Die deutsche Revolution 1989 - Wolfgang Schuller - E-Book

Die deutsche Revolution 1989 E-Book

Wolfgang Schuller

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Beschreibung

Es war die erste gelungene Revolution in Deutschland. Sie begann unter großen Gefahren, doch ihr gewaltloser Verlauf und ihr friedliches Ende, das in Demokratie und Wiedervereinigung mündete, waren ohne Beispiel in der europäischen Geschichte. Wolfgang Schuller, einer der renommiertesten westdeutschen Kenner der DDR, zeichnet das große Panorama dieser einzigartigen Epoche, von den ersten Demonstrationen in der Provinz bis zur staatlichen Vereinigung am 3. Oktober 1990. Auf der Grundlage jahrelanger Recherchen an verschiedensten Schauplätzen und zahlreicher Interviews mit den Protagonisten von damals, von Helmut Kohl über Günter Schabowski bis hin zu vielen bislang unbekannten Teilnehmern, entsteht so das Bild einer Bewegung, die deutlich vielschichtiger war als lange angenommen. Schuller widmet sich dabei neben den großen Ereignissen auch den bisher vernachlässigten Aspekten der sogenannten Wendezeit: Was trieb Millionen von Demonstranten in der Provinz an? Welche Dynamik entwickelte der Aufstand? Wo hätte der Protest in Gewalt umschlagen oder von den staatlichen Repressionsorganen niedergeschlagen werden können? Und wie schätzten die führenden SED-Funktionäre die Lage ein? Das packende Gesamtbild einer außergewöhnlichen Revolution – und zugleich ein glänzend erzähltes Kapitel deutscher Geschichte.

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Wolfgang Schuller

Die deutsche Revolution 1989

In memoriam Melvin J.Lasky

Tagtraum in B.

Zwischen rauchgefleckten Säulen, auf

der oberen Stufe der Treppen des

kuppellosen Gebäudes, oder auf dem

Balkon hinter der Brüstung, ein Mann

den ich kenne, der sagt:

Weint Leute, das Land kann wieder

lachen, er sagt: Singt, Leute, die

Mauern sind gefallen, er sagt: Glaubt,

Leute, endlich dem Träumer, er sagt:

Geht, Leute, von nun an stiller durch diese Stadt

23.September 1985

Ulrich Schacht

Einleitung

Vor dem Brandenburger Tor in Berlin posieren im Jahr 2007 die europäischen Staats- und Regierungschefs zu einem Erinnerungsfoto. Sie sind aus Anlass des 50.Jahrestages der europäischen Einigung zusammengekommen, und in der Mitte steht unübersehbar die deutsche Bundeskanzlerin. Der davor gelegene Pariser Platz ist elegant und großzügig und wird, neben anderem, eingefasst von der Akademie der Künste, dem Max Liebermann-Haus und dem traditionsreichen Hotel Adlon. Die amerikanische, die britische, die französische Botschaft schließen sich an, ein paar hundert Meter weiter die russische. Hinter dem Tor erhebt sich das Reichstagsgebäude, das den Bundestag beherbergt, und ein paar Schritte weiter liegt das deutsche Bundeskanzleramt. Der Verkehr fließt, durch das Brandenburger Tor fahren Taxis und Busse. Alles das ist selbstverständlich, wie sollte es in einer europäischen Hauptstadt auch sonst sein?

Es ist nicht selbstverständlich. Hinter dem Reichstag stehen nämlich, etwas versteckt, zahlreiche Kreuze. Sie tragen die Namen und Daten von Menschen, die bei dem Versuch ihrer Flucht aus dem früheren Ost-Berlin von Grenzsoldaten der DDR erschossen wurden oder auf andere Weise zu Tode kamen. Vor zwanzig Jahren sah es am Brandenburger Tor noch ganz anders aus. Eine riesenhafte Betonmauer grenzte das Tor in einem vorspringenden Halbkreis vom Westen ab. Links und rechts erstreckte sich ein Todesstreifen, der nachts gleißend hell angeleuchtet wurde. Schwerbewaffnete Grenzsoldaten patrouillierten. Scharfe Hunde bellten in ihren Zwingern. Auf der westlichen Seite befand sich ein Ausguck, von dem aus sich Staatsbesucher überzeugen konnten, mit welchen Gewaltmaßnahmen die Diktatur ihre Untertanen an der Flucht hinderte. Auch auf der östlichen Seite gab es etwas Ähnliches, da wurde Staatsgästen gezeigt, wie die kommunistischen Machthaber ihre Grenze angeblich gegen Angriffe von außen sicherten. In Wirklichkeit war unübersehbar, dass die Grenzanlagen und die sogenannten Soldaten gegen die eigene Bevölkerung gerichtet waren. Wer doch eine Flucht versuchte, wurde erschossen – vernichtet hieß das im Jargon des Staatsmarxismus.

Für die Ewigkeit sollte das sein. Harter Stein. So auch der Staat, der das gebaut hatte, die Deutsche Demokratische Republik. Und doch dauerte es seit Beginn des Umbruchs nur ein Jahr, und alles war vorbei. Davon handelt dieses Buch. Es handelt von einer Revolution, die in kürzester Zeit scheinbar Unerschütterliches zum Einsturz brachte, von ihren Voraussetzungen und Bedingungen, von ihrem Verlauf, ihrem Abschluss. Von einer Revolution, die eine frühere DDR-Bürgerin zur deutschen Regierungschefin werden ließ. Von einer Revolution, die ohne ihren europäischen Zusammenhang nicht möglich gewesen wäre und die ihrerseits Europa grundlegend verändert hat. Von einer Revolution, die der deutschen Geschichte einen neuen Bezugspunkt gegeben hat.

Zwei grundlegende Eigenschaften der Erhebung werden im Folgenden besonders herausgehoben. Die Revolution in der DDR erstreckte sich über das ganze Land, sie wirkte überall, in großen und kleinen Städten und Dörfern. Zahllose Menschen waren an ihr beteiligt, nicht nur bekannte Personen. Sie hätte nicht stattfinden können, wenn nicht alle Schichten und Berufe, also vor allem auch ungezählte Durchschnittsbürger, aktiv an ihr teilgenommen hätten: an den vielen Demonstrationen, aber auch – weniger spektakulär, jedoch genauso konstitutiv – in ungezählten Gruppen, Komitees und Untersuchungsausschüssen, an Runden Tischen und schließlich als gewählte Abgeordnete. Diesem Umstand versucht die Darstellung durch eine charakteristische Auswahl von Personen gerecht zu werden, um die verschiedenen Teilnehmergruppen und Formen der Teilnahme an der Herbstrevolution beispielhaft abzubilden.

Ebenso stehen die im Buch genannten Orte, an denen die Revolution stattgefunden hat, stellvertretend für alle anderen. Außerdem wird kurz oder ausführlicher auch von einigen wenig oder gar nicht bekannten Orten und Ereignissen die Rede sein, um an diesen Beispielen die Verbreitung der Revolution über die ganze DDR anschaulich zu machen. Ebenfalls aus Gründen der Anschaulichkeit sollen drei Städte unterschiedlicher Größe und geographischer Lage in ihrer Entwicklung ausführlich gewürdigt werden: Crivitz in Mecklenburg, Magdeburg in Sachsen-Anhalt und Rudolstadt in Thüringen.

Obwohl ich mit vielen Personen gesprochen habe – von führenden Politikern wie Helmut Kohl, Egon Krenz, Lothar de Maizière, Hans Modrow, Günter Schabowski bis zu fast völlig Unbekannten–, musste ich mich doch häufig auf vorhandene Publikationen stützen. Dabei habe ich festgestellt, dass die Ereignisse außerhalb Leipzigs, Berlins oder etwa auch Rostocks viel zu wenig erschlossen sind, und auch für diese Städte nur sehr partiell. Über Magdeburg und Chemnitz, das in dem Buch aus Authentizitätsgründen Karl-Marx-Stadt genannt wird, liegt jeweils nur eine einzige umfassende Darstellung von unmittelbar Beteiligten vor, beide aus dem Jahre 1991.Zu den kleineren Städten gibt es meist nur knappe Texte in längst vergriffenen Broschüren, Heimatkalendern oder Ähnlichem, die kurz nach den Ereignissen – oder zum zehnten Jahrestag 1999 – von Teilnehmern als Erlebnisberichte oder kleine Chroniken geschrieben wurden.

Es ist dringend nötig, dass sich die doch sehr ausgedehnte Forschung über die DDR bald auch diesen Ereignissen zuwendet, bevor die Erinnerung an sie weiter verblasst. Der bevorstehende zwanzigste Jahrestag der Revolution 1989 wird gewiss neue Kenntnisse und Erkenntnisse erbringen, und hoffentlich gibt auch dieses Buch einen Anstoß dazu.

1.Von der deutschen Teilung bis zur KSZE

Die deutsche Revolution des Jahres 1989 richtete sich zunächst nur gegen den kommunistischen Staat auf deutschem Boden, bald aber auch gegen die Spaltung Deutschlands. Beides hing miteinander zusammen. Denn es war ja die Installierung einer Parteidiktatur in der sowjetischen Besatzungszone, die zur Abtrennung dieses Teiles Deutschlands führte – die Beseitigung der kommunistischen Herrschaft hatte daher auch die Beseitigung der Zweistaatlichkeit zur Folge. Deshalb müssen zunächst die Machtergreifung der kommunistischen Partei, dann die sich daraus ergebende Spaltung und schließlich das Fundament des neuen Staates beschrieben werden, das über 40Jahre weitgehend stabil blieb und trotz offenkundiger Risse erst unter dem Druck der Ereignisse im Oktober und November 1989 nachzugeben begann.

