Die Donau - Nick Thorpe - E-Book

Die Donau E-Book

Nick Thorpe

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Beschreibung

Vom Schwarzen Meer bis zum Schwarzwald: Anders als berühmte Donau-Reisende vor ihm nimmt der britische Journalist und Filmemacher Thorpe den umgekehrten Weg und nähert sich von der Mündung aufwärts zu Fuß, mit dem Fahrrad, Boot, Zug, manchmal auch mit dem Auto der Quelle des fast dreitausend Kilometer langen Stromes in Deutschland. Auf dem Balkan, stellt Thorpe gleich anfangs fest, entwickelten sich zivilisierte Kulturen lange vor dem Westen. Und so verwebt er auf seiner Reise prägnant das Einstige mit der Gegenwart und schafft es, unterschiedlichsten Menschen – von Schiffern bis zu Mönchen, von Wissenschaftlern bis zu Roma-Mädchen – wunderbare Geschichten zu entlocken und Europa und seine Kulturgeschichte neu zu entdecken.

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»Sie werden wie der Stör sein«, ruft ein alter Fischer im Donaudelta Nick Thorpe zu, »und flussaufwärts schwimmen, um zu laichen.« Anders als berühmte Donau-Reisende wie Claudio Magris oder Patrick Leigh Fermor vor ihm nimmt der britische Journalist und Filmemacher Thorpe den umgekehrten Weg: Von der Mündung aufwärts nähert er sich zu Fuß, mit dem Fahrrad, Boot, Zug, manchmal auch mit dem Auto der Quelle des fast dreitausend Kilometer langen Stroms im Schwarzwald. Auf dem Balkan, stellt Thorpe gleich anfangs fest, entwickelten sich zivilisierte Kulturen lange vor dem Westen. Und so verwebt er prägnant das Einstige mit der Gegenwart und schafft es, unterschiedlichsten Menschen – von Schiffern bis zu Mönchen, von Wissenschaftlern bis zu Roma-Mädchen – wunderbare Geschichten zu entlocken, sie zu Miterzählern seines Buches zu machen.

Zsolnay E-Book

Nick Thorpe

Die Donau

Eine Reise gegen den Strom

Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer

Paul Zsolnay Verlag

Dieses Buch ist für Andrea

INHALT

Einleitung: Die Lippen der Donau

  1 Der Beginn der Welt

  2 Die kniende Eiche

  3 Berge der Väter

  4 Die Farbe des Stroms

  5 Die Hunde von Giurgiu

  6 Roma-Fluss

  7 Fluss der Träume

  8 Fluss aus Feuer

  9 Das schwarze Heer

10 Rauch, Asche, ein oder zwei Märchen

11 Der Wind in den Weiden

12 Donaumärchen

13 O Deutschland, bleiche Mutter

14 Der Schneider von Ulm

Nachwort: Eine Art Auflösung

Dank

Ausgewählte Literatur

Anmerkungen

EINLEITUNG

DIE LIPPEN DER DONAU

Ich weiß nicht viel von Göttern, halte aber den Strom

Für einen mächtigen braunen Gott

T.S. ELIOT, DIE DRY SALVAGES1

Der scheinet aber fast

Rückwärts zu gehen und

Ich mein, er müsse kommen

Von Osten.

FRIEDRICH HÖLDERLIN, DER ISTER2

Die Geschichte fließt rückwärts nun

Umfasst auf ihren breiten Seiten

Diesen furchtbaren Strom:

Wasser quillt aus drei Mündern der Donau,

Aus dem vierten aber Blut.

ANDREI CIURUNGA, CANALUL3

Histria. Eine dünne Rauchsäule neigt sich von ihrem Ausgangspunkt im Schilf leicht landeinwärts. Die scharfe nordöstliche Brise treibt mir Tränen in die Augen. Eine Flamme flackert; über den Binsen kann ich gerade noch die Köpfe zweier Männer ausmachen, neben ihrem Feuer. Zwei kleine Fischerboote gleiten nordwärts die Küste hinauf, Seite an Seite, wie Rennpferde. Ihr Bug durchschneidet die aufgewühlte graue Brandung. Am Heck eine Doppelgestalt, eine am Bug. Sind die Männer am Feuer Fischer, an Land gestiegen, um zu kochen, oder Schilfmäher, angekommen am Ende der Welt? Hat der Seemann sein letztes oder sein erstes trostloses Feuer an dieser Küste entfacht?

Hier an den ausfransenden Rändern Europas, zwischen den griechischen und römischen Ruinen Histrias und den steigenden Gewässern des Schwarzen Meers, beginne ich meine Reise donauaufwärts. Plötzlich zerreißt eine Explosion das Gewebe des Morgens. Wir ducken uns, suchen Deckung, finden aber keine zwischen den Ruinen. Langsam verrollt das Gedonner am Rand des Horizonts. Die Perser unter Darius dem Großen? Die Iraner unter Mahmud Ahmadinedschad? Von der rumänischen Küste sind es nur zwei Flugstunden nach Bagdad oder Teheran. Aber nein, es sind bloß die rumänische Marine oder ihre engen Verbündeten, die Amerikaner, die weit draußen auf See die Feuerkraft ihrer Fregatten erproben. Die Ruinen kümmert das nicht. Diese Mauern wurden 1400 Jahre hindurch überrannt. Histria wurde von griechischen Kolonisten aus Milet Mitte des siebenten Jahrhunderts vor Christus gegründet, rechtzeitig für die Olympischen Spiele, und 700 nach Christus aufgegeben, als der Schlick vom südlichsten Rand der Donau die geschützte Bucht in einen Inlandsee verwandelte.

Um die Donau aufwärts zu bereisen, vom Schwarzen Meer zum Schwarzwald, muss ich zuerst das Hinterland der Dobrudscha, rumänisch Dobrogea, erforschen, laut einer Etymologie4 das »gute Land«, zwischen Donau und Schwarzmeerküste gelegen. Im Nationalmuseum für Geschichte und Archäologie in Constanţa, von Histria 45 Kilometer küstenabwärts, befindet sich eine aus violettem Marmor gehauene eingerollte Schlange mit gerecktem Kopf. Bekannt als Glykon, der Süße, ein römischer Gott der Heilkunst, hat die Schlange das Antlitz eines Lamms, die Ohren eines Mannes und den Schwanz eines Löwen; das bedeutet Sanftmut, Aufmerksamkeit und Mut. Man fand sie 1962 bei Ausgrabungen unter dem alten Bahnhof der Stadt, zusammen mit dreizehn anderen Göttern, die höchstwahrscheinlich versteckt wurden, um sie vor den Christen zu retten, die inbrünstig heidnische Bildnisse zerstörten. Dachten die Besitzer, die Christen würden vorüberziehen wie ein jäher Windstoß, und die Schlange könne unversehrt wiederauftauchen? Am Beginn dieser Reise donauaufwärts ist für mich die Schlange der Fluss selbst, ein einziger Körper, grün, braun, weiß, gelb, grau, blau, silbrig und schwarz, mit ständig wechselnden Stimmungen und Farben an der Oberfläche.

Die Donau aufwärts? Viele Leute, denen ich auf dieser langen Reise begegnete, dachten, ich müsse verrückt sein, den Fluss in der falschen Richtung in Angriff zu nehmen. Ich klammerte mich verzweifelt an das Heck von Adrian Oprisans kleinem Glasfaser-Dingi, während wir bei Sulina im Donaudelta über die Wellen hüpften; ich kämpfte mich bei Mohács in Südungarn bei heftigem Nordwestwind auf meinem Fahrrad auf dem Damm entlang, während makellos gewandete Schweizer und englische Radler mühelos in die andere Richtung glitten, den Mund weit offen vor Erstaunen, sodass ihnen die spätsommerlichen Fruchtfliegen hineinflogen; und schließlich fuhr ich in meinem Auto dem letzten Ausläufer der Donau nach, der sich in den suburbanen deutschen Hügeln verlor.

Flüsse folgen einem bestimmten, unvermeidlichen Lauf von den Bergen zum Meer. Da treten in Furtwangen und Donaueschingen kühne Reiseschriftsteller aus den Konditoreien, vollgestopft mit Schwarzwälder Kirschtorte, um einer solchen Route stromabwärts zu folgen, und sind zunehmend beklommen, sobald sie in immer unvertrautere Gefilde gelangen. Aber was denken die Osteuropäer in ihren Palästen, ihren armseligen Hütten neben dem Fluss, in Städten, deren Namen kaum ein Geografielehrer in Bonn oder Brighton, Basel oder Barcelona jemals ausspricht? In Brăila oder in Călărași, in Smederevo oder Baja? Und was ist mit der pausenlosen Prozession von Auswanderern und Händlern, Soldaten und Abenteurern, die auf der Suche nach einem besseren Leben in meine Richtung reisten, die Donau aufwärts? Was war in ihren Gedanken, ihren Tornistern? Und was ließen sie zurück?

Nur für kurze Zeit, von 1740 bis 1790, bestiegen Schwaben aus Ulm ihre sogenannten »Schachteln« – einfache, durch Ruderer fortbewegte Holzboote mit langen Steuerrudern – und fuhren stromabwärts, um durch den Krieg und durch Seuchen entvölkerte Gebiete in Ungarn neu zu besiedeln. Und sogar sie wären daheim geblieben, wäre da nicht der überzeugungskräftige Charme der Habsburgerkaiserin Maria Theresia gewesen.

Bei allem nötigen Respekt für die Verdienste vorhergegangener Autoren: Ich glaube, etwas anderes anbieten zu können. Nachdem ich ein halbes Leben lang in Osteuropa gelebt habe, scheint es höchste Zeit für eine Reise Richtung Westen, stromaufwärts, um ein neues Licht auf den Kontinent zu werfen, so wie aus dem Osten kommende Menschen ihn sehen, die früh am Morgen aufstehen und ihrem Schatten folgen. Zumindest ein Mann verstand meine Reise. Ilie Sidurenko, ein pensionierter Fischer im Dorf Sfântu Georghe am südlichsten Ende der Donau, war begeistert, als ich ihm von meinem Plan erzählte. »Sie werden wie der Stör sein!«, lachte er. Flussaufwärts schwimmen, um zu laichen.

