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Luis wollte niemals ein Held sein. Doch er besitzt besondere Fähigkeiten und spezielle Sensibilitäten, die er sich bei früheren Aufenthalten in extremen Ländern angeeignet hat. Luis will die Menschen in diesen Ländern verstehen. Er will sie anfassen, fühlen, riechen und ein Stück weit ihre Lebenssituation teilen. Und er will sein Lager mit den attraktiven Töchtern dieser Länder teilen. Nach Aufdeckung einer weltweiten Verschwörung von geheimen Diensten schließt sich auch Luis dem organisierten Widerstand an. Doch schon bald gerät ihre Organisation in das Fadenkreuz der Repression ...
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Seitenzahl: 403
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Umschlagentwurf: Willi Engelmann
Prolog
Spanien 1983
Erfahrungen
2018
Pachanganistan
Epilog
Mein Dank gehört meinen Freunden Willi Engelmann und Ruth Schomerus, die mir mit vielen Anregungen und inhaltlichen Verbesserungsvorschlägen während der langen Entstehungsphase dieser Erzählung geholfen haben.
Ein spezieller Dank geht auch an Bernd Schrader, der einen aktuellen Beitrag zum Verständnis der Stadt Paris und seiner ebenso mutigen wie pittoresken Bewohner eingebracht hat und besonders auch an Anne Rodemann, die die mühevolle Arbeit des Korrekturlesens übernommen hat.
Der Flughafen von Havanna ist selbst am Tage kaum einladender, als eine verglaste Lagerhalle.
Reisende jedoch, die hier um Mitternacht bei Unwetter landen, können glatt in Depressionen versinken, wenn es ihnen nicht gelingt, eines der wenigen Taxis zu kapern und in ein Hotel zum ersten Mojito zu flüchten.
Sonya hat absolut keine Eile. Sie steht auf dem verlassenen Parkplatz vor dem Ausgang des Terminals mit ausgestreckten Armen wie die Christusstatue von Rio und lässt sich die westliche Zivilisation vom Regen abspülen. Neben ihr fühlt sich Luis wie ein begossener Pudel. Er merkt, wie sie sich von ihm entfernt, aber er kann sie weder mit Worten noch mit Blicken erreichen. Diese Begrüßung ihrer Heimat erscheint ihm unwirklich und sieht irgendwie beängstigend aus.
Er hatte natürlich schon von der Regla de Ocha gehört, ohne jedoch jemals etwas Genaues zu erfahren. Vielleicht ist ja auch alles nur Einbildung, Fantasien seiner übermüdeten Sinne, aber Sonya ist echt weggetreten. Auf jeden Fall kann er sie jetzt nicht allein lassen. Also harrt er schweigend neben ihr aus und lässt sich durchregnen.
Bienvenido en Cuba ...
Endlich kommt ein alter Chevrolet angerollt, der offensichtlich zu dieser nächtlichen Stunde als privates Taxi noch Kunden sucht.Der ehrwürdige Straßenkreuzer schleicht mit blubberndem Motor derart nahe an Sonya vorbei, dass sie aus der Erstarrung erwacht und ihre Arme sinken lässt. Luis erscheint es einen Moment lang beinahe, als würde sie die riesigen Heckflossen dieser chromblitzenden Blechkiste wie die Flanken eines Hund tätscheln, der seine zurückgekehrte Herrin begrüßt. Aber Sonya ist jenseits dieser Welt. Sie gibt kein klares Zeichen und bringt keinen Ton heraus, um die Karosse zu stoppen.
Der Chevy wendet am Ende des Platzes und nimmt einen zweiten Anlauf. Dieses Mal hält der Wagen neben ihnen und ein Schwarzer steigt aus. Er zieht eine Sonnenbrille aus seiner Hemdtasche und stellt sich wortlos neben seinem Gefährt in Positur. Fasziniert erkennt Luis, dass der auffällige Farbton der Kleidung des Fahrers genau auf die Pinkfarben seines Oldtimers abgestimmt ist und seine Füße in zweifarbigen Schuhen stecken, wie es in Harlem zu Zeiten von Sammy Davis Jr. in Mode gewesen ist.
