Liebe passiert - Brigitte Blobel - E-Book

Liebe passiert E-Book

Brigitte Blobel

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Beschreibung

Lilli hat es schon immer gewusst: Wenn sie denn endlich da ist, diese Liebe, dann sicher im falschen Moment. Und genauso ist es, als sie in Lucas meergrüne Augen sieht - und ihr einfällt: Sie muss für Wochen Weg aus der Stadt … Erfolgsautorin Brigitte Blobel erzählt in einem raffinierten Reigen von Abstürzen und von Höhenflügen. Von der Liebe eben.

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Seitenzahl: 305

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Brigitte Blobel

Liebe passiert

 

Ebenfalls von Brigitte Blobel im Arena Taschenbuch erschienen (Auswahl):

Herzsprung. Wenn Liebe missbraucht wird (Band 50092)Eine Mutter zu viel. Adoptiert wider Wissen (Band 2745)Alessas Schuld. Die Geschichte eines Amoklaufs (Band 2732)Rote Linien. Ritzen bis aufs Blut (Band 2733)Liebe wie die Hölle. Bedroht von einem Stalker (Band 2734)Meine schöne Schwester. Der Weg in die Magersucht (Band 2735)Shoppingfalle (Band 2909)Einfach nur glücklich (Band 2289)Die Clique (Band 2641)Mensch, Pia! (Band 2856)Jeansgröße 0 (Band 50147)

 

 

 

 

Brigitte Blobel, 1942 geboren, studierte Politik und Theaterwissenschaft. Heute arbeitet sie als erfolgreiche Journalistin und schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen sowie Romane für Erwachsene und Jugendliche, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie ist eine der beliebtesten deutschen Autorinnen.

 

 

 

3. Auflage als Arena-Taschenbuch 2011 © 2005 Arena Verlag GmbH, Würzburg Die Originalausgabe ist 2005 unter dem Titel »Herzbrennen« erschienen Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung und -typografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80359-3

www.arena-verlag.de

Lilli

Lilli hat es gewusst: Wenn die Liebe kommt, dann genau im falschen Moment. Das gehört zur Liebe irgendwie dazu. Deshalb gibt es um die Liebe ja immer so ein Drama. So viel Herzklopfen. Und Tränen. Oh Gott, sie hat schon jede Menge Tränen getrocknet, die vergossen wurden, weil – wie ihre große Schwester Sandra sagt – der Liebesvirus immer im falschen Moment ausbricht. Bei Sandra war es so gewesen, aber auch bei ihrer Kusine Maggie, und wenn sie daran denkt, wie Jasmin sich am letzten Abend ihrer Klassenfahrt nach Berlin unsterblich in einen gewissen Boris verliebte, der am nächsten Tag nach Australien auswandern wollte . . . So krass hatte sie es noch nicht erlebt, aber irgendwie war es klar, dass auch bei ihr einmal etwas ähnlich Dramatisches passieren würde.

Deshalb wollte Lilli sich auf keinen Fall kurz vor den großen Ferien verlieben. Auf keinen Fall! Denn für die großen Ferien, und sogar noch eine Woche über das Ferienende hinaus, hatten ihre Eltern sie zu einem Sprachcollege in Frankreich angemeldet. In Bordeaux. Dort sagte man Étude des langues, was irgendwie sehr vornehm klang. Aber wahrscheinlich auch bedeutete, dass man sich in diesem Institut, das in einem alten Schloss untergebracht war, gut benehmen musste. Die Leitung lag zum Beispiel in den Händen einer Comtesse de Fresnes. Vorname Marie-Joséphine. Lilli stellte sie sich in grauer Seide vor, in einem Korsett, in dem die Comtesse kaum atmen konnte, dazu schmale Lippen und kalte graue Augen. Eigentlich freute sie sich auf diese Collegeferien überhaupt nicht. Aber ihre Französischnote tendierte gegen fünf, und das war die Peinlichkeit total, weil ihr Vater für ein französisches Unternehmen arbeitete (Parfümindustrie, nicht gerade schlecht) und fast perfekt in dieser Sprache war.

Nun gut. Es war die erste Juliwoche, in genau fünf Tagen würde sie in den TGV steigen, in diesen schnellen Superzug, der sie von Köln-Hauptbahnhof über Paris nach Bordeaux bringen würde. Dort sollte sie abgeholt werden von einem Fahrer, der ein Schild mit ihrem Namen hochhalten würde, und Lilli konnte nur wünschen, dass sie diesen Mann unter den tausenden von Reisenden, die man sich im Sommer auf dem Hauptbahnhof von Bordeaux vorstellt, auch entdecken würde.

Inzwischen nähte ihre Mutter, wie das Institut es erwartete, ihren Namen in alle Kleidungsstücke, in jedes T-Shirt, jeden Slip, in BH und Jeans, in ihre Stretchkleider und in ihre Nachthemden – die sie garantiert nicht anziehen würde. Es war der heißeste Juli, den Köln seit Jahren erlebte. Der Asphalt dampfte und rund um den Kölner Dom – wo sich die Kids sonst auf ihren Skateboards Mutproben lieferten, kochten die Basaltsteine. Man spürte ihre Hitze durch die Schuhsohlen hindurch.

Das Innere des Doms füllte sich jeden Mittag mit Leuten, die Schatten und Kühle suchten, und nicht etwa die Ausschüttung des Heiligen Geistes.

Lilli arbeitete nachmittags nach der Schule ganz in der Nähe des Domplatzes in einem Eiscafé. Sie hatte diesen Job von ihrer Schwester Sandra geerbt, und obwohl er miserabel bezahlt wurde, war er heiß begehrt. Denn das POSITANO hatte eindeutig das beste Eis der Stadt. In diesem Jahr war Meloneneis der große Hit (obwohl es, wie Lilli fand, eigentlich nach gar nichts schmeckte, aber es hatte eben so eine schicke, durchscheinende rosa Farbe . . .). Und noch wichtiger: Das POSITANO war angesagt bei allen Leuten aus ihrem Gymnasium, also war hier jeden Nachmittag Klassentreffen. Mit dem Unterschied, dass sie als Einzige dafür bezahlt wurde, dass sie das Meloneneis – und mehr als nur das – essen konnte.