Während ich unterwegs war, wurde mir klar, was die Donau zu Europa beigetragen hat, in dem Sinn, dass sie einen Weg eingekerbt oder eine Spur gelegt hat, auf denen die Menschen westwärts nachkommen konnten. Europa wurde vom Osten her bevölkert und so gewissermaßen zivilisiert. Um 6200 vor Christus ließen sich Bauern aus Anatolien in Südosteuropa nieder und brachten Kühe und Schafe, Ziegen und Saatgut mit. Eine Analyse der genetischen Struktur von Milchspuren, die sich auf Tonscherben aus dem Neolithikum fanden, hat gezeigt, dass ihre Kühe sich mit Auerochsen paarten, den Wildrindern des europäischen Kontinents.5 Die Siedler brachten Kenntnisse in Metallbearbeitung mit. Sie bauten Brennöfen, in denen Temperaturen bis zu 1100 Grad Celsius erreicht wurden, um aus dem grünlich braunen Gestein des Nordbalkans in Rudna Glava in Serbien und Ai Bunar in Bulgarien Kupfer zu schmelzen. Aus diesem neuen Material von solch betörender Schönheit fertigten sie exquisiten Schmuck, Werkzeuge und Waffen.6 Mit diesen wurde weitum Handel getrieben, und je länger der Fluss, desto größer die Reichweite. Nicht lange danach wurde Gold aus reichhaltigen Adern gewonnen oder aus den Nebenflüssen der Donau gewaschen.

Zwischen 5000 und 3500 vor Christus entstanden quer durch Südosteuropa größere Dörfer oder Städte, besonders zwischen Donau und Dnjepr. Die größte Siedlung in Majdanetskoje und Tal’janki konnte bereits mit 2700 Haushalten und etwa zehntausend Einwohnern aufwarten, fünfhundert Jahre bevor zwischen Euphrat und Tigris die sumerischen Stadtstaaten gegründet wurden.7 Das geschah zu einer Zeit, als die meisten anderen Bewohner Festlandeuropas in kleinen Stämmen lebten und in feuchtkalten Höhlen an Knochen nagten. Solche Städte oder große Dörfer wuchsen aus der umgebenden Landschaft immer mehr zu Tells oder Siedlungshügeln empor, als Generation nach Generation auf den Ruinen unter ihnen baute. Diese Häufung voneinander unabhängiger Kulturen, unter Archäologen als Tripolje-Cucuteni, Hamangia, Gumelniţa, Karanovo und Vinča bekannt, betrieb mit den schönen rosaweißen Muschelschalen der Stachelauster, Spondylus gaederopus, den ersten Fernhandel auf dem europäischen Kontinent.8 Die durchscheinenden Schalen reflektierten nicht nur das Licht, sie schienen es in sich zu tragen, schienen das Mondlicht über der Ägäis, wo man sie sammelte, aufzufangen und zu bewahren. Ein lebhafter Kontrast zu den dunklen, anmutigen Töpfen mit komplexen Linien, tierköpfigen Deckeln und Griffen aus derselben Kultur. Die Spondylus-Schalen wurden zusammen mit ihren Besitzern, Männern wie Frauen, begraben, als heilige Objekte, die die Reise in die nächste Welt erleichtern sollten. Salz war für die Völker dieser Region ebenso wichtig wie der Schmuck und die Werkzeuge, die sie benutzten. Das aus den Lagerstätten bei Tuzla in Bosnien, Varna in Bulgarien, Turda in Siebenbürgen und Hallstatt in Österreich gegrabene weiße Gold ermöglichte es ihnen, das Fleisch und den Fisch, die sie jagten und fingen, haltbar zu machen und über weite Entfernungen damit Handel zu treiben.9

Diese Zivilisationen wurden von der amerikanisch-litauischen Archäologin Marija Gimbutas als »Alteuropa« bezeichnet, und der Name scheint immer noch passender als das Label »Neueuropa«, das amerikanische Politiker und britische Comedians Osteuropa angehängt haben. Viele Tausend Miniatur-Tonfigurinen, meist weiblich, mit auf den Körper gemalten Linien und Spiralen, sind in der Region der mittleren und unteren Donau gefunden worden. Marija Gimbutas behauptete, sie seien ein Zeugnis für die spirituelle und soziale Macht der Frauen und benannte die Gruppen als »Rat der Göttinnen«, Beweis einer matriarchalischen Gesellschaft.10 In jüngerer Zeit argumentierten Archäologen, die Figürchen seien bloß Spielzeug gewesen, Haushaltsobjekte, die uns mehr über den Modegeschmack ihrer Besitzer als über ihren Glauben erzählten.11

Kontroversen gab es auch über die Ritzungen auf der schönen Töpferei derselben Zivilisationen. Manche Forscher behaupten, sie würden eine »Donauschrift« darstellen, noch älter als die sumerische Schrift und nach wie vor nicht entziffert.12 Die Zeichen, die man auf Töpferware in Gräbern fand, sind ziemlich verschieden von denen in Häusern, was eine Unterscheidung zwischen Informationen vermuten lässt, die für das diesseitige und das jenseitige Leben bestimmt waren. Die Zivilisation dieser Kupferzeit an der Donau wurde durch das Eindringen bronzezeitlicher Völker zerstört, die robustere Waffen trugen und die eben erst domestizierten Pferde ritten, aber weniger Kenntnisse vom Ackerbau besaßen. Obwohl die Qualität der Töpferei sich verschlechterte, verbesserte sich jene von scharfen Metallgegenständen und ihren Gebrauchsmöglichkeiten. Eine Denkschule vermutet hier einen harten Bruch zwischen einer matriarchalischen, friedliebenden und einer patriarchalischen, kriegerischen Gesellschaft.

Griechische Kolonien wurden gegründet, zerfielen, wurden von den Römern wieder befestigt – ein seltenes Beispiel in dieser Region, dass eine Zivilisation aus dem Westen kam. Das Christentum legte dem thrakischen Reiter eine Lanze in die Hand, einen Drachen unter die Hufe seines Pferdes und gab ihm den neuen Namen Sankt Georg. Die Römer bauten Straßen und brachten eine gewisse Ordnung in die Landschaft, unterlagen aber dann den »Barbaren« in ihren eigenen Reihen. Die Skythen und Sarmaten, Alanen, Hunnen und Slawen ritten über dieselbe Route südwärts wie die bronzezeitlichen Eindringlinge, von den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres über den schmalen Landstreifen zwischen dem Karpatenbogen und dem Meer, und wandten sich, als sie auf die Donau trafen, nach Westen.

Die osmanischen Türken brachten eine weitere Zivilisationswelle aus dem Osten und bauten die seit der römischen Zeit verfallenen Thermen wieder auf. Ihre Toleranz gegenüber Christentum und Judentum brachte orthodoxe Russen dazu, sich vor der Verfolgung durch den Zaren hierher zu flüchten; zudem wurde den Juden, die vor der Grausamkeit der spanischen Könige flohen, Unterschlupf gewährt. Im großen Militärlager Viminacium bei Belgrad gefundene tönerne Öllämpchen bezeugen die Vorliebe der Römer fürs Baden bei Kerzenlicht, bevor sie sich entlang der Donau nach Osten aufmachten, um die Daker zu bekriegen.13

Die noch existierenden Thermalbäder von Buda mit ihren prachtvollen Kammern und Kupferdächern sind Beweis einer ähnlichen Vorliebe für Reinlichkeit bei den Türken. Im Mittelalter kamen dann die Roma aus dem Osten nach Europa und verblüfften alle mit ihrem Geschick in Metallbearbeitung, Musik und im Zähmen von Tieren. Diese Reise Richtung Westen hält immer noch an, trotz der Versuche diverser westeuropäischer Regierungen, sie »nach Hause« zu schicken.

Dieses Buch hat verschiedene Ursprünge. Im Februar 1995 befand ich mich hoch über Afrika, ich flog an einem kristallklaren Wintermorgen aus Nairobi heim nach Budapest. Das Flugzeug folgte wie ein Zugvogel dem Verlauf des Weißen Nils neuntausend Meter unter uns. Stunde um Stunde betrachtete ich das blaue Band im Sand, manchmal breiter, manchmal schmaler, ausbuchtend, um Inseln und Marschen aufzunehmen, die Farbe wechselnd von Silber zu Blau und wieder zu Silber. Ich sah den Blauen Nil seine Wasser dem Weißen Nil zugesellen, sah, wie er Kairo wie eine Axt spaltete und sich dann in den großen See des Mittelmeers auffächerte. Wir überquerten Zypern, halb losgelöst, wolkengleich über dem Meer dahinschwebend, Anatolien, dann einen Winkel des Schwarzen Meeres, ein Teich. Bald schien der Nil wieder zu beginnen, dieses Mal eine blaue Linie, die sich durch grüne Ebenen wand, wie ein Messer durch vom Schnee noch weiße Berge schnitt. Mir kam der Gedanke, dass der Nil und die Donau ein einziger Fluss wären. Die Donau der obere Nil und der Nil die untere Donau. Und wenn die viktorianischen Entdecker Richard Francis Burton und John Hanning Speke ausgezogen waren, um die Quellen des Nils zu finden, warum sollte dann nicht ich versuchen, die Quellen der Donau wiederzuentdecken? Ägypten sei »das Geschenk des Nils«, schrieb Herodot.14 Konnte nicht Europa das »Geschenk der Donau« sein?