Dieser Kubaner mit seinem Mafioso Outfit, der sich nun neben ihnen durchregnen lässt, könnte gut und gerne eine Hinterlassenschaft von Nat King Cole sein, die der US Sänger der Insel hinterlassen hat, als er 1957 von dem großen Boss Mayer Lansky zur Eröffnungsfeier des Casino Hotels Havana Riviera am Malecón verpflichtet wurde.
Luis nickt leicht mit dem Kopf und der Fahrer setzt seine Sonnenbrille ab zum Zeichen, dass sie nun einen Deal haben. Er öffnet die hintere Tür, verstaut ihr nasses Gepäck im Kofferraum, steckt sich eine Zigarre an und pafft gelbe Schwefelwolken. Mit lässigem Schwung verfrachtet er seine Sonnenbrille in der Ablage, klappt einen mordsmäßigen Aschenbecher aus dem Armaturenbrett, versinkt im Vordersitz und hüllt sich in Schweigen. Und wartet, wartet … Als keine Ansage kommt, sucht er einen Musiksender im Autoradio und rollt los, ohne nach dem Ziel zu fragen.
Im Auto erwacht Sonya aus ihrer Starre und zieht Luis die nassen Klamotten aus. In ihren Bewegungen schwingt jetzt eine laszive Frivolität mit, die er nie zuvor bei ihr bemerkt hat. Schweigend lässt sie sich von ihm entkleiden und legt sich in einer derart vulgären Positur auf die Rückbank, dass es ihm den Atem nimmt. Ihr Blick wandert über seinen Körper und verweilt auf dem entblößten Geschlecht, bis ein pulsierender Blutstrom seinen Unterleib durchströmt.
Wärmewellen laufen Luis die Wirbelsäule entlang und sein Körper verharrt in unkontrollierbarem Zittern, bis sein bohrendes Schamgefühl langsam nachlässt. Er fühlt Sicherheit in sich wachsen, Entschlossenheit und einen aggressiven Stolz, der aus der Begierde kommt. Endlich löst sich die Anspannung und er dringt in die mysteriöse Frau neben sich ein, ohne sie anzufassen, die Hände in die Polster gekrallt. Bei Salsa Gedudele und dem rhythmischen Quietschen der Rückbank vereinigen sich ihre schwitzenden Körper in einer Ekstase ohne Zärtlichkeit, während der Fahrer die Radiosongs lauthals mitsingt und sie in ein schützendes Netz aus Lärm und Qualm einhüllt.
Sonya ist angekommen.
Ewigkeiten später stoppt der Fahrer den Wagen:
»Wir sind in Guanabo. Wo wollt ihr eigentlich hin?«
»Pinar del Rio.«
»Schafft meine alte Lady nicht mehr, ich kutsche nur in Habana. Aber wie wäre es, wenn ihr heute Nacht hier bleibt? Ihr könnt meine Hütte haben, ich schlafe im Auto. 20 Pavos. Meine Tochter wird euch morgen wecken und Frühstück machen.«
»Que edad tiene tu hija?«
»Pues - mas o menos como tu, preciosa.«
»Gut, gegen Mittag. Aber nicht deine ´hija`. Komm selber, oder schick deine Frau.«
»´ta bien, entendido compatriota.«
*
Luis will nicht mit nach Pinar del Rio, wo schon ein ganzes Dorf die Rückkehr der verlorenen Tochter erwartet. Es gibt nichts Liebenswerteres als eine kubanische Großfamilie. Aber all der Rum mit Süßigkeiten, die ernsten Gespräche, neugierigen Tuscheleien und koketten Blicke können einem Europäer ganz gut zusetzen. Und sicherlich werden nachts in enger Behausung tausend Ohren gespitzt. Die Mutter wird ihre Tochter am Morgen beiseite nehmen und in frappierender Offenheit fragen, ob sie sexuell auch immer zufrieden gestellt wird, während der Vater den ´Gringo` in philosophische Diskussionen über die Weltlage verwickelt.
