Die Dornen der Weißen Rose - Johannes Albendorf - E-Book

Die Dornen der Weißen Rose E-Book

Johannes Albendorf

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Beschreibung

Geschichten von emotionaler Wucht und zartem Einfühlungsvermögen Johannes Albendorf folgt Sophie Scholl auf einem imaginären Gang durch das heutige München. Er begibt sich auf die Spuren des Pedells, der sie und ihren Bruder Hans verraten hat. Wir begegnen Willi Graf, der so vieles mit sich selbst ausmachen musste. Oder einer von Schmerz betäubten jungen Frau, die die Wohnung ihrer soeben hingerichteten Geschwister aufsucht. Einem jungen Mann, der erfahren muss, dass sein Großvater 1943 an den brutalen Morden beteiligt gewesen ist. Den Liebschaften von Hans Scholl oder der Witwe von Kurt Huber, Jahrzehnte nach den Geschehnissen. Die »Weiße Rose« hat sich wie ein Dorn in ihrer aller Leben hineingebort ... Elf verschiedene, fundiert recherchierte Perspektiven fügen sich hier mit großer sprachlicher Schönheit zu einem fein verwobenen literarischen Gesamtbild zusammen. Überarbeitete Neuauflage

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Seitenzahl: 170

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Die Dornen der Weissen Rose
Impressum
WIE EIN SCHWAN SEI DEINE SEELE
DER SCHNEE RIESELT LEISE
DER NSDAPEDELL
DIE GROSSE SCHWESTER
DIE GEWISSHEIT DES UNGEWISSEN
ANDERE STRASSENSEITEN
DAVON HABE ICH NICHTS GEWUSST
PASSION
JUBILÄUM
BRIEF AN CHRISTOPH
WELLEN

Johannes Albendorf

Die Dornen der Weissen Rose

Auf den Wegen von Sophie Scholl und ihren Gefährten

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-158-0

E-Book-ISBN: 978-3-96752-658-5

Copyright (2020) XOXO Verlag | Überarbeitete Neuauflage

Umschlaggestaltung und Buchsatz: Grit Richter, XOXO Verlag

unter Verwendung eines Fotos des Autors

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149, 28237 Bremen

Alle Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Für

Irmgart Benesch-Kaschenz

In Liebe und Dankbarkeit

WIE EIN SCHWAN SEI DEINE SEELE

Gerade trat ich auf eine Schneckenleiche im Keller. Sie war schwarz und tot und hatte kein Haus. Ihre Schleimspur war getrocknet, glitzerte aber noch verlogen.

Die Schnecke muss durch ein offenes Fenster in den Keller gekrochen sein, tja, und dann ging es immer weiter in die falsche Richtung, immer tiefer ins Dunkle hinein, bis es kein Entrinnen mehr gab - und sie starb.

Die Schnecke ist wie das deutsche Volk. Es verreckt auf seiner Schleimspur.

Ich lasse sie dort unten kleben und steige hoch aufs Dach. Mich dürstet nach den Sternen über Berlin.

Gerade ist kein Fliegeralarm.

Wenn Liebende zu den Sternen schauen, spiegeln sich ihre Augen in ihnen, und dieser Widerschein rieselt auf die Geliebten wie transzendenter Schnee. Noch vor einiger Zeit habe ich oft in den Himmel geschaut und mich unaufhörlich gefragt, ob die Sterne gerade auch für dich die Dunkelheit erhellen? Ob du bemerkst, wie durch ihr Leuchten mein Abglanz auf dich fällt?

Fragst du dich gerade, ob die Sterne auch auf mich scheinen? Ob auch ich genau in diesem Moment meine Blicke zu ihnen emporhebe, so dass sie in deinen Augen schimmern?

Ich sehne mich danach, dass du dich das fragst!

Ich klettere auf den Dachboden, weil dort niemand ist, und weil auch Du so oft die Stille gesucht hast; jeden Abend bist Du im Perlacher Forst spazieren gegangen, damals, als wir zusammen in München studiert haben.

Es ist staubig auf dem Dachboden und ich ertaste mir meinen Weg zu einer der Luken, ich öffne sie, muss mich etwas verbiegen, um rausschauen zu können.

Ich will den Sternen näher zu sein.

Um dir näher zu sein.

