ihres Plans. Sie will so schön sein, dass es Tomke und den anderen den Atem raubt. Sie will eine Kämpferin sein. Eine schöne Kämpferin. Eine Kriegerin, eine Richterin. Die Clique soll schon bei ihrem Anblick spüren, dass etwas anders ist als sonst.

Coco hat nach langem Überlegen ihre dicken blonden Haare zu zwei Zöpfen geflochten und sie um den Kopf gelegt wie einen Kranz. Es sieht toll aus und Nelly hatte bewundernd gepfiffen, als Coco sich von ihr mit einem Küsschen verabschiedete. Sie verabschiedeten sich immer mit einem Kuss, schon seit Jahren.

Als Tomke vier Minuten vor sieben seinen roten Roller vor ihrem Haus ausrollen lässt, ist Coco sich sicher, dass Nelly oben aus dem Fenster späht.

»Hi!«, ruft Tomke, während er seinen Helm abzieht und winkt.

»Hi.«

Tomke wirkt ganz entspannt, lässig wie immer, als er auf sie zuschlendert. Er wirft keinen einzigen Blick auf die Erdgeschosswohnung, in der Robert mit seinen Eltern lebt.

Coco schnallt sich ihren Rucksack auf den Rücken und geht Tomke entgegen. Der Rucksack ist schwer, aber man kann den Inhalt nicht erahnen. Coco hat die Flaschen einzeln in Zeitungspapier gewickelt. Da Tomke neuerdings von Bier auf Whisky umgestiegen ist, hat sie dieses Mal sogar Whisky besorgt. Dazu noch zwei Flaschen Rotwein, denn sie und Linus mögen kein Bier und auch nichts Hochprozentiges. Bevor sie mit Tomke und der Clique zusammenkam, hat Coco fast nie Alkohol getrunken.

Als Coco und Tomke sich mitten auf der Wohnstraße mit einem innigen Zungenkuss begrüßen, reißt Nelly oben im ersten Stock ihr Fenster auf und ruft: »Hey, Tomke! Was macht ihr heute?«

Tomke grinst zu ihr hoch. »Was schon? Spaß haben natürlich!« Er winkt ihr. Tomke mag Nelly. Das hat Coco immer gefallen. Auch ihre Eltern finden Tomke nett, eigentlich. Bis auf die Momente, wo sie beide in Cocos Zimmer verschwinden und die Tür hinter sich abschließen …

»Kann ich mitkommen?«, ruft Nelly von oben zu ihnen herunter.

»Du spinnst wohl!«, entgegnet Coco empört.

»Tomke, sag du doch!«, versucht Nelly es nun bei ihm. »Wieso kann ich nicht mal mitkommen? Alleinsein ist doof. Ich stör euch auch ganz bestimmt nicht!«

Coco bekommt einen heißen Kopf. Manchmal macht Nelly sie mit ihrer Anhänglichkeit rasend. Vorsichtig stülpt sie den Helm über die komplizierte Zopffrisur. Weil Tomke sie einfach ignoriert, ruft Nelly nun: »Hey, Tomke, eine Frage noch: Wie findest du Cocos Frisur?«

Tomke mustert Coco. Doch da trägt sie schon ihren Helm. Sie schaut ihm in die Augen, aber sie lächelt nicht. »Zu spät«, sagt sie. »Fahren wir los?«

Tomke hilft ihr beim Aufsteigen mit dem schweren Rucksack. »Fühlt sich gut an«, meint er grinsend.

Coco erwidert darauf nichts. Sie hat lange überlegt, ob sie den Alkohol überhaupt noch mitnehmen soll. Eigentlich hat sie keine Lust mehr, ihre Eltern ständig zu beklauen.

Tomke stülpt seinen Helm über und startet die Maschine.

Nelly winkt wie verrückt oben aus dem Fenster und ruft etwas, das Coco aber nicht versteht. Und Coco kann auch nicht mehr zurückwinken, denn sie hat bereits ihre Arme um Tomkes Taille gelegt. Wie immer.

An der Elbe, etwa fünfzehn Kilometer außerhalb der Stadt, kann man barfuß auf den in Jahrmillionen glatt geschliffenen Kieseln in den Fluss gehen und den Fischen zusehen, die pfeilschnell wie silberne Blitze durchs Wasser schießen. Früher gab es in der Elbe kaum noch Fische, doch jetzt kann man sogar wieder darin baden.

