Jeansgröße 0 - Brigitte Blobel - E-Book

Jeansgröße 0 E-Book

Brigitte Blobel

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Beschreibung

Neidisch betrachtet sie die Hose. Diese dünnen Beinchen, dieser winzige Bund! Wie wenig Stoff das ist! Jeansgröße 0, denkt sie. Seit Katharina ihre neue Mitbewohnerin Lilja kennengelernt hat, gibt es nur noch eins: genauso hip zu sein wie sie. Angesagt zu sein. Und das zu tragen, was alle wollen: Jeansgröße 0. Katharina hat keine Ahnung, in welche Gefahr sie sich damit bringt.

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Seitenzahl: 225

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Brigitte Blobel

Jeansgröße 0

Roman

Ebenfalls von Brigitte Blobel als Arena-Taschenbuch erschienen (Auswahl): Die Clique. Wenn die Gruppe Druck macht (Band 2773) Herzsprung. Wenn Liebe missbraucht wird (Band 2774) Alessas Schuld. Die Geschichte eines Amoklaufs (Band 2766) Rote Linien. Ritzen bis aufs Blut (Band 2733) Liebe wie die Hölle. Bedroht von einem Stalker (Band 2734) Meine schöne Schwester. Der Weg in die Magersucht (Band 2735) Eine Mutter zu viel. Adoptiert wider Wissen (Band 2745) Getrennte Wege. Wenn eine Familie zerbricht (Band 2755) Liebe passiert (Band 50112) Einfach nur glücklich (Band 2289) Drama Princess. Topmodel um jeden Preis (Band 50177) Shoppingfalle (Band 50211) Party Girl (Band 50291) Blind date. Wenn Liebe sehen lässt (50385)

Brigitte Blobel,1942 geboren, studierte Politik und Theaterwissenschaft. Heute arbeitet sie als erfolgreiche Journalistin und schreibt Drehbücher für Film und Fernsehen sowie Romane für Erwachsene und Jugendliche, für die sie bereits mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie ist eine der beliebtesten deutschen Autorinnen.

In dem Buch Jeansgröße 0 geht es nicht um Diätpläne und Gewichtstabellen. Stattdessen wird detailliert und wirklichkeitsnah der psychische Druck aufgezeigt, dem die Protagonistin ausgesetzt ist. Die Probleme der jungen Frauen werden vorurteilsfrei und ohne Schwarz-Weiß-Klischees dargestellt. Das Buch ist nie langatmig und kommt flüssig zum unerwarteten Schluss.

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG

 

 

Informationen zu Unterrichtsmaterialien unter www.arena-klassenlektuere.de

1. Auflage als limitierte Sonderausgabe im Arena-Taschenbuch 2013 © 2008 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung und -typografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg, unter Verwendung eines Fotos von Sinisha © gettyimages ISSN 0518-4002 ISBN 978-3-401-80363-0

www.arena-verlag.deMitreden unter forum.arena-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

1. Kapitel

Morgen kommt sie. Ich bin echt gespannt, wie sie so ist. Mama hat gesagt, guck sie dir doch erst mal an. Nicht, dass du wieder so reinfällst wie das letzte Mal. Aber ich hab keinen Bock auf den Stress.

Vielleicht ist sie ja ganz nett. Vielleicht kann man mit ihr reden. Wäre schön, endlich eine Freundin zu haben – jemanden, dem man alles anvertrauen kann, ohne dass sie es gleich weitererzählt. Jemanden, der mich mag.

Ansonsten werde ich sie mir einfach vom Hals halten. Nicht ranlassen. Das hab ich mittlerweile ganz gut drauf. Aber jemanden zum Reden zu haben, das wäre wirklich schön.

Katharina sitzt im Wagen 31, auf dem Platz Nummer 63 des ICE von Würzburg nach Hamburg. Ein bequemer Sitz, auf dem man es gut drei Stunden lang aushält. Sie hat die Rückenlehne ganz nach hinten gestellt, ihre Füße liegen auf dem prall gefüllten Koffer. Ihren Kleiderschrank zu Hause hat sie fast komplett ausgeräumt. Und ihren Schreibtisch. Und die zwei Kartons unter ihrem Bett. Am liebsten hätte sie alles mitgenommen, denn es ist nicht sicher, ob sie vor Winteranfang noch mal nach Hause fährt. Wer wegfährt, denkt nicht gleich ans Zurückkommen.

Und sie schon gar nicht. Dafür hat sie viel zu lange auf diesen Augenblick gewartet.

