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In einer Welt, von der niemand weiß, ob sie noch real ist oder schon virtuell, gerät das MEGA-Projekt, das mit virtuellen Realitäten spielt und selbst weit in die Vergangenheit reicht, außer Kontrolle. Der Versuch der jungen Katharina, es zu stoppen, droht zu scheitern.
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Seitenzahl: 237
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Frank Jakob
Diotima dieTochterUNDKatharina dieSchöne
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2025
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Angaben nach GPSR:
www.engelsdorfer-verlag.de
Engelsdorfer Verlag Inh. Tino Hemmann
Schongauerstraße 25
04328 Leipzig
E-Mail: [email protected]
Copyright (2025) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Umschlaggestaltung: Conny Cobra
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Cover
Titel
Impressum
Prolog
Erster Teil – Harmonien
Zweiter Teil – Diotima die Tochter
In Delphi
Das Treffen der Großen Drei
In Mantineia
Abschied
Dritter Teil – Dissonanzen
Epilog
Für Dorit
„Jetzt dürfen wir diesen Hügel ersteigen“, sagt er.
„Aber was suchen wir eigentlich hier? Die Zukunft?“, fragt sie.
„Nicht die Zukunft! Wir erschaffen vielleicht Vergangenheit, liebste Christiane. Die Zukunft erschafft uns! Höchstens über die Vergangenheit haben wir eine gewisse Macht …“
„Ich frage mich, woher du immer diese Sätze hast …“
„Ach, kleine Schwester, irgendwo gelesen oder gehört. Ich weiß nicht recht, es wird so viel geredet heutzutage und so viele Sätze werden gesagt, da kannst du leicht die Übersicht verlieren.“
„Du, mein Bruder Christian, scheinst die Übersicht jedenfalls nie zu verlieren.“
Christian schweigt. Sie waren das Zwillingspärchen des Jahres. Die Schwester war zuerst da, trotzdem nennt er sie ständig kleine Schwester. Ihr Kompliment nimmt er gelassen. Er weiß, wie sie es meint und dass er mit einer leicht ironischen Ergänzung rechnen muss. Die kommt aber nicht, vielmehr sagt sie nachdenklich:
„Schade, dass sie nicht mitgekommen ist. Es hätte ihr gefallen. Das Wetter ist angenehm und die Sicht hervorragend.“
„Ja, das ist sie.“
„Was meinst du?“
„Die Sicht. Die Sicht ist wirklich hervorragend“, sagt er. „Du weißt, warum sie nicht mitgekommen ist: es ist ihr zu anstrengend …“
„Was nicht stimmt“, unterbricht sie ihren Bruder, „rüstig wie sie ist, hätte sie den Berg lässig geschafft.“
„Es ist ihr aus einem anderen Grund zu anstrengend“, er macht eine kleine Pause, fährt dann fort: „Sie will, dass wir bleiben und versteht doch als einzige, warum wir gehen wollen …“
„Das stimmt“, sagt Christiane. „Es ist schwer für sie, aber sie wird siebzig und mitnehmen können wir sie nicht. Man kann so einen alten Menschen nicht mehr so einfach verpflanzen. Außerdem würde sie es nicht wollen.“
„Das kann man nicht wissen!“
Die Beiden schweigen jetzt, gehen langsam weiter, den Berg hinauf. Es ist nicht sehr steil und sie sind jung und sportlich. Oben angekommen verschnaufen sie einen Moment. Sie können sich nicht recht entscheiden, ob sie stehen bleiben sollen, um die Aussicht zu genießen oder gleich rübergehen zu dem Bistro, drüben am Turm.
„Ich finde es schön, dass wir hier sind“, sagt sie. „Hier verabschieden wir uns und gehen weg. Einfach so …“
Dort auf dem Hyelehügel hat alles begonnen, hatte Großmutter Elisabeth gesagt, als sie ihr ihren Entschluss mitgeteilt haben. Dort müsst ihr Abschied nehmen, nicht hier, in der Kälte der anonymen Großstadt. Dort oben hat das Abenteuer angefangen, von dem die ganze Familie heute noch zehrt: vom Hans Universe, dem ewigen Direktor, bis ganz nach unten zum kleinsten Mitarbeiter. Man wolle das freilich nicht zugeben. Familie – so nennt Großmutter Elisabeth das Institut, an dem ihre beiden Enkel soeben ein Studium aufgenommen haben, vielmehr aufnehmen wollten …
„Sie ist die einzige, die uns versteht“, sagt Christian. „Aber sie hat ja die Geschichte auch noch aus erster Hand gekannt … Ha … Die Familie – das Institut und sein ewiger Direktor!“
„Du meinst diese VR-Reise unserer Urgroßmutter?!“ fragt Christiane vorsichtig. Sie weiß, dass ihr Bruder auf dieses Thema gereizt reagiert und vermeidet es üblicherweise davon anzufangen.