Es war ihr letzter Arbeitstag vor den Ferien. Lilli musste (wie immer) dafür sorgen, dass Tische und Stühle akkurat standen, sobald eine Gruppe aufgebrochen war, sie musste die Tischflächen sauber halten, Bestellungen annehmen und den Hunden, die manche Leute in der Hitze mit sich herumschleppten, Wasserschüsseln hinstellen. Ab und zu spülte sie hinter der Theke Eisbecher aus und stellte sie kopfüber in die Abtropfe oder hatte für Nachschub bei den Strohhalmen und den Papierservietten zu sorgen. Und natürlich (auch wie immer) das leidige Auslehren der Aschenbecher. Das war überhaupt die ekligste Arbeit, denn Lilli war leidenschaftliche Nichtraucherin. Sie hasste Leute, die ihre Zigarette auf der Untertasse ihrer Capuccinotasse ausdrückten, oder, schlimmer noch, in der Lache irgendeiner Cola-Pfütze. Da konnte sie echt grillig werden. Da fauchte sie los, ohne richtig hinzusehen.

So zum Beispiel jetzt, als sie draußen auf dem Gehweg an Tisch sieben stand. »Hey, Mann, was soll die Sauerei? Seid ihr zu Hause auch solche Schweine?«, schimpfte sie, als sie auf der Untertasse dieses Ekelgemisch aus feuchter Asche und Milchschaum entdeckte.

»Willst du das jetzt tatsächlich wissen?«, fragte der Typ, zu dem der Teller gehörte. »War das eine echte Frage oder machst du hier jeden so an?«

Und Lilli, die Hand schon am Teller, hob den Blick. Und schaute in meergrüne Augen unter ausgebleichten Augenbrauen, inmitten von mindestens hundert Sommersprossen. Locken bis zu den Ohrläppchen, um den Hals ein Lederband mit drei kleinen bunten Steinen, rotes Polohemd, dunkelblaue Bermudas. Und ein Lächeln, das bestimmt nicht ihr galt, das aber eine verdammt gute Wirkung hatte. Er spielte mit seinem Handy; wahrscheinlich hatte er gerade eine SMS von seiner Freundin bekommen. Augenblicklich spürte Lilli eine rasende Eifersucht auf jedes andere weibliche Wesen in sich aufsteigen. Denn sie wusste: Da saß der Typ ihrer Träume.

So viel zu Nicht-verlieben-vor-den-Sommerferien. Augenblicklich versank sie in diesem Meergrün und es war wie damals, als sie ihren Tauchgang machte. Damals in Sardinien, als sie zwischen schillernden Fischen herumschwamm wie in Trance. Schwerelos und ohne irgendeinen richtigen Gedanken, ganz einfach erdenlos glücklich war sie da gewesen, ohne nachher sagen zu können, wieso eigentlich.

Jetzt strampelte sie in diesem Meergrün der Augen eines Jungen, den sie vorher noch nie gesehen hatte, und wusste: Wenn ich hier nicht gleich wieder auftauche, hoch an die Oberfläche, ans Tageslicht, wenn ich nicht gleich einmal tief durchatmen kann, mich schütteln und wieder Lilli sein, dann bin ich für immer verloren. Sie dachte für einen Moment an diese Meerjungfrau aus Bronze, die irgendwo an der Ostsee stehen sollte und die von einem jungen Mädchen erzählte, dass sich in einen Fisch verliebt hatte. Oder war es ein Fischer gewesen? Irgendwie war dem Mädchen jedenfalls eine silber-schuppige Flosse gewachsen und es wurde zu einem Wesen, das es noch nie gegeben hatte: oben ein Mensch und unten ein Fisch.

Lilli hatte schon manches Mal festgestellt, dass ihr in besonderen Augenblicken ganz viel durch den Kopf schießen konnte. »Das ist nicht richtig Denken, eigentlich ist es Garnichtsdenken, es sind Gefühle, die in rasender Geschwindigkeit durch mich durchlaufen«, hatte sie ihrer Schwester mal erklärt. So sollen ja zum Beispiel Leute kurz vor ihrem Tod noch einmal ihr ganzes Leben sehen können, im Schnelldurchlauf. Kurz vor dem Tod? Offenbar nicht nur: Lilli sah im Hundertstel einer Sekunde noch einmal die schönsten Augenblicke ihres sechzehnjährigen Lebens. Dieses Wasser an der sardinischen Küste, smaragdgrün. Und sie spürte wieder ihr Unterwasser-Lächeln, dieses absolut überirdische, unmögliche Lächeln, das man mit einer Tauchermaske unter Wasser eben doch haben kann, weil man so glücklich ist. Und es spannte irgendwie im Gesicht, ganz komisch, und sah wahrscheinlich total albern und bescheuert aus, weil sie ja nicht unter Wasser war, sondern in der Nähe des Kölner Domplatzes, an einem 25. Juni gegen siebzehn Uhr nachmittags, bei 33 Grad im Schatten. Ihr T-Shirt klebte am Bauch und am Rücken und die rosa-weiß karierten Bermudas saßen wie eine klebrige Schlangenhaut an ihren Oberschenkeln.

»Sag mal, hast du irgendwas? Lilli! Mensch!« Das war Ronnie. Ronnie Erdmann aus ihrer Theater-AG. Ronnie war siebzehn, irgendwie seltsam drauf, fuhr Vespa und war überhaupt nicht ihr Typ. Aber an diesem Tag war er mit einem Freund erschienen, der meergrüne Augen hat . . .

Sie spürte, dass sie schwankte und dass Ronnie ihren Arm packte, und dann erst merkte sie, dass sie vergessen hatte zu atmen und in der nächsten Viertelsekunde wahrscheinlich ohnmächtig werden würde.