Ein weiterer Grund dafür, stromaufwärts zu reisen, ist ein politischer. Während der vielen Jahre, die ich in Budapest gelebt habe, in Steinwurfweite von der Donau, war ich Zeuge, wie der hässlichste Schandfleck, der den mentalen und physischen Horizont des europäischen Kontinents entstellte, die Masse aus Beton und Stahl, Wachtürmen und Befestigungen, Eiserner Vorhang genannt, abgebaut wurde. Als ich nach Osteuropa zog, traf ich Menschen, die noch nie eine holländische Tulpe gesehen hatten, nie das bloß ein paar Autostunden entfernte wunderbar blaue Wasser der Adria. Ich traf Menschen westlich des Vorhangs, die den Unterschied zwischen Budapest und Bukarest, Slowenien und der Slowakei nicht kannten und immer noch nicht kennen.15

Als Beobachter der Wiedervereinigung eines Europa, durch das die Donau fließt, war ich Zeuge der Arroganz des Westens gegenüber dem Osten. Für mich waren die Revolutionen von 1989 ein Triumph des menschlichen Geistes, eine Feier des Verlangens nach Freiheit in allen ihren Spielarten, einschließlich, aber nicht begrenzt auf ökonomische Freiheit. Ich sah keinen »Triumph des Kapitalismus«, keinen »Sieg im Kalten Krieg«. Das Niederreißen des Eisernen Vorhangs wurde inspiriert vom Wunsch, zu denken, zu schreiben, zu reisen, zu arbeiten und zu spielen, ohne den kalten Atem eines autoritären Staates im Nacken, der einem das Telefon abhörte, die Briefe öffnete oder die Freunde erpresste.

Wenn ich die Donau von Ost nach West bereise, dann ist es mein Vorhaben, Leben und Ansichten der Menschen darzustellen, die vom und neben dem Fluss leben. Ich habe nicht vor, den Osten zu romantisieren. Es gibt große ökonomische und strukturelle Probleme, die im bevorzugteren Westen des Kontinents im Großen und Ganzen gelöst sind. Ein Problem besteht vor allem darin, wie man die Geschichte erzählt. Große Brocken der jüngsten Vergangenheit sind noch nicht verdaut. Die grauenvolle Geschichte des Holocaust an den osteuropäischen Juden wurde erzählt und gut erzählt.16 Doch andere Tragödien sind weniger gut dokumentiert, und wenn, dann selten übersetzt. Etwa die der Roma, von den Kommunisten ihrer Musik und ihrer Mobilität beraubt im Austausch gegen eine Matratze in einer Arbeiterbaracke und einen Fabrikjob, dann durch den Einbruch des Kapitalismus um ihre Lebensgrundlagen gebracht. Dann gibt es noch die schrumpfende bäuerliche Bevölkerung Osteuropas, die ihr Land in den 1990er Jahren zurückbekam, nur um es in den 2000er Jahren an Spekulanten zu verlieren, oder einfach an das Unkraut, wenn ihre Kinder und Enkel sich weigerten, sich die Hände schmutzig zu machen. Und da sind die Kinder Rumäniens und Bulgariens, die zurückgelassen wurden, als ihre Eltern auf der Suche nach Arbeit nach Spanien und Italien verschwanden. Die Donau fließt durch eine Region multipler Identitäten, schon allein der sich ewig wandelnde Strom ist eine.

Im März 2011 machte ich mich vom Donaudelta in Rumänien auf, im März 2012 erreichte ich die Quellen der Donau in Deutschland; ich war dabei etappenweise unterwegs. Zwischen den Reiseabschnitten kehrte ich nach Budapest zurück, um mein Geld als Reporter zu verdienen und bei meiner Familie zu sein. Meist war ich mit dem Auto unterwegs, aber auch zu Fuß, per Fahrrad, Schiff, Eisenbahn, Flugzeug und, ein einziges Mal, auf dem Wanderweg im serbischen Kladovo, mit dem Skateboard meines Sohnes Matthew.17 Bei jeder Gelegenheit schwamm ich im Fluss, für gewöhnlich an frühen Sommermorgen, in den trägen Seen oberhalb von Staudämmen oder, kaum vorwärts kommend, gegen den Strom, der mit kräftigen sechs Stundenkilometern dahinfloss.

Das Rückgrat dieses Buches ist eine neue Reise donauaufwärts, doch ich habe hin und wieder auch andere Reisen in die Erzählung verwoben. Mitte der achtziger Jahre riskierte ich die Ausweisung aus Ungarn, weil ich über die Proteste gegen das Donaukraftwerk Gabčikovo-Nagymaros, zwischen Ungarn und der damaligen Tschechoslowakei gelegen, berichten wollte. Meine ungarische Geheimdienstakte enthält detaillierte Berichte über meine Gespräche auf diesen Märschen. »Der sogenannte Journalist macht kein Geheimnis aus seiner Sympathie für die Aufwiegler«, steht in einem meiner Lieblingseinträge, zusammengestellt von einem Informanten, der an der Fährenanlegestelle in Esztergom neben mir stand. Am 1. Mai 1986 wanderte ich mit Freunden durch die Donauauen im westungarischen Szigetköz, als es zu regnen begann. Uns war nicht klar, dass der sachte Regen die erste Strahlung aus dem Atomunfall von Tschernobyl tausend Kilometer weiter östlich mitführte. 1991 zog sich Ungarn einseitig aus dem Kraftwerksprojekt Gabčikovo-Nagymaros zurück, aber die Slowaken trieben es voran, für sie eine Sache des Nationalstolzes, trotz der Umweltschäden, die es verursachen würde. Im Oktober 1992 wurden entlang eines dreißig Kilometer langen Abschnitts vier Fünftel des Flusses in einen Kanal umgeleitet. Binnen Stunden trocknete das ehemalige Donaubett aus, die Fischer wateten knöcheltief im verbleibenden Schlick und versuchten die Fische zu retten, die sie sonst fingen. Die Leute auf beiden Seiten des Flusses rechnen immer noch nach, was das alles gekostet hat.

Im März 1999 sah ich vom Hotel Hyatt in Neu-Belgrad aus zu, wie die Granaten der Nato auf Batajnica niederregneten, den jugoslawischen Militärflughafen im Norden, und auf Pančevo, eine direkt an der Donau gelegene Ölraffinerie. 2001 filmte ich Pelikane im Donaudelta, ihrem größten noch verbliebenen natürlichen Lebensraum in Europa. 2005 kehrte ich mit einer weniger angenehmen Aufgabe ins Delta zurück: Ich sollte die Auswirkungen der Vogelgrippe auf die ländlichen Gemeinden dokumentieren, die für ihren Lebensunterhalt nicht nur auf Fisch, sondern ebenso sehr auf Hühner und Gänse angewiesen sind. Ende März 2011 fand man in der Milch von Schafen, die nahe der Donau in Rumänien grasten, die ersten Spuren von radioaktivem Jod nach dem Atomunfall im zehntausend Kilometer entfernten Fukushima.18

Durch Gespräche mit Menschen auf und neben dem Fluss habe ich auch versucht, über ihre Träume und Lieder, ihre Visionen und Albträume zu schreiben. In seinem Gefangenenlager auf Belene, einer bulgarischen Donauinsel, erlebte Todor Zanew zehn lange Jahre, wie die Mücken an seinem Körper zehrten und die Bettwanzen sein Blut saugten. In Orșova nahe dem Damm am Eisernen Tor träumt Ahmed Engur, ein früherer Bewohner der Insel Ada Kaleh, immer noch davon, wie er durch die Straßen der alten türkischen Stadt wandert, bevor die Gebäude gesprengt wurden und die Flut sie überspülte. Dass ein Mann von seinem ehemaligen Heim träumt, wäre nicht überraschend, aber auch andere erzählen dieselbe Geschichte. Aus seinem Traum wird eine neue Geschichte der vergangenen fünfzig Jahre gesponnen. Vielleicht wurde in einer der unseren nicht gar so unähnlichen Welt aus dem Kraftwerksprojekt am Eisernen Tor nie Wirklichkeit. Vielleicht wurden in Gabčikovo nie Dämme und Turbinen gebaut. Vielleicht wäscht Ferenc Zsemlovics in Zlatná na Ostrove immer noch Gold aus der Donau und musste letztlich doch nicht Straußenfarmer werden.

Colin Thubron hat geschrieben, die Stimme des Reisenden sei »die Stimme einer Zivilisation, die von einer anderen erzählt«. Ich hoffe, dass meine eigene Stimme in Stereo zu hören sein wird. Ich stecke mein Terrain ab, als Reisender aus dem Westen, der den Osten, und zugleich als Reisender aus dem Osten, der den Westen wiederentdeckt. Bevor ich aufbrach, dachte ich, ich hätte den Fluss mehr oder minder gekannt, doch ich war oft erstaunt, entzückt und nur gelegentlich enttäuscht. Es findet sich mehr Archäologie in diesem Buch, als ich erwartet hatte, es finden sich mehr Spuren der Römer und ihrer Vorläufer, mehr Essen und Wein und sogar mehr bemerkenswerte Charaktere, als ich zu hoffen wagte.

Das sind die Geschichten der Menschen an der Donau und ihres dunklen, traumverlorenen Stroms.

KAPITEL 1

DER BEGINN DER WELT

Die Thraker behaupten, dass jenseits des Istros Bienen hausten, die niemanden weiter vordringen ließen. Mir kommt diese Behauptung nicht sehr wahrscheinlich vor; denn diese Tiere können doch die Kälte nicht vertragen …

HERODOT1

Die Donau-Kahnschnecke (Theodoxus danubialis) erkennt man an ihrer Schale mit quer verlaufenden dunklen Zickzackstreifen auf hellerem, meist gelblichem Grund. Im Osten kann sie auch einfach schwarz sein … Sie bevorzugt sauberes, sauerstoffreiches strömendes Wasser und steinigen Untergrund. Wird dieses Wasser aufgestaut, verschwinden meist die Populationen.2

Der Stör, so sagt mir Radu Suciu, ist ein gewappneter Fisch. In meinem Kopf wimmelt es von Bildern langnasiger, schnurrbärtiger Kreuzritter, Unterwasserrittern in voller Rüstung, die sich das Bett der schlammigen Donau hinaufkämpfen, wild durch ihre Visiere stieren, vorangetrieben durch eiserne Flossen. Was er meint, ist, dass der Stör nicht wie die meisten anderen Fische eine Haut und ein langes, dünnes Rückgrat hat; dies ist ein Fisch, der ganz Knorpel ist, ein Muskelbündel, ein Meisterwerk an Design.