Stalins DDR

Nach Deutschlands vollständiger – auch moralischer – Niederlage im Zweiten Weltkrieg fiel es 1945 unter die gemeinsame Verwaltung der vier Siegermächte USA, Großbritannien, Frankreich und Sowjetunion, die jeweils eigene Besatzungszonen einrichteten. Deutschland östlich der Oder-Neiße-Linie unter Einschluss Stettins kam nach der Vertreibung seiner Bewohner an Polen und zu einem kleinen Teil an die UdSSR; Frankreich stellte das Saargebiet unter einen Sonderstatus. Regiert wurde das besetzte Land durch den Alliierten Kontrollrat, doch förderten die drei Westmächte die Entwicklung ihrer Zonen ganz allmählich im Sinne einer freiheitlichen Demokratie, wie sie sich in West- und Mitteleuropa herausgebildet hatte. Auch Berlin wurde von den Alliierten gemeinsam verwaltet und in vier Sektoren aufgeteilt, die eine ähnliche Entwicklung wie ganz Deutschland nahmen.

Die Sowjetunion ließ zwar zunächst mehrere Parteien und herkömmliche staatliche Strukturen zu, begann jedoch sehr bald, wie in den ost- und ostmitteleuropäischen Staaten, schrittweise das Sowjetsystem einzuführen. Dies musste zwangsläufig zur Trennung von den drei Westzonen führen. Auch wenn sich die UdSSR zunächst die Option eines einheitlichen Deutschland unter ihrem starken Einfluss offenhalten wollte, setzten die Sowjetisierungsmaßnahmen mit Hilfe der deutschen Kommunisten schon bald ein. Die SPD musste sich im April 1946 unter sowjetischem Druck und ohne Mitgliederbefragung mit der KPD vereinigen, die sehr schnell ihr Versprechen der Parität brach und die Sozialistische Einheitspartei (SED) zu einer kommunistischen Partei mit Politbüro und Generalsekretär formte; daher nennt Hermann Weber diese Vereinigung mit Recht eine Zwangs- und Betrugsvereinigung.

Die Besatzungsmacht veranlasste die bürgerlichen Parteien CDU und LDP, sich der SED unterzuordnen. Die einzigen freien Landes- und Kommunalwahlen fanden im Herbst 1946 statt, danach wurden Einheitslisten eingeführt, auf denen die SED und kommunistisch geführte Massenorganisationen wie die Einheitsgewerkschaft FDGB und die Jugendorganisation FDJ eine klare Mehrheit hatten; öffentliche Kritik an ihnen war nicht möglich. So kam im Mai 1949 ein Volkskongress zustande, aus dem sich schließlich am 7.Oktober die provisorische Volkskammer bildete, die eine Verfassung verabschiedete und einen Staat gründete: die Deutsche Demokratische Republik.

Wirtschaft und Gesellschaft wurden in derselben Weise umgestaltet. Auf die Verstaatlichung der Banken im Juli 1945 folgte im September eine Bodenreform, die jeden Grundbesitz ab hundert Hektar vollständig und entschädigungslos enteignete und das Land an Einzelbauern verteilte, die sich später zu Produktionsgenossenschaften nach dem Vorbild der sowjetischen Kolchosen zusammenschließen mussten. Die Enteignungen gingen in großem Stil weiter, sodass ab März 1948 eine Deutsche Wirtschaftskommission die zumeist in Staatseigentum übergegangene Wirtschaft zentral lenken konnte. Im Mai 1948 beschloss die SED einen Zweijahresplan. Die Partei war zur einzig entscheidenden politischen Instanz geworden, die die anderen politischen Kräfte nur aus propagandistischen Gründen duldete. Rasch sollte sich diese Parteidiktatur verfestigen.

Die westdeutsche Währungsreform vom Juni 1948 und die Vorbereitungen zur Gründung eines westdeutschen Staates im Mai 1949 waren vor allem eine Reaktion auf die schrittweise Einführung des staatssozialistischen Systems in der Sowjetzone, hinzu kamen die parallelen Vorgänge im östlichen Europa und der von der UdSSR geförderte Bürgerkrieg in Griechenland. Diese Entwicklung wirkte sich auch auf die gemeinsame Verwaltung Deutschlands durch die Siegermächte aus. Auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 waren noch gemeinsame Institutionen geschaffen worden, es wurden sogar einheitliche deutsche Briefmarken ausgegeben. Die Spannungen nahmen aber so sehr zu, dass die Sowjetunion am 20.März 1948 den Kontrollrat und am 16.Juni desselben Jahres die Berliner Kommandantur verließ – die sie erst 1990 zu einer kurzen Abschlusssitzung wieder betreten sollte.

Wie intensiv die UdSSR die Sowjetisierung ihrer Zone betrieben hatte, die den Zusammenhalt Deutschlands immer unwahrscheinlicher machte, zeigen ihre Maßnahmen zur physischen und geistigen Isolierung der Bevölkerung. Im Sommer 1946 wurden die meisten Grenzübergänge zur britischen und amerikanischen Zone geschlossen, am 18.Juni 1948 verhängte die Sowjetunion eine Blockade über West-Berlin, das bis zu deren Aufhebung im Mai 1949 nur durch die Luft versorgt werden konnte. Zudem wurde das kulturelle und wissenschaftliche Leben immer mehr auf die Sowjetideologie ausgerichtet. Werke von Marx, Engels, Lenin und Stalin erschienen in gewaltiger Auflagenhöhe, ein pathologischer Stalinkult begann. Rundfunk, Zeitungen und Verlage wurden zunehmend unter SED-Kontrolle gestellt – selbst Kirchenzeitungen blieben bis zum Schluss scharf zensiert–, westliche Medien wurden behindert oder ausgeschlossen. In den Schulen war schon 1945 der Russischunterricht eingeführt worden; sie sollten Kindern und Jugendlichen mit besonderer Intensität marxistische Ideen aufoktroyieren – und damit langfristig der gesamten Bevölkerung.

Nach Gründung der DDR setzte sich diese Entwicklung verstärkt fort. Im Februar 1950 entstand das Ministerium für Staatssicherheit, im selben Jahr begann die Justiz systematisch und mit terroristischen Mitteln, vermeintliche und wirkliche Gegner zu verfolgen. Im Mai 1952 beschloss die SED die «planmäßige Errichtung der Grundlagen des Sozialismus» mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen. Noch im selben Monat wurde eine fünf Kilometer breite Sperrzone an der Zonengrenze errichtet, mit nackter Gewalt ging man gegen die evangelische Kirche vor, die Flüchtlingszahlen nach Westdeutschland stiegen an, und weil die Grenze innerhalb Berlins noch verhältnismäßig offen war, flüchteten die meisten über Berlin. Am 5.März 1953 starb der vergottete Stalin – die KPdSU veranlasste die Ost-Berliner Genossen zu einer Mäßigung des Terrors, doch am 17.Juni brach ein Aufstand aus, der nur unter Einsatz der Sowjetarmee unterdrückt werden konnte. Die Diktatur der Partei erholte sich, immer mehr Menschen flohen in den Westen, aber statt die Politik zu ändern, baute die Partei unter Leitung Erich Honeckers am 13.August 1961 in Berlin eine Mauer. Die Zonengrenze wurde ebenfalls immer weiter ausgebaut und tief gestaffelt, mit Minenfeldern, Todesstreifen, scharfen Hunden und Grenztruppen, deren Aufgabe es war, Flüchtlinge zu ergreifen oder zu vernichten. Insgesamt sollte diese Grenze bis 1989 fast eintausend Todesopfer fordern.

Wie jede Despotie hatte auch die kommunistische Parteidiktatur ihre inneren Gesetze. Die entscheidenden Herrschaftsmittel waren die Isolation der Bevölkerung von der Außenwelt und das Fehlen von Öffentlichkeit, sodass das politische Bewusstsein der Unterworfenen weitgehend von den Herrschenden geprägt werden konnte. Die äußere Abschottung der Bevölkerung wurde durch das generelle Verbot der Ausreise bewirkt, konkret durchgesetzt durch das Grenzregime. Niemand sollte die Lebensverhältnisse außerhalb der DDR kennenlernen, von denen viele Menschen annahmen, dass sie denen in der Heimat vorzuziehen seien. Welche Wirkung schon ein kurzer Besuch im Westen haben konnte, verdeutlicht ein Eintrag aus dem Tagebuch der Schriftstellerin Brigitte Reimann vom 15.Dezember 1964.Sie durfte – von einem DDR-Funktionär gut betreut – zu einer Lesung in ein West-Berliner Studentenheim fahren und schreibt:

Der Kudamm ist einfach Wahnsinn. Man sieht die Häuserwände nicht mehr, sie sind von oben bis unten mit grellen Lichtreklamen bedeckt, eine Orgie von buntem Licht… auf der Fahrbahn ein unabsehbarer Strom von Autos, dollen Schiffen, rollenden Diwans. Heckflossen wie Tragflächen… ich war völlig zerrüttet. Wie kann man da bloß leben, sich über den Damm wagen, als Mensch existieren zwischen Lichtschreien und flachschnäuzigen gefräßigen Stacheltieren. Ich zittere vor Aufregung, war den Tränen nahe – nun ja, Provinz.

Zur selben Zeit lebte der Autor dieses Buches in West-Berlin, fuhr mit seinem VW Standard eher entspannt über den Kurfürstendamm, hatte aber durchaus ähnlich starke Empfindungen, wenn er, oft genug, im Ostsektor Berlins unterwegs war, also in der Hauptstadt der DDR: Das, was für Brigitte Reimann die Normalität war, empfand er als grau und trist.