Wie kann man einfach aufhören zu atmen? Das Atmen ist doch ein automatischer Vorgang! Das Atmen geschieht doch, ohne dass man sich dessen überhaupt bewusst wird! Zigtausend, Millionen Menschen hätten schon das Zeitliche gesegnet, wenn sie selbst für ihre Atmung verantwortlich wären. Denn es gibt tausendundeinen Grund, warum man in gewissen Augenblicken aufhören könnte, an seine Atmung zu denken.

Einer dieser Gründe waren zum Beispiel meergrüne Augen. In Kombination mit der verzweifelten Frage, wie man die Bemerkung ». . . oder seid ihr zu Hause auch solche Schweine?« rückgängig machen kann.

Lilli packte den Teller, der ihr auf einmal gar nicht mehr so eklig vorkam, und flüchtete ins schattige, klimatisierte Innere des POSITANO, huschte hinter die Theke, machte sich ganz klein, riss Papier von der Haushaltsrolle, wischte den Dreck vom Teller und wollte ihn in den Geschirrspüler stellen – stieß dabei aber unglücklicherweise gegen etwas, und schon waren um sie herum nur Scherben, weiß und aus Glas, und Bodo, der Pächter des POSITANO, raufte sich die Haare und ließ wieder sein übliches Gemecker ab über junge Leute, die keine Ahnung vom Business haben. Als wenn ihn jemand daran hinderte, Profis aus der Gastronomiebranche einzustellen.

Lilli hockte auf dem Boden und sammelte die Scherben des einstigen Weißbierglases in ihre hohle Hand. Ihr Zeigefinger blutete, aber das machte ihr gar nichts. Ganz im Gegenteil. Es war irgendwie schön, zu sehen, wie ihr Blut die Glassplitter färbte und wie ihre Handfläche sich füllte mit rubinroten Splittern . . . Es war auch schön, zu sehen, wie ein großer schwarzer Käfer ganz seelenruhig unter der Spüle verschwand, und es war schön, dass die Haut über ihren Kniescheiben ganz weiß wurde, wenn sie so in die Hocke ging. Vielleicht war das alles hier nicht wirklich schön, aber es war besser, als wieder nach draußen zu gehen. Nach vorn, rechts zum Tisch sieben, wo Ronnie mit seinem meergrünen Kumpel wahrscheinlich immer noch darauf wartete, dass sie ihnen erklärte, was sie unter Schweinereien verstand. Wahrscheinlich knufften die sich in die Seite und grienten sich eins und Ronnie erzählte dem meergrünen Kumpel, wie blöde Lilli sich einmal in der Theater-AG angestellt hatte, als sie das DSCHUNGELBUCH aufführen wollten und Lilli allen Ernstes dachte, sie könnte den geschmeidigen Gang eines Tigers nachahmen. War ein ziemlicher Brüller gewesen damals, ihre Vorführung. Oder er erzählte vielleicht gerade, wie ihr BH bei der Generalprobe von GREASE hinten auf dem Rücken nicht richtig zu gewesen war. Überhaupt war es nicht ihr BH gewesen, denn sie war durchaus in der Lage, ihren eigenen BH blind hinten einzuhaken, sondern es war so ein Ding, das sie über ihrem T-Shirt tragen sollte, so ein kariertes Wahnsinnsding mit 70er-Jahre-Spitzenkäntchen, und das war aufgegangen. Und hatte die Show geschmissen.

Wahrscheinlich erzählte Ronnie genau das.

Und deshalb blieb Lilli einfach in der Hocke sitzen. Und als sie es endlich wagte, wieder über den Tresenrand nach draußen zu schauen, war Tisch sieben leer. Sie richtete sich langsam auf. Sie pustete die Haare aus der Stirn und schob die Hosenbeine ihrer Bermudas zurecht. Sie rieb ihre Knie. Sie holte tief Luft. Sie starrte auf Tisch Nummer sieben und konnte es irgendwie nicht fassen, dass die Stühle so akkurat drum herumstanden, vier Stühle, genau im 90-Grad-Winkel um den grünen Eisentisch mit dem Ständer für Eiskarte, Strohhalme und den Zuckertopf in der Mitte. Und der Eisentisch war absolut sauber, als habe ihn in den letzten zehn Jahren nie einer benutzt.

Aber um Tisch sieben herum war jede Menge Leute, Lärm, Lachen, Gerempel. Nur Tisch sieben: leer, sauber, akkurat. Als wäre eine Kordel um ihn gezogen, mit dem unsichtbaren, aber irgendwie deutlichen Signal: Dieser Tisch ist heilig. Bitte nicht setzen, bitte nicht die Hände auf diesen Tisch legen. Nicht rauchen.

Lilli ging langsam hinaus, stellte sich unter den Sonnenschirm von Tisch eins und starrte Tisch sieben an. Sie hob den Kopf, ließ die Augen schweifen, über den Platz, die Gasse hinunter.

Sie sah Japaner, die ihre Fotoapparate im Anschlag hatten, eine Frau mit einem Zwillingskinderwagen, der nicht durch die Tür des Supermarktes passte, einen Hund, der in die Trinkschale davor pinkelte, während der Junge, der ihn an der Leine hielt, seelenruhig zuschaute.

Sie sah die drei Lolitas aus ihrer Parallelklasse, die sich an Tisch fünf gesetzt hatten, die Köpfe zusammensteckten und tuschelten, und sie schüttelte sich und dachte, das hab ich geträumt. Das ist alles gar nicht wahr.

Als jetzt jemand an Tisch vier eine neue Bestellung aufgeben wollte, hatte sie sich schon so weit wieder unter Kontrolle, dass sie sagen konnte: »Limonensorbet ist leider aus.« Aber dabei ließ sie den Blick schweifen, nach rechts und links, so, als könnten diese meergrünen Augen sie plötzlich von irgendwo her anleuchten, aus der Tiefe des Raumes, aus dem Staub und der Hitze, und als würden sie sich vielleicht gerade nur verstecken im Klang der Domglocken, die mit ihren dröhnenden Schlägen alle anderen Stimmen und Geräusche und Blicke erstickten.

