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Was hat ein Chip im Gehirn eines modernen Menschen mit dem Bericht einer jungen Griechin zu tun, die vor 2500 Jahren eine Schiffsreise auf dem Mittelmeer unternimmt, verlorengegangene Papyrusrollen sucht und dabei mit einigen ihrer berühmten Zeitgenossen Bekanntschaft macht? Die Antwort lautet: Eigentlich nichts - und doch sind wir plötzlich mittendrin in einer Welt, von der wir nicht wissen, ob sie real ist oder nur virtuell ...
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Frank Jakob
DIOTIMAS BERICHT
ODER
DER NAMENLOSE WEISE ALTE VON EPHESOS
Engelsdorfer VerlagLeipzig2020
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/DE/Home/home_node.html abrufbar.
Copyright (2020) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Umschlaggestaltung: Conny Cobra
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
www.engelsdorfer-verlag.de
Cover
Titel
Impressum
Die gesetzliche Ordnung des Anonymus Iamblichi
Vorspiel
Die Junge Archäologin
Diotimas Bericht
Hiketas von Syrakus
Protagoras aus Abdera
Anaxagoras von Klazomenai
Sappho
Der namenlose weise Alte von Ephesos
Epilog
Erläuterungen
Quellen-Nachweis
MEINEN ENKELN FRITZ UND KARL
»Vertrauen ist die erste Frucht der gesetzlichen Ordnung, ein großer Segen für die Menschheit und eines der großen Güter. Es bewirkt, daß das Geld zum gemeinsamen Besitz wird, und so geschieht es, daß es auch in spärlicher Menge durch seinen Umlauf dennoch ausreicht, daß es aber ohne Vertrauen auch in reichlicher Menge nicht ausreicht.«
Als im Jahre 1889 der in die Literatur eingegangene Text eines unbekannten Autors aus dem 5. vorchristlichen Jahrhundert von Friedrich Blass in einer Schrift des Neuplatonikers Iamblichos aus dem 3. oder 4. nachchristlichen Jahrhundert entdeckt wurde, nahm das die allgemeine Öffentlichkeit so gut wie nicht zur Kenntnis. In der Fachliteratur fand der Text insofern eine gewisse Beachtung als man sich ein paar Jahre lang darüber stritt, wer von den bekannten Sophisten – unstrittig war, dass es sich um einen sophistischen Text handeln musste – als Autor in Frage käme, aber als diese Diskussionen verstummten, verblieben die Texte in den Sammlungen vorsokratischer Schriften als Anonymus Iamblichi.
Es mag deshalb nicht weiter verwundern, dass eine ähnliche Entdeckung, das rein zufällige Finden einer Papyrusrolle aus dem gleichen 5. vorchristlichen Jahrhundert durch eine junge Archäologin weit über hundert Jahre später, im April 2017, in der Ruinenstätte Velia südlich von Salerno, dem antiken Elea, zunächst eine ähnlich geringe Aufmerksamkeit erregte.
Dass diese Papyri dann doch in die Schlagzeilen der Fachpresse gerieten, hatte allerdings weniger mit dem Text an sich zu tun als vielmehr – und hier schließt sich der Kreis – mit der Frage nach der Autorschaft und einer damit verbundenen spektakulären Aktion der jungen Archäologin, die offenbar damit eine Veröffentlichung des angeblich von ihr übersetzten Textes erzwingen wollte. Der Druck war von den zuständigen Universitätsbehörden abgelehnt worden – mit der offiziellen Begründung, er sei nicht finanzierbar.
Sie steigen den steilen Pfad hinauf auf den Hügel, den man schon vor zweitausendfünfhundert Jahren den Hyele-Hügel nannte. Es ist ein friedlicher, sonniger Tag Ende April. Zwischen den uralten Steinen schiebt sich zartes Grün hervor, lugt hervor und reckt sich gegen die blendende Sonne, immer neu seit ewigen Zeiten.
„Dort, in diesem Spalt, habe ich die Rollen gefunden“, sagt der Vater zu seiner Tochter, die ihn neugierig-herausfordernd ansieht.
„Was denn, in diesem Spalt?“ fragt sie.