„Die erste VR-Reise überhaupt. Hier auf dem Hügel soll sie begonnen haben. Die Urgroßmutter, es klingt fast lustig: man hat sie Junge Archäologin genannt …“
„Sie war ja wohl auch noch jünger als wir heute sind …“
„Das erzählt man nur so, um die Geschichte in die Höhe zu treiben.“
„Aber deshalb gehen wir ja nicht weg“, sagt Christiane.
„Nein, es wäre eher ein Grund zu bleiben: das war ein großes Beginnen damals, auch wenn sie nicht erreicht haben, was sie wollten: eine neue Virtuelle Realität schaffen. Sie hatten Visionen und wollten sie verwirklichen, das zählt. Nicht so sehr die Fehler, die sie dabei gemacht haben, die klein waren und unbedeutend gegen das, was ihnen als Ziel, als Ergebnis vor Augen stand. Es war nicht ihre Schuld, nicht einmal die des Hans Universe, der damals wohl noch gar kein richtiger Cyborg war, und es wäre ungerecht, sie dafür verantwortlich zu machen, dass die Sache nicht so gut ausging, aufzurechnen, wer daran welchen Anteil hat und warum … Dich hat das ja damals alles nicht so interessiert, aber ich habe Großmutter Elisabeth manchmal bei ihren Selbstgesprächen belauscht, später hat sie kaum noch davon gesprochen und wenn dann nur andeutungsweise. Nur immer mal wieder diesen Hügel hier erwähnt, den sie den Veliahügel genannt hat. Ich weiß gar nicht, ob er wirklich so heißt …“
„Aber was ist da passiert?“
„Die Urgroßmutter soll hier vor vielen Jahren angeblich aus der Antike stammende Papyrusrollen gefunden haben mit so einer Art Bericht; die Rollen sind aber später verschwunden, was ziemlich unglaubwürdig ist in unserer ja schon damals ordentlichen, durchdigitalisierten Welt.“
„Das klingt tatsächlich nicht sehr glaubwürdig“, erwidert Christiane.
„Jedenfalls sollen sie der Anlass für die erste VR-Reise überhaupt gewesen sein. Das ist allerdings vorstellbar, Schwesterherz, denn damals hat man solche Anlässe gebraucht, auch wenn sie kaum einen rationalen Grund abgeben konnten für so ein Experiment.“
Sie sind oben angekommen.
Christiane schweigt jetzt. Sie ist es, die üblicherweise viel redet. Jetzt aber schweigt sie, lässt ihren Zwillingsbruder Christian einfach reden, den sonst Schweigsamen, denn hier, in diesen Dingen, kennt er sich aus und sie kann nun endlich erfahren, warum er immer so nachdenklich, so in sich verschlossen ist, wenn es um diese Geschichten geht. Da ist so vieles in ein seltsames Dunkel gehüllt, ein fast irrationales Geheimnis, das sich kaum noch entschlüsseln lässt. Sie, Christiane, hat sich wenig um diese Vergangenheit bekümmert. Das waren Dinge, die viel zu weit weg waren. Erst in den letzten Monaten hat sie begonnen, sich dafür zu interessieren und der Anlass war, dass sie gemeinsam mit ihrem Bruder an dem berühmten Institut studieren wollte, an dem Vater Hans-Theo als Wissenschaftler tätig ist. Doch ihn hätte sie nie nach den Zusammenhängen mit der Familie zu fragen gewagt. Der Bruder war der einzige, der ihr da helfen konnte, neben Großmutter Elisabeth natürlich, die ihr freilich angesichts der Schwierigkeit ihrer Fragen schon zu alt schien.
Es sind die Misstöne aus dem Institut, die den Geschwistern in den letzten Monaten zugesetzt und die sie letzten Endes zu ihrem Entschluss veranlasst haben, die Familie zu verlassen. Sie kamen zuletzt nicht nur aus dem Institut, sondern von überall her. Aus der ganzen Stadt, von der Straße nebenan, den Nachbarn. Als hätten sie sich schuldig gemacht für alle Zeiten, weil sie zur Familie gehören.