Als Lilli abends um neun Uhr nach Hause kam, stieß sie die Tür zu Sandras Zimmer auf, ließ sich auf das Bett fallen, obwohl sie wusste, dass ihre Schwester es hasste, wenn sie die indische Bettdecke verknautschte, und stöhnte dramatisch: »Sandra, es ist passiert!«

Sandra hatte ein Einser-Abitur gemacht und wartete jetzt auf einen Studienplatz für Medizin. Sandra war ein Intelligenz-Wunder.

Sie saß vor ihrem Computer und verschickte schlaue Mails an ihre Freunde, die, irgendwo auf der Welt verstreut, irgendwelche Dinge trieben, oder sie versuchte gerade – was eine andere Lieblingsbeschäftigung von ihr war – bei Ebay etwas zu ersteigern, das sie garantiert nicht brauchte. Sandra drehte sich langsam auf ihrem Drehstuhl zu Lilli um und sagte: »Runter von meinem Bett!«

»Mensch, Sandra! Hast du nicht gehört? Ich sagte: ›Es ist passiert!‹«

»Und ich sagte: ›Runter von meinem Bett!‹«, erwiderte Sandra seelenruhig.

Lilli seufzte. Wieso verstand sie in dieser Familie keiner, nicht einmal die ältere Schwester? Ältere Schwestern hatte man doch dafür, dass man sich bei ihnen ausheulen – oder auslachen konnte. Oder was sonst? Lilli richtete sich auf, setzte sich auf den Bettrand, spielte mit ihren Zehen, die rot lackiert waren. »Ich werde sie umlackieren«, sagte Lilli. »Und weißt du, wie? Meergrün.«

»Warum gehst du nicht ins Bad und fängst schon mal damit an?«, schlug Sandra vor und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

Lilli stand auf. Sie ging zur Tür. In der Türfassung blieb sie stehen. Sie dämpfte ihre Stimme, weil sie wusste, dass Sandra dann Angst haben würde, etwas zu verpassen.

»Ich habe mich verliebt«, sagte Lilli. »Und zwar unsterblich.

Wenn ich diesen Jungen nicht kriege, dann ist mein Leben umsonst gewesen.«

Sandra seufzte, legte die Hände auf die Tasten. »Und wie heißt dieser Gott?«, fragte sie spöttisch.

»Keine Ahnung.«

»Und was ist an ihm so toll?«

»Er hat meergrüne Augen.«

»Und sonst geht es dir gut?«, fragte Sandra, immer noch in diesem Hey-ich-bin-deine-große-kluge-Schwester-Ton.

»Nein«, sagte Lilli, »es geht mir nicht gut, denn es ist so gekommen, wie ich es immer befürchtet hab: Jetzt, wo ich hier bleiben möchte, um die Luft zu atmen, die er atmet – jetzt muss ich weg.«

Sandra stand auf, sehr langsam, mit einer dieser trägen Bewegungen, die eine ältere Schwester so an sich hat, wenn sie ihrer jüngeren Schwester eine Lektion erteilen will.

Sie fasste Lillis Schultern, drehte sie mit dem Gesicht zum Flur und schob sie aus dem Zimmer.

»Einfach eiskaltes Wasser ins Gesicht«, sagte sie. »Das hilft gegen jede Art von Wahnsinn.«

Der nächste Tag war ein Samstag. Samstag war keine Schule und Lilli musste nicht arbeiten. Dennoch schlich sie ums POSITANO herum, in der Hoffnung, Ronnie und der meergrüne Kumpel würden erscheinen. Sie dachte wirklich: erscheinen. Wie Heilige es tun oder Wunder.

Lilli plauderte länger als je vorher in ihrem Leben mit Leuten, die sie eigentlich nicht ausstehen konnte, wie zum Beispiel mit Beatriz. Beatriz ließ immer raushängen, dass ihre Eltern Mitglieder im neuen Golfclub waren und ihr Freund Handicap 25 hatte, was immer das bedeutete. Und er fuhr ein Golf-Cabrio, deshalb brauchte sie eine einschnittige Frisur. Oder mit Tassilo aus der Zehnten, mit dem Sandra ausschließlich über das letzte Formel-1-Rennen reden konnte. Sie schaffte es sogar, Mira zu sagen, dass ihre neue Zahnspange echt toll aussah, obwohl Mira, wenn sie sprach, die Worte geradezu heraussprühte, mit viel atomisierter Spucke, und man danach sofort unter die Dusche wollte. Sie half der Samstagsschicht beim Abwasch, obwohl sie das immer besonders blöd bei ihren Kollegen gefunden hatte: Wenn man einen Tag etwas für Geld tut, macht man dasselbe doch am nächsten Tag nicht umsonst!

Sie kaufte sich ein Vanilleeis mit Schokostückchen und eine Kugel Pfirsicheis, sie schmökerte sich durch die alten, zerfledderten Zeitschriften auf der Ablage neben dem Klo und alle drei Sekunden, zirka, schaute sie wie zufällig in die Runde und jedes Mal stockte ihr der Atem in der schieren Hoffnung, der meergrüne Heilige würde erscheinen.

Es passierte nichts. Stumpf schlich Lilli abends nach Hause, schlurfte mit gesenktem Kopf an der geöffneten Terrassentür vorbei und reagierte nur mit einem Knurren auf die freundliche Aufforderung der Eltern, sich doch zu ihnen zu setzen.

»Gibt nachher Barbecue!«, rief ihr Vater.

Statt einer Antwort schloss Lilli sich ins Bad ein. Sie hörte durch das schräg stehende Klappfenster, dass man über sie sprach.

Während Lilli, die Arme auf den Waschbeckenrand gestützt, ihr tranceartig verändertes Gesicht studierte, hörte sie, wie Sandra sagte: »Die hat einen Knall, hat sich verliebt, sagt sie. Ich meine, sie glaubt, dass sie verliebt ist.«

»Ach!«, rief ihre Mutter. »Wirklich? Wie schön!«

»Was soll daran schön sein?«, fragte Sandra spitz. Sandras Beziehung zu einem gewissen Thiemo von Thelden war im Frühjahr kaputtgegangen, über die Gründe schwieg sie sich aus, aber seit dieser Zeit war sie unausstehlich, wenn die Rede auf das Thema kam.

