Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter - Max Kommerell - E-Book

Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter E-Book

Max Kommerell

0,0

Beschreibung

Max Kommerells Deutung dichterischer Werke trug wesentlich zur Entwicklung der modernen Textinterpretation bei. "Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter" ist ein Essay über Goethes freie Rhythmen, die Hymnen an die Nacht von Novalis, Hölderlins Hymnen in freien Rhythmen, Nietzsches Dionysosdithyramben und Rilkes Duineser Elegien. Max Kommerell ist der bedeutendste Literaturwissenschaftler, der aus dem George-Kreis hervorging, und er gilt als Begründer der Komparatistik.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 88

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter

Goethes freie Rhythmen

Novalis: Hymnen an die Nacht

Hölderlins Hymnen in freien Rhythmen

Nietzsches Dionysosdithyramben

Rilkes Duineser Elegien

Über den Autor

Impressum

Hinweise und Rechtliches

E-Books Edition Loreart:

Max Kommerell

Die Dichtung in freien Rhythmen

und der Gott der Dichter

Die Dichtung in freien Rhythmen und der Gott der Dichter

Was wir Deutschen an Lyrik in freien Rhythmen besitzen, ist als Form und als Bestand gleich merkwürdig. Worauf beruht diese Form? Unsere Sprache konnte gerade durch das, wodurch sie von den alten Sprachen verschieden ist, durch ihre Abstufung der Tonstärken und den Ton auf der Stammsilbe, ein Analogon der antiken Versmaße erreichen, welches nur der Rhythmus, nämlich eine regelmäßige Anordnung der natürlichen Akzente schafft. Wenn nun die einzelne Zeile, ohne an wiederkehrender Stelle einer andern zu gleichen, dennoch sich selbst als rhythmisches Gepräge behaupten kann, wenn sich also aus der Nachbildung antiker Versarten als eine eigene, nicht mehr angelehnte Art die Dichtung in freien Rhythmen entwickelt, so arbeitet sich darin ein altes Vermögen der germanischen Sprache zu sich selber durch. Man kann in dieser Form die Aneignung des Fremden so weit, daß das Fremde ganz eigen wird, vollendet sehen, man kann sie aber auch mit Vorsicht an den ursprünglichen germanischen Versbau, der uns durch die geschichtliche Entwicklung von Otfrid bis Opitz entfremdet und verlegt worden ist, anknüpfen. Und man kann demgemäß eine Art der freien Rhythmen, die sich vorwiegend aus den bei uns eingebürgerten Elementen antiker Versmaße zusammensetzt, und eine andere unterscheiden, die das Belieben unserer Sprache selbsttätig zusammenfügt. So fraglich und befragenswert dies alles ist, so fraglos ist die Anziehungskraft der so beschaffenen Gebilde, die nicht nur Gipfel unserer Dichtung, sondern auch weiteste Möglichkeiten unserer Sprache bezeichnen, und in dieser natürlichen Großheit der Lyrik anderer Länder fehlen.

Diese Anziehungskraft wird allerdings noch gesteigert durch Themen und die Spannweite eigenwilliger Geister, die sich darin genugtun. Wenn ich hier die merkwürdigsten Beispiele zusammenstelle, so fällt die Einheit auf, die sie unter sich bilden. In allen eröffnet uns der Dichter ein eigenes Verhältnis zum Göttlichen. Wenn vorher diese Form als eine Art Vorrecht unserer Lyrik beansprucht wurde, so erinnert jetzt das Thema selbst an ein Phänomen, das in unsäglicher Weise Freiheit und Not unserer Überlieferung ist. Diese Überlieferung hat manchmal kühnere Gipfel, aber kaum je das Gesicherte, das die dichterischen Traditionen anderer Länder auszeichnet. Sie geht von Krise zu Krise, oft in Sprüngen, sich umkehrend, das Errungene verleugnend, neuer Anfänge froh. Keinem unserer großen Dichter genügte das Schaffen allein; jeder hat lieber sein Weltverhältnis, sein Stehen zu den letzten Fragen von Grund auf selbst bestimmt, als sich daran gehalten, wie es durch ein Erbe der Sitte, Gesinnung und religiösen Denkart im voraus bestimmt gewesen wäre. Gewiß gibt es bei anderen Nationen Vergleichbares, aber so sehr durchgehender Brauch ist dies nur bei uns geworden, nur bei uns hat es zu einem solchen Umfang dichterischer Befugnis und zu so viel Freiheit und Gefahr geführt.