Ich denke an deine Dachstube in München, wo wir zusammengewohnt haben, über Monate hinweg, und abends haben wir oft gemeinsam die Sterne betrachtet und geredet und geredet und auch zusammen geschwiegen. Es gibt wenig Leute, mit denen man schweigen kann, ohne dass dieses Schweigen gehaltlos wird - und Du bist einer von diesen Menschen.

Ich hätte nicht gedacht oder gehofft, jemanden wie dich zu finden, jemanden, der mich sofort versteht, jemanden, in dessen Augen ich schaue - und sofort das sehe und fühle, was meine Empfindungen ergänzt – zumal in diesen Zeiten, die das Härteste und Grausamste der Menschen an die Oberfläche gebracht haben.

Jemanden wie dich zu treffen, das ist außergewöhnlich, besonders, einzigartig. Jeder Mensch erlebt das nur einmal im Leben. Zumal, wenn man jung ist, dann brennt sich dieses Erlebnis umso tiefer ins Herz und wird dort lebenslang schlummern wie ein Schatz, wie Samen von unermesslich kostbaren Pflanzen, ja, du hast Samen in mein Herz gestreut, unbeabsichtigt vielleicht, doch mit jedem Wort und jedem Lächeln von dir wurden sie tiefer in alle Zellen meines Seins gedrückt, von jeder deiner Berührungen befeuchtet, von deinem Licht angestrahlt, und so weiß ich, diese Samen werden quellen und aufgehen, solange ich lebe und in den herrlichsten Farben erblühen, nur in mir; ihre Farben und ihre Düfte werden mich erfreuen und mich mich von Dir Träumen machen ... mein Leben lang.

Und jeder Duft, jedes Nicken eines Blumenkelchs in meinem Herzen wird diese Sehnsucht in meinem ganzen Wesen in Wallung setzen.

Ich bin mir nicht sicher, ob, wenn ich einst sterben werde, dieser mein innerer Garten verblühen oder ob diese meine Liebe stärker als der Tod sein wird. Vielleicht wirst auch du erst im Tod verstehen, was diese Zeit mit dir für mich bedeutet hat.

Ich kann nicht einfach normal weiterleben, noch nicht.

Was heißt schon normal weiterleben in Zeiten wie diesen?

Ich will leben, trotz allem.

Ich sehe dich noch vor mir, wie wir an Schädeln rumgemessen und Leichen präpariert haben.Von einem Moment auf den anderen konntest du dich in dich zurückziehen - gerade das machte dich so anziehend, das kann ich dir sagen. Und ein Lächeln von dir war ein Geschenk. Meine innere Wolkendecke brach auf, jedes Mal.

Du musst das doch gefühlt haben, ich hab es dir nie sagen können, aber du musst es doch gefühlt haben!

Schon damals ahnte ich: Kein Mensch würde jemals auf Dauer und wahrhaft in dein Herz eindringen und dort verweilen können, nein, nicht auf Dauer, du sehntest Dich immer nach der Stille, nach der Weite, nach den Ebenen, auf denen du ganz allein sein konntest. Nur in der Stille könntest du Gott finden, so hast du es mir mal erklärt, aber ich habe es nicht verstanden … jeden Abend gingst du im Perlacher Forst spazieren, du hast die Einsamkeit gesucht und an dieser Stille durfte und konnte niemand teilhaben.

Um diesen inneren Raum zu beschützen, musstest du dich verschließen – so erkläre ich mir das immer.

Ich schaue in die Sterne und frage mich, ob du überhaupt noch an mich denkst – ich denke immer an dich, jeden Tag ...

Ich lese Bücher und weiß, welche Sprache und Gedanken dich ansprechen würden.

Ich höre Musik und weiß, du würdest in ihr versinken, und vor mir sehe ich deinen Gesichtsausdruck beim Anhören der Sinfonien und Passionen, der Ausdruck deiner Gesichtszüge so weich und offen wie jedes Mal, wenn wir uns liebten.

Ich schaue in den Schimmer eines Weinglases und weiß, Du würdest es genießen, diesen Wein im Bodega in München zu trinken.

Ich sehe dem Spiel zwischen Licht und Schatten in den Baumkronen zu und weiß, Du würdest am liebsten deine Arme ausbreiten, deinen Kopf in den Nacken legen, deine Augen schließen und dich von diesem Lichtspiel bescheinen lassen, innerlich zu tanzen beginnen.