»Es ist doch schön, wenn man sich verliebt«, beharrte Lillis Mutter. Und Lilli konnte sich vorstellen, wie ihre Mutter dabei die blonden Locken aus der Stirn pustete, wie sie es immer tat, wenn sie gut gelaunt war. »Als ich so alt war wie ihr . . .«

»Bitte«, sagte Sandra scharf, »ich bin vier Jahre älter als Lilli, wirf uns nicht immer in einen Topf. Ich weiß, was echte Liebe ist und was die Leute dafür halten – auf alles beides kann ich verzichten.«

»Ja«, sagte ihr Vater. »Das haben wir gemerkt.«

»Was soll das heißen?«, schnappte Sandra.

Lilli beugte sich weiter vor und legte die Hände an die Wangen, drückte sie langsam zusammen, sodass ihre Lippen zu einem Schmollmündchen wurden. Rund und rot. Ob Meerauge Lust hätte, solche Lippen zu küssen?

Sie öffnete die Lippen leicht zu einem kleinen erstaunten O. Sie stellte sich vor, wie jemand – zum Beispiel einer mit meergrünen Augen – seine Zungenspitze durch dieses kleine O schob.

Da sagte ihr Vater – und sie konnte wirklich jedes Wort sehr deutlich durch die geöffnete Klappe verstehen: »Seit du diese Geschichte mit Thiemo beendet hast, ist für dich das Leben doch schwarz wie die Hölle.«

»Nicht wie die Hölle, wie der Tod«, sagte Lillis Mutter. »Aber vorher war es strahlend wie der Himmel.« »Ich hab gar nichts beendet. Liebe ist für Leute, die unbedingt leiden wollen.« Sandra ereiferte sich. »Also nichts für mich. Danke schön. Und können wir bitte endlich über etwas anderes reden?«

Als Lillis Mutter fragte, wer denn der Glückliche sei, in den Lilli sich verliebt habe, gab Sandra schon keine Antwort mehr. Wahrscheinlich war sie mit dem Vater in die Küche gegangen, um den Grillabend vorzubereiten.

Lilli ging in ihr Zimmer, legte sich ins Bett. Sie zog die Decke bis zum Kinn, und während der würzige Duft von Thymian und Rosmarin und gegrilltem Fleisch sie umhüllte, träumte sie von der Liebe.

Am Sonntag hatte das POSITANO geschlossen. Das war immer so, seit Jahrzehnten, für den Sonntag hatte das POSITANO keine Konzession.

Lilli überlegte, unter welchem Vorwand sie Ronnie anrufen könnte. Irgendetwas mit der Theater-AG? Aber nein. Sie hatten ja noch nicht mal einen Plan, wann die nächsten Aufführungen sein sollten. Und was sie spielen würden. Ob Musical, Drama, Puppenspiel . . . Es gab keinen Grund, Ronnie deswegen anzurufen, zumal sie überhaupt noch nie mit Ronnie telefoniert hatte.

Ob Meerauge bei ihm wohnte? Konnte Ronnie mit ihm verwandt sein?

Sandra war an diesem Sonntag vor den großen Ferien schon früh mit ihren Freundinnen auf ein Popkonzert gefahren, Lillis Vater hatte eine Einladung zum Essen bei seinem französischen Chef, zusammen mit ihrer Mutter, und Lilli zappte sich lustlos durchs TV-Abendprogramm. Da klingelte das Telefon.

Lillis Herzschlag setzte aus. Sie drückte den Ton des Fernsehers weg und fixierte den Apparat auf dem Tischchen am Sofa mit ihrem Blick.

Eigentlich war es nicht ungewöhnlich, dass ein Telefon klingelte. Im Grunde hatte man das Telefon, damit es klingelte, oder man brauchte es, damit es bei anderen Leuten klingelte. Lilli stand auf. Es klingelte noch mal.

Sie setzte vorsichtig einen Schritt vor den anderen. Die Stille im Zimmer war so laut, dass sie das Rauschen in ihren Ohren hörte. Ihr wurde ganz übel.

Das Klingeln des Telefons zerriss diese Stille in zwei Hälften, als würde ein Betttuch zerrissen, mit einem Knall.

Sie streckte die Hand aus, griff den Hörer und flüsterte: »Ja?«

»Hallo, guten Abend«, sagte eine männliche Stimme. »Bin ich richtig bei Jürgens?«

Lilli fuhr mit der Zunge über die Lippen.

»Ja«, hauchte sie.

»Ah, das ist gut.« Die Stimme klang etwas rau, etwas angespannt.

Lilli war es, als könne sie den zitternden Atem des Sprechers spüren. »Ich würde gerne mit Lilli Jürgens sprechen, geht das, falls sie da ist?«

»Ja«, flüsterte Lilli. »Das geht. Sie ist da.«

»Schön«, sagte die männliche Stimme. Lilli umklammerte den Hörer mit beiden Händen. Ihre Handflächen waren ganz feucht. Sie schwitzte sonst eigentlich nie. Sie hätte gerne etwas gehabt, an das sie sich hätte anlehnen können, einen Sofarücken zum Beispiel. Aber sie stand so ungünstig. Sie musste sich breitbeinig aufstellen, um nicht zu schwanken.

»Und wer ist da, bitte?«, hauchte sie ins Telefon.