„Das ist der eigentliche Grund“, erklärt ihr Bruder und steigt die letzten Stufen hinauf auf ein kleines Plateau, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf das Meer hat. „… die Angst der Familie, wir könnten, weil wir dazu gehören, irgendwelche Sonderrechte in Anspruch nehmen wollen – und es ist die Missgunst einiger maßgeblicher Leute im Institut, die glauben, dass wir die Studienplätze nur wegen unserer Zugehörigkeit zur Familie überhaupt erst bekommen hätten.“
„Aber das stimmt doch gar nicht“, protestiert Christiane, „wir haben alle Tests sehr gut bestanden.“
„Natürlich stimmt das nicht, aber man behauptet es – und andererseits: du musst zugeben, dass sogar unser Vater Hans-Theo gewisse Zweifel angemeldet hat … Deshalb erfindet man diese Lügengeschichten und halben Wahrheiten und lässt andere Meinungen erst gar nicht zu. Das heißt, man lässt sie schon zu, man ist ja so offen für alles, so tolerant und vielfältig – nur gelten lässt man sie nicht …“
„Du meinst, man will uns hier nicht haben, weil wir anderer Meinung sind …?“
„In gewisser Weise schon“, erwidert ihr Bruder, „und das ist vielleicht der zweite und viel wichtigere Grund: es stehen große Veränderungen an in diesem Institut und wir sollen uns entscheiden – in die eine oder in die andere Richtung.“
„Was wir nicht wollen“, ergänzt Christiane, ein wenig unsicher.
„Unser Vater Hans-Theo hat sich da vielleicht ein bisschen verrannt. Aus seiner Sicht ist das nämlich alles sehr vernünftig und wohldurchdacht: er will alle Experimente zusammenführen zu einem einzigen großen Projekt, das er MEGA-Projekt nennt. In gewisser Weise soll das eine Fortsetzung der VR-Reise unserer Urgroßmutter sein.“
„Aber warum dann diese Ablehnung, diese Misstöne, warum gegen uns, die wir doch damit gar nichts zu tun haben!?“
„Ist es der richtige Weg, kleine Schwester, das ist die Frage … Viele am Institut wollen die Experimente nicht, wollen, obwohl sie keine Antworten haben, dass gar nichts geschieht. Nur Vater … Haben wir eine Antwort?“
Christiane schweigt. Dann, nach einer Weile:
„Ich weiß nicht. Wir gehen fort – und lassen hier alles zurück.“
„Jetzt übertreib’ mal nicht“, erwidert der Bruder. „Was lassen wir denn zurück? Du musst die Sache etwas gelassener sehen! Wir müssen selbst etwas aus uns machen, müssen unabhängig sein, auch und gerade von dieser Familie – das ist für uns der einzige wirkliche Grund, warum wir gehen müssen, Christiane. Wir haben beide auch anderswo gute Chancen. Und warst nicht du es, die plötzlich wegwollte? Raus in die Welt! Ach, kleine Schwester, du willst einfach nicht begreifen, dass wir am Ende des Jahrhunderts leben und nicht an seinem Anfang. Aber so bist du nun mal, und so liebe ich dich…“
Darauf gibt es keine Reaktion. Das Gespräch zwischen den Beiden stockt. Es hat sich offenbar nichts geändert auf dem Hügel. Alles scheint noch an seinem angestammten Platz. Sie gehen noch ein Stück.
„Wir wandern aus – du sagst, in eine andere Realität … Aber was ist eine andere Realität? Was ist Realität überhaupt?“, fragt sie.
„Wir sind jung, wir schaffen uns unsere eigene, vielleicht bessere Realität! Unsere Zukunft! Wir müssen unseren eigenen Weg finden!“
„Also doch – die Zukunft … Erschaffen wir sie doch?“
Er schweigt.
„Zwanzig“, sagt sie dann und es klingt ein wenig bitter, „und schon schwanger.“
Er sagt nichts.
Dann: „Es ist tatsächlich besser, zu gehen. Bevor es auch da Gerede gibt … Und glaub’ mir: Es wird ein ganz besonderes Kind werden! Wie es im Ultraschall schon den Kopf bewegt. Fast intelligent.“
Sie lacht: „Worüber du dir schon wieder Gedanken machst, da ist es noch gar nicht auf der Welt!“
„Gedanken über die Zukunft sollte man sich immer machen“, sagt er, „und schon erst recht, wenn es um Kinder geht …“
Sie lacht wieder: „… und was wird sie uns bringen, die Zukunft!? Da in dieser anderen, vielleicht besseren Welt?“
„Ein neues Leben!“
Er streicht ihr sanft, fast etwas verlegen, über den schon stark gewölbten Bauch.