Na ja, Soldaten tanzen nicht auf diese Weise, aber du weißt, was ich meine.

Erinnerst du dich, wie wir mit den Rädern über Land gefahren sind?

Wie wir an schönen Aussichtspunkten gerastet haben oder dort, wo uns etwas Alltägliches besonders gefallen hat? Etwa die Art, wie sich ein Bauernhof in die seichten Wellen der bayerischen Landschaft schmiegt oder dort, wo ein Bach zwischen den Tannen sprudelt, als wüsste er von nichts - oder sogar angesichts der ausdrucksvollen Augen einer Kuh, in denen sich die Bergsonne widerspiegelt.

Einmal haben wir Hirsche gesehen, sie waren so sanft und elegant und wir waren bezaubert von ihrer Grazie. Du sagtest, ich sei wie ein Hirsch, aber ich würde mein Geweih verbergen.

Erinnerst du dich, wie wir bergab gerast sind, deine Haare vom Fahrtwind verweht wurden und dein ganzes Gesicht so wagemutig gestrahlt hat?

Mir ist, als hätten wir uns von den staubigen Landstraßen gelöst wie von einer Sprungschanze, als wären wir in den Himmel geschossen, juchzend vor lauter Lebensfreude, und wie zwei Schwäne vom Wind getragen worden, aufeinander zugeschwebt, hätten uns berührt, nur flüchtig, H & H oder H hoch 2, und dann hätten uns die Lüfte hierhin und dorthin getragen, die Käfige der Menschen wüssten wir so weit, weit unter uns.

Ich würde dich in der Luft umschlingen und dich nie wieder loslassen wollen, und ich würde alsbald merken, wir könnten dann nicht mehr fliegen, nein, wir wären auf die Erde zugerast, in atemberaubendem Tempo.

Um nicht zerschmettert zu werden, muss ich Dich loslassen.

So sind wir irgendwann getrennt gelandet und können nicht mehr gemeinsam in den Himmel aufsteigen. Für uns gibt es in der Tiefe kein Zuhause, nicht auf dieser Erde, nicht in diesem Leben. Wir bewegen uns zwischen den Käfigen der anderen wie in einem Zoo, weil du es nicht anders gewollt hast. Du spähst voller Sehnsucht in diese Käfige hinein und bist bereit, dir die Flügel stutzen zu lassen.

Und dabei redest du immer von Freiheit.

Vorhin kam J. und brachte mir ein Flugblatt. Ich erkenne deine Gedanken, deine innere Handschrift, ich erinnere mich daran, wie wir uns verschiedene Möglichkeiten ausgedacht haben, Hitler zu töten, wie wir angefangen haben, irgendwelche Reden gegen ihn zu schreiben – aber über dieses Stadium bist du mit mir nicht hinausgelangt.

Ich spüre das Flugblatt in meiner Hosentasche.

Nein, du hast es nicht mehr ertragen können, du hast die Schwelle überschritten, dein Herz so erstickt von all dem Grauen und der Ungerechtigkeit dieser Welt.

Davon, was der Mensch dem Menschen antun kann.

Das Flugblatt ist eine Aufforderung.

Soll ich mich diesem Risiko aussetzen?

Als wir zusammen in München wohnten, am Perlacher Forst, da wundertest du dich, dass auf einmal Blumen in unserer kleinen Dachstube blühten.

Eines Tages bist du völlig durchnässt nach Hause gekommen und es war kalt in München, -24°C.

Ich saß am Ofen und las, war es etwas von Green oder Gide? Ich weiß es nicht mehr, es muss einer von diesen beiden gewesen sein. Ich sah auf und du standest im Zimmer wie ein tropfender Schneemann und nach und nach befreitest du dich von den nassen Schichten deiner Kleider.

»Ist das kalt«, sagtest du und schlüpftest unter die Bettdecke.

Ich las weiter, aber dein Anblick hatte mich aufgewühlt.

»Willst du mich nicht wärmen?«, fragtest du.

Und da nahm ich dich in die Arme, zum ersten Mal.

Erinnerst du dich an die Berge? Im Winter fuhren wir ins Sommerhaus.