Durch die Abschottung der Bevölkerung von der Außenwelt gelang es den Machthabern, ihre Herrschaft auch nach innen zu sichern. Die fehlende Öffentlichkeit gewährleistete, dass nur die Stimme der Partei zur Geltung kam. Die Einheitslisten wären nicht ganz undemokratisch gewesen, wenn für und wider ihre Annahme hätte Stellung genommen werden können, aber das wurde von vornherein verhindert. Ein freier politischer Diskurs fand nicht statt. Jeder, der eine andere Auffassung vertrat, konnte diese schon deshalb nicht öffentlich machen, weil es keine Zeitung, keinen Sender, keinen Verlag gab, der ihn zu Wort kommen ließ; kein einziger kritischer Leserbrief wurde gedruckt. Die Maßnahmen der Partei wurden geheim vorbereitet und dann – meist in Nacht-und-Nebel-Aktionen wie im Fall des Mauerbaus – ausgeführt.

Das Verschweigen war ein weiteres Herrschaftsmittel. Beispielsweise wurde der Bevölkerung und, was besonders verwerflich ist, den betroffenen Sportlerinnen und Sportlern verschwiegen, dass sie planmäßig und zum Teil mit schweren gesundheitlichen Folgen gedopt wurden; auf diesem Betrug beruhten viele internationale sportliche Erfolge der DDR, die ihr Prestige entscheidend steigerten. Der Verfall der Städte und die mörderischen Umweltsünden waren nur denjenigen bekannt, die sie unmittelbar zu Gesicht bekamen. Viele Entscheidungen der Partei- und Staatsorgane ergingen mündlich. Selbst innerhalb der Partei wurden Informationen nur selektiv bekanntgegeben, noch auf der 10.Sitzung des Zentralkomitees im November 1989 war die Empörung unter den Delegierten groß, dass man systematisch belogen worden sei. Die Verheimlichungs- und Verschweigepolitik bewirkte, dass die Menschen den Staat als eine undurchschaubare, fast allmächtige Institution erlebten, und auch darauf beruhte seine Macht. Unberechenbarkeit war ein weiteres Herrschaftsmittel, und das Gefühl des Ausgeliefertseins konnte sich bis zur Angst steigern.

Tauwetter

All das waren Phänomene, die in unterschiedlicher Gestalt überall auftraten, wo marxistisch-leninistische Parteien herrschten, einschließlich der Sowjetunion, die diese Herrschaftsform nach Ost- und Ostmitteleuropa exportiert hatte – und diese auch mit Waffengewalt durchzusetzen bereit war, wenn sich in den Bruderländern Widerstand regte. Das geschah gleich nach Stalins Tod. So monolithisch die kommunistische Herrschaft in der Sowjetunion selbst und in den anderen Ländern erscheinen mochte, so unübersehbar waren doch die Aufstände, die fast mit einer Art Regelmäßigkeit das ganze System erschütterten und ausnahmslos mit Gewalt beendet wurden. Den Aufstand des 17.Juni 1953 in der DDR schlug die sowjetische Besatzungsmacht nieder; ebenso wurde der ungarische Aufstand im Spätherbst 1956 durch den Einmarsch der Sowjetarmee erstickt; im Sommer 1961 verhinderte die DDR selbst mit Unterstützung der UdSSR und des Warschauer Paktes das eigene Ausbluten durch den Bau der Mauer; und der Versuch der Tschechoslowakei, sich aus dem sozialistischen Lager zu lösen, wurde im Hochsommer 1968 durch die Truppen der Sowjetunion und einiger Warschauer-Pakt-Staaten gestoppt; die innere antikommunistische Revolution in Polen schließlich durfte im Spätherbst 1981 die kommunistisch geführte polnische Armee durch die Verhängung des Kriegsrechts niederschlagen.

In der Sowjetunion selbst fanden zwar keine Aufstände von diesem Ausmaß statt, aber nach einigen Vorläufern kamen mit den Veröffentlichungen des Schriftstellers Alexander Solschenizyn 1962 («Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch») und des Physikers Andrej Sacharow 1968 («Gedanken über den Fortschritt, die friedliche Koexistenz und die geistige Freiheit») mächtige Impulse, die auf geistigem Gebiet die Parteidiktatur wirksam und auf Dauer in Frage stellten. Bezeichnenderweise kommt das Wort Samisdat, das «private Herausgabe» bedeutet und im ganzen Ostblock einschließlich der DDR übernommen wurde, aus dem Russischen, weil es diese teils illegalen Publikationen in der Sowjetunion zuerst gab.

Aus ganz anderen Zusammenhängen entwickelte sich dann eine Bewegung, deren systemsprengendes Potenzial von den Führungen der Warschauer-Pakt-Staaten zunächst gar nicht erkannt wurde: Sie entstand aus der großangelegten Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), für die sich die kommunistischen Machthaber mit Nachdruck engagierten, um sich den äußeren Besitzstand, den sie im Laufe der Nachkriegsjahrzehnte erreicht hatten, von den westlichen Staaten festschreiben zu lassen. Auch die DDR hatte wegen der damit verbundenen weiteren Akzeptanz durch die internationale Gemeinschaft voller Stolz an den KSZE-Verhandlungen teilgenommen. Das war auch alles in allem erfolgreich. Der Westen verabschiedete sich im Geiste und in der Außenpolitik von der Vorstellung, die kommunistische Herrschaft in Europa beseitigen zu können, und die Teilung Deutschlands wurde als ein selbstverständliches Faktum hingenommen, nicht selten auch begrüßt. Dasselbe geschah innerhalb Deutschlands. Die in Westdeutschland ohnehin meist auf Sonntagsreden beschränkten Bekenntnisse zur Wiedervereinigung wurden schwächer, die Ostpolitik der Regierung Brandt, die die Teilung vorläufig hinnahm, um sie später besser überwinden zu können, wurde zum Selbstzweck. Man glaubte, die Anerkennung der DDR werde der Stabilität und dem Frieden in Europa dienen.

Die KSZE setzte aber gleichzeitig eine Entwicklung in Gang, die Frieden und Stabilität im Ergebnis dadurch sicherte, dass sich die Völker Ost- und Ostmitteleuropas von der kommunistischen Herrschaft befreiten. Im Schlussdokument von Helsinki vom 1.August 1975 wurden nämlich neben der Garantie des politischen Status quo Prinzipien zur Wahrung der Menschenrechte festgeschrieben, deren Einzelbestimmungen in späteren Folgekonferenzen verfeinert wurden. Damit verpflichteten sich alle Unterzeichnerstaaten, eben jene Freiheitsrechte zu gewähren oder einzuhalten, deren Unterdrückung ein existenzielles Herrschaftselement der Parteidiktaturen war. In den folgenden anderthalb Jahrzehnten wurde die Berufung auf «Helsinki» zum Sprengsatz innerhalb dieser Diktaturen.

Eine Folge des KSZE-Prozesses war, dass sich die Opposition in der Tschechoslowakei nach dem Trauma der Besetzung von 1968 erneut organisieren konnte – wenn auch verdeckt. Am 1.Januar 1977 verabschiedete sie die Charta 77, welche die Verwirklichung der KSZE-Prinzipien forderte. Auch ihre Unterzeichner wurden erneut verfolgt, aber gerade diese Charta wirkte weiter und hatte vor allem eine große Bedeutung für oppositionelle Kreise in der DDR. Erst recht galt das für die polnische Gewerkschaft Solidarność, auf Deutsch Solidarität. Sie war 1980 von der Danziger Lenin-Werft ausgegangen und hatte das politische Leben Polens so sehr im freiheitlichen Sinn beeinflusst, dass nach einigen Versuchen der innerkommunistischen Stabilisierung Ende 1981 das Kriegsrecht ausgerufen und damit immerhin sowjetisches Eingreifen vermieden wurde. Trotz der Verfolgung blieb die polnische Opposition weiter aktiv, sodass nach Jahren des Verbots und des heimlichen Fortbestands die Solidarność doch wieder zugelassen werden musste und 1989 rasch die politische Macht errang.

Die Basis bewegt sich

Dass es in der DDR zunächst keine solche Opposition gegeben hat wie in den anderen Staaten des Ostblocks, lässt sich kaum bestreiten. Dabei ist aber auch in Rechnung zu stellen, dass ein Teil des potenziellen politischen Widerstands in die Bundesrepublik gegangen war. Insofern hatte die DDR-Opposition nur andere Formen angenommen als anderswo, was damit zusammenhing, dass Deutschland geteilt war und West-Deutschland direkten und indirekten Einfluss ausüben konnte. Immerhin bildete sich später der Kreis um Robert Havemann, und wichtig war auch Rudolf Bahro; vor allem Havemanns Ideen hatten eine langfristige Wirkung auf die Bürgerbewegung im Land.

Über die Jahre entstanden immer mehr Basisgruppen, die existenzielle gesellschaftliche Fragen aufwarfen, die im öffentlichen Leben der DDR unzureichend oder überhaupt nicht behandelt wurden. Diese Bewegung schwoll seit Anfang der achtziger Jahre auf Hunderte von Gruppierungen an. Zunächst waren es Friedensgruppen, die seit den 1980 zuerst abgehaltenen kirchlichen Friedensdekaden, beginnend jährlich am 10.November, dem Geburtstag Martin Luthers, vornehmlich im Rahmen der Kirche auftraten oder die, wie etwa die Kirche von unten oder der Soziale Friedensdienst, spezifische Formen kirchlichen Lebens verkörperten. Friedensgruppen hatten auch deshalb eine besondere Funktion, weil sich das öffentliche Leben der DDR zunehmend militarisierte. Einen Zivildienst gab es nicht, erst 1964 wurde mit den «Bausoldaten» wenigstens die Möglichkeit geschaffen, keine Waffe tragen zu müssen, sie gehörten jedoch der Armee an. 1978 wurde der Wehrkundeunterricht in den Schulen eingeführt, 1982 der Wehrdienst für Frauen im Verteidigungsfall, und deren Abschaffung sowie die Forderung nach einem Zivildienst waren immer wieder vorgebrachte Forderungen des Herbstes 1989.

