Die Deutschen und ihre Geschichte - Alexander Gauland - E-Book

Die Deutschen und ihre Geschichte E-Book

Alexander Gauland

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Beschreibung

Seine Geschichte wird man nicht los, sie sitzt einem in den Knochen und in der Seele. Das betrifft unsere Biografien als Einzelne wie den kollektiven Werdegang des Volkes, dem wir angehören. Beides greift weit in die Vergangenheit aus und prägt unser Denken, Verhalten und Handeln im Heute. Zwar können wir dieses lebenslange Wirkungsgefüge bestreiten, versuchen uns "neu zu erfinden", doch lässt sich die einmal beschriebene Tafel nicht blankwischen. Wir leben in und mit der Geschichte, der persönlichen wie der gemeinschaftlichen. Je besser wir letztere vergegenwärtigen, mit all ihrem Licht und Schatten, desto mehr wohnen wir uns inne, ja desto vollständiger werden wir. Alexander Gauland nimmt uns in seinem Buch mit auf eine Wanderung durch eintausend Jahre deutscher "Evolution". Aus den germanischen Wäldern des Tacitus führt er uns zu Karl dem Großen, zu Luther, den Kaisern des Mittelalters, von Friedrich II. zu Bismarck, zu Hitler, zum Mauerfall. An jeder Weggabelung erkennen wir, wie sehr wir Anteil haben an dieser Geschichte. Und dass diese uns erst zu denen macht, die wir sind.

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Ik gihorta dat seggen … (Ich hörte das sagen…)

Erste Seite des Hildebrandsliedes, eines der frühesten Textzeugnisse deutscher Sprache (9. Jahrhundert). Es erzählt eine Episode aus dem Sagenkreis um Dietrich von Bern, eine Zweikampf-Situation zwischen Hildebrand und seinem Sohn Hadubrand. Da der Schluß verloren ist, weiß man nicht, ob das Lied tragisch oder glücklich endet.

Alexander Gauland

DIE DEUTSCHEN UNDIHRE GESCHICHTE

INHALT

Gibt es den deutschen Sonderweg?

Mittelalterliche Kaiserherrlichkeit als römisches Erbe – Ottonen und Staufer

Der antirömische Protest 1 – Luther gegen Karl V.

Der antirömische Protest 2 – Friedrich gegen das Reich

Der antirömische Protest 3 – Preußen gegen Österreich

Blut und Eisen

Das Hohenzollernreich

Republikanischer Versuch

Nihilistische Versuchung

Geteiltes Land

Endlich am Ziel

Nachwort

Literatur

Gibt es den deutschen Sonderweg?

Der Gegensatz könnte nicht größer sein. In Potsdam bemüht sich eine Bürgerinitiative, die traditionsreiche Garnisonkirche Friedrich Wilhelms I. wieder zu errichten und begegnet dabei großen Vorbehalten. Zu Beginn wollten weder Stadt noch Kirche das Bauwerk zurück, in dem Hindenburg und Hitler am 21. 3. 1933 den Tag von Potsdam zelebrierten. Als der publizistische und gesellschaftliche Druck von jenseits der Stadtgrenzen wuchs, sollte es wenigstens ein Versöhnungszentrum sein, um Fluch und Schuld von der Kirche zu nehmen, in der sich einst der preußische König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. von Russland eine kurzlebige Treue geschworen hatten und wenig später Napoleon am Grabe Friedrichs des Großen zu seinen Offizieren gesagt haben soll: Wenn der noch lebte, stünden wir nicht hier.

Was also in Deutschland sofort zu ideologischen Verspannungen führt, das Erbe Preußens und seine angebliche Verantwortung für den Aufstieg Hitlers, kommt in der 900-Seiten-Biographie dieses Staates von dem englischen Historiker Christopher Clark nicht einmal in einem Nebensatz vor. Weder der Zusammenhang von Preußentum und Nationalsozialismus noch der lange Weg nach Westen, den wir vorgeblich zurückgelegt haben sollen, ist Clark eine Befassung wert. Daraus folgt, dass andere die deutsche Geschichte nicht auf den größten anzunehmenden Unfall zulaufen sehen und nicht alles, was uns heute aus der Vergangenheit nicht mehr zusagt, deshalb gleich in den Schatten von Auschwitz rücken.