„Ich habe es dir nicht gleich gesagt“, erklärt der Vater, „weil ich das ganze zunächst für unwichtig hielt. Du warst ja auch einfach weitergegangen, weiter hinaufgestiegen.“
„Als Archäologin ist man es gewohnt, rasch irgendwelche Hügel zu ersteigen“, sagt entschuldigend die Tochter. „Man ist darauf angewiesen, schnell zu sein und dabei doch gründlich und umsichtig.“
„Das kann ich mir vorstellen …“
Der Vater greift in den Spalt, als suche er erneut nach einem Bündel halbverrotteter Papyrusrollen.
„Aber ein besonders gutes und sicheres Versteck war das wohl nicht“, meint er und sieht seine Tochter fragend an. „Oder was denkst du? Man greift hinein und schon hat man das Bündel in der Hand. Das ist doch ungewöhnlich – oder? Und warum ist der Papyrus, wenn er wirklich so alt sein soll, nicht längst zerfallen, es ist organisches Material. Bei diesem Klima hier. Und wieso hat es bisher niemand gefunden? Fragen über Fragen! Findest du nicht auch, meine Tochter, dass das äußerst merkwürdig ist!?“
„Es ist mehr als merkwürdig“, erwidert die Tochter. „Es ist eigentlich unmöglich. Es gibt meines Wissens außer in der Asche des Vesuv keine Papyrusfunde in Europa, nur im Wüstensand werden gelegentlich noch Reste gefunden, in Ägypten, im arabischen Raum. Nirgendwo sonst.“
Sie verlassen die Stelle, an der der Vater die Rollen gefunden hat und steigen den Hügel weiter hinauf.
„Vielleicht sollten wir einfach die Realitäten akzeptieren“, sagt die Tochter, „es ist ja für einen guten Zweck. Alle Gutachten, bis auf ein einziges – ein Außenseiter wenn du so willst – haben die Echtheit und vor allem das Alter der Papyrusrollen zweifelsfrei bestätigt. Warum wollen wir das nicht einfach so hinnehmen? Anderes glauben wir doch auch so ohne weiteres!“
Der Vater kann sich ein kleines Lachen nicht verkneifen.
„Du hast ja Recht, Tochter!“ sagt er.
„Offen bleibt freilich die Frage, wie sie hierher gelangt sind“, erklärt die Tochter, „denn richtig ist auch: Hier können sie unmöglich die Zeiten überdauert haben. Jemand muss sie vor sehr kurzer Zeit hier abgelegt haben! Aber wer – und vor allem warum?“
„Wenn ich sie nicht selbst hier in diesem Spalt gefunden hätte, Tochter, ich würde das alles nicht glauben!“
„Halten wir uns also an die Fakten! Und die Fakten sagen: Die Rollen sind echt! Und nur darauf kommt es an.“
Der Vater, obwohl noch nicht so alt, dass er irgendwelcher Hilfsmittel bedürfte, schiebt sich etwas schwerfällig zwischen seinen beiden Walkingstöcken den Hügel hinauf.
„Ich weiß, meine Tochter“, sagt er, „und ich kann dir versichern, es war genau diese Stelle, dieser Spalt, und ich hätte ja auch gar nicht hineingegriffen, wenn du nicht beim Gehen auf diesen glitschigen Steinen – du erinnerst dich, es hat geregnet und du hast dich an meinem Mantel festgehalten – ausgerutscht wärst und ich mich mit der linken Hand in diesem Spalt festgehalten hätte.“
„So ein Zufall war das!“ sagt anerkennend die Tochter.
Sie kommen immer höher den Hügel hinauf. Der Vater mit seinen beiden Stöcken, die Tochter lockeren Schrittes, immer besorgt um den sich ein wenig ungeschickt gebenden Vater.
„Aber dann hast du das einzig Richtige getan: Du hast das Bündel herausgezogen und an dich genommen!“
„Was hätte ich auch anderes tun sollen …“
„Und es war auch richtig, dass du es mir am Ende doch gegeben hast. Obwohl du es für unwichtig gehalten hast. Schließlich bin ich vom Fach, konnte gleich alles veranlassen: die Untersuchungen, die Prüfungen, die Gutachten. Zum Glück leben wir ja in einer Zeit, in der man so gut wie alles nachweisen und erklären kann.“
„Alles vielleicht nicht“, sagt einschränkend der Vater.