»Fahr du doch ein paar Tage hin, ich könnte solange in Playas del Este was mieten. Im Itabo oder so und mich ein wenig in Habana umsehen.«
» - und den Jeringueras nochmal die Geschichte von La Habana und dem Namen erzählen, meinst du wohl?«
»Aber nein doch, ich werde schweigen wie ein Fisch, versprochen!«
»Die sind auch mit stummen Hechten zufrieden.«
»Hör zu Sonya, wir reisen sicher noch in andere Welten. Auf den Philippinen, in Brasilien und anderswo gibt es auch haufenweise süße Girls.«
»Da gibt es auch knackige Männer.«
»Nicht auf den Philippinen, dort sind die knackigen Männer auf See.«
»Jetzt hörst du mir mal zu, mein Bester. Was woanders passiert, ist mir egal. Aber hier in Kuba lasse ich dich keine Sekunde aus den Augen und damit basta. Gewöhne dich an den Gedanken, oder reise alleine weiter.«
Natürlich will Luis die Reise nicht alleine fortsetzen. Er könnte es gar nicht, das ahnt diese Muchacha wohl immer noch nicht. Oder doch - sie muss es wissen. Keine Frau rührt auf dem Grunde von Seele und Leidenschaft, ohne tiefe Einsichten zu gewinnen. Und schon gar nicht diese Frau ...
»Du meinst, eine Geschichte wie im Taxi könnte sich auch mit anderen Frauen wiederholen?«
»Unter gewissen Umständen - ich dachte du wüsstest das!«
»Aber dann könnte das auch in anderen Ländern passieren.«
»Möglich, aber da hätte es keine Bedeutung. Nicht so wie hier.«
»Dann erkläre mir doch, was eigentlich geschehen ist. Was zum Teufel hat uns dazu gebracht, auf dem Rücksitz eines Taxis so eine Orgie zu veranstalten? Die Karre hatte keinen Rückspiegel, ok, aber der Fahrer hatte auch hinten Augen, das habe ich genau gespürt. Und ich habe solch einen unbändigen Stolz empfunden Sonya, dabei schlafen wir doch beinahe jede Nacht zusammen. Was ist mit uns geschehen?«
»Hat es dir gefallen?«
»Es war überwältigend - ja, aber auch irgendwie unheimlich.«
»Das war eine sakrale Vereinigung. So etwas geschieht einfach - der Ort ist egal. Jeder Kubaner versteht das.«
»Aber ich muss es auch verstehen.«
»Was mit dir geschehen ist, musst du selbst herausfinden, Lou. Mich hat Yemaja gesucht, das weiß ich bestimmt.«
»Und wer ist Yemaja?«
»Eine Macht, einige sagen auch Göttin. Sie erzeugt Begierde und verlangt Fruchtbarkeit.«
»Dann war das also ein Fruchtbarkeitsritual?«
»Nicht ganz, aber meinetwegen, ein Fruchtbarkeitsritual. Das kommt dem schon nah. Deine Rolle musst du in deiner eigenen Geschichte suchen. Für mich warst du in der Situation ein völlig Fremder«. Und - etwas zögernd:
»deshalb war ich ja so weggetreten!«
»Ich kenne aber kein christliches Fruchtbarkeitsritual. Das gibt es irgendwie nicht.«
»Dann geh in deiner Erinnerung noch weiter zurück. Irgend etwas muss es geben, sonst hättest du nicht so reagiert. Eine dominierende Sehnsucht, ein ursprünglicher Daseinswunsch, der schon immer in dir schlummert. So etwas Ähnliches. Und vergiss nicht, dass du genauso von Sinnen warst, wie ich.«
Luis denkt an germanische Rituale von Vereinigung und Fruchtbarkeit und nimmt sich vor, da mal nachzulesen. Aber dann versucht er zornig den Gedanken wegzuschieben. Ihm ist das Ganze zu fremd und zu mystisch. Doch noch immer spürt er etwas von dieser elementaren Begierde in sich.
Das kann hier ja noch heftig werden!