Ein Moment der Stille ist zwischen ihnen.
Christiane unterbricht die Stille erneut mit einem Lachen: „Großmutter Elisabeth hat schon einen Namen für ihre Urenkelin: Katharina die Schöne …“
„Die Schöne?!“ erwidert ihr Bruder und ergänzt: „Die Kluge…“
Dort, wo ich herkomme, nannte man mich Katharina die Schöne, wohl wegen meiner langen blonden Locken, die mir bis auf die Schultern fielen. Alle nannten mich so: meine Mutter Christiane, mein Onkel Christian, meine Mimosa-Mädchen. Alle. Sogar mein Großvater Hans-Theo, der gar nicht bei uns wohnte. Ich habe das seit meiner Kindheit gehört, aber manchmal ödete es mich an. Es gab sogar eine Zeit, da wollte ich gar nicht schön sein, so sehr hat es mich angeödet. Du, Anna, hast mich nicht so genannt und das lag nicht nur daran, dass wir uns ja bis vor wenigen Monaten noch gar nicht kannten und du meinen Spitznamen nicht wissen konntest. Du hättest es wohl auch sonst nicht getan; es ist nicht deine Art zu reden. Meine Mutter hat irgendwann auch damit aufgehört, aber behandelt hat sie mich lange Zeit weiterhin wie eine kleine Prinzessin. Meine Mutter ist eine viel schönere Frau als ich – trotzdem, so sagt sie, ist sie allein mit mir und ohne Mann geblieben. Meinen Vater kenne ich nicht.
Ich habe dich vom ersten Tag an bewundert – eine junge Frau, die voll arbeiten geht, zwei kleine Kinder hat und einen Mann und dann diese verantwortungsvolle Stellung ausgerechnet bei meinem Großvater. Naiv wie ich war, nahm ich an, dass es für dich ganz selbstverständlich sein müsste, mich in meinen Ambitionen zu verstehen und zu unterstützen. Ich wollte unbedingt das Geheimnis hinter dem MEGA-Projekt ergründen, von dem überall, auch außerhalb eures Instituts die Rede war, und wer wenn nicht du als wichtigste Mitarbeiterin meines Großvaters, würde mir dabei helfen können. Aber du hast mich anfangs überhaupt nicht beachtet. Wahrscheinlich hast du mich damals für so ein süßes Mauerblümchen gehalten, das es nur durch seinen Großvater an euer berühmtes Institut geschafft hat.
War das der Grund, warum du mich nicht ernstgenommen hast, als ich dir das erste Mal von meinem eigenen Projekt erzählte, zugegeben auf eine ziemlich dilettantische Art und Weise, die noch eine große Ähnlichkeit hatte mit Vorstellungen und Illusionen aus Kindertagen. Ich war ziemlich frustriert und gab dir später sogar manchmal die Schuld am Scheitern all meiner Vorhaben und Ideen, ungerechtfertigt wie ich mir freilich immer wieder eingestehen musste.
So blieben mir in meinen ersten Wochen am Institut nur Großvater Hans-Theo und abends im Chat mein Onkel Christian in der fernen Heimat, mit denen ich kommunizieren konnte. Mit Christian tauschte ich weiterhin meine heimlichen Pläne aus, aber Großvater Hans-Theo erklärte ich nur (das hatte mir nicht nur Onkel Christian, sondern auch meine Mutter Christiane angeraten), was ich mit meinem Studium an diesem Institut und den mir zugedachten Projektarbeiten zu erreichen beabsichtigte. Er wunderte sich aber keineswegs, als ich ihm vollmundig von einem alternativen Vorhaben erzählte, einem virtuellen aber eigentlich nur nebulösen Gebilde einer Neuen Welt; von meinen geheimen Absichten, viel mehr zu ergründen und womöglich wie eine Whistleblowerin fragwürdige Experimente aufzudecken – ich wusste nicht welche, aber das spielte keine Rolle für mich – ließ ich natürlich nichts oder doch nur sehr wenig durchblicken. Niemand kannte die ganze Wahrheit; nur meine Mutter Christiane verstand, ganz ohne Worte, was ich meinte.
