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An einem Institut für Künstliche Intelligenz setzt sich ein junger Wissenschaftler unbemerkt in eine virtuelle Vergangenheit ab, die er aus einem vor vielen Jahrzehnten beinah gescheiterten Experiment rekonstruierte, um dort endlich das Geheimnis des Orakels von Delphi zu ergründen. Seine Ex-Freundin, in Sorge, ihm könne etwas zustoßen, aber auch aus Neugier, wonach er denn in dieser antiken Welt auf der Suche sein könnte, macht sich mit Hilfe einiger Institutsmitarbeiter selbst auf die Reise. Was sie findet, lässt sie staunen …
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Seitenzahl: 106
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Frank Jakob
DieCloud
und dasOrakel vonDelphi
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2025
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FürCorinna
In der Welt des Klassischen Griechenland sind die Götter allgegenwärtig. Sie leben mit den Menschen und sie beherrschen ihr Leben.
Ein Mädchen, Diotima, 17 Jahre alt, will sie herausfordern. Sie ist nach Delphi gereist, in den Tempel des Apollon und des Dionysos, um im Auftrag ihres gelähmten Onkels Kebes, der die Reise verständlicherweise nicht selber antreten kann, das Orakel zu befragen.
Sie hat einen weiten Weg hinter sich. Von ihrem Heimatstädtchen Elea im fernen Großgriechenland ist sie über Syrakus, wo sie mehrere Wochen bei ihrem Bruder Andronikos weilte, bis hier herauf nach Delphi gereist. Es war keine sehr anstrengende Reise mit dem Schiff herüber von der Insel in den Golf von Korinth. Bei strahlendem Sonnenschein und einer leichten Brise ist sie angekommen. Sie ist jung und gesund und voller Lebensfreude und Tatendrang – was hätte sie auch anstrengen sollen? Selbst den Anstieg vom Hafen in Kirrha durch das Tal des Pleistos hatte sie spielend in kurzer Zeit bewältigt.
Nun steht sie staunend vor dem gewaltigen Tempel des Apollon, seinem Heiligtum, der Heimstatt des Orakels, dem Haus der Pythia. Der Tempelbezirk ist freilich nur aus der Vogelperspektive in seiner ganzen Größe überschaubar, doch Diotima besitzt genügend Phantasie, um sich vorzustellen, wie er am Fuße der leuchtenden Felswände der Phädriaden auf einer mächtigen mauerbewehrten Terrasse ruht.
Oben angekommen trifft sie auf einen sehr alten Mann, der händeringend vor einem goldenen Standbild verweilt und leise und unverständlich Flüche vor sich hin zu murmeln scheint. Diotima, mutig und entschlossen und doch noch näher an der Kindheit als am Erwachsensein, geht zu ihm und fragt: „Was grummelst du da, alter Mann? Und was ist das für eine Statue aus purem Gold?“
„Ich bin Gorgias aus Leontinoi“, antwortet der Alte, „und dies ist mein eigenes Standbild, das ich vor vielen Jahren dem Apollon, seinem Tempel und dem Orakel, geweiht habe.“
Diotima wundert sich. Eine solche Statue und noch dazu aus lauter Gold, hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen.
„Aber ist das ein Grund zu grummeln?“, fragt sie.
Gorgias aus Leontinoi lacht laut auf.
„Nein, das ist es nicht“, entgegnet er, um sich gleich wieder auf seinen Ärger zu besinnen: „… ist es doch! Ich hasse diese Statue! Sie hat nicht eingelöst, wofür ich sie aufrichten ließ! – Aber was, mein Kind, machst du hier?“
Diotima wundert sich über den Hass des Alten, aber sie entschließt sich, zuerst Auskunft zu geben über den Zweck ihres Besuchs und erst, wenn sie besser weiß, wer er ist, ihre Frage zu wiederholen.
„Ich will eine Auskunft von der Pythia und hoffe, dass sie mir helfen kann“, erklärt sie ihm.
„Was für eine Auskunft?“ fragt Gorgias neugierig.