»Hier in Kuba bin ich also gezeichnet?«
»Wir sind beide gezeichnet!«
»Und jeder im Lande kann das erkennen?«
»Nur Eingeweihte.«
»Und - wer, bei allen Göttern - ist eingeweiht?«
»Alle Kubaner.«
»Na großartig, dann laufen hier also Ausländer unter lauter Wissenden herum. Und in der Provinz bin ich dann der Einzige, der nichts schnallt. Wie der Dorftrottel!«
Am nächsten Abend fahren sie nach Guane, in den westlichen Zipfel von Kuba. Unter Fliegen, Hühnern, Schweinen, Kindern und tausenden von familiären Umarmungen vergessen sie in der unwirklichen Landschaft der Kiefernwälder und Tabakpflanzungen, dass so etwas wie Internet überhaupt erfunden wurde. Einen Ausflug zur nahegelegenen Karibikküste mit den traumhaften Stränden lehnen sie jedoch ab, zur großen Enttäuschung und zum Unverständnis der ganzen Familie. Gar zu gerne hätten besonders die Jüngeren Sonya die moderne Entwicklung vorgeführt, die an der Küste mit Luxushotels, Bungalow Parks, neuen Straßen, Diskotheken und Boutiquen Einzug gehalten hat, seitdem Kuba wieder diplomatische Beziehungen mit den Vereinigten Staaten aufgenommen hat und die Yankees ins Land strömen.
Aber wie kann man einem Kubaner erklären, dass ´Fortschritt` für manche Träume auch tödlich werden kann?
Sie erzählen kaum etwas von Europa, und schon gar nichts von der totalen Überwachung. Es gibt keine Worte oder Bilder, dies der kubanischen Welt zu vermitteln. Natürlich ist Überwachung kein Fremdwort für Kubaner, sie müssen seit über 50 Jahren damit leben. Aber bei ihnen steckt ein Denunziant dahinter, die Post, Telefonamt oder jemand vom CDR. Also Personen, die sie verachten, und zur Not vermeiden können. Die Ziel des Spottes und der Witze werden und die vor allem nie wissen, was die Leute in Wahrheit denken.
Was in der bewunderten Welt des Konsums gerade geschieht, wäre niemals verständlich zu machen.
Die Mutter interessiert nur eins ...
An einem der Abende, als die Frauen am Grillfeuer im Hof ein Essen vorbereiten, nimmt sie Luis für ein paar Worte beiseite. Die Männer, die ihn wie stets in Auseinandersetzungen verstricken, akzeptieren sofort diese ungewöhnliche Bitte. ´aha, jetzt kommt´s!`
Sie deutet auf Sonya. »Luis, ich bin doch ihre Mutter. Ich sehe, wie stark und glücklich sie ist. Ist es das Leben in Deutschland, das sie so gemacht hat?«
Luis wählt seine Worte mit Vorsicht: »Ich denke nicht, dass es so einfach ist. Es ist schwer zu erklären, aber irgendwie hat Sonya ihre eigene Stärke entdeckt. Es ist ihr eigenes Werk. Aber ich glaube jetzt, dass sie dafür ein Leben in Europa brauchte und auch so etwas wie eine Wiederentdeckung ihrer Identität in Kuba. Beides war notwendig.«
»Nun will meine dritte Tochter auch nach Deutschland oder Spanien. Bitte, was kannst du mir raten?«
»Ob sie sich da zurechtfindet, liegt schon an ihr selbst und hängt ganz von den Umständen ab. Ganz allgemein würde ich behaupten, dass die Möglichkeiten sich zu verlieren größer sind, als die Chance sich zu finden. Viel größer - leider!«
»Darf ich dich noch etwas fragen, Luis? Ich sollte nicht darüber reden, ich weiß, aber ich bin nun mal ihre Mutter. Luis - liebst du Sonya?«
»Ich kann mit diesem Begriff nicht so viel anfangen. Ich weiß es einfach nicht. Aber was ich genau weiß ist, dass jede Nacht ohne sie für mich eine sinnlose Nacht ist.«
Sonya löst sich vom Feuer und schlendert zu ihnen herüber. Das beendet die Fragerei.
Aber der Ausdruck ihres Ganges und die Sprache ihrer Augen beantworten der Mutter alle Fragen dieser Welt.
Vor Erleichterung wird sie sogar kokett: »Ich mache am Feuer weiter. Ihr beide solltet ins Haus gehen und euch ein wenig hinlegen. Das ´Asado` braucht noch mindestens eine Stunde!«
Als Sonya und Luis sechs Wochen später unter Begleitung des halben Dorfes La Habana erreichen, erscheint ihnen der Flughafen Jose Marti als genau das passende Terminal, um Abschied zu nehmen.
Im Warteraum der Abflugzone erreichen sie die ersten Berichte von einem Zusammenbruch der Währung in Europa, der bereits einen Monat zuvor begonnen hat.