Dennoch gibt es natürlich Unterschiede zur Entwicklung in England und Frankreich. Wie könnte es auch anders sein. Doch das heißt eben nicht, dass das eine der Normalfall und das andere ein Sonderweg ist. Prägender als der Schatten Hitlers ist eine andere Tatsache, die der Historiker Heinrich August Winkler gleich an den Anfang seines Buches Der lange Weg nach Westen stellt: »Im Anfang war das Reich: Was die deutsche Geschichte von der Geschichte der großen westeuropäischen Nationen unterscheidet, hat hier seinen Ursprung.« Die Abspaltungen vom und die Spaltungen im Reich sind das, was die große Geschichtserzählung ausmacht, weshalb Luther und Friedrich der Große eine weit größere Verantwortung für das scheinbare Misslingen der nationalen Erzählung trifft als den unglücklichen Wilhelm II. oder den fatalen Ludendorff.

Die deutsche Geschichte ist 1933 mit der Machtübernahme Hitlers entgleist, nachdem sie zuvor aus dem Gleichgewicht geraten war. Doch dieses Entgleisen ist nicht die Folge der vorangegangenen Gleichgewichtsstörung. Bismarck hatte das historische Spannungsverhältnis zwischen Europa und dem von ihm wieder begründeten Reich in ein prekäres Gleichgewicht gezwungen, das seinen Abschied von der Macht nicht überlebte. Doch das heißt eben nicht, dass eine Figur wie Hitler und seine Taten zwangsläufig waren oder irgendjemandem zugerechnet werden können, auch wenn das Porträt Friedrichs des Großen im Bunker und das Bismarcks in der neuen Reichskanzlei hing. Wie hat das der Historiker Golo Mann so unnachahmlich ausgedrückt: »Die Geschichtsschreiber tun Hitler viel zu viel Ehre an, die uns glauben machen wollen, es habe Deutschland seit hundert Jahren nichts anderes getrieben, als sich auf das unvermeidliche Ende, den Nationalsozialismus vorzubereiten.« Zu dieser Sichtweise möchte diese kleine deutsche Geschichte einen Beitrag leisten. Dass sie so falsch nicht sein kann, bestätigt ausgerechnet die große Preußenerzählung eines englischen Historikers.

Mittelalterliche Kaiserherrlichkeit als römisches Erbe – Ottonen und Staufer

Nicht in den germanischen Urwäldern hat die deutsche Geschichte ihren Ursprung, sondern in Rom – so beginnt Hagen Schulze seine Kleine deutsche Geschichte. Für die Geschichte mag das zutreffen, für die Deutschen nicht. Noch 1920, als die Wälder längst gelichtet waren, empfindet der englische Schriftsteller Logan Pearsall Smith das Anderssein der Deutschen: »Die bekannte Welt nannte ich die Landkarte, die ich zu meinem Spaß für das Kinderschulzimmer skizzierte. Sie umfasste Frankreich, England, Italien, Griechenland und alle Küsten des Mittelmeers; aber den Rest nannte ich unbekannt und ich zeichnete im Osten die zweifelhaften Reiche von Ninos und Semiramis hinein und versetzte Deutschland in den Herkynischen Wald zurück; und ich malte Bilder von den mutmaßlichen Bewohnern dieser unerforschten Regionen.«