»Ja, äh . . .«, leichtes Räuspern, ein verlegenes Lachen. »Klar, Entschuldigung, hab ich ganz vergessen, total bescheuert. ’tschuldigung. Ich bin ein Freund von einem aus Lillis Schule, von Ronnie. Das heißt . . .« Eine Pause. Ein Schlucken. Dann ein Räuspern. »Also, ich heiße Luca Marinelli und ich würde gerne mit Lilli sprechen, wenn das geht.«

Luca Marinelli! LUCA MARINELLI! Was für ein Name! Wie Mangoeis, wie Limonensorbet, nein, besser, wie die italienische Adria, wie das smaragdgrüne Meer in der Bucht von Sardinien, wo sie zum ersten Mal getaucht hatte. Mit dieser Brille, vor der die Bubbles aufsteigen, die Luftblasen, und oben im Licht der Wasseroberfläche zerplatzen, und manchmal gibt es winzige Regenbogenfarben und die Sonne schickt durch die zerplatzten, kleinen Luftblasen unglaubliche Bündel von Lichtstrahlen, dass man wie geblendet ist . . .

»Hallo?«, sagte Luca Marinelli.

»Ja, hallo, hier ist Lilli«, hauchte sie. »Moment bitte.« Ihre Beine versagten ihr den Dienst; sie nahm das Telefon und trug es zum Sofa, ließ sich in die weißen Kissen fallen. Da klickte es.

»Hallo?«, rief Lilli. »Hallo?«

Sie lauschte. In ihren Ohren war immer noch das Rauschen, das von dieser angespannten Stille gekommen war, bevor sie den Hörer abgenommen hatte. Sie konnte nicht wirklich hören, was los war.

»Hallo?«, rief sie. »Hallo!«

Aber es kam keine Antwort.

Sie wartete, mit angehaltenem Atem.

»Luca?«, flüsterte sie.

Wie das in ihr arbeitete, als sie Luca sagte. Am liebsten hätte sie gerufen: »Luca Marinelli! Bist du noch da?«

Da kam das Freizeichen. Irgendwie hatte sie die Taste berührt und das Gespräch unterbrochen. Sie legte sanft den Hörer zurück. Sie stellte das Telefon behutsam auf den Couchtisch. Sie rollte sich auf dem Sofa zusammen, und zwar so, dass sie das Gerät genau im Blick hatte, im Hintergrund flimmerte der Fernseher. Sie sah nichts von den Bildern. Das einzige Bild, das sie sah, war das Telefon, weiß und glänzend.

Er hat sie angerufen!

ER HAT SIE ANGERUFEN!

Und sie hatte aus Versehen auf die Aus-Taste gedrückt, oder wie immer das bei diesen Telefonen hieß. Hatte ihn weggedrückt, sozusagen. Er dachte jetzt bestimmt, dass sie nichts von ihm wissen wollte.

Oh nein. Das war die Hölle. Sie streckte sich und legte die Fingerkuppen auf die geschlossenen Augen. Sie drückte zu, bis hinter den Augen gelbe Blitze explodierten.

Dann nahm sie die Finger weg und öffnete die Augen. Sie sah nichts. Es dauerte lange, bis sie sich an das abendliche Halbdunkel des Wohnzimmers, an das bläuliche Fernsehlicht wieder gewöhnt hatte. Wie lange wartete sie schon? Wie viele Minuten waren vergangen, seit das Telefongespräch unterbrochen worden war?

»Ruf an! Bitte, ruf wieder an!«, flüsterte Lilli.

Sie setzte sich aufrecht vor den Apparat, die Hände gegeneinander gepresst.

»Luca, Bitte! Versuch es noch mal! Ich wollte dich nicht wegdrücken! Ich hab mich doch so gefreut! Ich wollte doch nur aufs Sofa, weil du . . . ich meine, weil dieser Traum, dieser Wahnsinn . . . Oh Mann, du rufst tatsächlich an!«

Lilli sprang auf. Sie stieß gegen die Stehlampe neben dem Tisch, das Teil schwankte, Lilli bemerkte es nicht. Sie starrte auf das Telefon.

Es klingelte anders als vorhin, oder? Vorhin hatte sie geahnt, gespürt, gefühlt, dass dies ein besonderer Anruf war. Jetzt war es wahrscheinlich die Telekom. Oder eine Freundin von Sandra. So irgendwas Blödes.

Sie stürzte vor, griff nach dem Hörer und schrie: »Ja?«

»Ich bin’s noch mal«, sagte Luca Marinelli. »Luca Marinelli.«

Wieder setzte das Herz aus.

»Ja«, hauchte Lilli. »Ich bin’s auch.«

»Oh«, sagte er. »Toll.«

»Ja«, hauchte Lilli. »Find ich auch.«

»Das war komisch, vorgestern«, sagte Luca. »Unsere erste Begegnung.«

Lilli lächelte. Sie wartete. Irgendetwas musste jetzt kommen.

»Es war echt komisch«, sagte Luca, »dass wir uns da getroffen haben. Ich meine, ausgerechnet da. Wo ich Eis hasse. Ich esse nie Eis, weißt du. Weil . . . Also ich hatte davon mal eine Salmonellenvergiftung. Kennst du das?«

Lilli räusperte sich. »Nein.« Ihre Stimme war etwas belegt.

»Also, das ist erst mal eine unheimliche Kotzerei. Natürlich Durchfall. Du sitzt im Grunde ununterbrochen auf dem Klo. Und verlierst dabei Flüssigkeit. Immerzu Flüssigkeit. Der Körper besteht ja zu neunzig Prozent aus Wasser, ungefähr. Aber Wasser ist ja auch unheimlich wichtig. Ich meine, wenn dem Körper zu viel Wasser entzogen wird, geht er ein. Wie eine Pflanze. Schneller als eine Pflanze. Das Gehirn vertrocknet zuerst. Ohne Wasser wirst du einfach wahnsinnig, absolut, früher oder später. Je nachdem. Ich meine . . .« Lilli schwieg. Da schwieg Luca auch.

»Lilli?«, fragte er vorsichtig nach einer langen Pause.

Lilli presste ihre Hand gegen das Zwerchfell. »Ja.«

»Ich rede Blödsinn«, sagte Luca. »Entschuldige.«

»Macht doch nichts«, flötete Lilli.