„Allerdings gibt es eine noch viel größere Merkwürdigkeit. Rate mal, welche!“
„Ich weiß schon“, antwortet der Vater beinah pflichtgemäß, „es ist der Bericht einer Frau!“
„Richtig! Ein schriftlicher Bericht aus der Antike, der von einer Frau verfasst wurde. Ist das nicht toll?!“
„Gewiss, mein Kind!“
„Du sollst nicht mein Kind sagen, Vater!“
„Entschuldige! Lass’ uns weitergehen.“
Sie sind oben angekommen, sie haben den Hügel erklommen. Da steht eine ewig alte Kirche, man sagt, sie sei aus den zerstörten Resten eines antiken Tempels erbaut worden. Dort steht auch eine Bank, auf die setzen sich jetzt Vater und Tochter.
„Es ist natürlich nicht die gleiche Bank wie damals“, sagt die Tochter, „aber immerhin der gleiche Blick aufs Meer, das Land vielleicht heute um ein paar hundert Meter ins Landesinnere verschoben, wegen der Versandung, der Sedimentierung, wie die Geologen sagen würden.“ –
„Hier“, sagt die Tochter, „hat sie möglicherweise gesessen.“
Ich bin mir plötzlich fremd geworden. Auf eine Weise, die ich nicht verstehe und die nichts mit mir zu tun haben kann. Ich sage plötzlich, und das stimmt ja auch, denn sonst wäre ich nicht hier. Aber es war nur der Anlass. Die Vorahnung begann langsam von mir Besitz zu ergreifen, lange bevor diese unabhängige Kommission ihr Verdikt über meine Arbeit aussprach. Natürlich – du hast vollkommen Recht, Vater – hat es mit dem Bericht zu tun, mit Diotimas Bericht. Er stand auf einmal zwischen mir und der normalen Welt, will sagen, er ist letzten Endes der Grund dafür, dass ich jetzt hier bin. Nicht diese Leute von der Kommission.
Es geht mir gut in der Anstalt. Ich sage Anstalt, weil eine Frau, eine nicht mehr ganz junge Frau, eine Putzfrau, die gerade die Gänge gewischt hat, als ich kam, entrüstet ausrief: Diese Anstalt hier! Sie war wohl empört über sich selbst, denn sie hatte versehentlich den Wischeimer umgestoßen, in dem aber zum Glück kaum noch Wasser war und ich noch schnell beiseite springen konnte, ohne nass zu werden. Ich habe den Begriff übernommen, weil ich drüber lachen konnte und alles so viel leichter schien, noch bevor ich zum ersten Mal einem Arzt gegenüberstand.
Eines möchte ich von Anfang an klarstellen: ich bin freiwillig hier! Sofern man das freiwillig nennen kann, wenn man sich selbst einweist – was nichts anderes heißt, als das man dorthin geht und sagt: Behaltet mich mal lieber gleich hier! Gut, freiwillig ist etwas anderes. Es hat doch aber zumindest den Anschein von Freiwilligkeit. Wenigstens weiß der normale Verrückte, dass er verrückt ist. Im Unterschied zu denen, die eigentlich genauso hierher gehörten wie ich, aber glauben, es nicht zu sein und sich entsprechend aufführen. Ganz im Gegenteil: In der Regel machen wir, die verrückten „Spinner“, weit weniger Schaden als so mancher dieser „Normalen“, der Vielen, wie sie Diotima, meine antike Gefährtin, vor zweitausendfünfhundert Jahren genannt hat.