Es waren noch nicht die Deutschen, es waren die Germanen, die in den Wäldern östlich des Rheins hausten. Sie waren unsere Vorfahren und doch auch wieder nicht. Mit dem Begriff deutsch oder Deutschland hätten sie nichts anzufangen gewusst. Es waren Sueben, Markomannen, Langobarden, Cherusker. Sie lebten in Familien- und Stammesverbänden, einen Staat kannten sie nicht. Rom war das andere, das sie nicht waren, und von dort haben wir auch unser Bild. Es stammt von dem römischen Historiker Tacitus, der eine kleine Schrift über Germanien veröffentlichte, die aber wohl mehr innenpolitischen Zwecken als der historischen Wahrheit diente. Zwar rügt Tacitus die Leidenschaft der Germanen für den Krieg, ihre Streithändel beim Trunk, ihre Neigung zu Spiel und Gelagen, aber er lässt auch ihren Tugenden Gerechtigkeit widerfahren, der strengen Ehrbarkeit und Heiligkeit des Hauses, der Keuschheit, ihrer Gastfreundschaft, der Strenge, mit der sie unnatürliche Laster, Feigheit und Verrat ahnden. Tacitus vergleicht die Germanen zu ihrem Vorteil mit den römischen Zuständen: kein Geld, keine Testamente, keine lüsternen Schauspiele und keine Korruption.

Dass solche Menschen im Jahre 9 n. Chr. die römische Expansion nach Osten im Teutoburger Wald stoppten, haben nur wenige Römer bedauert. Zu groß war das Reich schon und zu fremd die germanische Welt zwischen Rhein und Elbe. Als das Römische Reich – oder besser gesagt das Weströmische Reich – 400 Jahre später zusammenbrach, übernahmen germanische Stämme die Last der Regierung und der Reichsverteidigung. Es waren die West- und Ostgoten, die sich für das alte Reich und das neue Christentum opferten und zusammen mit den Römern die Vandalen und Hunnen, die großen Zerstörer aus der Völkerwanderung, abwehren. Rom bleibt der Dreh- und Angelpunkt aller germanischen Staatsbildungsversuche auf italienischem Boden, womit schließlich nach dem Zwischenspiel Theoderichs des Großen und einigen chaotischen Jahrhunderten die Franken Erfolg hatten.

Es war Karl der Große, der mit seiner Herrschaft das römische mit einem germanischen Reich zusammenbrachte. Es war noch nicht deutsch, obwohl das erste deutsche Wort in einer fränkischen Urkunde aus Karls Streit mit dem Bayernherzog Tassilo stammt. Diesem wird »harisliz« vorgeworfen, neuhochdeutsch Fahnenflucht. Und etwa zur gleichen Zeit finden sich im Hildebrandslied, einer Heldensage aus der Zeit des Gotenkönigs Theoderich des Großen, die Anfangsworte der deutschen Literatur: »Ik gihorta dat seggen« – ich hörte das sagen. In das offizielle Vulgärlatein drangen umgangssprachliche althochdeutsche Brocken ein. Deutsch kommt von »thiutisk« oder lateinisch »theodiscus«, ein Begriff, der einfach volkssprachlich bedeutet.

Die Söhne Karls konnten das Reich nicht bewahren und so wurde sein Erbe im Vertrag von Verdun 843 dreigeteilt: in das Westfrankenreich unter Karl dem Kahlen, Lotharingien, das Zwischenreich unter Lothar mit dem späteren Burgund und Italien, und das Ostfrankenreich unter Ludwig, den national denkende Historiker im 19. Jahrhundert in Ludwig den Deutschen umbenannten, eine Geschichtsfälschung, da er nur rex germaniae war. Immerhin lassen die Reichsteilungen im Osten die Umrisse eines viel späteren Deutschland erkennen, das noch bis 1806 als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation Europas Mitte erst beherrschen, dann immerhin bewahren sollte.