»Sag du was«, schlug er vor. »Erzähl was von dir.«

Lilli überlegte. Was sollte sie sagen? Sie war sechzehn Jahre alt, Sternzeichen Jungfrau, besuchte die zehnte Klasse, stand in Französisch fast auf fünf, dafür in Chemie aber auf zwei. Sie hatte eine ältere Schwester, die auf einen Studienplatz wartete. Einen Vater, der alles über Parfüms wusste, über französische Parfüms. Und eine Mutter, die Jazztanz machte und im Elternbeirat der Schule war.

Was sollte sie bloß sagen?

»Ich hatte noch nie Salmonellen«, sagte Lilli.

Luca lachte. »Sei froh, das ist echt die Hölle. Hast du deinen Blinddarm noch?«

»Ja.«

»Meiner ist weg, aber schon lange her. Ich hab eine ziemlich hässliche Narbe. Der Arzt hat gepfuscht.« Er lachte wieder.

»Aber ich hab’s überlebt.«

Lilli versuchte sich die hässliche Narbe an dem schönen Luca vorzustellen. Sie wusste nicht einmal genau, wo sie sich diese Narbe vorstellen musste.

»Das war ja irgendwie Chemie, oder?«, sagte Luca. »Ich meine, zwischen uns beiden. Der Ronnie hat sich gar nicht mehr eingekriegt.«

»Wieso denn?«, fragte Lilli.

»Na ja, der hat das gemerkt. Ich bin durch die Gegend wie in Trance. Ich hab immer nur gesagt: Die Frau muss ich kennen lernen.«

Lilli lächelte, das heißt, sie grinste. Ihr Mund wurde breit wie ihr ganzes Gesicht. »Echt?«, fragte sie.

»Aber total echt«, sagte Luca. »Und da hat Ronnie gesagt, dass du in seiner Theater-AG bist, und das war dann supereinfach, deine Nummer rauszukriegen. Ich wollte dich gestern schon anrufen. Aber gestern ging’s nicht.«

»Ich fand ’s auch cool«, sagte Lilli. »Ich musste sofort an Sardinien denken.«

»Sardinien? Wieso? Weil ich einen italienischen Namen habe?«

»Nein, weil . . . weil ich in Sardinien zum ersten Mal getaucht bin.« Von Meergrün und so wollte sie nichts sagen. Pause, lange. Dann ein Räuspern. »Also«, sagte Luca, »das versteh ich jetzt nicht.«

Da musste Lilli lachen. »Musst du auch nicht«, sagte sie.

»Aber es war schön.«

»Ich hab vorher in der Nähe von München gelebt«, sagte Luca. »Wir sind gerade umgezogen. In den gleichen Wohnblock, in dem Ronnie wohnt. Nach den Ferien komm ich auf deine Schule.«

»Oh!«, sagte Lilli.

Er lachte. »Aber jetzt sind ja erst mal die großen Ferien. Da hab ich Zeit, mich hier an die Stadt und die Leute und so zu gewöhnen. Überhaupt, das war so irre, dass ich in einen Eisladen geh, hab ich ja schon gesagt, wo ich Eis doch überhaupt niemals mehr anrühre seit dieser Vergiftung. Hab ich dir erzählt, dass ich die Salmonellenvergiftung damals von Eis gekriegt hab?«

»Ja«, sagte Lilli. Und sie dachte: Die Ferien, oh nein, und Mittwochabend fahr ich los. Und er ist hier. Und ich muss nach Bordeaux.

»Was machst du morgen nach der Schule?«, fragte Luca.

»Nichts Besonderes eigentlich«, sagte Lilli und rechnete gleichzeitig aus, wie viele Stunden ihr noch blieben, bevor der Zug nach Frankreich abfuhr.

»Ich könnte vor der Schule auf dich warten«, sagte Luca. Lilli dachte: Ja! Vor der Schule wartet ein Junge mit meergrünen Augen auf mich! Und ich komme gerade die Treppe herunter mit Heidi und Fatima und Nele, und wir plaudern so wie immer, und plötzlich steht da dieser supertolle Typ und winkt, und ich winke auch, und alle sagen, wer ist denn DAS? Und ich sage: Leute, macht’s gut. Und gehe total cool mit diesem festen, irre beschwingten Gang auf ihn zu und wir stehen uns gegenüber, ganz nah, und alle, ALLE sehen, dass Lilli Jürgens mit einem Jungen geht, der göttlicher aussieht als irgendein Typ an der ganzen Schule.

»Du sagst gar nichts«, sagte Luca.

Lilli lachte verlegen. »Doch, ich hab schon Ja gesagt. Ich hab schon gesagt ›Ja, das wär super‹.«

»Hab ich aber nicht gehört«, sagte Luca.

»Dann hab ich es wohl zu mir selbst gesagt«, lachte Lilli. »Ich hab nach der sechsten Schluss.«

»Okay«, sagte Luca. »Ich freu mich.«

Und legte auf. Und ich erst mal, dachte Lilli. Sie küsste den Hörer, bevor sie ihn zurücklegte, und tanzte durch den Flur.

Montag zwischen der vierten und fünften Stunde kam das Gewitter, das sie im Fernsehen schon für die frühen Morgenstunden angekündigt hatten. Es begann mit einem Sturm, der wie aus dem Nichts entstand und die warme Sommerluft hinwegfegte, die Fenster der Schule zuschlug, durch die Flure fauchte und an den Türen rüttelte. In der Turnhalle gingen zwei große Scheiben zu Bruch, aber zum Glück war die Klasse, die Sport hatte, gerade draußen auf der Aschenbahn. Die alten Birken auf dem Schulhof bogen sich ächzend im Wind. Abgerissene Blätter und Zweige klatschten mit den ersten Regentropfen gegen die Fensterscheiben. Aber Dr. Tiefenbacher, Lillis Ethiklehrer, hob nur einmal kurz den Kopf, blickte zum Himmel hinaus, sagte: »Na, endlich«, und las weiter aus einem Artikel der New York Times vor. Über den Amoklauf eines Schülers an einer Highschool. Der Schüler hatte drei Leute umgebracht, mit der Pistole seines Vaters, die der immer im Handschuhfach seines Pick-ups aufbewahrte. Der Sohn hatte den Schlüssel des Pick-ups geklaut und eine Tour unternommen in das Villenviertel, in dem Cathleen Brown wohnte, das Mädchen, dem er schon immer imponieren wollte.