Du erinnerst dich doch, Vater, was ich gesagt habe über die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bericht aus der Antike von einer Frau, noch dazu einer jungen, einer sehr jungen, geschrieben worden sein könnte. Ich sagte, man wird es nicht glauben. Aber es kam schlimmer: man hat an der Authentizität des Berichtes überhaupt gezweifelt. Niemand hat das offen gesagt; muss man ja auch nicht an einem Institut, das sich weniger mit historischen Forschungen beschäftigt als mit Fragen der Globalisierung in einer künftigen Welt. Man blieb vage und unbestimmt, tat so, als gäbe es den Bericht nicht. Man hat ihn einfach ignoriert. Allerdings hatten die Herrschaften die Rechnung ohne die Wirtin gemacht, und da ich keine Ruhe gab, bestellte man diese Kommission. Sie bestand aus sechs Männern und einer Frau und nannte sich offiziell DIE Beraterconsulting für spezielle Aufgaben. Sie hatte mit dem Institut gar nichts zu tun. Sie erschien, tagte, kritisierte und verschwand wieder. Das Ergebnis kannst du dir denken.
Am Anfang lief alles noch ganz gut. Ich erläuterte meine Beweggründe für die Übersetzung und eine hoffentlich rasche Veröffentlichung in einer großen Fachzeitschrift. Es gäbe sicher einige Analogieschlüsse, die auch für die weitere Arbeit hier am Institut äußerst relevant werden könnten, was sogar ganz beifällig aufgenommen wurde. Ich gab auch zu, dass man Diotimas Bericht nicht ganz wörtlich nehmen dürfe, dass in einem gewissen Sinne ich ihn aufgeschrieben habe, genauer gesagt rekonstruiert. Denn schließlich sei ich Archäologin und habe im Nebenfach Philologie studiert. Das hätte ich wohl nicht tun sollen. Es war jedenfalls der Moment, an dem das Wohlwollen, das ich bis dahin zu spüren geglaubt hatte, in Ablehnung umschlug. Man verzog die Gesichter: diese Offenheit war wohl zu viel – ein Affront: Da kommt nicht nur aus tiefster Vergangenheit irgendeine Diotima daher und sieht Dinge, die sie vielleicht gar nicht sehen sollte, sondern auch noch eine junge Archäologin, die genau das rekonstruieren will. Und zwar eigenständig. Unabhängig! wie man so sagt. Wie hatte ich auch so naiv sein können, anzunehmen, man würde so ohne weiteres hinnehmen, dass ein junges Mädchen vor zweitausendfünfhundert Jahren einen solchen Bericht hat verfassen können. Das ist vielleicht auch einer der Gründe, warum ich hier bin: diese Naivität!
Von da an lief alles schief! Sie taten gerade so, als hätte ich den Bericht erfunden. Frei erfunden! Ich versuchte zu erklären, noch mal und noch mal: dass ich mit meiner Übersetzung lediglich auf historische Analogien aufmerksam machen wolle – und was daran so falsch sein soll… Aber es war zu spät. Sie haben nicht zugehört, sondern gestritten: es gäbe keine nachweisbaren historischen Analogien die einen, es gäbe sie schon, aber sie seien allesamt falsch, die anderen. Der Bericht könne nicht echt sein, weil viel zu modern! die einen. Er ist zu historisch! die anderen. Ich sage: Er ist keines von beidem! Es ist einfach der Bericht einer jungen Griechin, der in einem zugegeben fragmentarischen Zustand auf uns gekommen ist. Aber keine Fragen. Keine Diskussion. Ende! Da bin ich dann ausgerastet.
Ihr habt wohl Angst, habe ich ihnen entgegengeschrien, Diotima könne etwas zu sagen haben, das nicht in euer Bild passt, das ihr euch gemacht habt von der Welt?! Und was das Erfinden angeht – was erfindet ihr nicht alles, wenn es darum geht, irgendwas zu begründen und zu verteidigen und dem Rest der Welt aufzuschwatzen, notfalls indem ihr ein bisschen nachhelft. Also haltet mal bitte die Luft an! Hab’ ich was erfunden? Na und, selbst wenn es so wäre – was stört euch daran? Hab’ ich euch was weggenommen? Es gibt Geschichten, die so vielleicht nicht geschehen sind, aber ganz ähnlich hätten geschehen können. Und wieder geschehen können! Darauf kam es mir an!