* * *
Frankfurt Rhein/Main scheint zur Zeit der einzige Flughafen für Interkontinentalflüge zu sein.
Nach der Zollkontrolle werden alle Ankommenden in eine riesige Halle geführt, wo jeder am Eingang eine Nummer erhält. Flughafenangestellte weisen die Reisenden in regelmäßigen Wiederholungen darauf hin, dass alle Passagiere die neuen Einreiseformulare ausfüllen müssen, die an dem Bearbeitungstresen nach Nummernreihenfolge abgegeben werden müssen.
»Setzen Sie sich bitte an einen der Bearbeitungstische, die Formulare finden sie dort in den Kästen.
Für in Deutschland geborene Personen sind die 2 Formulare in den grünen Kästen zutreffend, für naturalisierte Deutsche Staatsbürger die jeweils 3 Formulare in den gelben Kästen.
EU Bürger anderer Nationalitäten und Ausländer mit gültiger Aufenthaltsgenehmigung begeben sich bitte in den angrenzenden Raum C zu Ihrer Linken.
Falls sie Hilfe beim Ausfüllen der Formulare benötigen, wenden sie sich an einen der Beamten mit dem großen H auf der Uniform.«
»Ist doch immer wieder schön, nach Hause zu kommen«, denkt Luis, »wenn bloß Sonya nicht abdreht. Sie hätte besser erst einmal dableiben sollen.«
»Das ist ja lustig Lou, schlimmer als in Kuba. Genau so ein Chaos und noch mehr Papiere.
Und diese schwüle Luft in der Halle. Ich habe mir schon einen Mückenstich eingefangen. Dagegen war der Flughafen von Havanna ja direkt komfortabel.«
»Tranqui, muyer. Das sieht alles irgendwie improvisiert aus. Ich helfe dir bei deinem Papierkram. Keine Ahnung, was so ein Währungscrash alles bewirkt. Hier ist ein Formular für die Übertragung der Eurokonten in die neue Währung. Deutsche Neumark, sieh an ...
Es scheint, dass der Euro schon jetzt nicht mehr gültig ist.«
»Bei mir wollen die noch meine ganze Lebensgeschichte aus Kuba. Was soll das denn, ich habe doch genau so einen Pass wie du. Und dann wollen die auch noch wissen, mit wem ich alles zusammengelebt habe, während meiner Zeit in Deutschland. Was sind das bloß für Fragen?«
»Lass uns erst mal durch die Sperre hier, dann reden wir mit Oliver oder mit deiner Freundin. Die sollten doch wissen, was hier eigentlich genau los ist.«
»Carola ist aber vielleicht noch nicht zurück.«
»Aber Oliver muss hier sein. Wir reden erst mal mit ihm, dann sehen wir weiter, ok?«
Nach einer Stunde sind sie an der Reihe und geben ihre Papiere ab. Der Beamte bittet sie noch einmal Platz zu nehmen und sich etwas zu gedulden, sie werden dann aufgerufen. Luis fragt, ob es irgendwelche Probleme gibt.
»Nein, nein die Daten müssen nur eingegeben werden und die Kontenübertragungen akzeptiert sein. Sie erhalten danach von uns Kreditkarten in der neuen Währung. Kein Grund zur Sorge,« ist die Antwort. Also warten.
Sonya wird aufgerufen und muss noch einmal zum Schalter. Hier eröffnet man ihr, dass ihre Angaben unvollständig sind:
»Sie haben doch auch mal in Spanien gelebt. Das haben sie gar nicht angegeben.«
»Also ich dachte, das war nicht notwendig. Das ist doch auch EU. Da sind doch gar keine Grenzen, oder waren jedenfalls keine.«
»Ihr Konto bei der Barclays Bank in Madrid ist auch nicht angegeben.«
»Aber da ist doch seit Jahren gar nichts mehr drauf. Ich dachte das wäre längst gelöscht!«
»Bitte vervollständigen sie ihre Angaben und reichen das Formblatt wieder ein. Hier muss alles seine Ordnung haben.«
Sonya ist jetzt doch beunruhigt: »Lou, woher wussten die, dass ich in Spanien gewesen bin? Mein Konto dort kannten die auch. Das habe ich doch ewig nicht mehr benutzt.«
»Die haben irgendwie immer noch alle Daten. Und auch direkte Zugänge zu den Datenspeichern. Wir müssen so schnell wie möglich mit Oliver reden, der muss mehr wissen. Was mich im Moment am meisten erschreckt, ist der Ton der Beamten. Den kenne ich noch gut von früher. Den kann man noch in alten Büchern und Filmen bestaunen. Und jetzt ist der plötzlich wieder auferstanden. Als wenn in Deutschland jemand das Rad der Zeit zurückgedreht hat.«
Eine dreiviertel Stunde später haben sie es geschafft. Sie besitzen nun neue Kontokarten und können durch die Sperre. Luis wollte noch wissen, wie viele neue Märker er nun eigentlich auf der Karte hat, aber der Beamte konnte nichts genaues antworten. Oder er wollte nicht ...