Bald traten Umweltgruppen hinzu, wie der «Wolfspelz» in Dresden oder die Gruppe um die Umweltbibliothek in Berlin. Schließlich gründeten sich Menschenrechtsgruppen wie etwa die äußerst wirksame Initiative Frieden und Menschenrechte, die von Juni 1986 bis Dezember 1987 die Samisdat-Zeitschrift «Grenzfall» herausgab, in der Oppositionelle furchtlos mit Namen und Adresse auftraten – wobei der «Grenzfall» nur eines von über 100Samisdat-Blättern war. All diese Gruppen verdankten sich der Eigeninitiative ihrer Mitglieder, jedoch hatten viele mit den Bürgerrechtsbewegungen in Polen und der Tschechoslowakei Kontakt und erhielten Anregungen von ihnen. Die westdeutsche Friedensbewegung und dann die Grünen hielten enge Verbindungen zu vielen dieser Gruppen, und das Paradoxe war, dass zwar für beide Seiten die Wiedervereinigung nicht in Frage kam, dass aber durch die engen persönlichen Beziehungen sozusagen wider Willen eine besondere Art der Wiedervereinigung praktiziert wurde.

Ende 1987 gab es zum ersten Mal ein breites Echo auf die Oppositionsbewegung, und zwar durch das Vorgehen der Staatsmacht selbst. In der Nacht vom 24. auf den 25.November besetzte die Staatssicherheit in der Berliner Zionskirche die Umweltbibliothek in der irrigen Annahme, zu diesem Zeitpunkt würde dort der illegale «Grenzfall» gedruckt, es waren jedoch die erlaubten «Umweltblätter» – der «Grenzfall» wäre erst später in der Nacht produziert worden. Dennoch kam es zu Festnahmen und zur Beschlagnahme der Druckmaschinen. Daraufhin wurde nicht nur eine dauernde Mahnwache vor der Zionskirche eingerichtet; die Protestaktionen weiteten sich vielmehr aus und erfassten erstmals die ganze DDR; und dank West-Berliner Medienvertreter nahm sich auch die internationale Öffentlichkeit der Affäre an.

Kurz darauf errang die Staatssicherheit einen Pyrrhussieg. Für den 17.Januar 1988 planten zahlreiche Oppositionelle, sich an der traditionellen SED-Demonstration zum Gedenken an die Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zu beteiligen. Die Staatssicherheit verhaftete im Vorfeld 160Personen, darunter den Liedermacher Stephan Krawczyk. Dennoch kamen einige durch, denen es gelang, unter anderem ein Transparent hochzuhalten, auf dem Rosa Luxemburgs berühmter Satz Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden stand. Das rief – allerdings nur vereinzelt – Solidarisierungsaktionen und Mahnwachen für die Inhaftierten hervor. Eine Woche später kam es zu weiteren Verhaftungen, so auch von Freya Klier, Bärbel Bohley, Ralf Hirsch, Lotte und Wolfgang Templin; Vera Wollenberger wurde zu einer Haftstrafe verurteilt. In undurchsichtigen Verhandlungen, an denen auch der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur und der Kirchenjurist Manfred Stolpe beteiligt waren, drängte man Freya Klier und Stephan Krawczyk, gegen ihren Willen in den Westen zu gehen – Irgendetwas stimmt nicht… unser Rechtsanwalt – hat er nicht doch gemeinsame Sache mit ihnen gemacht?, so Freya Klier kurz darauf. Bohley, die Templins, Hirsch, Wollenberger und andere bekamen unterschiedlich terminierte Ausreisevisa in den Westen und konnten nach deren Ablauf sogar wieder zurückkehren. Folgeprotesten und Solidaritätskundgebungen wurde damit der Boden entzogen, zumal da niemand genau erfahren konnte, was wirklich vorgegangen war und wie die Betreffenden zu diesen Maßnahmen standen. Die Staatssicherheit schien gesiegt zu haben.

Eine spezifische und frühe Erscheinungsform der Opposition muss besonders hervorgehoben werden. Die pazifistische Bewegung «Schwerter zu Pflugscharen» begann 1980 als Strömung innerhalb der Kirche und weitete sich schnell aus. Ihr Symbol war ein Standbild, das einen Schmied darstellt, der ein Schwert zu einem Pflug umschmiedet. Die Sowjetunion hatte es ursprünglich als Symbol ihres Friedenswillens der UNO geschenkt; das Standbild versinnbildlichte einen Vers aus dem Buch des Propheten Micha, Kapitel 4, in welchem das Wirken des Messias auf die Heiden geschildert wird:

Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen.

Innerhalb kurzer Zeit verbreitete sich dieses Symbol als Lesezeichen und dann als Aufnäher an Jackenärmeln, zunächst innerhalb der Kirche, dann aber vor allem unter Jugendlichen; über 100000Aufnäher waren in Umlauf. Obwohl es nun ein sowjetisches Propagandakunstwerk war und obwohl das Emblem und der Spruch auch im offiziellen Buch zur Jugendweihe – der Konkurrenz zu Konfirmation und Erstkommunion – enthalten waren, witterte die Staatsmacht Widerstand und ging immer brutaler dagegen vor. Das Symbol wurde allgemein verboten, nicht nur in Schulen und Universitäten, denn auch Ältere trugen es in der Öffentlichkeit. Die Volkspolizei attackierte Träger sogar physisch, zwang sie, die Aufnäher abzutrennen, oder entfernte sie selbst; die Druckstöcke wurden vernichtet. Neben weiteren Einschüchterungen wurde auch ein Mittel eingesetzt, das in der Bekämpfung der Opposition und des Widerstandes eine besondere Rolle spielte, die «Zuführung». Diese Maßnahme war in keiner gesetzlichen Bestimmung definiert und bestand darin, dass Sicherheitsorgane unliebsame Personen «zur Klärung eines Sachverhalts», wie die Standardformulierung lautete, und ohne weitere Voraussetzungen mitnehmen, festhalten und vernehmen konnten.

Genau dieses Vorgehen der Staatsmacht aber hatte zur Folge, dass das Emblem «Schwerter zu Pflugscharen» endgültig zu einem Zeichen des Widerstandes wurde, es bewirkte aber auch, dass die Kirche allmählich selbst gegen den Aufnäher vorging, weshalb die Bewegung ab Herbst 1982 abflaute; innerkirchlich konnte das Symbol indes weiterverwendet werden. Die Reaktion auf «Schwerter zu Pflugscharen» ist ein besonders eindrückliches  Beispiel dafür, wie gefährlich es für den Staat war, wenn die Opposition Propagandabegriffe beim Wort nahm – ein Verfahren, das sich im Verlauf der Herbstrevolution noch einige Male bewähren sollte.

Der ökonomische Hebel

Weitere Risse im Beton entstanden auf ganz andere Weise. Die Planwirtschaft der DDR war immer weniger imstande, mit der allgemeinen wirtschaftlichen und technischen Entwicklung in der Welt Schritt zu halten, die Situation spitzte sich mehr und mehr zu. Hinzu kam, dass die UdSSR ebenfalls in eine immer schwierigere Lage geriet und dem sozialistischen Bruderstaat DDR beispielsweise für Öllieferungen nicht mehr wie bisher einen weit unter Weltmarktniveau liegenden Preis gewähren konnte. Das bedeutete, dass die DDR im Westen und vor allem in der Bundesrepublik Kredite aufnehmen musste, die sie zunehmend weniger bedienen konnte. Um an Devisen zu kommen, erhöhte sie daraufhin die Transitpauschale, die die Bundesrepublik für den Reiseverkehr durch die DDR nach Berlin entrichtete, und ließ sich, was besonders abstoßend war, die Freilassung von politischen Häftlingen und ihre Ausreise in die Bundesrepublik in harter Währung bezahlen – insgesamt flossen für den Freikauf von 33755Häftlingen und für 250000Familienzusammenführungen 3,5Milliarden D-Mark an die DDR. Weitere Leistungen wurden von den sogenannten «menschlichen Erleichterungen» abhängig gemacht. Für zwei Milliardenkredite rühmte sich der Generalsekretär Honecker, die Selbstschussanlagen an der Zonengrenze abgeschafft zu haben, und wollte das sogar als humanitären Akt verstanden wissen.

Die fast völlige Einstellung des Reiseverkehrs durch Honeckers Vorgänger Ulbricht wurde zunehmend gelockert. Zum einen wurde es Westdeutschen und West-Berlinern zum Schluss sogar gestattet, im Rahmen eines Kleinen Grenzverkehrs in die DDR zu reisen. Aber auch Reisen von DDR-Bewohnern in die Bundesrepublik nahmen zu, nachdem in den ersten Jahren nach dem Mauerbau nicht einmal der Besuch von engsten Familienangehörigen erlaubt war, ja selbst für Begräbnisse keine Reisegenehmigung erteilt wurde. Die durch die Lockerung des Reisegesetzes sich ergebenden Informationsmöglichkeiten für DDR-Bewohner durchbrachen die Isolation immer mehr. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass deren restriktivere Handhabung im Jahr 1989 einer der entscheidenden Faktoren für den Ausbruch der Revolution war.