Am schlimmsten war die einzige Frau in der Runde. Sie hat dann alles ins Rollen gebracht. Sie kam sogleich mit der entscheidenden Frage nach der Existenz von Diotima und verband sie mit der Authentizität meiner Übersetzung. Dabei beteuerte sie gleichzeitig, viel Verständnis zu haben für die Art meiner interpretativen Übersetzung, die doch einerseits recht frei und experimentell sei und andererseits offenbar vom Diktat eines Übersetzungsautomaten beherrscht werde, was zu den allergrößten Schwierigkeiten führen müsse. Ich sei mit meiner Diotima auf der Suche in einer Welt, die es nicht gibt oder doch nur in der Phantasie einer virtuellen Realität, was vielleicht nur eine moderne Form der Utopien oder auch Anti-Utopien bezogen auf eine verklärte Vergangenheit sei. Nicht so, mein Kind (sie hat tatsächlich mein Kind gesagt, Vater, es fehlte nur noch das vertrauliche du!), nicht auf diese Weise, nicht, indem man den Unterschied verwische zwischen Vergangenheit und Zukunft, die Zeiten ausheble, einebne, könne man sinnvolle Analogieschlüsse ziehen. Dies sei eine Suche, die ins Leere, in die Illusion führe. Und nur allzu gern möchte sie mich davor bewahren, mich warnen vor den unvermeidlichen Folgen.
Ich musste lachen, Vater. Diese Frau – und mich warnen! Das erschien mir nun völlig absurd. Was redete die daher?! Ich bin aufgestanden und gegangen und das ganze Projekt wurde dann umgehend und ohne irgendeine weitere Begründung abgesetzt.
Natürlich haben die in der Kommission sofort gemerkt, wie sehr ich mich mit Diotima bereits identifiziert hatte und das verstärkte ihre Skepsis und machte mich nicht unbedingt glaubwürdiger, zumal ich mich ja selbst gewundert hatte, wie schnell das alles ging. Ich fühlte mich ihr verwandt, seelenverwandt, wenn du so willst. Von jetzt auf gleich und ohne viel von ihr zu wissen. Das macht vieles möglich, wenn es ans Übersetzen geht! Ganz ohne Übersetzungsautomat oder gar Künstliche Intelligenz. Die Wahrheit ist, ich habe nicht ein einziges Wort fremdübersetzen lassen. Aber ich war vom ersten Moment an in Diotimas Bann. Ich dachte mir, diese Diotima hatte eine einfache schöne Sprache, denn sie war ein einfaches schönes Mädchen, keine Intellektuelle, obwohl es die im Gegensatz zur landläufigen Meinung damals auch gab (ich sage nur: Aspasia!). So übersetzte ich ihren Bericht, und es war leicht und schön, ihn zu übersetzen. Zeit dafür hatte ich genug zwischen diesen beiden öden blöden Praktika, in denen ich zum soundsovielten Male meine wissenschaftliche Befähigung nachweisen sollte – und du, mein Vater, zum Glück das Geld, so dass ich mich nach Italien absetzen konnte, dorthin, wo alles stattgefunden hat und wo du dann bei deinem Besuch in Velia die Papyrusrollen gefunden hast …
Es ist mir keineswegs leicht gefallen, hierher zu gehen. Ich wollte natürlich nicht! Schon wegen Philipp nicht! Aber andererseits ließ mir die Situation keine Wahl. Was willst du da machen? Es ist zwar lächerlich, dass ich hier bin, aber folgerichtig, fast logisch! Ich bin verrückt und normal! Es stimmt beides! So ist die Lage, Vater.
Du musst dir trotzdem keine Sorgen machen. Als Vater sowieso nicht – ich bin wohlauf und es geht mir so weit gut; aber auch nicht als Großvater: Philipp, dein heißgeliebter Enkel, ist in guten Händen. Er ist bei meiner Freundin, es gefällt ihm prächtig bei ihr. Annalena ist Therapeutin und kann mit Kindern umgehen. Gern hätte ich ihn hierher mitgenommen, gern würde ich ihm alles erklären, aber dazu ist er einfach noch zu klein mit seinen drei Jahren.