Wie fast alle Kinder in meiner Umgebung hatte ich ziemlich lächerliche Vorstellungen von Künstlicher Intelligenz und virtuellen Welten, spielte stundenlang am Tablet oder auf dem Smartphone diese sinnfreien Spielchen oder krakelte irgendwelche Emojis zusammen. Ich weiß nicht wie das kam, eines Tages muss ich etwas aufgeschnappt haben, wahrscheinlich von meinem Onkel Christian und erfand mein Projekt. Ich nannte es Diotimas Welt. Ich kann dir nicht mehr sagen, woher ich schon damals von Diotima wusste. Manchmal denke ich, es war meine Mutter, die von ihr gesprochen hat, aber ich bin mir nicht sicher. Diotima war einfach schon immer da, irgendwann muss sie in mein Leben getreten sein, ohne dass ich es recht bemerkt habe. Mein Großvater hat später gesagt, Diotima liege bei uns in der Familie. Das hat mich ziemlich beeindruckt. Der einzige, der außer meiner Mutter in das Projekt eingeweiht war, war mein Onkel Christian. Er war ganz in unserer Nähe an einer Universität Professor für digitale Medien. Wenn er uns besuchte, mich und meine Mutter, dann sprach er ständig über irgendwelche Projekte. Ich war schon als Kind fasziniert von seinen Geschichten – denn für mich waren das vor allem wunderbare Geschichten.
Meine Mutter fand meine Vorstellungen glaube ich nicht so gut, dafür aber mein Mädchenkreis: die Mimosen. So nannten wir uns, nach dem Haus Mimosa, in dem ich mit meiner Mutter lebte und wo unsere regelmäßigen Treffen stattfanden. Auf die Idee, mit meinem Projekt etwas richtig anzufangen, kam ich erst, als ich meinen Mimosa-Mädchen davon erzählte. Sie waren hellauf begeistert, konnte doch jede eigene Vorstellungen damit verbinden. Ich hatte ja keine genauen Vorgaben gemacht, sondern ganz allgemein von Diotimas Welt gesprochen, in der man künstliche Welten erzeugen konnte. Ich hatte mir, unterstützt von meinem Onkel, mit zehn Jahren das Programmieren beigebracht und schon recht genaue eigene Vorstellungen von virtuellen Realitäten. Diotima war das Mädchen, das alles verkörperte, was in einer solchen virtuellen Realität geschah oder geschehen sollte. Es spielte keine Rolle, dass sie irgendwo tief in einer fernen Vergangenheit oder Zukunft (denn das machte für uns keinen Unterschied) nur als eine Märchenfigur lebte, sie war stets um uns.
Nur als eines der Mädchen den Vorschlag machte, dem Projekt den Namen Acedia zu geben, protestierte ich und bestand darauf, dass es bei Diotimas Welt bleibt. Das Mädchen begründete seinen Vorschlag damit, dass es doch bei dem Projekt um eine große Verweigerung gehe, und verweigern wollten wir uns doch auf jeden Fall, wenn wir auch nicht genau wussten, wem oder was. Sie habe im Netz nachgeschaut: Der Name Acedia stehe für Muse, ein sinnerfülltes nichthektisches Leben, für ein „zurück“ zu den Wurzeln des Daseins. Freilich auch für Trägheit, Faulheit und solche Sachen, aber das gehöre schließlich auch mit dazu, man müsse es nur richtig interpretieren. Ich widersprach heftig: es sei gerade Diotima, die dafür stehe, all die festgefügten Strukturen aufzubrechen, die uns daran hinderten, unsere Verweigerung, unsere Trägheit, den Überdruss, auszudrücken, in dem wir gefangen waren. Um anschließend – wie Diotima – eine Neue Welt zu erfinden, die der der Erwachsenen diametral gegenüberstand, bereit, sich mit ihr aufs Schärfste auseinanderzusetzen. Später gipfelte das dann in dem Modell einer schönen heilen Welt, in der sich alles auf wunderbare Weise wie von selber reguliert und die Menschen einander nur Gutes tun. Wir wollten nicht erwachsen werden, sondern bleiben, was wir waren: die Mimosa-Mädchen. Es war schon ein bisschen paradox: ausgerechnet bei der Schaffung solcher Welten sollte uns die künstliche Intelligenz unterstützen.