Brüchiger wurde der Beton auch durch die allmähliche, wenn auch nie vollständige Öffnung der DDR für westdeutsche, vor allem elektronische Medien. Der Empfang westlicher Radio- und später Fernsehsendungen war lange Zeit bestraft und mit Gewalt verhindert worden, doch schließlich kapitulierte die Führung vor dieser unmöglichen Aufgabe, weshalb Honecker sich in einem Interview sogar einmal mit dieser angeblichen Liberalität brüsten konnte; im Übrigen hieß es, dass Bewohner der wenigen Teile der DDR, in denen Westsendungen nicht empfangen werden konnten, besonders oppositionell eingestellt seien. Von großer Bedeutung für die Aufweichung des staatlichen Informationsmonopols aber war, dass seit dem Jahr 1973 westdeutsche Medienvertreter in Ost-Berlin akkreditiert waren und auch aus der DDR berichten konnten, wofür sie allerdings immer eine Genehmigung brauchten.

Zeitungen und Zeitschriften aus dem Westen waren bis zum Schluss verboten, und ihr Verbringen in die DDR wurde nach Möglichkeit an der Grenze verhindert. Dennoch gelang es in sehr vielen Fällen, Presseerzeugnisse einzuführen, ebenso wie in umgekehrter Richtung Manuskripte an westdeutsche Verlage und Zeitschriften zu bringen. Sogar die deutschsprachige sowjetische Zeitschrift «Sputnik» wurde noch 1988 verboten, weil sie an der Geschichte der KPdSU Kritik übte. Am nachhaltigsten aber wirkten sich Fernsehberichte über Missstände in der DDR aus, über politische Ereignisse und über oppositionelle Aktionen. Was im Westfernsehen nicht gemeldet wurde, war so gut wie wirkungslos, was hingegen eine Würdigung erfuhr, von umso größerer Durchschlagskraft. Berichte aus der DDR gab es meist in den normalen Nachrichtensendungen, aber auch in besonders dafür gedachten Politmagazinen. Das «ZDF-Magazin» von Gerhard Löwenthal fand großen Anklang, mehr noch vielleicht die Politsendung «Kontraste» im SFB unter entscheidender Mitarbeit von Roland Jahn – es war ein großer taktischer Fehler der DDR gewesen, ihn 1983 aus Jena ausgebürgert zu haben. Jedenfalls gilt hier die Abwandlung eines Marx-Wortes durch Karl Wilhelm Fricke: Die Information wird zur materiellen Gewalt, wenn sie die Massen ergreift. Das tat sie mehr und mehr. Der Riss im Beton wurde größer.

Dass die Diktatur dies nicht effektiver verhinderte, hatte zwei sehr handgreifliche Gründe. Bis in die siebziger Jahre hinein konnten oppositionelle Bestrebungen ungehindert unterdrückt werden. Dann bewirkten der Helsinki-Prozess und die damit zusammenhängende allmähliche internationale Anerkennung der DDR sowie als zweiter Ursachenstrang die zunehmende wirtschaftliche Abhängigkeit insbesondere von der Bundesrepublik, dass der Gewaltapparat zurückhaltender eingesetzt und Aktivitäten zähneknirschend geduldet wurden, die unter dem früheren Generalsekretär Ulbricht sofort mit langjährigen Zuchthausstrafen geahndet worden wären. Das MfS modifizierte seine Taktik und baute das Spitzelnetz der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) in beispiellosem Umfang aus; auch entwickelte es die Methode der geheimen «Zersetzung», deren Ziel es war, politische Gruppen und Ehen auseinanderzubringen sowie berufliche Karrieren zu blockieren oder gezielt zu zerstören.

Latente Opposition

Gewiss gab es in der DDR lange Zeit keine spektakulären Oppositionsbewegungen, doch ein Teil der Bevölkerung nahm die Verhältnisse nicht einfach dumpf hin. Die Basisgruppen sind ein Indiz dafür. Aber auch das Bestehen der Mauer und des Grenzregimes in seiner furchtbaren, sehr konkreten Realität spricht deutlich dafür, dass die Partei- und Staatsführung sicher wusste, dass mit der Beseitigung dieser Anlagen auch das Regime selbst fallen werde. Die Partei hätte die Mauer lieber heute als morgen abgerissen, weil sie die Machthaber Tag für Tag und Nacht für Nacht vor den Augen der Welt bloßstellte. Das ging aber nicht, weil sie ein Erstarken der Opposition fürchten musste – und weil die DDR sonst ausgeblutet wäre.

Für die Existenz einer latenten Opposition gibt es weitere Beispiele. Leider noch nicht systematisch erforscht sind die vielen Fälle, in denen Personen eine Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit verweigerten und ganz selbstverständlich nein sagten, wenn man versuchte, sie als Spitzel anzuwerben. Trotz unserer lückenhaften Kenntnisse beeindruckt es zu sehen, aus wie vielen und vor allem welchen Berufsgruppen der Mut zur Verweigerung kam: Die Publikation eines kleinen Verlages nennt Postbotin, Näherin, Hochseefischer, Ökonomin, Rentnerin, Hauptbuchhalter, Kellner, Catering-Angestellte und andere.

Hinlänglich bekannt sind die öffentlichen Proteste prominenter Oppositioneller gegen den Einmarsch in die ČSSR. Schon lange weiß man, dass und wie sehr Intellektuelle in der DDR unter der Niederschlagung des Aufstandes gelitten haben, zumal die Staatsführung ja laut verkündete, dass auch die DDR mit Armee-Einheiten beteiligt gewesen sei – was sich nach 1989 allerdings als unzutreffend erweisen sollte. Bernd Eisenfeld etwa erhielt wegen des Verteilens von Flugblättern zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Weniger geläufig sind die zahlreichen Fälle, in denen unbekannte Angehörige verschiedener, keineswegs nur intellektueller Berufe protestiert haben und dafür ins Gefängnis kamen. Aufschluss darüber geben seit neuestem die Akten des MfS aus Thüringen: Es gab demonstrativen Straßenprotest, Aufrufe zu Kundgebungen, Flugblätter, Straßen-Inschriften, offenen mündlichen Protest, anonyme Briefe und Telefonate, etwa in Mühlhausen, Erfurt, Weimar, Gotha, Jena, Gera, Saalfeld, Römhild und in zahlreichen kleineren Orten. In ungelenker Handschrift war etwa an Hauswänden und auf Straßenpflastern zu lesen: Es lebe Dubček oder Okkupanten raus aus der ČSSR!/​Unterstützt das tschechoslovakische Volk/​Hoch lebe Dubček!, und ein auf Karopapier mit der Hand in Druckbuchstaben geschriebener Aufruf eines Jugendlichen aus Weimar lautete:

ČSSR

Unterstützen Sie den Kampf aller demokratischen und freiheitslieben (sic) Menschen in der ČSSR durch einen Solidaritätsmarsch Er findet am 30. 8. um 19.00Uhr statt Er geht vom Ring-Hotel bis zum Theater dort lassen wir uns eine halbe Stunde nieder

Der Aufruf wurde in mehreren Exemplaren verteilt, die Staatssicherheit ermittelte den Verfasser, er wurde zu 18Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Unter den Protestierenden waren nach heutigem Kenntnisstand Schüler (12), Maurer, LPG-Bauer, Arbeiter (7), Chemieanlagenbauer, Lehrling (15), Kranken-Hilfspfleger, Dachdecker, Polizist, Maler (3), Dreher, Student, Stanzer (2), Schlosser (5), Krankenpfleger, Kfz-Schlosser, Maschinist, Kellnerin, Museums-Mitarbeiterin, Lehrer, Glaskugelmacher.

Der andere berühmte Fall ist der Protest nach der Ausbürgerung des Dichters und Liedermachers Wolf Biermann im November 1976.Hier waren die Reaktionen weit umfangreicher als auf den Einmarsch in die ČSSR. Allgemein bekannt sind die kritischen Äußerungen prominenter Schriftsteller und anderer Intellektueller in Berlin, weitaus weniger die Tatsache, dass überall in der DDR ein Sturm der Entrüstung losbrach. So gab es etwa eine Solidaritätsaktion um den Diakon Thomas Auerbach in Jena, in deren Verlauf viele Teilnehmer verhaftet und nach internationalen Protesten in den Westen abgeschoben wurden. Auch im Bezirk Halle kam es zu zahlreichen Sympathiebekundungen für Wolf Biermann, die ebenfalls erst nach 1989 durch die Akten der Staatssicherheit bekannt geworden sind. Hunderte von Flugblättern waren dort im Umlauf, dazu kamen Inschriften («Schmierereien» im MfS-Jargon), monatelang war die Stasi voll im Einsatz, langjährige Gefängnisstrafen wurden verhängt. Zwei Beispiele: Ein Lehrling des Bunawerks verfasste eine Protestresulution (sic!), sprach in Gaststätten, am Bahnhof und unter Mitlehrlingen insgesamt 90Personen an und erhielt 66Unterschriften:

Protestresulution

Wir, die Unterzeichneten, erklären uns nicht mit dem Einreiseverbot Wolf Biermanns einverstanden. Wolf Biermann hat zwar die DDR aufs schärfste kritisiert aber ist er deshalb ein Klassengegner des Sozialismus? Diese Frage sollten sich einige Herren einmal überlegen. Wir fordern sofortige Einreise von Wolf Biermann.

Das MfS erfuhr durch einige der Angesprochenen von der Aktion, der Lehrling kam in Haft. Es folgten tagelange Verhöre unter Schlafentzug, er bekam zwei Jahre Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, musste sich aber zur Umerziehung einen Tag lang westdeutsche Agitprop-Lieder von Franz-Josef Degenhardt anhören, die ihm von einer Schallplatte vorgespielt wurden. Während der Stasihaft brachte man ihn dazu, sich dem MfS als Inoffizieller Mitarbeiter, also als Spitzel, zu verpflichten. Er wollte später aussteigen, holte sich Rat bei der Pfarrerin, wagte aber wegen eines möglichen Widerrufs der Bewährung nicht, von der Verpflichtung zurückzutreten. Schließlich unternahm er einen Selbstmordversuch, zwei Jahre nach seiner Genesung begann er eine kirchliche Ausbildung und ist heute Katechet.