Manchmal waren wir eingeschneit, tagelang, und ich habe gewünscht, es würde ewig so bleiben. Der Schnee schützte uns. Wir lagen am Feuer und Du wärmtest mich und ich wärmte dich. Vor uns knisterten die Flammen und draußen fiel der Schnee, mehr und mehr, und ich war so unsagbar glücklich über jede einzelne Flocke, es war, als schützte uns der Himmel. Endlich konnten wir frei sein und ich bin heute noch der Meinung, wirklich in dein Herz gesehen zu haben, dieses eine Mal.

Du hast von den Fahrten deiner Jugend gesprochen, von deiner großen Liebe, wegen der du vor Gericht gelandet warst und von der Schande, die dich zerfressen hat, von deiner Scham den Eltern gegenüber, insbesondere deiner Mutter, die in Liebe und Sorge dieselben Worte wählte wie Himmler.

Ich habe deine Tränen gesehen, aber du bemerktest sie gar nicht.

Ich habe sie weggeküsst und vielleicht war das ein Fehler.

Du hast mir Gedichte vorgelesen, die du in der damaligen Zeit geschrieben hast und sie berührten mich und ich wünschte, du würdest eines Tages auch solche Gedichte über mich verfassen.

Du hast mir Lieder vorgesungen aus der bündischen Jugend, seh ich Schwäne nordwärts fliegen, aber dann hast du dich selbst unterbrochen und gesagt, als erwachsener Soldat trüge man nicht mehr dieselbe Weite im Herzen wie als junger Mensch und sollte solche Lieder nicht mehr singen.

Wie ein Schwan sei deine Seele … diese Zeile ist mir in Erinnerung geblieben und wieder denke ich an uns, wie wir in luftigen Höhen nicht mehr zueinander können.

Ich starre in den Berliner Nachthimmel und weiß in der Dunkelheit den unerreichbaren Norden als das Ziel deiner jugendlichen Sehnsucht.

Das Ziel meiner erwachsenen Sehnsucht bist immer noch du.

Als der Schnee um das Sommerhaus herum geschmolzen war, da verliebtest du dich in ein junges Mädchen. Wie alt war sie, 15 oder 16?

Wem wolltest du da etwas vormachen?

Ich habe zu tief in dein Herz geschaut und da hast du dich wieder verschlossen, als wäre es ein Reflex, und ich verstand deine Verunsicherung.

Die Sirenen heulen in der Ferne.

Fliegeralarm.

Ich bleibe stehen. Ich kann jetzt nicht die Treppen runter und in den Luftschutzkeller fliehen.

Dort könnte ich die Sterne nicht sehen und ich würde den Gedanken nicht ertragen, dass du gerade die Sterne in München betrachtest, an mich denkst, für mich leuchtest, und ich wäre in dem Moment nicht bereit, deinen Glanz widerspiegeln zu können.

Siehst du die Sterne auch?

Ich ertaste das Flugblatt in meiner Tasche. Ich liebe deine Sprache und ihre Wucht, deine Gedanken und ihre Stringenz.

Natürlich habe ich längst einen Vervielfältigungsapparat auch für Berlin besorgt.

Natürlich habe ich längst beschlossen, Gleichgesinnte zu rekrutieren, so wie Du und Alex es in München tut.

Natürlich habe ich längst im Geiste begonnen, eigene Flugblatttexte zu entwerfen.

Natürlich werde ich das alles für dich tun, Hans.

Aus Liebe.

DER SCHNEE RIESELT LEISE

Es ist noch früh an diesem Tag im Januar. Willi kann keine Ruhe finden, war erst in den Morgenstunden in einen starren Schlaf gefallen, der nur Energie gefordert und keine Erholung geschenkt hat – wie so oft in letzter Zeit. Unruhig war er schließlich aufgestanden, hatte die Vorhänge zurückgezogen und in einen unendlichen Wirbel von Schneeflocken geblickt. Der Himmel war nicht auszumachen.

Schnell und flüchtig hatte Willi sich angezogen, kein Frühstück zu sich genommen – nur nach draußen hatte es ihn getrieben.

Während er nun kräftig ausschreitet und weißer Atem sein Gesicht kühlend-klirr umspielt, wird er sich darüber klar, dass die Hektik der Großstadt ihn wieder vereinnahmt hat – wie immer, nie kann er sich davon frei machen, es passiert einfach. Er mag den Himmel über München nicht, diesen so verhangenen und verschlierten Stadthimmel.