»Du bist noch so jung!«, hat ihre Mutter immer wieder gesagt.

Katharina hat gelacht. »Du doch auch«, hat sie erwidert und ihre Mutter hat genickt und ihre Tochter mit dieser besonderen Mischung aus Besorgtheit und unbändigem Stolz angesehen.

In zwei Wochen wird Katharina siebzehn – genauso alt wie ihre Mutter damals, als sie mit Katharina schwanger war. Vielleicht begreift sie es dann, denkt Katharina. Vielleicht begreift sie an meinem Geburtstag, dass ich erwachsen geworden bin.

Eigentlich hatte sie zu Hause feiern wollen, aber sie muss das Zimmer in der WG schon ab dem ersten Oktober bezahlen. Aber traurig ist sie deswegen trotzdem nicht – eine Party mit ihrer neuen WG, das stellt sie sich richtig cool vor.

Mit Zoe und Lilja, ihren Mitbewohnerinnen. Auf die freut sie sich wahnsinnig. Sie kennt die beiden zwar noch nicht persönlich, aber die Mails von Lilja waren auf jeden Fall supernett.

Zoe und Lilja. Allein schon die Namen!

Katharina ist, solange sie denken kann, immer Kathi genannt worden. Im Dorf sagen sie »die Kathi«. Noch schlimmer. Sie wird in der WG gar nicht erst erwähnen, wie man sie zu Hause genannt hat. Katharina ist besser. Katharina die Große hat ihren Ehemann, den russischen Zaren, von seiner eigenen Leibgarde stürzen lassen und sich selber auf den Thron gesetzt.

So möchte sie sein. Stark und selbstbewusst.

Katharina die Große. Nicht »die Kathi«.

Ihre ehemaligen Schulfreunde sind fast ausgerastet vor Neid, als sie hörten, dass Kathi – die Kleine, das Küken – nach Hamburg ziehen wird. Die meisten aus ihrer Klasse haben noch keinen Studienplatz, warten auf eine Zusage oder bleiben sowieso in der Gegend.

Das wäre nichts für sie.

Katharina liebt ihre Eltern, sie haben ein gutes Verhältnis; aber dass sie wegwill, fort von zu Hause, steht für sie schon lange fest. Vielleicht liegt es daran, dass sie immer überall die Jüngste war. Jeder hat sich Sorgen um sie gemacht, alle haben aufgepasst. Sogar auf der Abifahrt war das so, Katharina hatte als Einzige die Erlaubnis ihrer Eltern mitbringen müssen.

In Hamburg schert sich keiner um mein Alter, denkt sie zufrieden. In Hamburg wird alles anders.

Ihr Koffer blockiert den halben Gang. Zwischen die Sitze passt er nicht, er ist einfach zu groß. Fast ein Schrankkoffer. Und schwer wie Blei. Ein neuer roter Schalenkoffer. Die alten Koffer, die auf dem Dachboden vor sich hin staubten, waren alle morsch, das Innenfutter von Motten oder Mäusen zerfressen, die Schlösser verrostet vom Nichtstun.

In ihrer Familie reiste man nicht. Das war schon immer so. In ihrer Familie blieb man dort, wo man hingehörte, auf dem eigenen Grund und Boden. Seit Generationen.

Ihr Vater hat zwar studiert, aber weggezogen ist er deswegen nicht. Wäre gar nicht gegangen, Katharina war ja noch so klein. Nach dem Examen hat er gemeinsam mit Katharinas Mutter den elterlichen Hof umgekrempelt. Jetzt ist es ein Biohof. Biotomaten und Biomilch.

Das ganze Frühjahr und den Sommer über hat Katharina auf dem Feld geholfen. Ihre Haut ist immer noch schön braun, als habe sie den Sommer in Italien verbracht, und die Sommersprossen auf der Nase haben sich für immer eingebrannt.

Justus mochte ihre Sommersprossen. Er hat sie manchmal »Sprosse« genannt. Er hat immer gesagt: »Ich kenne nur zwei Frauen mit Sommersprossen: Pippi Langstrumpf und dich – und ihr seid beide klasse.« Das fand er lustig, das hat er sogar noch auf der Abifeier gesagt, in großer Runde.

Katharina spürt, wie sich etwas in ihr zusammenzieht, als sie an Justus denkt. Sie starrt aus dem Fenster in die buntbraune Septemberlandschaft.