Zur Identifizierung der fünf Verfasser und Verteiler des folgenden mit einem Kindersetzkasten vervielfältigten und verteilten Flugblattes aus Halle setzte die Staatssicherheit über Wochen ein Massenaufgebot von Fahndern ein, die rund tausend Hallenser befragten und Geruchsproben von Verdächtigen nahmen. Alles war erfolglos, die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren zehn Jahre später ein.

BÜRGER VON HALLE –

Bitte bedenkt, dass gerade in diesem Augenblick, wo Ihr Eurer ARBEIT nachgeht, Wo Ihr in deR Weihnachtszeit im KREIS EURER Familien seid, BÜRGER dieses Staates, weil sie Öffentlich und ehrlich ihre Meinung zu Problemen, diE uns ALLE AngehEn, GESAGT HABEN, in GEFÄNGnissen sitZen– Die fragwürdige AUSBÜRGERUNG BIERMANNS hinterliess Menschenschicksale. Der SCHRIFTSTELLER FUCHS, die MUSiker PANACH, KUHNERT und viele UNBEKANNTE Leute wurden inhaftiert – HELFT MIT, dass sie zu ihren Familien zurückkönnen. Beschäftigt EUCH mit dem Thema, macht Euch nicht durch Euer SCHWEIGEN zu MITSCHULDIGEN – Diskutiert am ArBeitsplatz, mit Freunden, in der Familie– Gemeinsam sind wir STÄRKER.

Diese Beispiele spontaner, individueller Aktionen belegen deutlich, dass das Bild von einer stumm und stumpf alles hinnehmenden DDR-Bevölkerung keineswegs den Tatsachen entspricht. Was 1989 geschah, kam nicht aus heiterem Himmel.

2.Vorboten des Herbstes

Zwar sah es zu Beginn des für Deutschland und Europa so entscheidenden Jahres keineswegs so aus, als würde schon in Kürze eine Revolution losbrechen, doch im Frühling und Sommer 1989 staute sich der Unmut in der DDR-Gesellschaft immer mehr an.

Auf der Berliner Gedenkfeier für Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg blieb die SED zwar diesmal unter sich, aber in Leipzig wurde dieser Tag in besonderer Weise begangen. In der noch immer weltoffenen Handelsstadt, lange eines der Hauptzentren der deutschen Kulturgeschichte, forderte eine aus verschiedenen Basisgruppen zusammengesetzte «Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft», der Verhaftungen in Berlin vor einem Jahr zu gedenken. Mit Hilfe technisch längst überholter Geräte wurden 10000Flugblätter hergestellt, die die Leipziger aufriefen, am 15.Januar um 16Uhr auf dem Markt vor dem Alten Rathaus zu demonstrieren, und zwar

für das Recht auf freie Meinungsäußerung

für die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

für die Pressefreiheit und gegen das Verbot der Zeitschrift «Sputnik»

und kritischer sowjetischer Filme…

Das MfS war durch Spitzel informiert, damit allerdings rechneten auch die Initiatoren, denen es durch die Bildung von mehreren Einzelgruppen gelang, ein Großteil der Flugblätter zu verteilen. Elf Angehörige der Gruppe wurden verhaftet, doch das Wagnis hatte sich gelohnt: Zum angegebenen Zeitpunkt erschienen Hunderte zur Kundgebung.

Offene Proteste

In wenigen Worten erinnerte Fred Kowasch, einer der Initiatoren, an Rosa Luxemburg, protestierte aber auch gegen die jüngsten Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Zuführungen, die mit den Forderungen Rosa Luxemburgs nicht zu vereinbaren seien. Die Polizei, die Staatssicherheit und sogenannte «gesellschaftliche Kräfte» – speziell für solche Anlässe abkommandierte zuverlässige Leute, meist SED-Genossen – standen bereit, dennoch setzte sich ein Demonstrationszug in Bewegung. Die Teilnehmer hatten sich untergehakt und konnten in die Petersstraße ziehen, durch verschiedene Straßensperren wurde der Zug aber zum Stehen gebracht und schließlich aufgelöst. 53Personen wurden zugeführt, vernommen und bis 22Uhr wieder freigelassen – auf «zentrale Weisung», also Honeckers. Gerichtsverfahren fanden trotzdem statt.

Am nächsten Tag setzte Mielke das ZK ausführlich ins Bild, und der Erste Sekretär der SED-Bezirksleitung, Horst Schumann, informierte Honecker. Diese nach der Anzahl der Beteiligten eigentlich nebensächliche Angelegenheit wurde also ernst genommen. Allerdings auch von anderer Seite: Bereits am 14.Januar hatten die «Tagesschau», der «Rias» und die «Berliner Abendschau» über die angekündigte Demonstration und von den Verhaftungen im Vorfeld berichtet. Am Abend des 15.Januar fand dann das erste Fürbittgebet in der Leipziger Lutherkirche statt, auf das weitere Solidaritätskundgebungen in der ganzen DDR folgten. Zudem wurde am selben Tag durch polnische Mittelsmänner und Freunde der Charta 77 die KSZE informiert, die gerade in Wien ihre letzte Folgesitzung abschloss. Tags darauf berichteten und kommentierten dann schon zahlreiche westdeutsche Zeitungen über die sich ausweitenden Protestaktionen.

Auch die DDR-Staatsmacht widmete sich zunächst intensiv der Aufarbeitung der Ereignisse, die Kirche wurde mehrfach ermahnt, und die Staatssicherheit nahm sich vor, beim nächsten Mal gleich energischer durchzugreifen. Aber am 25.Januar erging wieder eine interne Weisung Honeckers, diesmal zur Einstellung der Ermittlungsverfahren, mit der Begründung, die DDR sei ja gefestigt. Wie sehr das offenbar seine Überzeugung war, hatte er eine Woche zuvor auf einer Thomas-Müntzer-Gedenkfeier zum Ausdruck gebracht, auf der er stolz verkündete, die Mauer sei nach wie vor gerechtfertigt und werde auch in 50 oder auch in 100Jahren noch bestehen. Doch meinte er das wirklich? Immerhin wurde am selben Tag, dem 18.Januar, in Polen durch Beschluss des ZK die Solidarność zugelassen.

Die DDR-Staatsmacht hielt zunächst unerbittlich an ihrem Grenzregime fest. Am 5. und 7.Januar sowie am 8.April konnte man vom Westen aus beobachten, wie verschiedene Fluchtversuche durch Schüsse verhindert wurden. Das gelang nicht immer. Am 14.Februar durchbrachen drei Männer mit einem LKW die Grenzbefestigungen in Berlin, einer von ihnen wurde festgenommen, zwei konnten noch schwimmend durch die Spree fliehen; am 16.Februar gelang einem Mann der Durchbruch mit einem PKW auf den Parkplatz der Ständigen Vertretung; vom 7. auf den 8.März überquerte ein Mann mit einem Ballon die Grenze nach West-Berlin, stürzte dort ab und starb; am 31.März scheiterte ein Durchbruch mit einem Personenwagen bei Drewitz, drei Männer wurden festgenommen. Eines der letzten Husarenstücke beim Überwinden der Mauer gelang aber noch am 26.Mai: Zwei Männer holten mit einem Motordrachen ihren Bruder aus Ost-Berlin und landeten sicher mit ihm vor dem Reichstag. Aber es gab auch ein letztes Todesopfer durch Grenzposten.

Am 5.Februar 1989 wurde der 20-jährige Chris Gueffroy an der Mauer in Berlin erschossen. Wieder musste sich die DDR international dafür rechtfertigen, denn sie hatte in brutalstmöglicher Weise genau gegen die Vereinbarung gehandelt, die sie noch im Januar auf der KSZE-Folgekonferenz in Wien selbst unterschrieben hatte. Im April wurde dann unter Hinweis auf die KSZE der Schießbefehl intern aufgehoben, das aber blieb geheim und ist erst nach der Revolution überhaupt bekannt geworden. Für die Öffentlichkeit hieß es nach wie vor, dass der Versuch des unerlaubten Überschreitens der Grenze mit dem Einsatz von Schusswaffen geahndet würde – also ein tödliches Risiko barg.

Die Unruhe hielt an. Beispielhaft sei zunächst wieder Leipzig genannt, wo DDR-Bürger auf der halbjährlich stattfindenden Messe relativ problemlos mit westlichen Medienvertretern in Kontakt treten konnten. Zur Frühjahrsmesse zogen Gruppen von Personen, denen die Ausreise verwehrt wurde, am Montag, dem 13.März, nach dem Friedensgebet in der Nikolaikirche über den Markt bis zur Thomasgasse. Auf diesem nicht sehr langen Weg wurde die Demonstration mehrfach durch den konzentrierten Einsatz von ca. 850Angehörigen der Schutz- und Sicherheitsorgane sowie gesellschaftlicher Kräfte – wie Mielke in seinem Bericht an das ZK schrieb – behindert und schließlich aufgelöst. Verhaftet wurde niemand, denn westliche Korrespondenten sowie Fernsehteams waren zugegen und dokumentierten sogar, wie uniformierte Volkspolizei junge MfS-Männer in Zivil an allzu großer Gewalttätigkeit hinderten. Ein Demonstrant hielt kurzfristig ein DIN-A3-Blatt mit der Aufschrift «Reisefreiheit statt Behördenwillkür» in die Höhe; laut den internen MfS-Rapporten wurden Parolen gerufen wie Stasi weg! Laßt uns raus!, Stasi raus!, Stasischweine! und Freiheit– Menschenrechte.