Wir sitzen in Radus Büro im Donaudelta-Forschungszentrum in Tulcea, dem Hauptort im rumänischen Donaudelta, umgeben von Gläsern mit sauer eingelegtem Fisch, Stößen von Papier, Computerbildschirmen und von Büchern überquellenden Regalen. Er reicht mir eine rumänische Übersetzung des Romans »Ein Goldmensch« des ungarischen Autors Mór Jókai3, der von der verlorenen Insel Ada Kaleh erzählt, weit donauaufwärts nahe am Eisernen Tor. Wer sich in die Donau verliebt, der verliebt sich in den ganzen Strom, mit seinem ganzen Körper, sogar in die Teile, die er nie gesehen hat.

An der Wand vor seinem Büro sind wie Kleiderhaken gebogene, grimmig aussehende Haken befestigt; die Fischer benutzten sie früher, um Störe zu fangen. Das ist kein Fisch, der nervös am Köder einer Anglerleine knabbert. Das ist ein Fisch, der hundert Jahre alt werden, mehrere Hundert Kilo wiegen und in seinem Bauch das Gewicht eines Mannes in Kaviar bergen kann.

In der Donau gibt es fünf Störarten: Beluga, Glattdick oder Glattstör, Russischer Stör, Sternhausen und Sterlet. Der Glattdick mit seiner kegelförmigen Schnauze und den abgerundeten Barteln ist der Ausrottung am nächsten, aber keine der Arten gedeiht wildlebend besonders gut. Es sind die ältesten Fische auf Erden, einst der Stolz des Flusses und am häufigsten vertreten. Die Daker fingen sie in einem Gatter aus zugespitzten, in das Flussbett gerammten Pfählen, zwischen denen Haken hervorragten. Das dakische Wort für diese Vorrichtung, garda, findet sich noch im heutigen Serbisch. Als die Römer die Daker in zwei blutigen Feldzügen von 100 bis 130 nach Christus unterwarfen, zwangen sie ihre Gefangenen, ihnen zu zeigen, wie man Störe fängt, bevor sie sie umbrachten oder auf die Sklavenmärkte trieben. An der Basis der Trajanssäule in Rom sind bärtige Männer in Hosen zu sehen, die sich unter die Schwerter der triumphierenden, an ihren rasierten Gesichtern und kurzen Tuniken erkennbaren Legionäre ducken. Ein Stück Kriegspropaganda statt einer getreuen Reportage, und so gibt es auch keine Bilder bärtiger Männer, die den Römern das Fischen beibringen.

Römische Ingenieure adaptierten das dakische Vorbild zu einer Art am Flussboden befestigter Hummerreuse. Diese Technologie hat sich kaum verändert. Im Museum im ungarischen Baja sah ich hölzerne, wie bei einem Gitterbett angeordnete Stäbe mit dazwischen herausragenden Haken. Die Haken verfangen sich im Panzer des Fisches, und je mehr er kämpft, desto tiefer bohren sich die Stacheln in seine Seiten. Diese »Fischzäune« werden dann neben den Booten hochgehievt und die Fische herausgenommen.

Radu klappert mit seiner Besucherbox, einer simplen Schuhschachtel voller Fischgräten und Fischskelette. Der Stör, erklärt er, »ist ein guter Kletterer und ein schlechter Schwimmer«. Er demonstriert mit seinen Armen, wie der Fisch seine Seitenflossen fest anlegt und sie auf seiner langen Wanderung donauaufwärts wie Anker im Flussbett versenkt. Er nimmt zwei Flossen aus seiner Schachtel, lang, gelb und scharf, mehr Strick- als Stecknadeln. Wenn die Fische die Katarakte erreichten, die einst bestimmte Abschnitte des Flussbetts säumten, verankerten sie ihre Körper mit diesen Flossen, schwammen ein Stück, verankerten sich dann wieder, um hinter einem passenden Stein zu rasten. Auf diese Art konnten sie das steile Gefälle aufwärts mit seiner reißenden Strömung überwinden.

Die ältesten Fossilien von Stören sind 200 Millionen Jahre alt. Diese Fische schwimmen länger in den Wassern der Erde, als der Mensch über seine Oberfläche wandert. In all der Zeit haben sie sich kaum verändert. Die Fossilien zeigen die lange Schnauze des Beluga, genauso wie er heute ist, wenn er in den Felsenriffen des Schwarzen und des Kaspischen Meeres auf der Jagd ist, so wie er ehedem im Pannonischen Meer auf Beute aus war. Der Beluga ist der Größte, er kann eine Länge von sechs Metern und ein Gewicht bis zu einer Tonne erreichen. Unter Wasser gefilmt, wirken Beluga-Störe wie riesige Raumschiffe, die sich zwischen den Galaxien winden und drehen.

»Manche Leute verbringen ihr ganzes Leben am Fluss und haben noch nie einen Stör gesehen«, sagt Radu. Der Fisch bleibt beharrlich nahe am Grund. Im Schwarzen Meer, wo drei der fünf in der Donau vorkommenden Arten den Großteil ihres erwachsenen Lebens verbringen, steigen die Fische ebenfalls selten an die Oberfläche. Bis zu einem rumänisch-norwegischen Forschungsprojekt 2009 war wenig über ihre Bewegungen im Meer bekannt.4 Kleine Satellitensender, von denen jeder so viel kostet wie ein Laptop, wurden damals an fünf halbwüchsigen Fischen befestigt, die dann in Hârșova, weit stromaufwärts, wieder in der Donau ausgesetzt wurden.

Am Abend im Restaurant Neptun in Tulcea, unter Wandbildern von dreizackschwingenden Göttern und vor Tellern mit gebratenem Fogosch, dazu gibt es Weißwein aus der Region Niculiţel, erzählt mir Radu mehr von dem Projekt. Am meisten Erfolg hatte man bisher mit Harald, einem zwölfjährigen Männchen, benannt nach dem König von Norwegen. Mit rüstigen sechzig Kilogramm machte er sich, einmal in der Donau ausgesetzt, sofort auf ins Meer. Den Winter verbrachte er in nur sechzig Meter Tiefe auf einer Unterwasser-Felsklippe im nordwestlichen Winkel des Schwarzen Meeres, vor Odessa. Das war der erste wissenschaftliche Beweis, dass sich die Störe im Winter dort versammeln, wo sie aber auch am gefährdetsten durch Fischdampfer sind – eine ausschlaggebende Information für Umweltschützer. Das auf Haralds Rücken befestigte kleine Gerät war so programmiert, dass es nicht die ganze Zeit sendete, sondern nur die Daten speicherte und dann an den Satelliten weitergab, wenn der Fisch schließlich an die Oberfläche kam. Genau 164 Tage nachdem er freigelassen worden war, tauchte Harald elf Kilometer vor der Krim auf. In dieser ersten Nacht schwamm er, laut den an den Argos-Satelliten übermittelten Daten, gleichmäßige fünfzehn Stundenkilometer – wahrscheinlich an Deck eines Fischkutters. Harald war gefangen worden. Er war vielleicht noch am Leben, aber nur gerade noch.

Eine andere bemerkenswerte Eigenschaft des Störs ist, dass er tagelang außerhalb des Wassers leben kann. Ein von serbischen Fischern 2003 in Apatin gefangener riesiger Beluga lag einige Stunden, in die Decke eines Fischers gehüllt, auf dem Strand, er konnte sich dann selbst befreien, über die Böschung ins Wasser rollen und entkommen. Bevor er ihnen entwischte, entdeckten die Fänger Bruchstücke etlicher rostiger Haken in seiner Flanke. Das war mehr als zwanzig Jahre nachdem der Damm am Eisernen Tor an der rumänisch-serbischen Grenze den Stör von seinen herkömmlichen Laichplätzen in den seichten Stellen der Donau zwischen Ungarn und der Slowakei abgeschnitten hatte. Der Fisch musste entweder oberhalb gestrandet sein, als der Damm gebaut wurde, oder neben einem beladenen Frachtkahn durch die Schleusen geschlüpft sein, um eine Wanderung fortzusetzen, die dem Rest seiner Spezies verwehrt blieb.

Nachdem Harald gefangen und an Land gebracht worden war, verfolgte der Satellit seine Spur noch zwei Tage lang. Das letzte Signal kam vom nahe gelegenen Bahnhof in Saki. Harald war dabei, per Zug landeinwärts zu reisen. Man fragt sich, was diejenigen, die ihn fingen oder kauften, über seinen Sender dachten. Das Projekt hat viel über die Migrationswege des Störs ans Tageslicht gebracht, aber nur wenige Fische haben so viele Informationen geliefert wie Harald. Einige sind nach wie vor nicht aufgetaucht. Andere taten dies zwar, doch waren die zum Satelliten gesendeten Daten verstümmelt. Der Himmel über dem Schwarzen Meer schwirrt von Signalen zwischen Schiffen der russischen Marine und der Militärbasis in Sewastopol. Das Schwarze Meer ist Russlands Fenster zu den Kriegen und Revolutionen im Nahen Osten.5

Das Prunkstück in Radus Schuhschachtel ist ein kleiner, vollkommen ausgebildeter Stör, kaum länger als seine Hand, das Geschenk seines Professors Nicolae Bacalbașa. Anfang der siebziger Jahre entdeckte Professor Bacalbașa, dass der Stör in der Donau am Aussterben war. Überfischung, Wasserverschmutzung und der Bau des Staudamms für das Elektrizitätskraftwerk am Eisernen Tor verwüsteten die Stör-Bestände, so wie beim Bau des Damms bei Wolgograd an der Wolga ein Jahrzehnt zuvor. 1980 wurde nur ein Zehntel der Menge von 1930 an Beluga-Stören gefangen. Bacalbașa widmete die letzten Jahrzehnte seines langen Lebens der Aufgabe, sie zu retten.6