Mein Onkel Christian, obwohl skeptisch, hat mir immerhin zugeredet, nicht abzulassen von meinem Projekt. Ich wäre mir aber auch ohne ihn sicher gewesen, auf dem richtigen Weg zu sein. Im Grunde bin ich das heute noch, auch wenn ich jetzt einige Kritik einstecken muss, wegen meiner Naivität, die ich angeblich noch immer habe. Das hat mir aber schon damals nichts ausgemacht: Trotzigkeit ist auch eine der möglichen Beschreibungen für Acedia. Man muss das alles nur zusammenfassen, erst dann gibt es ein Bild. Das Bild von einer Neuen Welt: wir hatten keine Ahnung, was darunter zu verstehen sei, wir nannten das einfach so – und was könnte falsch oder schlecht daran sein, eine Neue Welt zu entdecken.
Ich war mir sicher, dass die meisten Älteren uns zwar für naiv und weltfremd hielten, aber doch auch etwas neidisch auf unser Vorhaben blicken würden und vor allem wohl darauf, dass wir noch Ideale und die großen Empfindungen und Visionen hatten, von denen sie nicht einmal mehr träumten.
Ich konnte zwar keine rechte Beziehung herstellen zwischen dieser Diotima und meinem Leben, doch das störte mich nicht; dass ich mein Projekt Diotimas Welt nannte, war am Anfang rein emotional: ich spürte eine Nähe zu ihr, aber die bezog sich vielleicht nur auf den Namen. Meine Mutter machte manchmal Andeutungen. Ach, eine ganz junge Griechin, sagte sie irgendwann, aber niemand weiß so recht, ob es sie jemals gab … Ich hatte auch keinen Grund, nachzufragen, mir genügte das schöne Bild, die Atavare, wie es sie gelegentlich im Netz gab, wenn sie nur schön waren …
Dass die Erwachsenen uns ganz offensichtlich – so meinte ich – nicht ernstnahmen, störte mich nicht, solange man mich nicht darin störte, es zu ignorieren. Und wer hätte das tun sollen …?
Mein Onkel Christian sicher nicht. Er wusste natürlich von Diotima und ihrer Geschichte und hatte wohl ein sehr eigenes Verhältnis zu dem Thema, aber er muss es in seiner Jugend versäumt haben, seinen Vater Hans-Theo oder seine Großmutter Elisabeth richtig daraufhin anzusprechen. Für mich hatte das den Vorteil, dass er, als ich etwas älter wurde, plötzlich begann, mir von Diotima zu erzählen. Freilich nicht von der VR-Reise, sondern wie von einer mythischen Gestalt. Ich konnte das gar nicht glauben, ich war ungefähr zwölf. Es ist nur ein Spiel, dachte ich. Aber dann sagte er, er sei zwar skeptisch, und es sei sicher auch ein wenig das Traumland einer kleinen Prinzessin, die sich viel zu früh mit solchen Dingen beschäftigt, doch das ändere sich mit der Zeit von selbst. Da wusste ich, dass er mich ernst nimmt. Vielleicht sind wir uns ein bisschen ähnlich, auch wenn das etwas anmaßend klingt, denn er ist ein berühmter Professor auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz, wie du ja weißt – und ich, naja, Katharina die Schöne. Christian aber sagt: die Kluge, wenn du dir Mühe gibst. Und ich gab mir Mühe.
Aber nicht nur mein Onkel Christian entdeckte gewisse Talente in mir, auch Großvater Hans-Theo aus der fernen Urheimat begann sich ein paar Jahre später für mein Projekt zu interessieren. Irgendwann habe ich ein Gespräch zwischen den beiden belauscht.
„Sie nennt ihr selbsterfundenes kleines Projekt Diotimas Welt“, sagte mein Onkel. „Ist das nicht äußerst bemerkenswert? Ich frage mich, wie sie darauf gekommen ist.“
Und mein Großvater erwiderte: „Das Kind muss zum Studium!“
Worauf mein Onkel antwortete, ohne weiter nach Diotima zu fragen: „Das finde ich auch.“
So begann alles. Oft, eine Zeitlang fast täglich, sprachen wir im Netz von nichts anderem mehr als von den Projekten, vor allem aber von meinem bevorstehenden Studium, manchmal zu dritt, manchmal auch nur zu zweit. Meist waren es nur wenige Minuten, aber diese wenigen Minuten gehörten zu den wichtigsten Ereignissen bei meinen täglichen Interaktionen im Web. In meiner kindlichen Naivität war ich jedenfalls davon überzeugt, mein Projekt werde eines Tages die Gipfel der künstlichen Intelligenz erobern.