Im weiteren Verlauf des Jahres mehrten sich in Leipzig die «Vorkommnisse», wie die Staatssicherheit diese an sich harmlosen, sehr überschaubaren Aktionen nannte. Allerdings war es die völlig überzogene und fast panische Reaktion der Staatsmacht selbst, die diese kleinen Manifestationen nicht nur aufwertete, sondern überhaupt erst zu politischen Aktionen machte. Anlässlich des Weltumwelttages 1988 wollten einige Basisgruppen auf die völlige Verschmutzung der teilweise unterirdisch durch Leipzig fließenden Pleiße aufmerksam machen. Die Sicherheitskräfte trafen vorbeugende Maßnahmen, es gab einige Zuführungen und Verhöre, aber schließlich fand der Umzug gleichzeitig mit einem Wildparkfest statt. Ein VP-Wagen begleitete ihn, und die anwesenden zivilen Staatssicherheitsleute, die als solche leicht zu erkennen waren, nahmen Brot und Kuchen, die ihnen vereinzelt angeboten wurden, freundlich dankend an. Das war klug, kaum jemand nahm Notiz von dem Umzug, erst recht nicht die westlichen Medien.

Ganz anders im Sommer 1989.Die Veranstaltung Pleißepilgerweg wurde offiziell angemeldet und nach langem Hinauszögern viel zu spät verboten. Die Staatssicherheit lud 63Mitglieder von Basisgruppen vor, die sie nicht nur verhörte, sondern auch nötigte, eine Unterlassungserklärung zu unterschreiben, 19 weitere Personen wurden später unter Hausarrest gestellt oder «offensiv beschattet», dazu kamen weitere Zuführungen. Mielke persönlich leitete Maßnahmen ein, um zu verhindern, dass Teilnehmer von außerhalb nach Leipzig gelangten, und schickte sogar seinen Stellvertreter Generaloberst Mittig dorthin.

Als am 4.Juni in der Paul-Gerhardt-Kirche in Connewitz ein Gottesdienst mit tausend Besuchern stattfand, wurde vor der Kirche ein großes Aufgebot von Bereitschaftspolizei und Staatssicherheit postiert, um durch Polizeiketten und Einkesselungen zu verhindern, dass die Menschen die Richtung des Pleißepilgerweges einschlugen. Teilnehmer wurden auf LKWs geladen und abtransportiert, insgesamt gab es 83Zuführungen. Dennoch fand unter intensiver Beobachtung am späten Nachmittag ein Umweltgottesdienst in der Reformierten Kirche unweit des Hauptbahnhofs statt – sie wird später noch eine wichtige Rolle spielen; in einer Nebenstraße standen sieben vollbesetzte Mannschaftswagen der Polizei. Über die Festnahmen berichteten der «Tagesspiegel», die «Süddeutsche Zeitung» und die «Frankfurter Rundschau», die DDR-Medien nicht.

Harmloseste Veranstaltungen in der Provinz waren der Staatsmacht plötzlich verdächtig. Im sächsischen Kreis Oschatz hatte das Akkordeonorchester «Klingende Harmonikafreunde» ohne Erlaubnis des Staates durch verschiedene Anschläge für den 5.August in Malkwitz zu einem privaten Volksfest auf der Festwiese eingeladen. Bürgermeister, Volkspolizei und Staatssicherheit traten in Aktion, ein VP-Hauptmann in Zivil überwachte die Veranstaltung, die Akten des MfS wurden im Herbst vernichtet. Es gab aber Ernsteres. Bisher hatte es trotz mehrerer Anträge bei der Staatsverwaltung noch nie Vorführungen von jugendlichen Musikern auf öffentlichen Straßen gegeben, ein Mangel, dem ein DDR-weit privat propagiertes Festival für den 10.Juni abhelfen wollte. Die Initiatoren hatten schon seit längerer Zeit versucht, eine staatliche Genehmigung zu bekommen, doch der Staat reagierte wie üblich zuerst überhaupt nicht. Seit Mai allerdings waren Polizei und Staatssicherheit tätig, und nach vielem Hin und Her wurde das Festival am 2.Juni mündlich verboten. Es gab Straßenkontrollen, Musikgruppen wurden zu «Disziplinierungsgesprächen» vorgeladen, Zufahrtswege nach Leipzig überwacht.

Trotzdem waren am Vormittag des 10.Juni zahlreiche Musikgruppen auch aus anderen Teilen der DDR eingetroffen und musizierten zum Vergnügen der Passanten an mehreren Plätzen der Innenstadt zwischen Markt und Thomaskirche. Die Staatsmacht, vertreten durch «gesellschaftliche Kräfte» und Polizei, hielt sich wegen der Fülle der aktiven und passiven Teilnehmer zunächst zurück; um die Mittagszeit griff sie ein. Über hundert Bereitschaftspolizisten verfolgten die Musiker und luden sie auf bereitstehende Lastwagen. Einfache Passanten solidarisierten sich und kamen teils mit, teils folgten sie, «Dona nobis pacem» – «Gib uns Frieden» – singend, bis vor das Polizeirevier Mitte. Nach mehrfacher Aufforderung auseinanderzugehen zogen die Teilnehmer zum Markt, dann zur Thomaskirche, wo sie eingekreist und schließlich von über hundert Bereitschaftspolizisten gewaltsam verladen wurden. Insgesamt 84Personen wurden zugeführt und bis in den nächsten Tag hinein verhört. Es gab Mitteilungen an Mielke und an Honecker. Alle großen westdeutschen Tageszeitungen berichteten.

Schon vorher hatte es den ersten landesweiten, explizit politischen Einbruch in das Herrschaftssystem gegeben. Im Vorfeld der Kommunalwahlen vom 7.Mai regte sich die Opposition. Wie bisher gab es nur Einheitslisten, allerdings war der Kreis derer, die Kandidaten vorschlagen durften, erweitert worden. Die folgende Aufzählung mutet parodistisch an, doch genau diese Organisationen wurden im Zuge der scheinbaren Lockerung zugelassen: Kammer der Technik, Verband der Konsumgenossenschaften, Volkssolidarität, der Turn- und Sportbund, die wissenschaftliche Vortragsorganisation Urania, das Rote Kreuz, die Freiwilligen Feuerwehren und der Verband der Kleintierzüchter, Siedler und Kleingärtner, an einigen Orten kam auch der Anglerverband der DDR hinzu. Lag es da nicht nahe, dass verschiedene Kirchgemeinden Berlins meinten, für Friedens- und Umweltgruppen sollte das Gleiche gelten wie für Kleingärtner, Sportler und Feuerwehrleute? Natürlich galt es nicht, und auch vereinzelte Versuche, unabhängige Kandidaten zu nominieren, scheiterten unter zum Teil unwürdigen Umständen. Immerhin wurden die Antragsteller nicht weiter strafrechtlich verfolgt.

Die Abstimmung fand unter langfristig geplanter Bewachung durch die Staatsmacht statt. In einem Erlass vom 6.März setzte Mielke «Wahloffiziere» ein, und der Leipziger MfS-Chef Generalleutnant Hummitzsch erklärte bei einer Dienstbesprechung am 24.Februar, die Hauptaufgabe bestehe darin, ein eindeutiges Bekenntnis… zur Politik der Partei zu organisieren. Dennoch wagten es bei der Abstimmung anscheinend viel mehr Personen als bisher, sich wie freie Wähler zu verhalten, nämlich in die Kabine zu gehen und die Liste abzulehnen; vorher waren von den oppositionellen Gruppen und teilweise auch von der Kirche präzise Hinweise darauf gegeben worden, wie eine Ablehnung trotz vieler Schikanen eindeutig ausgedrückt werden konnte. Das weiß man deshalb, weil, ebenfalls anders als zuvor, zahlreiche Personen von dem bisher nur auf dem Papier stehenden Recht Gebrauch machten, den Stimmenauszählungen beizuwohnen und sie zu kontrollieren. Das traf die Stimmenauszähler und Überwachungsbehörden offenbar so überraschend, dass diesem Verlangen zumeist stattgegeben wurde. Dennoch wurde vom Wahlleiter Egon Krenz republikweit ein höchst fiktives offizielles Wahlergebnis verkündet: Danach betrug die Wahlbeteiligung 98,77Prozent, und die Jastimmen lagen bei 98,85Prozent.

Da dies ganz offensichtlich nicht dem tatsächlichen Abstimmungsverhalten entsprach, wurden die verschiedensten Einsprüche gegen die Fälschung der Wahlergebnisse erhoben, von harmlosen Eingaben bis hin zu Strafanzeigen. Sie wurden sämtlich zurückgewiesen, wobei der Minister für Staatssicherheit höchstpersönlich den Wortlaut vorschrieb. In seiner Anweisung 38/​89 hieß es:

Die Sekretäre der Wahlkommission werden wie folgt antworten: Die Wahlkommission hat anhand der von den Wahlvorständen entsprechend §39Abs. 1 des Wahlgesetzes exakt gefertigten Niederschriften die ordnungsgemäße Durchführung der Wahlen geprüft, das Wahlergebnis festgestellt und veröffentlicht. Dem ist nichts hinzuzufügen.

Das Wichtigste an diesen Vorgängen aber ist, dass diejenigen, die gegen die Wahlfälschungen protestierten, ihre Beschwerden personalisierten und daher Name und Adresse angaben. Die Angst, eines der wichtigsten Herrschaftsmittel der Diktatur, begann nachzulassen. Gerade die Wahlfälschungen sind es, deretwegen Funktionäre noch vor der Wiedervereinigung von DDR-Gerichten strafrechtlich verfolgt wurden.