Sie hat sich fest vorgenommen, Justus hinter sich zu lassen, ein für alle Mal. Verdammt, sie ist auf dem Weg nach Hamburg. Mit jedem Kilometer, den der Zug nach Norden rast, lässt sie ihr altes Leben weiter zurück. Warum muss er sich trotzdem in ihre Gedanken schleichen?

Jedes Wort seiner letzten E-Mail kennt sie auswendig.

»Hi, Sprosse. Ich bin kein Typ für romantische Abschiede, deshalb mach ich es kurz: Wir sollten jetzt aufhören, wo es am schönsten ist. So eine Beziehung auf Distanz bringt doch eh nix. Das wissen wir beide. Wollten es nur nicht wahrhaben. Aber im Urlaub ist mir das endgültig klar geworden . . .«

Katharina hatte sofort den Verdacht gehabt, dass er sich am Gardasee in eine andere verliebt hat, aber die Clique, die mit ihm im Urlaub war, hat geschworen, dass nichts gewesen sei. Na ja, dann ist er eben ein Feigling. Wenigstens hätte er es ihr direkt sagen können, bei einem Abschiedsessen oder an ihrem See oder so. Aber eine Mail schicken! Nach all den Monaten, die sie fast unzertrennlich gewesen waren!

Sie haben sich am ersten Advent ineinander verliebt, auf dem Würzburger Weihnachtsmarkt, weil das so ein superromantischer Tag war, mit Schneeflocken weich und groß wie Wattebällchen. Katharina hatte zu viel Glühwein getrunken und Justus auch und das war gut so, denn ohne den Glühwein hätten sie es niemals geschafft, sich nach einem tiefen Blick in die Augen zu küssen. Und dann auch noch, wie aus einem Mund, zu sagen: »Das wollte ich schon lange.«

Da hat Katharina ihn wieder geküsst und geflüstert: »Merkst du was? Wir bleiben ewig zusammen.«

Aber nun sind es nur neun Monate geworden. Justus hat einer Fernbeziehung ja noch nicht einmal eine Chance gegeben. Männer sind eben feige. Oder bequem. Oder was auch immer.

Jedenfalls ging es ihr nach der Mail ziemlich dreckig. Eigentlich so richtig dreckig. Sie wollte gar nicht aus dem Bett. Hat gekotzt, geheult und einen Berg gebrauchter Papiertaschentücher auf dem Bettvorleger angehäuft.

Wollte schon fast nicht mehr losfahren, weil sie sich Hamburg ohne Liebesmails, SMS oder Anrufe von Justus nicht wirklich vorstellen konnte.

Aber nach fünf Tagen Dauerheulen hat sie ihren Verstand, der ja eigentlich gut funktionierte, wieder eingeschaltet. Einen Plan gemacht. Das Gesicht mit Eiswürfeln abgerieben, Gurkenschalen auf die geschwollenen Augenlider gelegt, vor dem offenen Fenster Kniebeugen gemacht und anschließend zwei Tafeln Vollmilchschokolade gegessen.

Danach hat sie beschlossen, sich einfach auf ihr neues Leben zu freuen. Hamburg, das weiß sie genau – Hamburg wird sie über Justus hinwegtrösten. Da wimmelt es bestimmt von gut aussehenden, supersympathischen Männern. Und Justus kann sich ihretwegen eine dieser blöden Schnecken suchen, die nichts im Kopf haben und hübsch brav an seiner Seite bleiben.

Draußen fliegt Deutschland vorbei. Hügel, Wälder und Seen, Windräder. Ohne die Geschwindigkeit zu verringern, rast der Zug durch die Bahnhöfe kleiner Städte, so schnell, dass Katharina nicht einmal die Ortsnamen lesen kann. Die Leute, die auf den Bahnsteigen auf einen Nahverkehrszug warten, tragen sommerliche Kleider. Dabei ist es Ende September. Katharina sieht nackte Beine, nackte Arme, einen Blumenkübel, eine Litfaßsäule, einen Fabrikschornstein, ein Möbelhaus. Dann ein Tunnel – draußen ist plötzlich nur Schwärze, nur Dunkelheit und ihr Gesicht in der Scheibe. Die großen Augen, die Justus manchmal Scheinwerfer genannt hat.

Der dicke rote Zopf in ihrem Nacken löst sich auf, die Naturlocken kringeln sich um ihre Stirn. Sie zupft ein bisschen an ihrer Bluse herum, an der Strickjacke, die sie um die Taille geschlungen hat. Auch auf ihrem Handrücken hat sie mehr Sommersprossen, als Sterne am Himmel sind.