Der Schlüsselbegriff des Mittelalters ist das Kaisertum. Und da das spätere Deutschland außer unter den letzten Staufern der zentrale Baustein dieses Kaisertums ist, bleibt das Schicksal des Landes bis in das 20. Jahrhundert hinein mit dieser Idee verbunden. Wann unter den Herrschergestalten von Heinrich dem Vogler bis zu Friedrich II. ein deutsches Nationalgefühl zuerst spürbar war, ist schwer zu sagen. Immerhin spricht ein Salzburger Mönch in den Salzburger Klosterannalen zum ersten Mal 920 von einem Reich der Deutschen. Gewiss aber ist ein solches Nationalgefühl um 1200, als Walther von der Vogelweide ein Preislied schrieb, in dem er von den Eigenschaften deutscher Männer und Frauen schwärmt »von der Elbe bis an den Rhein und wieder hinunter bis ans Ungarland«. Wohl nicht zufällig klingt das im Lied der Deutschen von Hoffmann von Fallersleben ganz ähnlich.

Doch anders als in den sich parallel entwickelnden späteren Nationalstaaten Frankreich, England und Spanien zielt das Kaisertum in die Weite, verkörpert einen übernationalen Anspruch als Fortsetzung der römischen Antike und des karolingischen Erbes als Schutz und Schild der Christenheit, ja, als Herr der Welt. Früh haben sich daraus Konflikte ergeben. Denn neben den Fragen, wo im Westen wie Osten die Grenze des Reiches verläuft, wie viel »Frankreich « zum »Reich«, also zu Deutschland gehört, und ob Elbslawen, Liutizen und Pruzzen dem Reich angehören sollen, ist es immer auch die Frage der Christianisierung, die sich mit den Grenzfragen in der Ostmission des Reiches mischt. Und natürlich gehörten zum antiken Erbe Rom, Reichsitalien und das Verhältnis zur zweiten übernationalen Gewalt, dem Papsttum. Mittelalterliche Kaiser sind öfter in Rom als in Deutschland gewesen. Das kann man vom nationalen Standpunkt aus beklagen, doch es gehört zum deutschen Erbe wie das Kaisertum selbst.

Das deutsche Mittelalter beginnt mit einer Reihe großer Persönlichkeiten, die lange in der Erinnerung des Volkes lebendig geblieben sind. Herzog Heinrich von Sachsen soll am Vogelherd gesessen haben, als ihm Reichsinsignien und Thronschatz von dem Frankenherzog Konrad, dem ersten deutschen König, überbracht wurden. Er war der volkstümlichste, einte das Reich, erwarb Lotharingien, schob die Ostgrenze über die Elbe vor und besiegte ein erstes Mal – sozusagen zum militärischen Luftholen – die Ungarn. Der große Historiker Leopold von Ranke hat seine Wahl »den grundlegenden Akt der deutschen Geschichte« genannt, und das 19. Jahrhundert hat ihn neben Bismarck zum »Reichsgründer« stilisiert, eine rückwärts gewandte Historisierung, die der Sachsenherzog nicht verstanden hätte.

Sein gewählter Nachfolger wird Otto I., den die Deutschen bald den Großen nennen. Unter ihm greift das Reich ins Weite. Die Ungarn werden ein für alle Mal 955 auf dem Lechfeld bei Augsburg besiegt, und der König wird frei für die Neuordnung Italiens. Nachdem er die Witwe des letzten italienischen Königs, Adelheid, aus der Burg Garda befreit und geheiratet hat, erwirbt er durch sie ein Anrecht auf die eiserne Langobardenkrone Italiens. 963 krönt ihn der Papst zum Kaiser und bindet damit das Erbe der Cäsaren an das germanisch-deutsche Heerkönigtum. Diese Wiedergeburt des Kaisertums löst auch die Päpste aus ihrer tiefen Verstrickung in die stadtrömischen Adelsfehden und macht sie frei für den geistigen und politischen Aufstieg des Papsttums, einen glücklichen historischen Moment lang im Zusammenwirken mit den deutschen Kaisern. Was diese neue geistige Weite für die provinzielle Welt der Stammesherzogtümer bedeutete, lassen noch heute die Dome von Magdeburg, Quedlinburg, Naumburg und Bamberg, die Stiftskirche von Gernrode, die Ruinen von Memleben und die Stifterfiguren am Meissner Dom erahnen. Mit der Krönung Ottos wurde Deutschland für drei Jahrhunderte unter den großen Dynastien, den Ottonen, Saliern und Staufern, nicht allein zur politischen, sondern auch zur intellektuellen Vormacht Europas.