„Geh doch in die Klinik, nimm dich mal raus“, hatte sie gesagt. „Das ist nicht mehr so wie in früheren Zeiten. Du wirst dort auch Leute finden wie dich – intelligent, kreativ, völlig normal, nur ein bisschen durchgeknallt … Ich rede aus Erfahrung, nicht umsonst bin ich Therapeutin! Philipp kann solange bei mir bleiben, er wird es gut haben!“
Was sollte ich also tun? Von dir als meinem Vater hatte ich schon seit Wochen nichts mehr gehört, seit deinen Streitereien mit irgendwelchen Aktionären oder Finanzberatern, was weiß ich. Du hast ja in den letzten Monaten nie etwas von dir erzählt.
Hier geht alles ziemlich normal ab. Ich habe zwar einige Untersuchungen und irgendwelche Therapien über mich ergehen lassen müssen – die ersten Tage waren nicht einfach –, aber vor allem hat man mit mir geredet. Ich meine, die Ärztin und eine junge Psychologin, die meiner Freundin Annalena ähnelt und viel Verständnis für meine Situation hatte. Schön war auch die Formulierung eines jungen Mannes, der gar kein Arzt oder Psychologe war, sondern einer der Pfleger. Er sagte: „Du musst einfach mal wieder runter kommen!“ Ich habe gelacht – und war wieder unten. Was ich sagen will, Vater: Es gibt viel Elend hier, ja, aber es gibt auch viel Menschliches. Mehr glaube ich als manchmal draußen …
Ach, ich täte dir Unrecht, würde ich dich mit diesen alten Knackern in einen Topf werfen. Du hättest ja wirklich Gründe gehabt, mir böse zu sein. Denn es stimmt natürlich, dass ich – damals in Velia – nachdem ich ungefähr eine Stunde vorher die Rolle in dem Spalt versteckt hatte, genau zum richtigen Zeitpunkt an der richtigen Stelle plötzlich ganz zufällig ausgerutscht bin, so dass du mich auffangen musstest und dabei ganz zufällig in den Spalt gegriffen hast. Das war allerdings wirklich ein Zufall. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich musste mir gar nichts weiter einfallen lassen, um die Papyrusrolle meiner Diotima zu finden. Du hast sie gefunden! Das war vielleicht auch der Grund, warum man am Institut nicht gleich am Anfang auf die Idee kam, es könne sich nicht um ein echtes Original handeln. Ich gehe sogar noch weiter: Möglicherweise hätte die ganze Sache einen völlig anderen Verlauf genommen, wenn Vater Demetrios den Bericht geschrieben hätte. Dann wäre es ein Mann gewesen – und ausgerechnet die einzige Frau in der Kommission hätte zumindest nicht die Frage nach Diotima und dem Übersetzungsautomaten stellen können!
Ich will nicht ungerecht sein. Ich selbst, wenn ich in ihrer Lage gewesen wäre, hätte vielleicht auch meine Zweifel gehabt: da ist eine uralte Papyrusrolle mit einem kaum lesbaren, unvollständigen Text, der irgendwie nicht so ganz in das Bild passt, das man sich bisher von diesem fünften vorchristlichen Jahrhundert gemacht hat. Die Prüfung des Papyrusmaterials hat auch nichts weiter ergeben, als dass es tatsächlich aus dieser Zeit stammen muss, aber kein Mensch kann nachvollziehen, woher genau und vor allem, wie und wo es beschrieben wurde und die Zeiten überdauert haben soll. In einem leicht zugänglichen Spalt eines nicht einmal antiken Mauerwerks jedenfalls nicht. Das hätte ich wissen müssen. Aber ich konnte ihnen ja nicht sagen, was ich erst viel später dir gestanden habe: dass die Papyrusrolle eines schönen Morgens einfach auf meinem Schreibtisch im Institut lag. Wer hätte denn das glauben sollen?!