Diotima zögert. Doch auch jetzt bleibt sie die Antwort nicht schuldig.
„Es ist eine sehr einfache Frage“, sagt sie. „Wo sind die Papyrusrollen geblieben, von denen meine Mutter sprach, kurz bevor sie starb und was für ein Geheimnis bergen sie in sich? Mein Onkel Kebes will es wissen. Und ich will es auch wissen!“ Gorgias, beeindruckt von ihrer Rede, ihrer Klarheit, ihrer Reinheit, wendet sich jetzt ganz Diotima zu, die ihm gerade ins Gesicht schaut, und fragt sie erstaunt: „… du willst allein zur Pythia?“
„Oh nein, der Abgesandte unserer Stadt begleitet mich.“
„Das ist eine sehr mutige Frage, die du da stellst“, sagt anerkennend Gorgias jetzt und über sein Gesicht läuft ein geheimnisvolles Lächeln. „Was weißt du denn selbst von den Papyrusrollen? Denn wenn du das Orakel danach fragen willst, musst du doch etwas wissen über sie.“
„Ich weiß nur, was meine Mutter über sie erzählt hat“, erklärt Diotima. „Dass es wichtige Papyrusrollen waren, von einem weisen Mann aus Elea, die von dort nach Ephesos gebracht werden sollten, aber nie angekommen sind …“
„Nach Ephesos …?“ fragt Gorgias und fährt nachdenklich mit der rechten Hand über seinen grauen Bart. „Der Tempel der Artemis beherbergt viele kostbare Schriften aus alten Zeiten, und noch heute hinterlegen manche philosophos ihre Schriften dort in der Hoffnung, sie vor dem Verderben zu bewahren. Auch ich habe einige meiner Reden dem Tempel übergeben.“
„Vielleicht“, sagt das Mädchen, „sind sie auch verloren gegangen und liegen irgendwo auf dem Meeresgrund – wie mein Onkel Kebes vermutet. Kann die Pythia die Wahrheit herausfinden?“
Gorgias tut sich schwer mit einer Antwort.
„Du musst wissen“, erklärt er Diotima, „die Pythia ist eine sehr kluge Frau. Sie spricht die Wahrheit. Ob sie alles weiß, kann ich nicht sagen. Auch ich habe eine Frage an sie, nur kann ich die Frage nicht stellen, weil ich weiß, dass es auf sie keine Antwort gibt. Und weil ich das weiß, will ich sie auch nicht stellen! Doch beneide ich dich um deine Frage, denn sie ist klar und mutig.“
Auch wenn Diotima seine Worte nicht ganz verstanden hat, hat sie doch ihren Sinn erfasst und ist froh über seinen Zuspruch.
Gorgias stützt sich mit beiden Händen auf seinen Stock und atmet schwer. Er hat den langen Weg vom Hafen bis nach Delphi auf dem Rücken eines Maultieres zurückgelegt, vielleicht ein letztes Mal, denn das Alter setzt ihm doch arg zu. Nach einer Weile scheint er sich wieder auf seinen Ärger zu besinnen und beginnt erneut Flüche auszustoßen gegen die hohe goldene Statue; dabei muss er seinen Kopf tief in den Nacken beugen.
„Sie, die Statue“, schimpft er wieder, „möge zerfallen in viele tausend Stücke, sich auflösen in die atomos des unseligen Demokrit, das Gold wieder verflüssigen und zurückkehren in den Kreislauf der Dinge, wie es Heraklit beschrieb oder auch in das ewige Sein des Parmenides.“
Diotima wird ganz schwindlig und wirr im Kopf von der Rede des Gorgias, denn sie weiß ja nicht, dass der alte Mann ihr gegenüber ein großer Philosoph und Redner ist, der hier und jetzt, da sie ihn trifft, schon weit über hundert Jahre zählt, und dass er seinen Gedanken oft eine seltsame Form verleiht. Auch hat sie noch nie von Demokrit oder Heraklit oder Parmenides gehört. Und noch viel weniger kann sie mit den atomos etwas anfangen, in die die Statue zerspringen solle.