Otto der Große hatte das römisch-deutsche Imperium begründet, aber nicht vollendet. Es blieb angefochten im Westen wie im Osten und in Reichsitalien. Die Stärke des Kaisertums beruhte auf der Reichskirche, den kaisertreuen Bischöfen, die die Zentralgewalt stützten. Was lag näher, als dass ein romantischer Jüngling auf dieser Einheit von Thron und Altar, dieser renovatio imperii, der Wiederherstellung des Römerreiches, ein neues Reich gründen wollte. Während im Westen und Osten die ersten Blüten nationaler Eigenständigkeit aufbrachen, wollte Otto III. dem Abendland wieder einen Mittelpunkt geben und ständig in Rom Quartier nehmen. Es war einer der noch oft wiederholten Versuche, die nationale Eigenstaatlichkeit in einer christlich-universalen Reichskonzeption aufzufangen. In Aachen ließ der junge Kaiser deshalb das Grab Karls des Großen öffnen und in Polen besuchte er im Jahr 1000 das Grab Adalberts von Prag, eines Märtyrers der Christianisierung Polens. Polen sollte in das Imperium Romanum eingefügt werden, doch nicht mittels Gewalt, sondern indem seinen Fürsten ein angemessener Platz in der hierarchischen Rangordnung des Imperiums zugewiesen wurde. Eine Verwirklichung dieser christlich-universalen Reichskonzeption hätte der Geschichte Europas eine andere Wendung gegeben und die zerstörerischen Kräfte des europäischen Nationalismus bannen können. Es war ein Traum des Kaisers und seiner Berater. Widerhall fand er damit weder in Frankreich noch in Deutschland oder gar in dem von mittelalterlichen Fehden zerrissenen Rom. Am ehesten noch konnten die Völker am Rande des Abendlandes, die Polen und die Ungarn, diese Gedanken nachvollziehen. Doch der frühe Tod des Kaisers im Jahre 1002 machte diesen Träumen ein Ende.

Mit Heinrich II., dem frommen Bayernherzog, beginnt eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der deutschen Kaiser. Den Wahlspruch Ottos III. »Wiederherstellung des Römerreiches« ersetzt er auf seinem Königssiegel durch die Devise »Wiederherstellung des Frankenreiches«. Das bedeutete zwar keinen Verzicht, aber doch eine machtpolitische Beschränkung auf das realistisch Mögliche. Das Herz des Imperiums sollte künftig nicht in Rom, sondern nördlich der Alpen schlagen. Zwar zog auch Heinrich mehrmals in den Süden und wurde vom Papst zum Kaiser gekrönt, doch seine Machtbasis lag in seinem Stammland, in Bayern, Sachsen und Thüringen. Deren Fürsten musste er in den Merseburger Wahlkapitulationen von 1002 die Erhaltung ihres alten Stammesrechtes zusichern. Der Historiker Leopold von Ranke hat diese Wahlkapitulationen mit der englischen Magna Charta von 1215 verglichen und sie die erste Verfassung der Deutschen genannt. »Das deutsche Königtum kam dadurch in einen verfassungsmäßigen Zustand; die höchste Gewalt, die in der Idee eine unbeschränkte gewesen war, wurde bestimmten Beschränkungen unterworfen«.