Sein vordringliches Problem waren die Fischer – sie weigerten sich, ihm zu sagen, wo man den Stör fangen konnte. Das sei ein streng gehütetes Familiengeheimnis, erklärten die schweigsamen rumänischen Fischer, vom Vater an den Sohn weitergegeben. Unbeirrt parkte Nicolae Bacalbașa seinen Trabant neben der Brücke in Hârșova, wo die Männer immer noch am Straßenrand stehen, die Arme in die Seiten gestemmt, wie eine Parodie der riesigen Katzenfische in ihren Eimern oder in ihrer Phantasie, und wanderte stromaufwärts. Er hatte es nicht eilig. Jeden Abend schlug er sein Zelt auf, tagsüber plauderte er mit allen, die er am Flussufer traf. Nach drei Tagen wurde er fündig. Ein flüchtiger Blick in das hölzerne Fass neben einem einsamen Angler zeigte ihm seinen ersten Stör. Der Angler kam jedes Jahr aus dem fernen Moldawien, fischte, bis sein Fass voll war, salzte den Fisch ein und brachte dann seinen Fang nach Hause, um seine Familie den Winter über zu ernähren und den Überschuss zu verkaufen. Als er von dem gelehrten Professor gesagt bekam, dass er eine seltene Art gefangen hatte, flehte er seinen Gast betreten an, ihn mitzunehmen. Und das war das perfekte Exemplar, das Radu mir jetzt überreichte. Aus der Größe des Fisches und der Jahreszeit schloss Bacalbașa, dass der Stör in der Donau überwinterte, statt in die wärmeren, salzigeren Gewässer des Schwarzen Meeres zurückzukehren.

Bacalbașa und sein Team brachten sich mittels gelegentlicher kleiner Hinweise von Fischern und aufgrund eigener Beobachtungen selbst den Störfang bei. Junge, ausgewachsene Fische schwimmen alle drei bis fünf Jahre in die Donau, um zu laichen, während ältere Fische die Reise nur alle zehn bis fünfzehn Jahre unternehmen. Hybridfische – Kreuzungen zwischen verschiedenen Störarten – halten sich lieber im Fluss auf als andere, als zögerten sie, ins Meer zurückzukehren. Die Wissenschaftler stellten etwas Bemerkenswertes fest: Die Störe waren gerade dort am häufigsten, wo die Römer ihre Festungen gebaut hatten. Die Kommandeure der römischen Grenzgarnisonen, die Einheiten von hundert oder mehr Soldaten zu verköstigen hatten, waren nicht dumm. Die Störe lebten und pflanzten sich damals in der Donau in solchen Mengen fort, dass ihr saftiges rosa Fleisch und der schwarze Kaviar für die fern der Heimat stationierten Soldaten zum Grundnahrungsmittel wurden. Zivilisationen blühen auf und vergehen, aber die alten Gewohnheiten der Störe halten sich hartnäckig.

Während ich aus Westen Richtung Delta fahre, sehe ich meine ersten Windräder, gleichmäßig über die Hügel verstreut wie Löwenzahn oder die Vorhut einer römischen Armee. In der Dobrudscha bläst immer der Wind, er hält die Abhänge kahl und das Gras kurz wie in der Steppe. Dies ist der südlichste und westlichste Ausläufer der ausgedehnten Grassteppen des südlichen Russland, über die in prähistorischen Zeiten berittene Nomaden streiften. Sie hatten den vorherrschenden Nordwind im Rücken, im Rumänischen als crivăţ bekannt. Auf diesen niedrigen, abgeschliffenen Granithügeln müssen sie sich ganz zu Hause gefühlt haben. Ihre kurgans (Grabhügel) sprenkeln immer noch die Landschaft.

Die Dobrudscha, das Gebiet zwischen Donau und Schwarzem Meer, ist eine wilde, leere, schwermütige Landschaft, selbst den meisten Rumänen nicht sehr vertraut. Das einzige Buch, das ich in den besten Buchhandlungen von Bukarest über diese Region finde, ist ein massiver Band mit Fotos von Razvan Voiculescu, einem Mann auf einem Motorrad, das ihn an Orte bringt, die man ansonsten am besten über das Meer oder auf dem Pferderücken erreicht.7 Man findet dort Granitklippen wie die Zähne eines Riesen, mit einem einzigen Maulbeerbaum zu Füßen, wie die Gabe einer Göttin. »In der Tiefe der Nacht … höre ich immer noch das Knarren der am Fuß des Zitadellenhügels festgemachten Boote. Dort gibt es Straßen, die nirgendwohin führen, auf denen die Einheimischen aber hartnäckig unterwegs sind … Die Brücke mit dem verrosteten Geländer zwischen zwei trockenen Hügeln, die Unendlichkeit der Sonnenblumen, die unbeholfen zwischen Felder mit Beifuß und Steinen gestreuten Kirchen«, schreibt Voiculescu im Vorwort. Der Beginn der Welt, unterstreicht er, nicht ihr Ende. Der Ort, um meine eigene Reise die Donau aufwärts zu beginnen.

Die Dörfer, durch die ich fahre, haben türkisch klingende Namen wie Saraiu und Topalu, kleine Moscheen, kaum größer als ein Gebetsraum, und dünne, spitze Minarette. Die meisten der 80.000 in Rumänien verbliebenen Türken und Tataren leben in der Dobrudscha. Wie die meisten Invasoren durch die Jahrhunderte verliebten sie sich in die Gegend und blieben. Ihre Urenkelinnen, schüchterne Mädchen mit tiefbraunen Augen und einem Lächeln, das wilde Tiere zähmen könnte, verkaufen kleine Sträußchen violetter Blumen, ein Aufleuchten von Purpur in braunen Händen, während wir vorüberfahren.

Schafe trotten herdenweise am Straßenrand dahin, durch eine verwischte Rauchwolke, leewärts von einem Mann, der sich vornüberbeugt, um das letztjährige Gras abzubrennen. Fadenscheinige Teppiche hängen zum Trocknen auf einer Leine, Hühner picken in einem Hof neben einem mit Maiskolben vollgehäuften Holzschuppen, und ein Polizist mit weißer Uniformmütze schlendert argwöhnisch am Rand von Razvan Voiculescus Straße ins Nirgendwo.

Das Löwenzahnbild für die Windturbinen erweist sich als passender als jenes mit den Soldaten. In knapp zwei Jahren sind hier 450 davon entsprossen. Viertausend sind für die ganze Dobrudscha geplant, viele auf dem Weg der Millionen Vögel, die zum und vom Delta ziehen.

An einem windigen Märzmorgen fährt mich Daniel Petrescu nach Beștepe, das bedeutet auf Türkisch »Fünf Hügel«; von dort sieht man auf Mahmudia und den Sfântu-Gheorghe-Arm des Stroms. Daniel ist groß, lächelt gern und hat einen schweren Feldstecher um den Hals hängen. Der Razim-See unterhalb Beștepe ist der größte See Rumäniens und erstreckt sich beinahe bis zum südlichen Horizont. An der anderen Seite der Hügel schlängelt sich das südlichste Band der Donau die letzten hundert Kilometer bis zum Meer. Von Norden bläst eine heftige Brise, der Himmel ist grau. Eine einsame Nebelkrähe schießt in den Wind, dann kreuzen kleine Grüppchen Buch- und Bergfinken den Hügel Richtung Norden und zwitschern im Flug. »Keine spektakulären Vögel, aber sie können reisen, selbst bei diesem Wetter. Diese Hügel sind wie Mekka, ein Magnet für Zugvögel. Sie nähern sich von diesen flachen, feuchten Landstrichen und nutzen die aufsteigenden thermischen Strömungen an den Hügeln, um Höhe zu gewinnen. Und von hoch oben gleiten sie die andere Hügelseite hinunter, im Herbst Richtung Süden, im Frühling Richtung Norden.«

Nicht wegen der Vögel, sondern wegen der fragilen Moos- und anderen Pflanzenarten, die dort wachsen, sind die Hügel Naturschutzgebiet. Dort gedeihen wilder Thymian, Rasenschmielen, festuca genannt, Hagebuttenbüsche und sogar ein kleiner, verwachsener Maulbeerbaum, der in einem Graben Schutz gesucht hat. Zur Zeit der Kommunisten gab es in den Schulen eine Quote für Seidenraupen, die man von den Maulbeerbäumen holen musste, um die rumänische Seidenindustrie wiederzubeleben. »Es ist ein guter Baum für Vögel, da er so lange Frucht trägt«, sagt Daniel. »Die Rosenstare mögen sie sehr gerne.« Die Raupen fressen die Blätter der Weißen Maulbeere. Seit dem 1. Jahrhundert nach Christus wurde Seide aus China nach Europa gebracht. In der Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Justinian des Großen gelang es zwei Mönchen im Jahr 552, ein Bambusrohr voller Seidenraupen nach Konstantinopel zu schmuggeln.8 Seit dieser Zeit verbreitete sich der Maulbeerbaum rasch in Griechenland und auf dem Balkan, wo sich in vielen Gegenden eine eigene Seidenproduktion entwickelte.

In Tulcea teilt sich die Donau in drei Arme. Der nördlichste, der Chilia-Arm, krümmt sich entlang der ukrainischen Küste ins Schwarze Meer. Die Stadt Ismajil bewacht die Mündung, ihr Wappen zeigt ein christliches Kreuz auf rotem Hintergrund, es ist durch ein Schwert vom islamischen Halbmond getrennt.

Die schnellen Wasser der Donau

Sind nun in unsren Händen;

Der Kaukasus beugt sich unsrer Tapferkeit,

Russland herrscht über die Lande der Krim.

Horden von Türken, Tataren werden nicht länger

Unser friedlich-stilles Reich bedrohen.