»Der Kurs zum ehemaligen Euro ist 2:1, Herr Sommer.«
»2 Mark für einen Euro?«
»Nein, 1 Neue Mark für 2 Euro. Die korrekte Bezeichnung ist ´Neue Mark`. Oder kurz NM . Bitte benutzen sie in Zukunft die korrekte Bezeichnung.«
»Schön, aber was kann ich mir für eine korrekte NM nun kaufen? Ich meine, gemessen an den vorherigen Europreisen?«
»Die Preise sind zur Zeit instabil. Sie werden schon sehen. So, der Nächste bitte!«
»Halt, eine Frage habe ich noch.«
»Ja bitte?«
»Also wenn ich das recht verstehe, habe ich auf dieser Karte genau die Hälfte an NM, die ich vorher in Euro auf dem Konto hatte. Richtig?«
»Nein, nicht ganz. Bitte setzen sie sich mit ihrer Bank in Verbindung, dort erhalten sie genauere Auskunft.«
»Also Moment mal - wenn mir da Geld abgeknappt wurde, dann möchte ich das schon wissen. Also wie viel ist weg?«
»Zu weiteren Auskünften bin ich nicht befugt, mein Herr. Wie gesagt, sie erhalten die kompletten Informationen bei ihrer Bank. Der Nächste ...«
In der Eingangshalle suchen sie einen Automaten, um erst einmal ein paar von diesen NM zu ziehen. Als keiner zu finden ist, fragen sie an einem Kiosk nach. Irgendwo muss doch so ein Ding stehen.
»Sach mal Kumpel, wo warst du denn die letzten Wochen? Es gibt kein Bargeld mehr, alles wird mit Karte bezahlt. Auch hier in meinem Laden. Soll aber angeblich alles ganz sicher sein.«
»Ja, und wenn ich einem Freund oder sonst jemand Geld geben will. Geht das denn nicht mehr?«
»Doch schon, mit einer App auf dem Handy.«
»Und wenn einer kein Handy hat?«
»Dann muss der zu einem Übertragungsschalter bei einer Bank. Da von einer Kartennummer auf die andere schieben. Kostet eine geringe Gebühr, aber nicht viel. Alles Plastikgeld, ist schon gewöhnungsbedürftig. Aber die sagen, damit kontrollieren sie auch die Geldwäsche und so.«
´Damit kontrollieren sie JEDEN mein Freund`, denkt sich Luis, ´dann wissen die doch bei jeder Kartennutzung, wo sich einer gerade aufhält. Selbst auf einem Rastplatz oder in einer öffentlichen Toilette`.
»Sagen sie mal, gibt es auch schon Türen, die mit der Kontokarte geöffnet werden. Also anstelle der normalen Schlüssel?«
»Ja genau, das wird gerade bei allen Mietwohnungen eingeführt,« strahlt der Verkäufer. »Tolle Sache, da haben Einbrecher ein echtes Problem, weil die Kontokarte nur zusammen mit dem Ausweis funktioniert. Also wenn der Ausweis nicht weiter als 20cm entfernt ist. Keine Chance für das Pack! Es gibt ja zur Zeit eine Menge Gauner.«
* * *
Als José Luis Gomez einige Jahre nach dem Tod des greisen Diktators in seine Heimat zurückkehrte, war ihm nicht bewusst, dass er seine junge Geliebte schwanger in Deutschland zurückgelassen hat. Zwar hatte sie ihn zunächst gebeten bei ihr zu bleiben, dann aber Verständnis dafür gezeigt, dass er jetzt nach Spanien zurückkehren musste. Ebenso wie Hunderttausende seiner Landsleute, die dem mörderischen ´Caudillo` im Prado schon lange die Pest an den Hals gewünscht und seit Jahren auf sein Ableben gehofft hatten. Seit dem Tode von Francisco Franco warteten die Exilanten nun auf ein glaubwürdiges Vorzeichen für den ersehnten Wandel in Spanien.