Heinrich stärkte die Reichskirche gegen Herzöge und Grafen. Merseburg, Hildesheim und Bamberg sind durch ihn privilegiert, von ihm beschenkt und gefördert worden. Besonders Bamberg, seine Gründung, wo er und seine Frau – die heilige Kunigunde – ihre letzte Ruhe fanden, verdankt ihm viel. Der Papst, der ihn 1146 kanonisierte, begründete die Heiligsprechung damit, »dass er, der doch die Krone und das Zepter des Kaiserreiches getragen, nicht kaiserlich, sondern geistlich gelebt habe«. Noch immer ist der Kaiser der kirchliche Reformmotor, doch die Zeit, in der sich die Kirche kaiserlichem Wollen unterordnet, geht zu Ende. Heinrich II. war der letzte seines Geschlechtes, und die Legende sprach schon damals von einer »Josephsehe« zwischen ihm und der jungfräulichen Kaiserin. Nach seinem Tod wählen die Fürsten seinen Vetter Konrad.

Der Weg des aus Franken stammenden salischen Herrscherhauses beginnt vielversprechend. Am 2. Februar 1033 wird der erste Herrscher aus diesem Haus, Konrad II., in Payerne zum König von Burgund gekrönt. Das Imperium Romanum umschloss nun die drei Königreiche Deutschland, Italien und Burgund, womit das alte Lotharingien wieder vollständig zum Reich gehörte. Das mittelalterliche Kaisertum näherte sich seinem Zenit. Nie wieder sollte es auf die Höhen zurückkehren, die es unter Heinrich III. erreichte. Reichsitalien war fest in kaiserlicher Hand, und in Rom setzte der neue Kaiser gleich drei unwürdige Nachfolger des Apostels Petrus ab. Der neue Papst war ein Mitglied der Reichskirche, also ein deutscher Papst, aus dessen Händen der deutsche König die Kaiserwürde empfing. Noch einmal demonstrierten beide Gewalten, die kaiserlich-weltliche und die päpstlich-geistige, ihre Eintracht.

Mit den Reformsynoden von Pavia, Sutri und Rom begann die Erneuerung der Kirche an Haupt und Gliedern unter kaiserlicher Führung. Noch richtete sich der Kampf gegen die Simonie, also den Ämterkauf, und es ging um die Durchsetzung des allgemeinen Priesterzölibats gegen die Einvernahme des Papsttums durch die stadtrömische Aristokratie, nicht aber gegen den Bestand der Reichskirche als Grundlage des Kaisertums und wichtigste Stütze des Thrones. Doch eben darin lag die Schwäche dieses Einvernehmens. Es war an das vernünftige Zusammenwirken zweier Gewalten gebunden, die jede für sich nach dem Höchsten strebten und damit das prekäre Gleichgewicht zerstörten, auf dem das sakrale Kaisertum wie die geistliche Macht des Papstes ruhten. Vernünftig aber waren die beiden Protagonisten nicht, die jetzt aufeinander trafen, Kaiser Heinrich IV. und Papst Gregor VII., der heilige Teufel, wie er von den Zeitgenossen genannt wurde.

Canossa ist in der deutschen Geschichte doppelt symbolbehaftet. Für die einen ist es der Ort tiefster Erniedrigung mittelalterlicher Kaiserherrlichkeit, die Bismarck noch 1873 während seiner Auseinandersetzung mit dem deutschen Katholizismus im Reichstag zu dem Ausruf veranlasste »nach Canossa gehen wir nicht«; für die anderen ist der Ort das Symbol kluger Realpolitik. Aber vor allem markiert Canossa das Ende des Kaisermythos, das Ende der Einheit von Kirche und Reich. »Mit diesem bedeutungsvollen Umschwung wandte sich die Zeit von der Vollkommenheit zum Niedergang«, schrieb Jahrzehnte später ein kluger Beobachter, Otto von Freising. Der Kaiser war zwar auch danach noch mächtig, doch sein Mythos war zerbrochen; seine Macht beruhte nur noch auf den Temporalien, dem Kron- oder Hausgut, nicht mehr auf den Spiritualien, also der Herrschaft über die Seelen.