Nicht an Justus denken!

Sie schiebt die Hände unter ihren Po und bleibt so sitzen, bis der Zug aus dem Tunnel ans Licht rast, immer weiter in ihr neues Leben.

Ihr Zimmer hat sie im Internet gefunden – über die Mitwohnzentrale. Katharina kann ihr Glück noch immer nicht fassen. Sie weiß, wie schwer es ist, eine einigermaßen bezahlbare Unterkunft in Hamburg zu finden – und dass die meisten wochenlang suchen.

Sie hat zwar die komplette Miete für das erste Semester im Voraus überweisen müssen, aber das findet Katharina nicht so schlimm. Wenn es nicht klappt in der WG, kann sie sich immer noch für das zweite Semester eine neue Wohnung suchen.

Aber warum sollte es nicht klappen?

Es war eine richtig originelle Anzeige. Ihre neue Mitbewohnerin Zoe hat die Wohnung mit einer Videokamera gefilmt und zu jedem Raum einen witzigen Kommentar abgegeben. Sich selbst hat sie aber nicht gefilmt. Wäre toll gewesen. Dann hätte Katharina jetzt schon eine Vorstellung von Zoe. Ihre Stimme klang irgendwie rauchig, aber gelassen, angenehm.

Die WG liegt im Schanzenviertel, ganz nah bei der Uni. Katharina hat in einem Stadtführer gelesen, dass das Schanzenviertel das angesagte Viertel für junge Leute ist, besonders für Studenten.

Genau das Richtige. Sie will dorthin, wo das Leben tobt. Bunt und laut und schnell soll es sein. Still war es in ihrem Leben lange genug – von ein bisschen Vogelgezwitscher und ein paar Traktoren, die über die Dorfstraße rollen, mal abgesehen. Oder hin und wieder einem Flugzeug, das hoch über einem dahinzieht und die Luft minutenlang mit einem fernen Grollen erfüllt. Wie oft sie als Kind den Kopf in den Nacken gelegt und diesen Flugzeugen hinterhergestarrt hat. Wie die Sehnsucht sich in ihren Körper gefressen hat. Die Sehnsucht nach einem anderen Leben, nach fernen, großen Städten. Nach Lichtermeeren.

Katharinas Mutter wollte sie eigentlich begleiten, wollte ihr helfen, das Zimmer einzurichten, mit ihr shoppen gehen, aber Katharina hat rigoros abgelehnt. Sie will das alleine durchziehen. Schon im Mai, als die Tinte auf dem Abi-Zeugnis noch feucht war, hat sie erklärt: »Mama, egal, in welche Stadt ich gehe, wehe, du kommst auf die Idee, dass du alles für mich regeln willst – ein Zimmer für mich suchen oder so. Das ist ganz allein mein Leben. Verstehst du?«

Katharinas Mutter hat gegrinst. »Wenn du mir nicht so entsetzlich ähnlich wärst«, hat sie Katharina geneckt.

»Dann würden wir viel besser klarkommen.«

Und dann hat sie ihre Tochter liebevoll angesehen und Katharina hat gewusst, dass sie sich nicht einmischen würde, obwohl es ihr entsetzlich schwerfiel.

So ist ihre Mutter. Sie weiß, wie das ist, wenn man schon ganz früh auf eigenen Beinen stehen will. Und sie weiß auch, dass Katharina schon immer etwas Besonderes war, selbstbewusst und klug und ganz anders als die Kinder in ihrem Alter.

Schon mit vier Jahren hat sie sich das Lesen beigebracht, weil ihre Eltern keine Zeit hatten, ihr vor dem Schlafengehen etwas vorzulesen. Weil Katharina aber so gerne Geschichten hören wollte, hat sie sich erst selber etwas erzählt und dann lesen gelernt. In der ersten Klasse hat sie sich gelangweilt, weil sie schon all das konnte, was die anderen erst lernen mussten.

In der Grundschule hat sie die dritte Klasse übersprungen und auf dem Gymnasium die siebte. Sie war in der Oberstufe mit Abstand die Jüngste. Mit sechzehn hatte sie das Abi in der Tasche. Durchschnitt 1,1. Sie hat lange mit sich gerungen, was sie studieren sollte, aber dann hat sie sich entschieden. Erziehungswissenschaften. Auch wenn jeder in ihrem Jahrgang gesagt hat, das ist doch gar kein richtiges Studienfach, da wirst du doch eine bessere Kindergärtnerin. Aber Katharina weiß es besser.