Nie mehr wird der stolze Selim obsiegen,

wenn der Halbmond untergeht.9

Das Gedicht stammt von Gawriil Derschawin und lieferte den Text für die erste (inoffizielle) russische Nationalhymne; Selim war der türkische Sultan. Es wurde geschrieben, um an die Einnahme der angeblich unbezwingbaren türkischen Festung Ismajil durch den russischen Feldherrn Alexander Suworow im Jahr 1791 zu erinnern. Das Nachspiel war weniger heroisch. 40.000 türkische Männer, Frauen und Kinder wurden nach der Belagerung durch russische Soldaten ermordet, die von Haus zu Haus zogen – daher vielleicht der rote Hintergrund auf dem Wappen. Als alles vorüber war, ging Suworow in sein Zelt und weinte.10 Heute hat die Stadt beinahe 90.000 Einwohner und einen großen chinesischen Bevölkerungsanteil.

Der mittlere, der Sulina-Arm, ist der belebteste; er wurde von dem Engländer Charles Hartley begradigt, der auf dem Heimweg aus dem Krimkrieg war, wo er gekämpft hatte. Später verbreiterte er den Suezkanal und beteiligte sich an der Begradigung eines Wasserwegs durch das mäandernde Mississippi-Delta.11 An der Donau aber erprobte er sich, und hier begann auch der bis heute andauernde Kampf zwischen Transportunternehmern, die ihre Waren so rasch wie möglich auf den Markt bringen wollen, und Umweltschützern, die den gewundenen, kurvenreichen, sich stets wandelnden Fluss lieben.

Der südlichste Arm, Sfântu Gheorghe, Sankt Georg, der sich unter unserem Hügel in Beștepe bis zum Horizont erstreckt, ist der älteste. Von unserem Standort aus blicken wir hinüber auf Hügel, die vom Wind kahl gefegt sind. Es gibt wenige Bäume, und selbst die, die an diesem windgepeitschten Ort Wurzeln geschlagen haben, sind niedrig und gekrümmt. Und es regnet wenig, kaum vierzig Zentimeter pro Jahr.

Wo die Vögel Nahrung suchen, hängt vom Wasserstand im Delta ab. Im Spätfrühling, wenn Regen und Schmelzwasser stromaufwärts den Strom zu einer wirbelnden braunen Flut anschwellen lassen, müssen Pelikane und Watvögel weiter in die Felder hinein, um Fische zu fangen. Keine der beiden Pelikan-Arten an der Donau kann tauchen, sie brauchen also Flachwasser, um Futter zu finden. Menschliche Eingriffe in die Landschaft – etwa der Bau von Windfarmen – zwingen die Pelikane, immer weitere Umwege zu nehmen. Und je länger sie von ihrem Nest entfernt sind, desto weniger Überlebenschancen haben ihre Jungen. Daniels Geschichte erinnert mich an einen Fischer, den ich vor vielen Jahren auf den Lofoten vor der norwegischen Küste traf. Als junger, frisch verheirateter Mann war er selten länger als eine Woche auf seinem Boot. Mit den Jahren jedoch war er manchmal bis zu sechs Monate lang unterwegs, um die blassen Gewässer der Barentssee auf der Suche nach den zunehmend schwindenden Fischbeständen zu durchstreifen.

In der Zeit des Kommunismus versuchten die Behörden, den Razim-See von einem durch das Meer gespeisten Salzwassersee in einen von der Donau gespeisten Frischwassersee umzuwandeln. Es wurden Dämme gebaut, um ihn abzudichten, und vom Fluss her künstliche Kanäle gegraben. Das Experiment erwies sich als Katastrophe.12 Seit damals gab es immer wieder vorsichtige Versuche, diese Gegend in ihren natürlichen Zustand zurückzuversetzen. Ähnliche Anstrengungen wurden mit dem Land unternommen. Einige waren zunächst erfolgreich, doch die zunehmende Versalzung des Bodens zerstörte die Saaten. Der Traum des rumänischen Diktators Nicolae Ceaușescu, Sohn eines Dorfschusters, die »ländliche Rückständigkeit« zu überwinden, wurde vom Traum der Umweltschützer abgelöst, die ländliche Wildnis wiederherzustellen.13

Wir machen uns auf über die Anhöhen. Die Sicht wird immer schlechter, trotz des Windes; durch die Nebelfetzen hindurch erspähen wir in der Ferne hohe Windräder, als würden sie auf uns zumarschieren. Versuche der Baufirmen, sie im Delta zu errichten, sind an der Opposition der Grünen gescheitert, doch beinahe überall sonst in der Dobrudscha geht die Errichtung in halsbrecherischem Tempo vor sich. Der Hunger der lokalen Gemeinderäte auf Investitionen, auf Zuschüsse aus Brüssel und vor allem der heftige Wind der Dobrudscha lassen die Bauherren herbeiströmen. Daniel hat Angst um die Zugvögel, um jene Vögel, die das ganze Jahr über hier brüten, und macht sich Sorgen, welche Auswirkungen die Straßen und Stromleitungen, der Beton und der Stahl auf das empfindliche Ökosystem haben werden. »Dies ist eines der Mirakel Europas, und es sollte nicht durch derartige Investitionen zerstört werden. Aber in Rumänien gewinnt immer das große Geld. Die Bauunternehmer schnappen sich das Land, bauen zuerst und fragen später.« Auf der Straße von Mahmudia nach Tulcea folgen wir gestreiften Betonmischmaschinen, wie Wespen in einer Staubwolke. Spanische, deutsche, rumänische, französische und amerikanische Firmen wetteifern um dasselbe Land und denselben Wind. »Wir sind nicht gegen Entwicklung und nicht gegen Windenergie, aber wo immer etwas in diesem industriellen Maßstab geschieht, muss es einfach Schaden anrichten. Man kann nicht Tausende Windräder, jedes mit einem Durchmesser so lang wie ein Fußballfeld, sich drehen lassen, ohne dass es gröbere Auswirkungen hat. Die meisten Vogelarten sind nachts unterwegs. Die Vögel sind nicht dumm; ein paar Turbinen können sie ausweichen, aber was geschieht, wenn sie in Hunderte hineinfliegen? Für Fledermäuse ist es noch schlimmer. Die müssen gar nicht von den Schaufeln getroffen werden; der Druckunterschied, den die Rotoren erzeugen, lässt ihre Lungen beim Vorbeifliegen implodieren.«

Umweltverträglichkeitsprüfungen werden von den Investoren selbst finanziert und geben angeblich keinen Grund zur Sorge. Aber wenn Ornithologen den Boden unter den Windturbinen nach Vogelkadavern absuchen wollen, werden sie von privaten Sicherheitskräften verscheucht.

Wir fahren in einem weiten Bogen nach Murighiol – auf Türkisch »Purpursee«, benannt nach der besonderen Färbung des Wassers –, um Heringe, Lachmöwen und eine Schar Graugänse zu beobachten. Wie Ringe an den Fingern tragen die Pappeln die dunklen Nester der Krähen auf den Ästen. In vielen haben sich Rotfußfalken eingenistet. Auf dem Gebiet des Biosphärenreservats ist das Jagen verboten, also flüchten sich die Vögel hierher.

Wir fahren weiter, durch das Dorf Plopu, früher berühmt für seine Strohdachdecker. Die meisten sind auf der Suche nach besser bezahlter Arbeit donauaufwärts gezogen und dann nach Großbritannien oder in die Niederlande. Eine Reihe Blässgänse fliegt hoch über den Dächern, auf denen rote Ziegel die traditionelle Dachbedeckung ersetzt haben. Tausende Uferschnepfen stieben in einer Wolke aus einem ehemaligen Fischteich hoch. »Sie rasten bloß, fressen sich für die Reise nach Russland Speck an«, sagt Daniel. Wie Brachvögel haben auch Blässgänse Schnäbel mit biegsamer Spitze, um die Würmer und Krustentiere zu packen, die sie in den Löchern finden, welche sie in den Schlamm graben. Feines Zwergschilf bekränzt das Seeufer, die beste Qualität für Strohdächer, pures Gold vor einem grauen Himmel.

Als wir nach Tulcea kommen, peitscht der Regen gegen die Windschutzscheibe, und auf der Straße wimmelt es von Betonmischmaschinen. Ist denn kein Kompromiss mit den Windradbauern möglich?, frage ich. Könnte man nicht eine Karte zeichnen, um jene Gegenden frei zu lassen, die für die Zugvögel am wichtigsten sind? »Es gab einen Versuch, aber die Investoren, die jetzt kommen, behaupten, dadurch würden sie zugunsten derjenigen benachteiligt, die schon mit der Arbeit begonnen haben. Sie bauen, wo immer sie geeignetes Land finden. Ich fürchte, das wird so weitergehen, bis die Profite einbrechen oder bis es keine Subventionen mehr gibt.«

Grigore Baboianu ist Direktor des Biosphärenreservats Donaudelta. An der Wand seines modernen, verglasten Büros mit Blick auf den Hafen von Tulcea hängt ein Foto von ihm mit Jacques Cousteau. Der berühmte französische Umweltschützer befuhr von 1990 bis 1992 die Donau auf ihrer gesamten Länge und sammelte anhand der Schadstoffe, die sich in Muscheln angesammelt hatten, Informationen über den Gesundheitszustand und die Krankheiten des Stroms.14 »Sie haben Glück«, sagte er zu Baboianu in Tulcea, »verglichen mit dem Rhein ist die Donau immer noch ein lebendiger Strom, aber sie wird eine Menge Hilfe brauchen.«

In den 1950er Jahren brachte der Kommunismus eine hastige, rohe Industrialisierung in die immer noch in halb feudalem Schlummer versunkene Hälfte Europas. Aus dem ungarischen Dorf Pentele wurde zuerst Sztálinváros (Stalinstadt), dann Dunaújváros (Donauneustadt). Am Stromufer breiteten sich Städte aus, immer mehr Kinder wurden geboren, und die Menschen zogen vom Land in Wohnsiedlungen, die den Festungsanlagen mittelalterlicher Burgen glichen. Der gesamte von Menschen, Tieren und Chemie hinterlassene Abfall floss zurück in den Strom, der im Wurzelwerk und den Schilfbetten der verbliebenen Überschwemmungsgebiete verarbeitete und reinigte, was möglich war; was er nicht verdauen konnte, spuckte er ins Schwarze Meer. Anfang der 1990er Jahre gingen Hunderte der gigantischen Industriekombinate aus der kommunistischen Ära entlang der Donau bankrott und wurden stillgelegt. Nachdem die staatlichen Zuschüsse und die unermessliche bürokratische Energie des totalitären Staats verschwunden waren, hatten sie kaum noch Überlebenschancen gehabt.