Was wir später die Trennung von Staat und Kirche nennen werden, nimmt hier seinen Ausgang und das Reich seinen langen Abschied von der Macht, der erst im Jahre 1806 enden sollte. Als der Kaiser noch minderjährig war, hatte die Kirche die Papstwahl in die Hände der Kardinäle gelegt und damit nach dem städtischen Adel auch den römischen Kaiser aus dem Wahlverfahren verdrängt. Dies entsprach den Reformgedanken, nach denen kein Laie über ein kirchliches Amt entscheiden sollte. Als Heinrich wie in alten Zeiten in Reichsitalien Bischöfe einsetzte, bedrohte ihn der Papst mit dem Bann. Als eine Mehrheit der deutschen Bischöfe daraufhin den Papst abzusetzen versuchte, bannte er den Kaiser, ein revolutionärer Akt, der die eine Hälfte des mittelalterlichen Staatsbaus, die weltliche, zum Einsturz brachte. Ein Teil der Fürsten nutzte die Gunst der Stunde, um den Kaiser mit Hilfe des Papstes abzusetzen. Denn seine Politik, rund um den Harz mit Goslar im Zentrum Krongut, also dem Reich zugehöriges Eigentum, mittels neuer von Beamten bemannter Burgen in Hausgut, also dem herrschenden Geschlecht eigenes Gut, umzuwandeln, hatte den Kaiser seinen Rückhalt im Reich gekostet. Drei Tage und drei Nächte musste der gebannte Kaiser vor der Burg von Canossa im Schnee ausharren, bevor ihn der Papst wieder in die Gemeinschaft der Gläubigen aufnahm.

Canossa machte den Kaiser zwar wieder handlungsfähig, zerstörte aber den kaiserlichen Nimbus und die sakrale Monarchie. Noch zwanzig Jahre dauerten die Kämpfe mit Aufständischen und Gegenkönigen. Am Ende starben der Papst in der Verbannung in Salerno und der Kaiser auf der Flucht vor seinem aufständischen Sohn. Beide hatten ihre sakrale Würde eingebüßt, beide hatten verloren, auch das Papsttum vermochte die neu gewonnene Macht nicht zu bewahren, schon die weiteren Bannflüche erwiesen sich als wirkungslos. Schließlich beruhte die päpstliche Autorität nicht auf den »Divisionen des Papstes«, sondern auf der Macht des Glaubens. Als diese zu schwinden begann, entschwand auch die Macht zu bannen und zu lösen.

Mit dem Wormser Konkordat von 1122 endete die Auseinandersetzung. Der Kaiser verzichtete auf das Recht der Investitur mit Ring und Stab, also den geistlichen Symbolen. Dafür wurde ihm zugestanden, dass die Bischöfe in seiner Gegenwart durch das Domkapitel, allerdings ohne Simonie, also ohne Korruption, und ohne Gewalt gewählt wurden. Die Entscheidung bei einer zwiespältigen Wahl wurde dem König überlassen, der den erwählten Bischöfen und Äbten durch die Überreichung eines Zepters die vom Reich herrührenden weltlichen Herrschaftsrechte übertrug. Staat und Kirche waren damit ein ganzes Stück auseinandergerückt. Den künftigen Kaisern war es nicht mehr möglich, das Reich mit Hilfe der Kirche zu regieren und die geistlichen Herren den weltlichen gegenüberzustellen. Mit dem Tod Heinrichs V. erlosch das salische Kaiserhaus.

Das neue Geschlecht der Staufer bedurfte schon einer gesicherten territorialen Herrschaft, um noch einmal – fast – die Höhen Ottos I. oder Heinrichs III. zu erklimmen. Es war wie eine romantische Spätblüte des mittelalterlichen Kaisertums. Sie beginnt mit einer deutschen Sagengestalt, Friedrich Barbarossa, Kaiser Rotbart, der gemäß deutschen Sagen- und Liedguts in den Höhlen des Kyffhäuser seiner Wiederkehr in ein einiges Deutschland harrt. Der Kaiser, ritterlich, eloquent und machtbewusst, hatte während seiner langen Regierungszeit von 1152 bis 1190 mit den beiden Kräften zu kämpfen, die das Reich zu schwächen begannen und es am Ende überwältigten – die deutschen Landesherren und die italienischen Städte. In Deutschland bot das mächtige Welfengeschlecht in der Person Heinrichs des Löwen dem Kaiser Paroli und verweigerte 1176 sogar die Heerfolge zum fünften Italienzug; in Italien begannen die lombardischen Städte sich von Kaiser und Papst zu emanzipieren und einen feindlichen Riegel zwischen den deutschen und den italienischen Teil des Reiches zu schieben.