Am Ende habe ich es dann selbst entschieden, meine Heimat für ein paar Jahre zu verlassen und hierher zu gehen, freilich nicht ohne die Unterstützung von Großvater Hans-Theo, nicht ohne seine Fürsprache und seine Beziehungen im Institut oder wie Urgroßmutter Elisabeth zu sagen pflegte, der Familie.
Der entscheidende Moment war aber, als Großvater eines Tages urplötzlich bei uns auftauchte. Im Gegensatz zu meinem Onkel Christian, den ich sehr oft sah, da seine Universität nicht sehr weit entfernt von unserm Haus Mimosa war und mit dem ich außerdem fast täglich über die verschiedenen sozialen Medien kommunizierte, kannte ich meinen Großvater so gut wie gar nicht. Christian besuchte uns sehr oft. Er lebte mit seiner Familie ganz in der Nähe, war immer freundlich, aber wie mir schien, auch immer ein wenig traurig. Ich mochte ihn sehr; als Großvater uns überraschend besuchte, informierte ich ihn geistesgegenwärtig sofort und er unterbrach seine Vorlesung und schaffte es sogar, eine knappe halbe Stunde nach ihm bei uns einzutreffen. Meine Mutter war derart erschrocken über den plötzlichen Besuch ihres alten Herrn, dass sie beinah die barocke Vase aus echtem Meißner Porzellan, die sie gerade einer gründlichen Reinigung unterzogen hatte, aus der Hand fallen ließ.
Es schien, als sei der Großvater soeben einer virtuellen Welt entstiegen, die ihn nicht hatte gehen lassen wollen, aber er war es tatsächlich selbst und kein Avatar. Er verreise nicht so gern, erklärte er mir, schon in seiner Jugend habe er nur dann wirklich seine Stadt und das Institut verlassen, wenn es unbedingt sein musste, sich persönlich körperlich auf den Weg zu machen. Die Welt könne man schließlich virtuell viel effektiver erkunden – er habe davon immer, fast täglich, Gebrauch gemacht und so fast die ganze Welt bereist. Diesmal sei ich der Grund, dass er sich der Mühe einer Real-Reise unterzogen habe, und der Anlass sei ja auch gegeben: erstens seine nun fast erwachsene Enkelin mal richtig in den Arm zu nehmen und zweitens, sie ein wenig zu unterstützen auch gegenüber ihrer Mutter, die sich bekanntlich beharrlich weigere, virtuelle Welten auch nur ansatzweise und ausnahmsweise zu betreten, ja hin und wieder sogar deren Existenz bestreite. Auch sei sie selber ein Grund gewesen, immerhin sei sie trotz aller früheren Zerwürfnisse seine Tochter, und obwohl sie nach wie vor mit ihm hadere … (Meine Mutter nennt ihren Vater ja nur den Hans-Theo! Ich glaube, sie mag ihn nicht sehr, im Gegensatz zu meinem Onkel Christian, der sich mit ihm, wie er selber sagt, irgendwann ausgesöhnt hat. Weswegen und was der Grund ihres Zerwürfnisses war, weiß ich nicht, kann ich nur erahnen.)
Für mich, aber auch für meine Mutter, wirkte die Ankunft meines Großvaters Hans-Theo wie ein Zufall, aber ich glaube, das war von ihm sehr wohl kalkuliert. Andererseits schien es mir, als hätte ich genau auf diesen Zufall gewartet, aber darauf gewartet habe ich in Wirklichkeit wohl erst hinterher; das heißt, erst hinterher ist mir klargeworden, dass ich auf genau diesen Zufall gewartet habe.
Das, meine Liebe, war der Tag der Entscheidung. Dem Ansinnen und den Argumenten meines Großvaters hatte meine arme liebe Mutter nichts entgegenzusetzen; sie akzeptierte und folgte damit wie immer auch dem gutgemeinten Rat meines Onkels Christian.
Nun, da ich schon einige Monate hier bin, tritt mir der Unterschied zwischen eurer Welt hier und meiner bisherigen Welt immer deutlicher vor Augen. Ich bin sehr froh darüber, dass die Fremdheit zwischen dir, meine liebe Anna, und mir bald einer tiefen Freundschaft gewichen ist, und ich viel zuversichtlicher in die Zeit vor mir blicken kann. Vielleicht verstehe ich gerade deshalb viel besser, dass meine Mutter Christiane alles dafür getan hat, dass ich bei ihr bleibe. Sie wollte nicht, dass ich fortgehe. Damals habe ich das nicht verstanden, heute ja.