Und über all das Gerede kann sie nur lachen.

Was der Bauer nicht kennt, denkt sie und muss grinsen.

Draußen ist es immer grauer und trüber geworden, jetzt gibt es die ersten Regenschlieren, die diagonal über die Glasscheibe laufen. Die Häuser sind hier meist aus rotem Stein gebaut und haben weiße Fenster. Manche Dächer sind aus Schilf.

Das sieht gemütlich aus. Aber auch ein bisschen fremd, selbst die Kühe, die tropfnass mit hängenden Köpfen auf der Weide stehen, sind fremd. Schwarz-weiß gefleckt. Bei ihnen zu Hause sind die Rinder einfach hellbraun, mit Löckchen auf der Stirn.

Katharina vermisst auf einmal die Tiere von zu Hause.

Das ist das Letzte, womit sie gerechnet hat. Verstohlen schaut sie auf die Uhr. Sie überlegt, was auf dem Hof wohl gerade passiert.

Sie stellt sich vor, wie ihre Mutter hastig das Kopftuch, das sie bei der Stallarbeit trägt, abnimmt und in die Küche rennt. Was es wohl heute gibt? Vielleicht Lasagne? Ihre Mutter kocht fantastisch, früher hat sie sogar bei Hochzeiten und anderen großen Festen gekocht. Katharinas Lieblingsdessert ist Weintraubenstrudel, den hat es gestern zum Nachtisch gegeben, weil gerade Traubenzeit ist. Ihre Mutter wollte ihr den Rest einpacken, aber Katharina hat geschrien: »Untersteh dich, mir irgendetwas einzupacken! Ich bin doch kein Kleinkind.«

Und ihre Mutter hat gelacht. »Wo du recht hast, hast du recht.«

Und ihr Vater hat Katharina zugezwinkert. »Keine Sorge, meine Große«, hat er gesagt. »Um den Strudel kümmere ich mich.« Und hat unter Protest ihrer Mutter den ganzen Rest aufgegessen.

»Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten erreichen wir Hamburg-Hauptbahnhof. Der Zug fährt nach kurzem Aufenthalt weiter nach Hamburg-Altona und endet dort. Ladies and Gentlemen, in a few minutes we will arrive at Hamburg Central Station. Das ICE-Zug-Team verabschiedet sich hier von Ihnen und wünscht Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.«

Danke, denkt Katharina, den werde ich haben.

Sie springt auf und atmet ein paarmal tief durch. Sie freut sich auf die frische Luft draußen.

Der Mitreisende auf dem Gangplatz stopft Akten, die vor ihm auf dem Tisch ausgebreitet waren, in seine Tasche und steht auf. Er nimmt den Regenmantel vom Haken, zieht ihn an, knöpft ihn zu. Er dreht sich zu Katharina um.

»Es regnet«, sagt er. »In Hamburg regnet es immer, wenn ich komme.«

Katharina lächelt. Sie zieht ihre Strickjacke an und schleppt ihr Gepäck durch den Gang zur Tür.

»Urlaub?«, fragt der Mann mit einem Blick auf ihr Gepäck.

Katharina schüttelt den Kopf. »Nein. Ich zieh gerade um, hierher.«

»Oh!«, sagt der Mann. Und lächelt zurück. »Hamburg ist schön.«

»Ja«, sagt Katharina, »weiß ich.« Als sie hinter ihm auf den Bahnsteig springt, fügt sie hinzu: »Ich will hier studieren. «

Da hebt der Mann erstaunt den Kopf, betrachtet sie aufmerksam und sagt wieder: »Oh!«

Und irgendwie nimmt Katharina ihm dieses zweite Oh übel.

Traut er ihr das etwa nicht zu?

Der Mann eilt davon, während Katharina ihm nachsieht.

Dann strafft sie die Schultern, greift entschlossen nach ihrem Koffer und lächelt.

Du kannst mich mal mit deinem Oh, denkt sie.

2. Kapitel

Katharina hockt vor dem Haus Nr. 147 auf der obersten Treppenstufe, die noch im Schutz des Vordachs ist, und blinzelt in den Regen. Es ist kein richtiger Regen, keine dicken Tropfen, die würden auf das Vordach prasseln und ein Geräusch machen wie Kieselerde, die man durch ein Sieb schüttet.

Dieser Regen ist so haarfein, dass man ihn weder sieht noch hört, aber er geht schon nach kurzer Zeit durch alle Klamotten. Hamburger Schmuddelwetter.