Wenn die Dämmerung in die Dunkelheit übergeht, dann sitzen sie alle am Ufer um ein Lagerfeuer. Diese Stunden hat Coco in den Sommerferien immer am meisten geliebt, wenn alle beschwipst ins Feuer gestarrt und Blödsinn geredet haben und Tomke heimlich seine Hand unter ihr T-Shirt geschoben hat, ohne dass die anderen es mitbekamen.

Coco hat diesen Platz erst durch die Clique kennengelernt. Davor ist sie noch nie hier gewesen. Sie wohnen auf der anderen Elbseite in Neustadt, unweit von dem kleinen Unternehmen ihrer Eltern, und auch zu ihrer Schule kann sie mit dem Rad fahren. Der Getränkegroßhandel, der ihren Eltern gehört, beliefert Restaurants, Hotels und Privathaushalte. Drei weiße Laster, auf denen Rossis Getränkeservice steht, kurven täglich durch die Stadt und liefern Getränke aus. Für eine Clique, die gern Party macht, ist es ziemlich praktisch, wenn ein Mitglied so leicht für gute Stimmung sorgen kann.

»Love all inclusive«, hat Darian grinsend gemeint, als Tomke sie zum ersten Treffen mitbrachte und Coco als Einstand eine Literflasche Jamaica Rum aus ihrem Rucksack zog.

Tomke biegt vom Uferweg ab und steuert seinen Roller einfach durch die Uferböschung direkt auf die Gruppe zu, die schon eifrig das Treibholz der letzten Überschwemmung zu einem Lagerfeuer aufschichtet.

Als Linus sie entdeckt, reckt er beide Arme in den Himmel und macht mit gespreizten Fingern das Victory-Zeichen. Tomke betätigt ausgiebig die Hupe vorn am Lenker.

Linus läuft auf sie zu. Er stammt aus einer berühmten Jockey-Familie. Sein Großvater hat zweimal die St. Leger Stakes und einmal das Hamburger Derby gewonnen. Linus ist ein Leichtgewicht und mindestens eineinhalb Köpfe kleiner als der Rest der Jungs. Eine Weile hat er in einer Artistengruppe trainiert und konnte sich verbiegen, als wären seine Knochen aus Gummi.

Dann sieht Coco auch den Rest der Clique. Es sind alle da. Jorek, die Bohnenstange, ist wie immer mit dem Skateboard gekommen. Er benutzt nie die Radfahrwege oder Bürgersteige. Er kurvt völlig angstfrei zwischen Autos, Lastern, Bussen und der Straßenbahn herum, so sicher und geschickt, als wäre es ein Kinderspiel.

Darian sieht meistens aus, als hätte er seit Wochen seine Klamotten nicht gewechselt. Aber dafür gelt er seine Haare, dass sie wie ein Hahnenkamm hochstehen. Darian hat in letzter Zeit zugenommen. Seit seine Mutter Veganerin ist und ihm nur noch »Grünfraß« hinstellt, legt er sein Geld in Fast Food an.

Eylin – heute in ihren schärfsten Hotpants – planscht barfuß im seichten Elbwasser herum und lässt von Zeit zu Zeit einen spitzen Schrei los, damit sie ja niemand vergisst und man immer mal wieder zu ihr hinschaut, wenn sie wie ein Flamingo über die Kiesel stolziert.

Dann ist da noch Miriam, eine ziemliche Dramaqueen. Miriam geht in dieselbe Klasse wie Coco. Wenn sie mal eine Fünf bekommt, bricht sie sofort in Tränen aus. Manchmal erweicht sie damit das Herz der Lehrer und schindet eine Vier minus raus. Gerade breitet sie ihre rote Wolldecke auf den Steinen aus. Miriam ohne rote Wolldecke ist undenkbar. Sie braucht immer etwas Weiches zum Sitzen. Kein Wunder, denn Miriam ist so superdünn, dass ihre Knochen ganz scharfkantig hervorstehen.

Wie immer werden Coco und Tomke umringt, als Cocos Rucksack geöffnet und der Inhalt inspiziert wird. Tomke wickelt den Whisky aus dem Zeitungspapier und studiert das Etikett.

»Wow«, sagt er und schenkt Coco ein anerkennendes Lächeln, »das ist ja ein zwölf Jahre alter Bourbon!«

»Hauptsache Literflasche«, meint Jorek trocken.