Ich sitze jetzt hier auf dem Hügel, den wir den Hyelehügel nennen und an dem unten der kleine Fluss – er trägt den gleichen Namen – ins Meer mündet. Vor über einem Jahr begann am Hafen Vaters Große Reise, auf der wir, du, lieber kleiner Bruder, und ich ihn begleiten durften. Jetzt sitzt du neben mir auf der Bank. Du bist mir zu schwer geworden, um auf meinem Schoß sitzen zu können. Ein ganzes langes Jahr ist inzwischen vergangen. Du warst schon ein vernünftiger kleiner Mann, der kluge Sachen sagen konnte. Heute kann ich mit dir reden, aber du antwortest nicht. Du bleibst stumm. Kein Wort kommt von deinen Lippen, seit vielen Tagen nicht. Damals war Herbst, jetzt ist längst wieder Frühjahr und du liegst noch immer in einem tiefen Schlaf, in dem du seit dem schrecklichen Unglück vor dich hin dämmerst. Aber wenn du zu lange neben mir sitzt ohne dass ich das Wort an dich richte oder auf Dinge zeige und mit Namen nenne, zum Beispiel den Himmel über uns oder die kleine Blume da am Rande des Wegs, neigt sich dein Kopf leicht zur Seite und dann lächelst du mich ganz eigenartig an, als wolltest du mich auffordern: Rede mit mir!
Unten auf dem Meer treiben ein paar Fischerboote, winzig anzuschauen von hier oben, es ist still und friedlich das Meer, gestern hat es noch Sturm gegeben.
Laches, der Sklave, wird dich dann forttragen ins Haus und ich werde noch eine Weile hier sitzenbleiben und darüber nachdenken, wie das alles gekommen ist. Ich werde auch den Bericht weiterschreiben, den ich auf meiner Insel begonnen habe und der allein für dich, mein lieber Kebes, bestimmt ist. Ich, Diotima, Tochter des Demetrios, Handelsherr und Schiffseigner in Elea Großgriechenland, habe die Pflicht das zu tun. Das bin ich dir, mein Bruder, schuldig, auch unserm Vater, der mich das Lesen und Schreiben hat lernen lassen und ein wenig den Umgang mit Zahlen. Ich weiß: Er hätte es so gewollt, wenn er noch lebte …
Laches, der Haussklave, kommt. Er ist sehr verlässlich und kümmert sich rührend um dich, nur ist er leider nicht sehr klug, man muss ihm jedes Wort dreimal erklären. Was für ein Unterschied zu unserm guten alten Sinuhe, dem ägyptischen Hauslehrersklaven, aber der ist leider bei dem schrecklichen Unglück umgekommen, gemeinsam mit unserm Vater, seinem Herrn, den er, wie man erzählt, noch hat retten wollen, bevor er selber im Meer versank.
Ich vermisse sie alle, meinen Vater, die Seeleute, auch Sinuhe, der nach dem Tod unserer Mutter meine Kindheit begleitete. Ich habe so viele Fragen, auf die ich keine Antwort finde, und die Antworten, die man mir gibt – von fremden Menschen – sind lückenhaft und unbefriedigend, nur auf Meinungen und statt auf verlässlichen Berichten auf Gerüchten aufgebaut. Was wirklich geschehen ist – ich weiß es nicht. Fragen und Antworten, die ich nicht deuten kann.
Warum – am Ende – fühle ich mich so schuldig, wenn ich an das Unglück denke? Ja, ich war auf der Insel, als es geschah. Ja, ich habe sie wiedergesehen, die Insel unserer Mutter. Ich habe den Ort noch einmal gesehen, an dem sie ihre Kindheit verbracht hat, an dem sie gestorben ist. Mehr habe ich nicht getan. Ein wenig mit den Mädchen dort von der Insel die Lieder der Sappho gesungen. Ja! Aber was hat das zu tun mit dem Verhängnis, das euch traf? Es ist nicht leicht, die Wahrheit zu finden, auch wenn du selbst dabei warst, wie erst, wenn du es nicht warst. Und ich, Diotima, war nicht dabei.
Mich hat in all den Wochen, seitdem ich wieder hier in unserm schönen, stillen Elea bin und oft lange auf dem Hügel sitze und aufs Meer schaue, der Gedanke gequält, dass es bei dem namenlosen weisen Alten von Ephesos, den ich im Tempel der Artemis besuchen durfte, wohl doch nicht nur um die Übergabe der Schriftrollen ging, von der unser Vater immer gesprochen hatte, dass er vielmehr ein schreckliches Geheimnis mit in sein einsames Grab auf dem Grunde des Meeres genommen hat. Und ich kenne es, Kebes mein Bruder, ich glaube, ich kenne es, aber ich habe keinen Namen dafür.