Der Taxifahrer hat Katharina vor zwei Stunden hier abgesetzt, sie hat bezahlt, ihren Koffer und den Campingsack die acht Stufen zur Haustür hochgeschleppt und auf den Klingelknopf gedrückt, auf dem »WG L&Z« stand. Da hat sie noch gegrinst und sich vorgestellt, dass da bald »WG L&Z&K« stehen wird.

Sie hat ungefähr ein Dutzend Mal im Abstand von einer halben Minute geklingelt, aber es ist nichts passiert.

Es hat eine Weile gedauert, bis ihr dämmerte, dass niemand öffnen würde. Dabei hatte sie alles ganz genau gemailt, das Datum, den Tag, ihre Ankunftszeit. Und Lilja hatte geantwortet: Wir freuen uns auf dich.

Katharina hat sich auch gefreut und irgendwie damit gerechnet, dass es ein herzliches Willkommen geben würde. Aber sie erlaubt sich keine negativen Gefühle. Sie will nicht enttäuscht sein. Sie denkt sich Gründe aus, warum weder Zoe noch Lilja daheim sind. In der Schule haben sie Katharina immer gern gemocht, weil sie so positiv denken kann.

Jetzt fällt es ihr auf einmal schwer.

Seit einer Dreiviertelstunde wartet Katharina darauf, dass jemand aus dem Haus kommt oder hineinwill. Sie würde gerne wenigstens ihr Gepäck vor der Wohnung abstellen. Damit sie nicht so blöde auf der Treppe herumsitzt.

Ein paar Leute, die auf dem Bürgersteig vorbeikommen, schauen neugierig oder mitleidig. Ein Radfahrer, eine ältere Frau, die drei verfettete Pekinesen an der Leine führt, ein Kurier, der Pizza im Nebenhaus abliefert, ein Jogger.

Jedes Mal setzt Katharina ein unbekümmertes Lächeln auf, ein Strahlen, das bedeutet: Macht euch keine Sorgen, ich bin okay. Ich sitze hier zu meinem puren Vergnügen. Es gibt doch nichts Schöneres, als im Sprühregen auf nasskalten Steinen zu sitzen und die Welt zu beobachten!

Doch irgendwann ist ihr egal, was die anderen denken. Ihr Magen knurrt, ihre Kehle ist wie ausgetrocknet, obwohl um sie herum wahrscheinlich 100 % Luftfeuchtigkeit herrschen. Sie kann nicht mal mehr Speichel produzieren. Sie braucht jetzt schnell etwas gegen den Durst und außerdem hat sie Hunger.

Sie spürt, wie Ärger in ihr hochkocht. So richtig nett ist das nicht, was Zoe und Lilja hier veranstalten! Um sich abzulenken, kramt sie in ihrer Tasche und holt ihre Uni- Mappe heraus. Die Fachschaft hat alle Informationen für Erstsemester im Internet bereitgestellt und Katharina hat die Seiten ausgedruckt.

Jetzt holt sie einen Füller aus der Seitentasche ihres Lederbeutels, schraubt ihn auf, legt die Mappe auf die Knie und tut, als würde sie arbeiten.

Schon erweckt sie nicht mehr so viel Neugier bei den Passanten. Dass junge Leute irgendwo sitzen und lernen, ist hier normal, schließlich ist das ein Uni-Viertel. Katharina legt die Stirn in nachdenkliche Falten, weil das bestimmt auch gut ankommt.

Komisch, denkt sie. Früher war es mir gar nicht so wichtig, was die anderen von mir halten. Und das hier sind Fremde, da sollte es mir erst recht egal sein.

»Hey! Bist du etwa Katharina?«

Katharina hat nicht bemerkt, wie jemand die Treppe hochgekommen ist. Sie zuckt zusammen und die Mappe rutscht ihr zwischen die Knie, der Füller rollt die Stufen hinunter.

Vor ihr steht ein Mädchen, dessen Alter schwer zu schätzen ist. Ein Pfund Kajal um die braunen Augen, ein Nasenpiercing und schwarz geschminkte Lippen in einem totenbleich gepuderten Gesicht. Es sieht aus, als habe sie sich auch noch die tiefen blauen Augenränder gemalt, aber vielleicht sind die ja auch echt. Merkwürdig ist sie auf jeden Fall. Klein und eher kompakt und muskulös und irgendetwas zwischen Gothic und Punk.

Das Mädchen steht breitbeinig vor ihr, die Hände in die Hüften gestemmt. Katharina kriegt kein Wort raus, das ist ihr lange nicht passiert.