Lilli hörte nur mit halbem Ohr hin. Sie hatte einen Platz ganz nah am Fenster und sie schaute zu, wie die schweren Regentropfen gegen die Scheiben peitschten, sich ihren Weg bahnten durch die Fensterritzen und schließlich in kleinen Schlieren die Wand hinunterliefen. Schon bildete sich eine Pfütze neben der Fußleiste.

Lilli hatte lange überlegt, was sie an diesem Tag anziehen sollte. Und sich schließlich, weil es morgens noch drückend heiß war, für ein dünnes Top entschieden und für den Minirock aus Baumwollbatist, der ein bisschen glockig geschnitten, aber vorteilhaft für ihre etwas zu dicken Oberschenkel war.

Die Haare hatte sie am Abend noch gewaschen und auf die großen Rollen gedreht, die Sandra immer benutzte. Die Rollen hatten die ganze Nacht gedrückt und sie am Schlaf gehindert. Aber es machte nichts: Sie wollte schön sein. Und zwar richtig strahlend schön, wenn Luca sie am Schultor erwartete.

Oh Himmel, dachte sie, wenn das Gewitter mir mein Date vermasselt, krieg ich die Krise.

In der Pause öffnete der Himmel dann tatsächlich vollends seine Schleusen. Kaum zu glauben, dass noch mehr Wasser aus den Wolken fallen konnte. Es prasselte wie aus Kübeln auf das Dach der Schule, auf die Wandelgänge dort oben und drang durch die Glastüren im Erdgeschoss.

Danach, in der sechsten Stunde, regnete es immer noch. Sie hatten Chemie und Lilli bekam ihre Arbeit zurück und hatte eine Eins. Aber darüber konnte sie sich nicht freuen, wenn es draußen weiterhin dieses Unwetter gab.

Natürlich wird Luca jetzt nicht kommen, dachte sie. Bei solchem Wetter, das wäre ja Wahnsinn.

Wo soll er auch warten? Vor dem Schultor, an den Bushaltestellen, gab es nicht mal einen Unterstand.

Und die Temperatur stürzte bestimmt um zehn Grad ab. Lilli konnte sich lebhaft vorstellen, wie ihre schöne braune Haut auf den Schultern und an den Armen sich in eine rubbelige Gänsehaut verwandelte. Und ihre Haare, die sich jetzt noch so schön lockig am Hals ringelten, würden wieder schlaff und leblos und langweilig herunterfallen.

Ich will ihn gar nicht sehen, dachte Lilli, als es schließlich zum Ende der sechsten Stunde klingelte. Ich schleiche mich einfach durch den Regen nach Hause, geh ins Bett und heul in die Kissen.

Aber Wunder geschehen: Genau eine Minute, bevor Lilli im Tross mit fünf anderen Mädchen aus dem Schulgebäude trat, hörte der Regen auf. Schlagartig. Das Wasser in den riesigen Pfützen dampfte, Radfahrer drehten Kurven mit ihren Bikes durch die tiefen Lachen und ließen mächtige Fontänen aufsteigen, es spritzte weit.

Der erste blaue Fleck, klein wie ein Cent-Stück, zeigte sich am Himmel und genau durch dieses Wolkenloch kam ein Sonnenstrahl.

Lilli blieb stehen, blinzelte und sagte: »Danke, lieber Gott.« Sie umkreiste die Pfützen. Sie ging auf das Schultor zu. Neben ihr war Iris, daneben Ronja. Sie redeten über die Chemiearbeiten.

»Der Tiefenbach hat doch einen Schuss, dass er zwei Tage vor den Ferien die Arbeiten zurückgibt!«, schimpfte Ronja.

»Der versaut einem die ganze Ferienvorfreude.«

Ronja war schlecht in Chemie. Sie hatte wieder eine Fünf geschrieben. Sie hasste Chemie, weil sie das Formelzeug nicht kapierte, und je mehr sie das Fach hasste, desto weniger verstand sie davon. Lilli kannte das Problem. So ging es ihr mit der französischen Grammatik. Ein undurchdringlicher Dschungel von Regeln und Ausnahmen, und Ausnahmen von den Ausnahmen. Grässlich!

Das sagte sie gerade, als sich jemand plötzlich in die Ausfahrt vom Schulhof stellte und winkte.

Und es war Luca, in einem blauen Poloshirt, khakifarbenen Hosen, die er hochgekrempelt hatte, und er war barfuß und er hielt seine Turnschuhe in den Händen und winkte damit.

»Hey«, sagte Ronja verwundert, »meint der uns?«

Lilli hatte sich so lange eingeredet, dass Luca nicht kommen würde, dass sie einen Augenblick völlig verwirrt war.

Stand er da wirklich? Oder träumte sie das? Oder war das ein anderer?

Er kam auf sie zu. Er klemmte die Turnschuhe unter die Arme und wedelte komisch mit den Händen, während er barfuß durch das Wasser watete. Es sah so schick aus, so überirdisch lässig und selbstbewusst. Lilli kam sich richtig plump vor mit ihrem Mini, in dem man keine großen Schritte machen konnte, und den blöden Sandalen, deren Riemchen im Wasser langsam aufweichten. Wahrscheinlich würde sie die Schuhe nachher wegwerfen müssen. Und ihre Mutter würde eine neue Krise bekommen, weil alles so teuer war. Und dabei wäre es viel cooler gewesen, einfach barfuß herumzulaufen. Wie Luca. Aber auf so eine Idee muss man erst mal kommen.

»Hallo.« Luca blieb mit ausgebreiteten Armen vor Lilli stehen. »Wie hab ich das hingekriegt?« Er deutete in den Himmel. »Genau rechtzeitig hab ich den Regen abgestellt.«