Es soll nun nicht behauptet werden, daß der eigene Gott der Dichter sich nur in freirhythmischer Lyrik darstellt, noch auch, daß diese nie ein anderes Thema gehabt hätte. Nur die Frage sei angeregt, ob nicht eine Neigung dieser Form zu diesem Thema bestehe und wie diese Neigung zu erklären sei.

Von Anfang an wurde diese Form als gelöst, als dithyrambisch empfunden, als die Form der Begeisterung. Klopstock hat nicht den größten, aber den ersten Gebrauch von ihr gemacht; bei ihm geht sie hervor aus der Bemühung um die eigensten Möglichkeiten unserer dichterischen Sprache im Wetteifer mit den antiken Sprachen, zugleich aber auch aus der hymnischen Prosa der Bibel, der ihm vertrauten Form der religiösen Hingerissenheit. Überhaupt liegt der Begriff »frei« als Gegensatz eines festen Maßes zugrunde und wird, historisch falsch, aber um so fruchtbarer, mit Pindar in Zusammenhang gebracht: »ununterwürfig Pindars Gesängen gleich.« Der geistige Anlaß dieser Form ist bei Klopstock die aus dem Pietismus und anderen Bewegungen hervorgehende persönlich geniale Annäherung an den Erlöser, die er dichterisch ins Werk setzt, und die Weihe des dichterischen Berufs sowie der eigenen Person durch diesen oder andere heilige Gegenstände. Halb besingt er den Erlöser der protestantischen Gemeinde, halb einen eigenen, und die weltlichen oder geistlichen Gesänge, die er in die selbstgefundene Form bringt, bleiben zwar ihrem Tone nach Postulat, sind aber von einer geradezu ansteckenden Wirkung auf andere. Sie haben weniger eine entschiedene Fügung als einen Flatus, der sie trägt und schwellt: Inbrunst des Sagens, mit gehäuften Ausrufen, mit allen Satzbildungen und Stilformen der Ekstase. Ihre Musikalität ist gesteigerte Prosa.

Immerhin, die Form ist kreiert und fortan möglich. Zwischen Klopstocks und Goethes freien Rhythmen liegen die Anregungen Herders, der in einer selbst dithyrambischen Prosa den jungen Dichtern das Wunschbild der echten dithyrambischen Dichtung neben dem andern Wunschbild des echten volkstümlichen Liedes einflößt und so auf die beiden Pole der neubeginnenden deutschen Lyrik deutet. Er lehrt Pindar hören und verdeutschen; seine eigenen jugendlichen Dichtversuche, die, in freien Rhythmen pindarisierend, eine Gärung ohne Beispiel entladen, haben wohl den jungen Goethe, der selbst Pindar übersetzte, in dieser und jener Probe erreicht.

Goethes freie Rhythmen

Nie vergißt, wer je die freien Rhythmen der Goetheschen Lyrik einmal ins Ohr bekam, dies beschwingte Schreiten und Atmen voll Hochebenengefühl, das sowohl Form als Gedanken durchwaltet und uns Anteil gibt an einem Dasein voll Ursprung und Machtfülle, an einem freien, unvermittelten Verkehr mit Erde, Wasser und Himmel. Die Strophen, deren rhythmischer Bau den Satzbau hervorhebt, sind in An- und Abschwellen das Atemholen selbst mit seinem natürlichen Einhalt; die Zeilen bestehen aus rhythmisch gleichartigen Elementen, so daß die Kurve des Ganzen mehr durch die kürzeren und längeren Gefüge, als, wie bei Hölderlin, durch in sich stark differenzierte Bauglieder erzielt wird. Dieses mächtige Ein- und Ausströmen des Atems in der Sprache, das die Geräumigkeit einer mehr als Menschliches fassenden Brust anzeigt, ist von innen gesehen: Hochgefühl. Nichts, was in sich selbst kämpft oder kämpfen muß, damit es bestehe und gelte; sondern Einheit, die sich genügt, im Besitz ihrer selbst die Welt aufwiegt. Auf Hochgefühl sind diese Hymnen gestimmt, und Hochgefühl ist die Mitte, um die sie ihren mythischen Horizont beschreiben - einen im übrigen menschenlosen Horizont, denn die Namen, auf die dieses Hochgefühl getauft wird: Prometheus, Ganymed, Mahomet und unter ihnen das Ich-Symbol des Wanderers, scheiden sich vom Menschen, brauchen ihn nicht, sind geschichtslos, beheimatet in uranfänglichen Zuständen; Schöpfer, nicht Geschöpf.