Bei den landwirtschaftlichen Betrieben sah die Sache etwas anders aus. Die riesigen Staatsbetriebe und -kooperativen von der österreichisch-ungarischen Grenze bis zum Delta hatten die Felder an der mittleren und unteren Donau in Lebensmittelmaschinen verwandelt. Die Getreideernten fielen Jahr für Jahr ertragreicher aus, der Boden wurde mit chemischen Düngemitteln vollgepumpt. Am Fluss reihten sich Chemiefabriken aneinander, die Düngemittel und Sprengstoff produzierten. Die Fabriken leiteten ihre Abwässer in die Donau, Schleppkähne transportierten ihre Produkte zu den Märkten. Getreide wurde stromabwärts nach Constanţa geschafft und von dort weiter über die Weltmeere verschifft, oder stromaufwärts nach Österreich und Deutschland, um die kapitalistischen Massen zu ernähren. Als der Kommunismus zusammenbrach, stieß die Donau einen tiefen Seufzer der Erleichterung aus.15 Der Strom an Schadstoffen in den Sickergruben der Schweinefarmen versiegte von einer Flut zu einem Tröpfeln. Roma nahmen das Metall aus den stillgelegten Industrieanlagen am Flussufer und verkauften es als Altmetall, das über das Meer transportiert, geschmolzen und zu Stahlträgern verarbeitet wurde, um den Beton im Bauboom Chinas und Indiens zu verstärken. Die Kolchosen wurden in kleine Einheiten aufgeteilt, die Bauern erhielten Land zurück oder wurden finanziell für das abgegolten, was man ihnen in der großen Verstaatlichungswelle Ende der vierziger Jahre weggenommen hatte. Ein Jahrzehnt lang gab es einen Mangel an Traktoren, die klein genug waren, um die kleinen Grundstücke zu pflügen, während die sowjetischen und ostdeutschen Ungetüme im Unkraut vor sich hin rosteten. Im 21. Jahrhundert herrscht am Land immer noch Kapitalmangel. Einige Agrarindustrien sind wiederauferstanden, oft mithilfe von Fremdkapital. Stetig konzentriert sich der Landbesitz in immer weniger Händen, während die Söhne und Töchter der Bauern, die ihr Erbteil zurückerhielten, beschließen, es nicht zu bestellen und lieber zu verkaufen. Die Lebensmittelindustrie und die Brauereien in Rumänien und Bulgarien, Ungarn und der Slowakei wurden im Zuge der ersten Privatisierungswelle in den 1990er Jahren von ausländischen Unternehmen aufgekauft. Große Supermärkte und Hypermärkte haben teilweise die althergebrachten Freiluftmärkte ersetzt, wo die Leute Obst, Gemüse und frisch geschlachtete Hühner direkt vom Produzenten kauften; viele Märkte haben aber dennoch überlebt, denn das Essen schmeckt besser, man sieht, wer es produziert hat, und die Tomate auf dem Teller kann nur gewinnen, wenn sie nicht zweitausend Kilometer vom Großbetrieb herbeigeschafft werden musste, wo sie angebaut wurde.

Einige Fabriken haben die Arbeit wiederaufgenommen, die Abwassergesetze wurden verschärft. Große, EU-unterstützte Projekte, Kläranlagen auf dem neuesten Stand für Städte wie Wien und Budapest zu errichten, haben bei der Wasserreinigung geholfen. Zu den größten Verschmutzern zählen heute Plastikflaschen, die mit der Strömung abwärts treiben, ohne jede Botschaft, außer dass irgendjemand stromaufwärts so unbedacht war, sie am Ufer liegen zu lassen. Hinausgespült ins Schwarze Meer, zersetzen sie sich allmählich in einen giftigen Schlick auf dem Meeresgrund, der in alle Ewigkeit dort bleiben wird.

Aufgabe der Biosphärenverwaltung ist es, das Delta nach den Verwüstungen der Ceaușescu-Ära zu schützen und den lokalen Gemeinden zu helfen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Leider sind diese beiden Aufgaben nicht immer gut vereinbar. Die lokalen Bauern und Fischer ärgern sich über das, was sie als Einmischung der »Ökologen« betrachten, wie sie die Angestellten der Biosphärenbehörde nennen. Während der hohen Arbeitslosigkeit in den 1990er Jahren blieb den Männern im Delta nichts, als zu fischen. Einige verwenden Netze mit unerlaubt engen Maschen. Andere klemmen Elektroden an eine Autobatterie und werfen sie ins Wasser, worauf alles in weitem Umkreis getötet wird. Stromaufwärts in Serbien werden die seit dem Krieg in den 1990ern reichlich vorhandenen Handgranaten verwendet, um die Fische aus dem Wasser zu sprengen. 2006 hat Rumänien den Störfang verboten. Das war eine gute Sache, um den Fisch vor der Ausrottung zu schützen, aber ein schwerer Schlag für die Berufsfischer, besonders im Delta, für die der Stör der wertvollste Fang war. Man hat nach kreativen Wegen gesucht, wie die Fischer sich ihren Lebensunterhalt verdienen können. Einer davon, von Grigore Baboianu unterstützt, sieht vor, ihnen für eine Woche pro Jahr den Störfang zu erlauben. Aber es wäre schwierig durchzusetzen, da Bulgarien, Serbien und die Ukraine nach Jahren rumänischen Drucks gerade erst ein allgemeines Verbot des Störfangs in ihren Stromabschnitten erlassen haben. Eine andere Idee ist Aquakultur, wo Störe künstlich gezüchtet und dann wieder im Strom ausgesetzt werden. Es gibt bereits zwei Störfarmen in Rumänien, eine in Isaccea an der Donau, eine weitere in der Nähe von Bukarest. Das norwegisch-rumänische Projekt plant auf der Donau sogenannte »Stör-Touren«.16

Grigore lernte ich im Jahr 2000 kennen, als ich einen Film über Pelikane im Delta drehte. Er stellte uns ein Boot und einen Führer zur Verfügung, und wir bezahlten den Dieseltreibstoff für den Außenbordmotor. Die Behörde war so knapp bei Kasse, dass die Ranger kaum die weitläufige Halbwildnis im Delta patrouillieren konnten, um Wilderei zu verhindern. Der Trick bei Pelikanen, erklärte unser Führer, bestehe darin, sich wie sie zu verhalten. Da sie selber so riesige Vögel sind, werden sie kaum von anderen Lebewesen aufgeschreckt, etwa Menschen, die mit der Strömung auf sie zutreiben. Wir waren beinahe schon zwischen ihnen, bevor uns die nervöseren Vögel als kurzschnabelige Aliens ausmachten, während die klügeren, älteren Vögel oder vielleicht bloß jene, die schon oft genug gefilmt worden waren, auf dem stillen Wasser im Schilf ruhig blieben. Seit damals, bekennt Grigore, hat sich die finanzielle Lage nicht viel verbessert, obwohl die Grenzpolizei besser ausgerüstet, besser finanziert und in weit besserer Lage ist, das Delta zu schützen. Netze werden beschlagnahmt, und wer in der Laichzeit fischt, wenn es verboten ist, wird bestraft. Nur der schlichte Hecht darf im April und Mai gefangen werden.

An einem Sonntagmorgen in Tulcea mache ich mich auf die Suche nach dem Imam der Moschee, die etwas weiter oben am Weg zum Museum steht. Er muss schnell zu einem Begräbnis, wird aber später zurück sein, dann könnten wir uns unterhalten, so Gott wolle. Doch Gott hat anderes mit ihm vor, und zur verabredeten Zeit ist niemand in Sicht. Nach einer kurzen Wartezeit in der Kälte eines Märzabends läute ich an der Tür der Türkisch-Rumänischen Gesellschaft, ein der Moschee gegenüberliegendes niedriges Stadthaus mit bloß einem Stockwerk. Die Türken herrschten beinahe fünfhundert Jahre lang über die Dobrudscha und verloren das Gebiet erst in den 1870er Jahren. Die verbliebenen Türken wurden aus einer Herrscherklasse zu einer ethnografischen Besonderheit, aber einige ihrer Schätze haben sie intakt gehalten. Eine Frau kommt an die Tür und begrüßt mich wie den verlorenen Sohn. Eine Gruppe türkischer Frauen hat sich zu ihrem wöchentlichen Gesangstreffen versammelt: Vezza Sadula, Sabis Mahmet und Sabiha Ali leiten die Truppe. Einige Lieder, die sie bei Volksfesten zum Besten geben, haben sie bei ihren jährlichen Ausflügen in das türkische Mutterland gelernt. Aber die schönsten sind alte türkische Balladen aus der Dobrudscha, Balladen über die Donau.

Sah eine Rumänenmaid am Donaustrand …

Vater- und mutterlos, die Hände von Fremden gebunden,

»Rumänenmaid, sag mir die Wahrheit:

Wo ist deine Mutter?«

»Hab nicht Vater noch Mutter,

Bin ganz allein, ein einsam Waisenkind.«

»Du eine Waise, ich ein armer Junge,

Komm, lass uns heiraten!«

»Heiraten?«, meinte sie.

»Und beide gefesselt an dieses Heimwehland?«17

Warum ein rumänisches Mädchen neben der Donau Heimweh verspüren sollte und woher der türkische Bursche kam, bleibt im Nebel der Zeiten verborgen. Tulcea war immer eine Stadt für Menschen auf der Durchreise. Es blickt hinaus auf das Meer und zurück, donauaufwärts.