Aber Gorgias aus Leontinoi ist mit seinem Zorn noch nicht zu Ende, im Gegenteil, er macht seinem Ruf als gewaltiger Redner alle Ehre und ruft die Götter als Zeugen auf. Wie er vor vielen Jahren vor dem Heiligtum seine Pythische Rede gehalten und man ihm zugehört und den Ehrenkranz gereicht habe, wie vor ihm schon dem göttlichen Pindaros, seinem großen Meister und Gönner, von dem er die aristokratische Schönheit der Sprache gelernt habe, ihre Lautgestalt, ihre Zeichen und ihre tiefere Bedeutung. All das sei in Gefahr, die Kraft des Orakels habe nach den Wirren des fast dreißigjährigen Krieges zwischen Sparta und Athen nachgelassen, der Pythia drohen ihre heiligen Wörter auszugehen. Noch weiß niemand in den Städten der hellenischen Welt von dem drohenden Niedergang des Orakels, aber bei ihm, dem Redner und Philosophen, sträuben sich schon die Haare, wenn er nur das Gedränge und Gefeilsche in den Gassen und Straßen Delphis sehe, wo doch Erhabenheit und Schönheit und Größe am Platze wären. Auch wisse er nicht, was man der Pythia einflüstert, wenn sie, sich windend in den Krämpfen, die der Rauch in ihr auslöst, nach der Wahrheit sucht. Es seien die hosioi, die Tempeldiener und die schlechten Poeten, die vor den Toren des Tempels ihre Dienste anbieten und die Sprüche der Pythia mit ihren Reimen entweihen. So stehe er vor seiner eigenen Statue und wisse nicht, ob die Weihe von einst noch gilt, noch zählt.
Diotima, die erstaunt und etwas ungläubig zugehört hat, fragt: „Aber wenn du die Statue so sehr hasst, warum lässt du sie nicht einfach in tausend Stücke zerhauen, wie du doch selber gesagt?“
Der alte Mann, Gorgias aus Leontinoi, der große Philosoph, Dichter und Redner, sieht Diotima lange verwundert an.
„Die hosioi“, antwortet er dann, „sie riefen mich zu sich, aber ich wies sie zurück, denn sie dienen nicht mehr dem Orakel, dem Gott, der Pythia. Sie sind es, denen meine Verachtung, mein Hass gilt, und nicht ihnen habe ich die Statue geweiht, sondern dem Gott – und seiner Priesterin. Was nützt es dann, wenn ich sie in tausend Stücke zerhaue, sosehr ich das auch manchmal heraufbeschwöre. Höre also nicht auf die bitteren Worte eines alten Mannes und gehe deinen Weg. Lass´ dich nicht beirren.“
Diotima vermag freilich in den Zügen des alten Mannes keine Verbitterung zu erkennen, doch ergreift sie ein tiefes Mitgefühl. Ihr Wunsch ist es, sich vor der Pythia zu zeigen. Das ist ihr sogar wichtiger als die Wahrheit über die verschwundenen Rollen zu erfahren.
„Ich will nur zur Pythia“, erklärt sie denn auch, „nicht zu den hosioi, den Tempeldienern; und die schlechten Poeten und ihre Botschaften können mir gestohlen bleiben.“
Gorgias scheint abermals erstaunt und erfreut über die Äußerung Diotimas – er fährt fort in seiner Antwort:
„Die Pythia soll ihre alte Spruchweisheit wiederfinden, dem Geheimnis des Unnennbaren, Unbestimmten nachgehen, dem manchmal Unbegreiflichen und Rätselhaften. Dem, worauf auch sie nicht immer eine Antwort kennt und doch mit ihrem Spruch tief in die Zukunft weist. Die Priester, das musst du dir merken, mein Kind, haben keine Würde. Es ist allein die Pythia; nur aus ihr spricht der Gott!“
Er wendet sich ab von der Statue, Diotima zu. Und wieder läuft ein geheimnisvolles Lächeln über sein Gesicht.