Viele Dichter vor und nach Goethe haben sich um Familiarität mit den alten Mythen bemüht, aber dies ist einmalig - der Mythos als persönliches Symbol! Der Dichter fragt nicht nach seinem Recht. Genug, wenn er diese Mythen zum Reden bringt. Wodurch hat sie Goethe zum Reden gebracht, was ist sein Schlüssel, der sie ihm entzifferte? Das Gefühl seiner selbst - jenes Hochgefühl, das sich ihm über die Stimmungen des Augenblicks hinaus in einer jugendlichen Epoche zum Selbstbesitz befestigt hat, und das, obwohl nichts als menschliche Erfahrung, sein genaues Gleichnis in der übermenschlichen Stufe der Titanen und Götterlieblinge findet.

Wie auffallend diese Hymnen außerhalb der sonstigen Lyrik Goethes stehen, bestätigt sich darin, daß am Ende der hymnischen Grundstimmung in der frühen Weimarer Zeit der Hymnus sich dem autobiographischen Grundzug der übrigen Lyrik anpaßt, in der ›Harzreise im Winter‹ die mythische Landschaft mehr und mehr sächsisch-thüringisch, das mythische Ich mehr und mehr zum persönlichen Ich wird. Sonst ist jedes Goethesche Gedicht ein Augenblick - diese Hymnen enthalten Ort, Stunde und Bedingung ihres Geschehens nicht mit; doch hat sie Goethe in seinen Gedichtausgaben so gestellt, daß sie als Zyklus gelten können. In der Tat haben sie eine Art Gesamtaugenblick, der sich von innen bestimmen läßt als die Dauer jenes Hochgefühls, das sich Welt ist und in dem eine Welt anfängt.

Das Schaffen als Kern dieses Hochgefühls im Prometheus ist immer erkannt worden; weniger, daß gerade dadurch die Distanz zum alten Titanenmythos ausgesprochen ist. Der alte Prometheus ist nicht zunächst der Schöpfer der menschlichen Geschöpfe, er ist Gegenspieler des Zeus als Angehöriger einer älteren Götterdynastie. Schaffen ist überhaupt ein ungriechischer Begriff, da weder bei der Annahme eines Seins noch eines Werdens der Welt aus sich ein Schöpfungsakt am Anfang stehen kann. Dieser tritt erst ein, wenn das Sein nicht mehr sein eigener Grund ist, sondern als ein Mittleres zwischen Idee und Materie aufgefaßt, einen Vermittler fordert. Mögen Plato und Plotin Goethe auf dem Wege über Shaftesbury erreicht haben: der Schaffende, der durch sich selbst ist, sein Begriff als Gegenbegriff der schaffenden Natur, und sein Selbstgefühl - das ist Goethe und gehört ihm! Diese Autochthonen der Seele sind unter sich eine Republik und kennen kein Regiment, da jeder sich selbst genügt; wer schafft ist Gott - es gibt nichts darüber. Daß das Schaffen des Prometheus aber ein Erschaffen von Menschen ist, die leben und lebend ihm gleichen, führt, im Dramenfragment ›Prometheus‹ zu Ende gestaltet, den Mythos als Metapher des Kunstschaffens durch, das dann echt ist, wenn das Geschaffene lebt.