Dennoch gab es einen Rückschlag durch ein fernöstliches Ereignis und vor allem durch die Art und Weise, in der die SED und ihre Medien damit Furcht verbreiteten. Am 4.Juni walzten auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking Panzer der Armee – sie hieß und heißt Volksbefreiungsarmee – eine Demonstration für mehr Demokratie nieder. Bis zu 5000Menschenleben forderte das Massaker, bis zu 30000Personen wurden verletzt, genaue Zahlen sind bis heute nicht bekannt. Die gleichgeschalteten Medien lobten in der Folgezeit immer wieder die vorbildliche Weise, in der die Chinesen die Konterrevolution bekämpft hätten, und auch die Volkskammer begrüßte, natürlich einstimmig, diese Gewalttat. Der Bevölkerung sollte unmissverständlich vor Augen geführt werden, welche Sanktionen sie bei ähnlichen Versuchen zu erwarten hatte, und wohl auch deshalb wurden die Sendungen über das chinesische Massaker im weiteren Verlauf des Sommers im Fernsehen wiederholt. Das Säbelrasseln sollte sich zwar als leere Drohung erweisen, lange Zeit aber musste man damit rechnen, dass es ernst gemeint war. Nicht wenigen waren der 17.Juni 1953 und der 13.August 1961 noch deutlich in Erinnerung. Und trotzdem wurde, abermals unter Nennung des Absenders und der Adresse, in der ganzen DDR offen protestiert. So schrieb etwa der «Friedensarbeitskreis bei der Evangelischen Studentengemeinde» in Karl-Marx-Stadt am 20.Juni an die Volkskammer:

Mit Bestürzung haben wir am 8.Juni 1989 die «Erklärung der Volkskammer der DDR zu den aktuellen Ereignissen in der VR China» zur Kenntnis genommen.… Selbst der Auslandsdienst des Pekinger Rundfunks berichtete nach dem Angriff des Militärs noch eine Stunde lang über das blutige Vorgehen von Angehörigen der «Volksbefreiungsarmee» gegen die wehrlosen Demonstranten und von zahlreichen Opfern auf dem Tienanmen-Platz, ehe dann plötzlich auf die bis heute verbreitete Version zurückgegriffen wurde… Wir jedenfalls verurteilen auch die jüngsten Gewaltakte… energisch… Wir stehen mit unserer Meinung nicht allein.

Die Entwicklung verlief aber nicht geradlinig. So sah sich die SED-Führung noch immer durch eine Reihe von Vorgängen in ihrem Kurs bestätigt. In der altehrwürdigen pommerschen Universitätsstadt Greifswald verfolgte der evangelisch-lutherische Bischof Horst Gienke eine Politik des Wohlverhaltens gegenüber dem Staat, die um kurzfristiger Vorteile für die Kirche willen an den Rand der Kollaboration mit der Staatssicherheit ging, wie es der spätere Oberbürgermeister Greifswalds, Pastor Reinhard Glöckner, formulierte. Das drückte sich auch darin aus, dass die pommersche Landeskirche in Greifswald Oppositionellen und Ausreisern keine Zuflucht bot. Zudem lud Gienke zur Feier der Weihung des – großenteils mit westlichen Geldern – restaurierten Domes unter Umgehung kirchlicher Instanzen Erich Honecker ein, der eilends anreiste, um die Fata Morgana des Einvernehmens zwischen Partei und Kirche zu zelebrieren; anschließend wurden sogar Artigkeiten im «Neuen Deutschland» ausgetauscht. Das war zugleich der letzte negative Höhepunkt einer SED-freundlichen Kirchenpolitik. Später stellte sich heraus, dass Gienke unter dem Decknamen «Orion» Inoffizieller Mitarbeiter des MfS gewesen war.

Der Protest gegen die umweltzerstörende Industriepolitik der DDR, vor allem gegen den Uranbergbau in Aue, spitzte sich 1989 im Kampf um die Reinstsiliziumanlage in Dresden-Gittersee zu, deren Bau das Politbüro im Mai 1987 beschlossen hatte. Das blieb zunächst geheim, erst im Herbst 1988 sickerten die ersten Informationen durch. Ein Ingenieur wandte sich an seinen Pfarrer, der jedoch ein geheimer Mitarbeiter der Staatssicherheit war. Dennoch sprach sich der Plan herum, der Ökologische Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke (ÖAK) wurde aktiv, es kam zu Eingaben an staatliche Stellen. Pfarrer Weißflog informierte anlässlich der Weihnachtsfeier 1988 in Gittersee seine Kirchengemeinde. In den folgenden Monaten nahm der Widerstand immer mehr zu. Es gab verschiedene Gespräche und Versuche staatlicher Stellen, insbesondere durch Indienstnahme der Kirche, den Protest zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Als die Teilnehmerzahlen an den Protestversammlungen und den Bittandachten auch in der Kreuzkirche immer weiter anstiegen – von 300 auf mehrere tausend–, versuchte die Staatsmacht durch Absperrungen, Einschüchterung und Zuführungen den Widerstand zu unterdrücken. MfS, Volkspolizei und Kampfgruppen wurden eingesetzt. Am 2.Juli verhinderte die Anwesenheit eines ARD-Kamerateams der Sendung «Kontraste» ein energischeres Durchgreifen. Mehrfach wurden Ordnungsstrafen verhängt, die durch Sammlungen in den Gottesdiensten aufgefangen wurden. Mit der Revolution kam schließlich das Aus für die Siliziumanlage. Am 6.November beschloss der Ministerrat der Regierung Stoph die Einstellung der Bauvorhaben, einen Tag vor seinem Rücktritt.

Der Widerstand innerhalb der Kirche nahm zu und wurde mehr und mehr sichtbar. Vom 6. bis 9.Juli 1989 fand in Leipzig der Kirchentag der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen statt. Schon lange im Vorfeld hatte es innerhalb der Kirche und mit Vertretern des Staates zahlreiche Gespräche darüber gegeben, ob sich der Kirchentag ausschließlich auf Sachsen und auf rein religiöse Themen beschränken sollte. Der Staat hatte ein Interesse daran, dass der Kirchentag keine Strahlkraft entfaltete, der Kirche hingegen war daran gelegen, Konflikte mit dem Staat zu vermeiden, zugleich aber die Betätigung oppositioneller kirchlicher Gruppen möglichst wenig einzuschränken. Ob dieser Balanceakt letztlich glückte, soll hier nicht abschließend entschieden werden. Jedenfalls konnten die Basisgruppen in der Leipziger Lukaskirche einen Statt-Kirchentag mit rund 2500Teilnehmern organisieren. Dort kamen Gruppen aus der ganzen DDR und selbst Menschenrechtsgruppen aus dem Westen zu einem Gesprächsaustausch zusammen, bei dem es auch um die bisherigen Repressionsmaßnahmen der DDR-Behörden ging. Da auch westliche Medien zugegen waren, hielt sich die Staatssicherheit zurück, ja, selbst eine Podiumsdiskussion mit dem SPD-Politiker Erhard Eppler konnte stattfinden. Auf der ersten Pressekonferenz des Kirchentages distanzierte sich die Kirche von den Umtrieben in der Lukaskirche, und ein Sprecher erklärte sogar, bei den Teilnehmern handele es sich um Trittbrettfahrer, mit denen wir nichts zu tun haben. Das Konzept der Kirchenvertreter schien aufgegangen zu sein: Während sich auf dem Statt-Kirchentag die oppositionellen Gruppen konzentrierten, konnte der offizielle Kirchentag in dem engen Rahmen abgehalten werden, der den Vorstellungen des Staates entgegenkam.

Mit einer Ausnahme: Beim öffentlichen Abschlussgottesdienst auf der Leipziger Rennbahn wurde ein Transparent mit der Losung Nie wieder Wahlbetrug entrollt sowie ein anderes mit der Inschrift Demokratie, auch in chinesischen Schriftzeichen. Die kleine Protestgruppe zählte zunächst nur 20 bis 25Personen, die sich demonstrativ setzten und dadurch Widerstand bekundeten; es kam zum Einsatz kirchlicher Ordnungskräfte, worauf die Gruppe zum Ausgang zog, wo sie durch Zulauf von Sympathisanten schon bald auf gut 1000Personen angewachsen war. Auf dem Weg in die Leipziger Innenstadt stießen die Demonstranten schließlich auf Polizeiketten und MfS-Angehörige in Zivil, die die Transparente herunterrissen und versuchten, Teilnehmer zuzuführen und in einen Straßenbahnwagen zu ziehen, das wurde von anderen Mitdemonstranten verhindert; es kam sogar zum Einsatz eines Polizeihubschraubers. Schließlich löste sich die Gruppe langsam auf, wobei die Demonstration damit endete, dass etwa 150Personen in die Peterskirche zogen. All das wurde von einem ARD-Team aufgenommen, allerdings nie gesendet.

Leipzig war auch sonst ein Ort wachsender Unruhe, und das Zentrum bildete die Nikolaikirche mit ihren regelmäßigen Friedensgebeten. Schon die Ausreiserdemonstration zur Frühjahrsmesse hatte dort ihren Ausgang genommen, und in der Folgezeit stiegen die Teilnehmerzahlen an den Friedensgebeten ständig an. Sie waren zunächst unauffällig und unspektakulär. So versammelten sich die Teilnehmer nach dem Gebet in der Kirche regelmäßig schweigend auf dem Nikolaikirchhof, woran sich gelegentlich eine stumme Demonstration anschloss, die aber stets von Sicherheitskräften aufgelöst wurde. Dabei kam es zu Zuführungen, außerdem wurden außergewöhnlich hohe Geldstrafen verhängt. An der Demonstration vom 8.Mai nahmen 300Menschen teil, am 22. 450, ebenso viele am 29.Mai; am 12.Juni waren es 600, am 19.Juni 650.Nach dem 28.Juni rückten die Vorgänge zusehends ins Visier von Staatssicherheit und Partei, die ein energischeres Vorgehen beschlossen. Dennoch kamen am 3.Juli 800