Wie er all die ungewollten Rituale in der Kaserne hasst! Er hat sie immer schon gehasst, dieses dumpfe Strammstehen ohne Verstand, das laute Geschrei ohne Sinn. Stets den gleichen Phrasen lauschen zu müssen und sich nichts über deren Verlogenheit und Verderbtheit anmerken lassen zu dürfen.

Plötzlich sehnt sich Willi in die Schweiz, wünscht sich, nur einmal über die Grenze treten zu können, nur zehn Meter über die Absperrung hinweg – und alles aus sich herausschreien zu können, einfach diesen ganzen Druck aus seinem Herzen entfahren lassen.

Es müsste eine Explosion geben.

Um frei atmen zu können, zieht es ihn in den Englischen Garten, immerhin. Der Schneefall verstummt und endlich ist es still, natürlich still, kosend still.

Um diese Zeit sind nur wenige Menschen unterwegs und Willi liebt es, über frisch verschneite Flächen zu laufen, seine Spuren zu hinterlassen, das frische Knirschen unter seinen Sohlen zu hören, ja, es nicht nur körperlich, sondern auch als Widerhall in seiner Seele zu spüren.

Von zögerndem Morgenlicht begleitet setzt er seinen Weg fort. Bei jedem Schritt fliegt seine Füße umtanzender Schneestaub auf, von keinem Menschen berührt und beschmutzt. Er setzt sich an Willis brauner Hose fest, abertausende von Schneekristallen, keines dem anderen gleichend, was für eine unermesslich reiche, was für verschwendete Schönheit!

So wie seine Hosenbeine hat der Wind auch die kahlen Baumstämme auf den ihm zugewandten Seiten geweißt. Willi hört einen Specht irgendwo hoch oben in den kahlen Kronen klopfen, Blaumeisen und Grünfinken hüpfen in den Ästen, Eichhörnchen schnuppern nach Nahrung. In diesem Teil des Englischen Gartens sind die Vögel ungewöhnlich zahm, das hat er auf seinen zahlreichen Gängen feststellen können. Er bleibt stehen und sieht sich sofort von einigen spähenden Kohlmeisen zutraulich umgarnt.

Er hat nicht daran gedacht, den Vögeln etwas zum Fressen mitzubringen. Und doch kann er nicht widerstehen und streckt seinen Arm aus, hält der kleinen Kohlmeise, die aufgeregt zwitschernd in einer hohen Hecke ganz nah an ihn herangeflogen ist, seine bloße Hand hin.

Willi tut so, als verberge er etwas in seiner Handfläche, und nun kann auch der Vogel nicht widerstehen und kommt geschwind und flügelhuschend zu ihm geflogen, lässt sich auf seinen Fingern nieder. Willi freut sich über die kleinen, feinen Krallen auf seiner Haut und lacht in sich hinein, um die Meise mit ihrem gelben Bäuchlein nicht zu erschrecken. Der Vogel schaut mit emsig-wendigem Köpfchen in Willis Hand, so, als könne er seinen schwarzen Äuglein nicht trauen - dann hält er sekundenlang inne und fliegt mit einem eindeutig entrüstet klingendem Tschilpen davon.

Willi schaut ihm nach, lange.

Seinen Arm läßt er ausgestreckt, die Handfläche zum Himmel hin geöffnet.

Immer noch hört er den Specht emsig in der kahlen Baumkrone hämmern, das Zwitschern der kleinen Vögel ist jedoch mit einem Schlag verstummt. Willi legt seinen Kopf in den Nacken, hebt seine Augen in den von schneebedeckten Ästen durchzogenen Himmel empor und sieht einen Raben vorüberfliegen, einen Zweig im Schnabel tragend.

Leise beginnt es wieder zu schneien und Willi steht immer noch da, kraftlos und von Flocken umweht.

Nicht weitergehen müssen, mit allem eins werden, still, ein Teil der Natur werden, rein und klar, nie mehr kämpfen, nichts mehr ertragen müssen, friedvoll und urweise, den Geschmack der verschwenderisch schönen Schneeflocken auf den Lippen und ihre Kristalle in den Wimpern.

Abrupt dreht er sich um und schlägt den Weg nach Hause ein, er beginnt zu frieren und folgt seinen ihm nun entgegenstrebenden Fußspuren, verwischt sie dadurch, tilgt sie gleichsam aus.