Dann macht er sich, gestützt auf den Knotenstock und geführt von einem Sklaven, auf den Weg zurück zur Heiligen Straße, doch kurz bevor er hinter dem Tempel verschwindet, dreht er sich noch einmal um.
Auch Diotima verlässt den Platz vor der Statue. Dort sieht sie jetzt einen Jüngling auftauchen. Der sieht so ganz anders aus als die Altersgenossen aus ihrem Umkreis. Ein Jüngling, blass und weiß und etwas dicklich wie ein Barbar … Hat er die Hand erhoben, um ihr zu winken? Doch plötzlich, noch bevor sie ihre Hand zum Gruß erheben kann, denn von ihrem Onkel Kebes hat sie Freundlichkeit gelernt, verschwimmt sein Bild und löst sich auf …
Unbekümmert betritt Diotima nun die Heilige Straße.
Es begann damit, dass Hans-Theo plötzlich verschwand. Von einem Moment auf den andern. Dass jemand so von jetzt auf gleich verschwindet, ist an sich nicht ungewöhnlich. Schließlich verschwinden wir alle mal, wie ein paar Tage später seine Großmutter aus guten Gründen konstatieren wird, und tauchen genauso unverhofft wieder auf. Es waren die Umstände, die ungewöhnlich waren: mitten am Tag und nicht irgendwo, sondern hier im Institut für Angewandte und Experimentelle Künstliche Intelligenz, an dem wir beide studieren. Genauer gesagt auf dem Weg zur Mensa.
Kurz bevor er verschwand, telefonierten wir noch miteinander. Danach hatte er – nach Aussage seines Freundes Thomas, der unser Telefonat noch mitbekommen hatte – das Labor verlassen, um in die nahegelegene Mensa zu gehen, war dort aber nie angekommen. Dafür gab es, wie später recherchiert wurde, genügend Zeugen, die ausdrücklich angaben, ihn dort nicht gesehen zu haben. Trotzdem war niemand überrascht. Thomas, der ihn noch in Richtung Mensa abbiegen sah, bemerkte eine Stunde später seine Abwesenheit als erster und äußerte wenig erstaunt: „Das musste ja so kommen.“ Was er damit meinte, ließ er offen. Auch schien es niemanden besonders zu interessieren, was nach Meinung der meisten auf die Sonderstellung, die Hans-Theo im Institut genoss, zurückzuführen ist.
Thomas war sein bester Freund im Institut, aber privat trafen sie sich so gut wie nie. Ihre Gemeinsamkeit beschränkte sich darauf, dass sie beim Programmieren, genauer dem Hochladen von Daten in den Zentralcomputer, die gleichen hochriskanten Algorithmen verwendeten, allerdings nur wenn sie sich unbeobachtet fühlten. Das hat Thomas mir gegenüber zugegeben, nachdem Hans-Theo bereits drei Tage nicht gesehen worden war, und selbst er langsam unruhig wurde.
Es waren viele Gerüchte um die Sonderstellung Hans-Theos als Meisterschüler-Student und Doktorand des Institutsdirektors im Umlauf, die aber alle mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogen waren. Ich kannte einige davon. Sie sind nicht erwähnenswert. Das einzige Gerücht, das einen wahren Kern enthielt, dafür aber am wenigsten kolportiert wurde, reichte tief in die Vergangenheit, hatte aber im Grunde weniger mit ihm als mit einem früheren Verhältnis des Direktors mit seiner Großmutter zu tun.
Wir waren ungefähr zwei Jahre zusammen gewesen, daher kannte ich die Geschichte ganz gut. Auf die Idee, ich könne in diese Geschichte unfreiwillig verwickelt werden, ohne eine Chance, mich da irgendwie herauszuwinden, kam ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Und einen Zusammenhang mit dem Institut, seiner Arbeit oder gar der Cloud, sah ich schon gar nicht, obwohl ich ihn hätte sehen können. Aber ich verdrängte ihn.