Nach vier, fünf Liedern sind die Damen allmählich müde, und eine hat ihr Handy verloren. Bald ist die ganze Gruppe überall auf der Suche danach, sogar der Schlusschor fällt dem Verschwinden der neuen Technologie zum Opfer. Zurück im kleinen Hotel am Hafen, esse ich noch einmal Barsch und gehe dann früh zu Bett, eingeschläfert vom Geräusch der Wellen, die an das Hafenbecken schwappen, und vom Gekreisch der Möwen.

KAPITEL 2

DIE KNIENDE EICHE

Brave Leute waren sie die Gefährten, sie murrten nicht

über die Mühe noch über den Durst noch über die Kälte,

sie verhielten sich nach Art der Bäume und der Wogen

die den Wind hinnehmen und den Regen

hinnehmen die Nacht und die Sonne …

GIORGOS SEFERIS, DIE ARGONAUTEN1

Das Schiff von Tulcea den Sulina-Arm des Donaudeltas hinab ist voller Menschen und Säcke mit Hafer für die Pferde von Sulina, Windeln für seine Babys, griechischen Orangen, spanischen Tomaten, bolivianischen Bananen, vor allem aber Menschen. Frauen mit geblümten Kopftüchern, durch Einkaufstaschen an Bord verankert, zwei schmalhüftige halbwüchsige Mädchen, die ihre Großmutter besuchen wollen, ältere Liebespaare, die einen Neuanfang wagen und ins Kielwasser des Schiffes starren, vor allem aber ein Heer von Männern mit gemeißelten Gesichtern, die in ihren grellblauen Arbeitsjacken am Heck brüten oder schweigend in Grüppchen an Deck rauchen.

Weiden säumen das Ufer, die alten Männer des Stroms, ihre krummen, knorrigen Wurzeln langen hinunter ins Wasser für einen letzten Trunk. Rasch wachsende Kanadische Pappeln drängen sich hinter ihnen, wie Teenager, die unbedingt auf eine Party wollen. An einer Stelle ist ein ganzer Wald von ihnen massakriert worden, dem Erdboden gleichgemacht. Die Donau riecht wie das Meer, an dem ich aufwuchs, in Süd-England, doch grüner, stechender, nicht salzig. Aber Möwen gibt es, und Kormorane. Schwarz, mit gekrümmtem Hals, dann wieder geradrückig wie Soldaten mit gelben Nasen, langsam und würdevoll in ihren Bewegungen wie Chirurgen, hocken sie auf Treibholz am Ufer und tauchen anmutig wie Pfeile ins Wasser. Vereinzelt Fischreiher, Kraniche, Störche und Silberreiher. Nur Enten und Gänse fliegen in Gruppen. Alle anderen fischen für sich, mit einem achtsamen Auge auf die anderen Vögel oder auf die Einmischung der Menschen ins Leben am Ufer.

Die Fähre braucht viereinhalb Stunden von Tulcea ins sechzig Kilometer östlich gelegene Sulina. Das Delta hat die größte Dichte an Röhricht weltweit. Das Schwarze Meer, in das sich die gelbbraune Donau ergießt, ist ein Inlandsee, vom Atlantik durch das langgezogene, träge Mittelmeer getrennt. Kühne Seeleute, die die Straße von Gibraltar, die Dardanellen und den Bosporus passierten, müssen sich gefragt haben, ob sie je die Bucht von Biskaya wiedersehen würden. Da und dort haben sich Sanddünen und Erdkrume genügend verfestigt, dass darauf ein Dorf entstehen konnte. Milea 23 heißt nach Meile 23 ab der Donaumündung. C.A. Rosetti am Chilia-Arm ist eine nach einem Romancier des 19. Jahrhunderts benannte Ansammlung von Dörfern, obwohl die Siedlung eigentlich von Schafhirten geschaffen wurde, deren Schafe gerade genug trockenes Land fanden, um sie durch die Brandung zu locken. Constantin Rosetti war auch Politiker, seine Unterstützung der Revolution von 1848 brachte ihn beinahe an den Galgen. Die Bitten seiner englischen Frau Mary, der Schwester des englischen Konsuls in Bukarest, retteten ihn; später war er Polizeiminister.2

Ich gehe hinaus aufs Deck in den grauen Nachmittag. Die Donau ist grau, der Himmel ist grau, sogar die Wälder auf beiden Seiten des Flusses sind in Grautönen gehalten. Die Szenerie wird nur von den gelegentlichen bunten Flecken der Bauernhäuser und den vom Meer verfärbten Rümpfen vorbeiziehender Schiffe aufgehellt. Stromaufwärts transportieren sie Bauxit aus Russland oder Brasilien zu den Aluminiumfabriken von Tulcea. Andere Schiffe sind leer, liegen hoch im Wasser, unterwegs, um aus den Stahlwerken in Galaţi Pressspanplatten zu holen: die Belfin und die Burhan Dizman, beide in Istanbul registriert, und die Ayane aus Valletta.3 Wie rare Vögel blicken einsame Matrosen von den Gangways auf unsere überfüllte Stromfähre nieder, in eine Welt, in der Familien und Freunde noch gemeinsam reisen. Wären meine Kinder hier, würden wir winken. Stattdessen suche ich die Decks mit meinem Feldstecher ab und versuche einen Blick auf den Mann am Steuerrad zu erhaschen, auf sein Gesicht, das sich von der Dämmerung abhebt.

Am Ufer liegen ein paar Dörfer, auf jeder Seite hingebreitet, als wäre der Fluss die Hauptstraße. Neben Häusern mit Stroh- oder Blechdächern sind akkurate Stöße aus geschnittenem Schilfrohr hoch aufgeschichtet. Ruderboote mit schwarz geteerten Rümpfen sind an hölzernen Bootsstegen vertäut oder liegen wie Muscheln kopfüber neben dem Weg. Die Häuser sind aus Holz, die Fensterrahmen blau, weiß oder grün gestrichen. Vom Ufer her ertönt Hahnenkrähen. Weiße Gänse watscheln selbstgefällig dahin, wie Ärzte bei der Visite im Krankenhaus. Fischer, immer zu zweit, legen ab in ihren schwarzen Booten. Einer rudert, während der andere geduldig die Schwimmkörper eines Netzes durch die Finger gleiten lässt.

In dieser Flusswelt ist kein unbedeckter Kopf zu sehen. Die Fischer tragen Mützen im Kosakenstil, flache Kappen oder Baseballmützen; die älteren Frauen Kopftücher oder Wollhauben. Sogar die Vögel scheinen Mützen aufzuhaben, Federbüsche. Der Fluss ist breit, zehn bis vierzehn Meter tief, und es gibt genügend Platz, um alle möglichen Wasserfahrzeuge passieren zu lassen. Die blau-rot-gelbe rumänische Flagge, das Blau-Gelb der Ukraine und die niederländische Trikolore knattern im Nachmittagswind.

Unser Schiff erreicht Sulina pünktlich um halb sechs. Eine Schar Menschen, dazu ein Pferd mit Wagen warten am Kai. Die Landungsbrücke rasselt hinunter, dicke Stahltrossen werden um die Poller geschlungen. Eine Blase Gelächter platzt, während Verwandte einander in die Arme fallen, ältere Paare einander ein Küsschen auf die Wange drücken und dann nach ihren Taschen greifen. Ein großer Teil der Stadtbewohner, die niemanden abzuholen haben, ist an das Ufer geschlendert, um die Neuankömmlinge in Augenschein zu nehmen. Durch Schilfgürtel und Wasser vom Rest der Welt abgeschnitten, ist für sie die tägliche Ankunft des Schiffes aus Tulcea ein Orientierungspunkt in ihrem Leben.

Ich nehme ein Zimmer im Hotel Jean Bart, ein Stück entfernt von der Landungsstelle der Fähre am Hafen gelegen. Es hat eine Wildwest-Anmutung, schwere Holztäfelung im Speisesaal und mehrjährige Geranien auf dem Fensterbrett meines Schlafzimmers mit dem hohen Plafond, sie riechen nach schwarzem Pfeffer. An der Außenfassade ist das Hotel dunkelrot und weiß gestreift, wie Vanilleeis mit Himbeersirup. Ich muss mich beeilen, ans Schwarze Meer zu kommen, bevor es dunkel wird.

An der Schotterstraße Richtung Osten zum Meer, außerhalb von Sulina, liegt der städtische Friedhof. Als ich an das Tor komme, tritt gerade ein junges Paar heraus. Ihre Augen sind nicht gerötet vom Friedhofsbesuch, ihre Lippen aber vom Küssen. Eine kleine Kapelle steht da mit einem hölzernen Turm und einer Wetterfahne; direkt dahinter liegt die britische Abteilung des Friedhofs. An der Donau wirken die englischen Namen besonders trostlos, so fern vom Tyne und der Themse, dem Mersey und dem Medway.

»Geweiht dem Andenken von Thomas Rutherford aus Houdon Pans, England, Chefingenieur des Dampfers Kepler aus North Shields, der am 26. Tag des Juli 1875 in Sulina im Alter von 36 Jahren aus diesem Leben gegangen ist.« Darauf folgt ein Zitat aus Psalm 39: »Siehe, meine Tage sind eine Handbreit bei dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir.« James Mason von der Phoenician aus Sunderland starb in Sulina am 3. Oktober 1852, zwanzig Jahre alt. William Simpson starb in Sulina am 28. Juli 1870, 46 Jahre alt. Sein Grabstein wurde von der Europäischen Donaukommission errichtet, »bei der Mr. Simpson dreizehn Jahre lang als Werkmeister beschäftigt war«. Ich frage mich, ob der alte Charles Hartley dem Begräbnis beiwohnte, seinen geneigten Kopf der sengenden Augustsonne aussetzte, als man Bill Simpson in die Erde senkte. Auf dem nächsten Stein stehen vier Namen, Matrosen von der HBMSRecruit, alle zwischen 1859 und 1861 in der Donau ertrunken. Wie konnte ein Schiff so unachtsam sein, in nur zwei Jahren vier Seeleute zu verlieren? »Und Peter Gregor, Heizer, der an den Auswirkungen des Klimas starb.«