Natürlich war mit Diotimas Welt erst einmal Schluss, sobald ich den Boden meiner neuen Heimat betreten hatte, die nach dem Willen meines Großvaters ja eigentlich meine alte, meine Urheimat war. Gerade mal zwei Wochen hat es gedauert, bis Großvater Hans-Theo sie begrub und ich stillschweigend und wie ich glaubte für immer Abschied von ihr nahm. Aber ganz verabschiedet habe ich sie dann doch nicht, sie meldete sich schneller und nachdrücklicher zurück als ich für möglich gehalten hätte, freilich in neuer Form und neuem Inhalt. Und daran bist du nicht ganz unschuldig, Anna. Denn durch dich bekam ich plötzlich, wovon ich bis dahin nur gerüchteweise gehört hatte: einen wirklichen Hinweis auf äußerst fragwürdige Experimente, über deren Existenz es ja die merkwürdigsten Theorien gab. Das hatte nämlich zunächst gar nichts zu tun mit meinem Projekt, sondern mit einer kleinen Randbemerkung, vielmehr einer sich wiederholenden Frage, die du nicht mir stelltest, sondern den zumeist jungen Wissenschaftlern, bei deren regelmäßigen Besuchen ich dich während der ersten Woche begleiten durfte. Es waren wohl routinemäßige Konsultationen, in denen es hauptsächlich um Fortschritte bei der Arbeit am MEGA-Projekt ging. Es war jedesmal die gleiche Frage: ob es Erkenntnisse beim Umgang mit einem Kanal sieben gäbe. Mir wäre das auch gar nicht weiter aufgefallen, wenn nicht die Reaktionen der Angesprochenen auch immer wieder die gleichen gewesen wären: ein beinah hilfloses Achselzucken, das ich als ausweichende Nichtantwort interpretierte – eine Interpretation, die vielleicht typisch ist für jemanden wie mich, die gerade mal ein paar Tage da war und für die alles so ziemlich neu und ungewohnt war.
Dich selbst zu fragen, wäre mir damals nicht in den Sinn gekommen, also machte ich noch am gleichen Abend beim täglichen Chat mit meinem Onkel Christian diesen Kanal sieben zum Thema. Aber was soll ich sagen – auch er versuchte abzublocken, redete sich heraus: Genaueres könne er nicht sagen.
„Aber du weißt davon!“ fuhr ich ihn an.
Er gab zu, dass er davon wisse, aber er wisse nicht mehr, als ihm Großvater Hans-Theo berichtet habe, und das sei wenig, zumal es ihn als Thema nie sonderlich interessiert habe.
„Aber was ist dieser Kanal sieben“, wollte ich wissen. Ich kannte meinen Onkel, wusste, dass er irgendwann doch mit der Sprache herausrücken würde.
„Jedenfalls“, erklärte er, „keiner von den üblichen Kanälen, die allein der Transformation gescannter Daten zum Beispiel aus einem menschlichen Gehirn in einen Zentralcomputer, wie in euerm Falle in die Cloud, dienen. Soweit ich weiß, handelt es sich um einen Kanal – oder auch um ein Konstrukt vieler einzelner Kanäle –, der einerseits den Datentransfer in Richtung Cloud verbessern soll und andrerseits verhindern soll, dass es zu unerwünschten Rückkopplungen kommt. Angeblich soll er vor allem wegen der Gefahr der Rückkopplungen erfunden worden sein.“
„Welche Rückkopplungen?“ habe ich ihn gefragt, „davon habe ich noch nie gehört.“
Mein Onkel sah mich daraufhin etwas besorgt an.
„Welche Rückkopplungen?“ wiederholte er meine Frage. „Diese Frage ist an euerm Institut nie gestellt worden! Ich habe sie meinem Vater immer wieder gestellt, aber nie eine Antwort bekommen. Diese Q-Räume, die ihr Kanäle nennt, sind nach Ansicht der meisten Experten spezielle Quantenräume, die sicherstellen sollen, dass die Übertragung der Daten gerichtet erfolgt, das heißt, es soll verhindert werden, dass gescannte Daten oder Synapsen menschlicher Gehirne aus der Cloud oder irgendeinem anderen Zentralgehirn, sozusagen angereichert zu ihrem Ursprung, dem Menschen, zurückfließen. Daten