»Taub? Oder stumm?«, fragt das Mädchen. »Oder vielleicht beides?« Sie wirft einen Blick auf den Koffer und den Campingsack.

Katharina hat diesen ausgedörrten Mund und sie muss sich mehrfach räuspern, um überhaupt einen Ton herauszubekommen.

Da hat das Mädchen schon das Interesse verloren. Sie zieht ein Lederband aus der Hosentasche, an dem verschiedene Schlüssel hängen, und schließt die Haustür auf.

Katharina springt auf, sie lächelt. »Hallo«, sagt sie endlich. »Ja, ich bin Katharina. Katharina Arnsberger. Ich hab hier im Haus . . .«

Das Mädchen hält die Tür auf, indem sie sich mit der Schulter dagegen lehnt. »Hey Katharina. Wieso sagst du das nicht gleich? Ich bin Zoe. Du wohnst bei uns.«

Sie kommt wieder nach draußen, die Tür fällt hinter ihr ins Schloss. »Wartest du schon lange?«, fragt sie.

»Na ja, ziemlich.« Katharina verzieht das Gesicht.

»Hat keiner aufgemacht?«

»Wäre ich sonst hier draußen?« Katharina sammelt ihre Mappe und den Stift ein, stopft sie in die Tasche, während Zoe Campingsack und Koffer vor die Haustür wuchtet.

»Das ist ja mal wieder typisch Lilja«, ruft Zoe empört.

»Wenn du dich auf die verlässt, dann bist du verlassen! Wir hatten ganz klar ausgemacht, dass sie heute Mittag da ist, wenn du hier ankommst. Oh Gott, ich hasse sie.«

Zoe schließt die Tür ein zweites Mal auf und sie schleppen den Koffer, den Campingsack und Katharinas Rucksack mit dem Laptop und ihrem persönlichen Kram ins Haus.

Es ist ein altes Haus, die Treppenstufen so abgetreten, dass sie in der Mitte eingebuchtet sind, aber sie riechen nach Holzpolitur und die Wände sind weiß gekachelt mit blauem Abschluss. Im Erdgeschoss, gegenüber der Treppe, gibt es einen hohen Spiegel, mindestens drei Meter hoch, ein bisschen blind schon, aber mit einem goldverzierten Rahmen, der etwas von der vornehmen Geschichte des Hauses ahnen lässt.

Unter dem Treppenabsatz stehen Fahrräder jeder Güteklasse und alle mit dicken Ketten gesichert.

Katharina würde sich gern noch ein wenig umsehen, aber Zoe keucht bereits die Treppe hoch.

»Hast du da Steine drin?«, fragt sie. Sie hat sich den roten Schalenkoffer geschnappt.

»Du musst das nicht tragen«, sagt Katharina.

»Ist schon in Ordnung. Aber was zum Teufel ist da bloß drin?«

»Mein Zeug«, sagt Katharina.

Zoe bleibt auf dem Treppenabsatz stehen. »Ich bin hier nur mit einem Schlafsack und zwei Kitekat-Kartons eingezogen.«

»Kitekat?« Katharina lacht. »Habt ihr Katzen?«

»Nee. Das waren bloß besonders gute Kartons.«

Inzwischen sind sie im zweiten Stock angelangt. Katharina weiß, dass die Wohnung im dritten Stock liegt, ihre Arme werden bei jeder Treppenstufe länger. Langsam fragt sie sich, ob sie tatsächlich so viele Sachen braucht.

»Ich hoffe, dass Lilja ihren ganzen Scheiß aus deinem Zimmer geräumt hat«, sagt Zoe. »Sonst kriegst du einen Knall.«

»Wieso?«, keucht Katharina. »Was ist denn so schlimm?«

Aber Zoe gibt keine Antwort.

Sie sind im dritten Stock angekommen und Zoe lässt Katharinas Koffer so erleichtert fallen, dass Katharina Angst bekommt, er könnte aufplatzen.

Zoe schließt auf, schiebt den Koffer mit den Füßen in die Wohnung und macht dann eine einladende Bewegung.

»Wie sagt man? Our home is your castle oder so.«

Sie geht einen Schritt zur Seite und lässt Katharina vorbei. »Stör dich nicht an dem Zeug hier im Flur«, sagt sie, »wir hatten zwar eine richtige Garderobe, aber dann ist plötzlich die halbe Wand runtergekommen. Das ist Gipskarton, da hält kein Dübel. Wir müssen uns langsam mal was anderes überlegen.« Sie schält sich aus ihrer Jacke und wirft sie einfach auf den Boden.