Er muss Reisevorbereitungen treffen: Heute und morgen wird er mit seinen alten Freunden vom »Grauen Bund« diskutieren, sie zu überzeugen suchen. Sie sind doch mit ihm einer Meinung über den Boten des Antichristen, Hitler, diese Inkarnation des Bösen … aber wie werden sie reagieren, wenn er, wie beiläufig, die Flugblätter aus dem Futter seiner Uniform zieht, ihnen den Vervielfältigungsapparat hinstellt? Willi hat sich keine Worte zurechtgelegt, hierfür nicht, er hofft, dass er, der sonst so wortkarg, seine alten Freunde mit aller Intensität überzeugen kann, aus der inneren Emigration, wie sie es nennen, auszubrechen. In diesen Tagen, so wird er ihnen sagen, sei jeder Christ gefordert, im täglichen Leben konsequent zu sein. Auch er, Willi, glaube an die Kraft des Gebets, ausnahmslos, ohne Vorbehalte, in allen Lebenslagen. Und doch, man müsse doch auch politisch etwas tun, was sei mit dem Tun?

Überhaupt, was würde Christus tun?! Diese alles entscheidende Frage würde er ihnen stellen – was würde Er tun?

Dies würde der springende Punkt sein, das weiß Willi. Aber wird er die Skepsis der alten Freunde überwinden können oder wird ihre Angst größer sein, die Ergebnisse ihrer Analysen anders als die seinen?

Die Gefahren seien doch viel zu groß, so hört er sie schon reden, das Risiko stünde doch in keinem Verhältnis zu dem, was man mit einer Flugblattaktion erreichen könne!

Es ist ja alles so vorhersehbar.

Leider.

Inzwischen schreitet Willi wieder zügiger voran. Längst hat er grundsätzliche Zweifel überwunden, endlich, nach so langen inneren und einsamen Kämpfen. Er will und muss versuchen, noch mehr Böses zu verhindern. Er ist erbost über Hitler, der es wagt, den Namen des Allmächtigen in seinem Mund zu führen; dieser angeblich Allmächtige hat mit dem christlichen Gott so gar nichts gemein - doch die schafsköpfigen Massen bemerken das natürlich nicht.

Oh ja, gleichzeitig meint und verkörpert Hitler die Macht des Bösen. Die dämonischen Mächte sind real und existent, nur Dummköpfe können das angesichts all der barbarischen Verbrechen noch leugnen.

Warum aber haben so furchtbar wenige das Grollen am Horizont bemerkt? Es richtig gedeutet? Warum widersagt jetzt niemand hörbar dem Bösen?

Willi tastet nach dem bronzenen Kruzifix in seiner Manteltasche; seit seinem ersten Einsatz in Russland trägt er es stets bei sich. Ohne dass er es ansehen muss, weiß er um den leidenden Jesus und seine durchbohrten Hände, die er auch im Todeskampf immer noch umarmend zum Betrachter hin geöffnet hält.

Es hört auf zu schneien.

Die Hände tief in seinen Manteltaschen vergraben geht Willi an der Isar entlang. Der Fluss schimmert dunkel im weißen Winterlicht und ein einzelner Schwan begleitet Willis Weg, was ihm zwar durchaus pathetisch, aber dennoch oder gerade deswegen auch tröstend anmutet. Voller Majestät gleitet der Schwan durch das Wasser, spielender Wind in den aufgestellten Federn.

Jetzt wird Willi von einer fiebrigen Unruhe ergriffen, er kennt dieses Gefühl, es ist in den letzten Tagen und Wochen zu seinem ständigen Begleiter geworden.

Was für ein Leben!

Kaserne, Universität, die »Arbeit«, wie Willi es nennt, die Arbeit mit Hans und Schurik und Sophie und Huber – und der Kreis scheint immer größer zu werden. Es muss doch bald etwas geschehen, denkt Willi, soviele Flugblätter sind schon verteilt und verschickt – warum schreit niemand auf, es muss doch etwas geschehen?

Zwischendurch braucht er das Fechten, das ihn ablenkt, das Singen im Bach-Chor, das ihn aufbaut und ihm neben dem täglichen Besuch der Heiligen Messe auch ein metaphysisches Fundament für all sein Tun gibt.

Zwischendurch Bombenalarm, immer wieder.

Und schlussendlich fühlt er sich immer so allein …