Den Welfen konnte der Staufer besiegen und ihm die Reichslehen Sachsen und Bayern abnehmen. Nur das Patrimonium, sein Erbgut Braunschweig und Lüneburg, blieben welfisch bis zum Jahre 1866, als ein künftiger deutscher Kaiser nach einer neuen Niederlage das Erbe Heinrichs seinem Hausgut Preußen zuschlug. Auch die italienischen Städte konnte der Kaiser demütigen und das starke Mailand bis auf die Grundmauern zerstören. Doch wie der Untergang der Welfen den Aufstieg der Landesherrlichkeit nicht aufhalten konnte, so verhinderten sechs Italienzüge nicht das allmähliche Auseinanderdriften beider Länder. Und als 1176 bei Legnano ein städtisches Bürgerheer die Blüte der deutschen Ritterschaft vernichtete, wurden die Kräfte sichtbar, denen die Zukunft gehörte – Landesherren und Stadtbürger.

Bezeichnenderweise zog Friedrich die Reichslehen nicht zu seinen Gunsten ein, wie das zur gleichen Zeit in Frankreich und England üblich wurde, sondern vergab sie an andere Reichsfürsten, auf deren Treue er so wenig zählen konnte wie auf die des Welfen. Anders in Reichsitalien, wo mit den Roncalischen Dekreten alle Regalien, herzogliche, markgräfliche, gräfliche Rechte, Zölle und Einkünfte, dem Kaiser zurückgestellt und von ihm nach Billigkeit neu vergeben oder auch einbehalten wurden. Damit war es nur noch ein kleiner Schritt hin zur Hausmacht seines Enkels in Apulien und seiner späteren Nachfolger, der Luxemburger und Habsburger, im Südosten Europas.

Das hochmittelalterliche Kaiserreich blieb auch unter den Staufern ein personaler Herrschaftsverband, dessen Oberhaupt eher symbolische als tatsächliche Macht ausübte, dessen Rechtsstellung undeutlich blieb und immer von neuem austariert werden musste, während ihm gegenüber die Reichsstände, die geistlichen und weltlichen Reichsfürsten, ihre Stellung befestigten. Nur im Hausgut herrschte der Kaiser unbeschränkt. Als Barbarossa auf dem dritten Kreuzzug 1190 im Kalykadnus in Kleinasien, der heutigen Türkei, ertrank, war das Reich so ungefestigt, dass zwei Gegenkönige, Philip von Schwaben und Otto IV. aus dem welfischen Haus, das Reich in einen Bürgerkrieg stürzen konnten. Nur die Ankunft eines Genies, des letzten Stauferkaisers, des »Staunens der Welt«, führte das mittelalterliche Kaisertum noch einmal in ungeahnte Höhen. Doch es waren keine institutionell abgesicherten Höhen, es war die Genialität eines Einzelnen und konnte deshalb nicht dauern. Mit dem Tod Friedrichs II. von Hohenstaufen verschwindet ein Zauber aus der deutschen Geschichte. Sein Reich zerfiel, seine Persönlichkeit aber leuchtete bis in die dunkelsten Tage des 20. Jahrhunderts.

Als die nationalsozialistischen Schergen am Morgen des 9. April auf Hitlers persönlichen Befehl Admiral Canaris, General Oster und Pfarrer Bonhoeffer in Flossenburg erhängten, fanden sie in der Zelle von Canaris seine letzte Lektüre – Ernst Kantorowicz: Kaiser Friedrich II