Katharina muss unwillkürlich grinsen, als sie sich umsieht. Hat sie sich eben noch Sorgen gemacht, zu viele Klamotten mitgenommen zu haben? Wie überflüssig!

Denn das hier toppt ihre Garderobe um Längen. Überall liegen kleine Häufchen. Jacken, Blazer, Schals und dazwischen Schuhe, unglaublich viele Schuhe, alle möglichen Arten: mit Absätzen, ohne, Ballerinas, Laufschuhe, Turnschuhe, Stiefel. Ein Paar Lederstiefel, die offenbar nagelneu sind, auf Spannern.

»Also«, sagt Zoe, »was zuerst? Dein Zimmer? Oder ein allgemeiner Eindruck?«

»Allgemeiner Eindruck«, entscheidet Katharina.

Zoe mustert sie. Katharina kann nicht abschätzen, ob der Blick freundlich ist. Bei so viel Schminke im Gesicht kann man gar nichts mehr erkennen. Überhaupt wird sie nicht richtig schlau aus Zoe. Aber dazu ist es vielleicht auch noch zu früh.

»Kaffee?«, fragt Zoe.

Katharina nickt. »Wäre klasse«, sagt sie.

»Okay, dann fangen wir in der Küche an.«

Zoe stößt eine Tür auf und breitet die Arme aus. »Das hier ist Küche und Wohnzimmer in einem«, erklärt sie.

»Der Fernseher steht hier und die Anlage, aber die taugt nichts, in meinem Zimmer hab ich eine bessere. Was hörst du für Musik?«

»Ach, alles Mögliche«, sagt Katharina gedehnt. »Ich meine, ich höre ganz verschiedene Sachen.«

Zoe seufzt. Sie macht sich am Küchenschrank zu schaffen. »Aha.« Sie holt eine Kaffeedose raus und eine italienische Kaffeekanne.

»Trinkst du den Kaffee schwarz oder mit Milchschaum?«

»Am liebsten mit Milchschaum«, sagt Katharina. »Soll ich dir helfen?«

»Danke.« Zoe zieht eine Schublade auf, holt einen Milchtopf raus und drückt ihn Katharina in die Hand.

»Ich lasse die Milch immer überkochen«, gesteht sie.

Katharina macht sich am Herd zu schaffen. Die Platten sind fettverschmiert und verkrustet. Zoe hat sich wohl schon öfter erfolglos am Milchkochen versucht. Ein bisschen eklig ist das schon.

Aber trotzdem – die Küche selbst sieht richtig gemütlich aus. Der Tisch in der Mitte ist riesig. Die sechs Stühle haben alle eine andere Farbe und eine andere Form, kunterbunt gemischt. Ein Topf mit Basilikum steht auf dem Fensterbrett und jede Menge Fotos sind an die Wände gepinnt.

Katharina stört nur der große Aschenbecher, der ihr sofort ins Auge fällt. Mist, denkt sie, ich habe vergessen, danach zu fragen, ob das eine Nichtraucher-WG ist. Aber egal. In meinem Zimmer darf jedenfalls nicht geraucht werden.

Zoe hat sich gerade eine Zigarette angezündet, aber als sie Katharinas Blick sieht, geht sie zum Fenster und reißt es sperrangelweit auf. Die frische Luft legt sich wie Samt auf Katharinas rauen, trockenen Hals.

Wenig später hocken sie zusammen am Küchentisch.

Zoe hat ihren Stuhl schwungvoll rumgedreht und sitzt jetzt so, dass sie die Arme auf die Rückenlehne legen, rauchen, trinken und dabei Katharina im Auge behalten kann.

»Was willst du eigentlich studieren?«, fragt sie.

»Erziehungswissenschaften.«

Zoe lässt sich so weit zurückfallen, dass der Stuhl zu kippeln beginnt. »Oh!«, sagt sie.

Katharina horcht auf. Schon wieder dieses Oh. Das hat sie schon am Bahnhof gehabt. Was soll denn das heißen, oh?

»Bist du dir sicher«, fragt Zoe, »dass du dir die richtige WG gesucht hast?«

»Klar«, Katharina lacht unsicher. »Wieso denn nicht?«

»Deine Vorgängerin hat es jedenfalls nur eineinhalb Semester ausgehalten, dann war sie weg.« Zoe verdreht die Augen. »Jura!«