Dem politischen Schlingerkurs eines Adolfo Suárez, des kokainabhängigen Präsidenten der Übergangsperiode mit seiner ´Union des demokratischen Zentrums` (UCD) war nicht zu trauen. Denn es existierte in jenen Jahren gar kein politisches Zentrum in Spanien. Nur Gruppierungen von Militärs und Faschisten, die den Franquismus retten wollten - und auf der anderen Seite die traditionellen Parteien und Gruppierungen der Linken, die für einen radikalen Wandel des Landes kämpften.
Am 20. Dezember 1973, zwei Jahre vor dem Tode des Diktators, starb in Madrid mit Carrero Blanco der letzte Vertraute, der dem greisen Despoten geblieben war. Blanco galt als ´graue Eminenz` des Regimes und war ein halbes Jahr zuvor von Franco zum Regierungschef ernannt worden. Er war die einzig reale Hoffnung der Falange, die Macht in Spanien auch nach dem Tode ihres Führers zu verteidigen. Ein Kommando der baskischen ETA legte eine Sprengfalle für das Auto des Admirals in die Calle de Maldonado, die ihn mitsamt dem Auto über die Front der Häuser zurück auf den Hof der Kirche San Francisco de Borja beförderte, wo er einige Minuten zuvor gerade seine Absolution erhalten hatte.
Am 23. Februar 1981 stürmte ein Oberstleutnant der Guardia Civil mit gezogener Pistole in Begleitung von zwei schwerbewaffneten Hundertschaften das Parlament in Madrid, wo gerade ein neuer Präsident der sogenannten ´Transición` ( Übergangsperiode) gewählt werden sollte. Der Putschversuch des Antonio Tejero brach jedoch zusammen, nachdem der nominell oberste Befehlshaber der Streitkräfte - Spaniens König Juan Carlos, der zwei Tage nach Francos Tod gekrönt worden war - sich überraschenderweise gegen die Putschisten stellte und den bereits ausgerückten Militärs befahl, wieder in die Kasernen zurück zu kehren.
Ende 1982 wurde mit Felipe Gonzáles ein Sozialist zum Präsidenten gewählt, der 10 Jahre zuvor noch wegen der Teilnahme an Demonstrationen gegen Franco inhaftiert worden war. Nun erst schien festzustehen, dass der ´Franquismus` endgültig von der politischen Bühne abgetreten war.
*
Claudia Sommer hatte José nichts von ihrer Schwangerschaft verraten. Ob sie aus Eitelkeit, verletztem Stolz oder aus weiser Einsicht ihren Zustand verschwieg, könnte nur sie selbst beantworten. Sei es, dass sie meinte, wenn er sie wirklich liebt, müsste er ihren Zustand längst selber bemerkt haben, oder sei es, dass sie ihre Schwangerschaft nicht als Druckmittel benutzen wollte um José zu halten. Eine Antwort ist nicht überliefert und sie hat später nie darüber gesprochen.
Jedenfalls nahm Claudia eine Auszeit von ihrem Jurastudium und brachte 7 Monate später einen Sohn zur Welt, den sie Luis Antonio taufte. Sobald sie sich einige Monate später wieder etwas sicherer auf den Beinen fühlte, belud sie ihre alte ´Ente` mit der Kinderkrippe von Klein- Luis und ein paar persönlichen Utensilien und machte sich auf den Weg nach Zaragoza. Vorher jedoch schrieb sie José einen ausführlichen Brief und gab ihm damit Zeit, die Neuigkeiten zu verarbeiten und sich auf ihr Kommen vorzubereiten.
Falls Claudia Befürchtungen vor der Reaktion seiner Familie auf das plötzliche Erscheinen einer deutschen ´Rubia` mit Anhang gehegt hatte, so stellte es sich schnell heraus, dass diese Ängste unnötig gewesen sind. Die Gomez standen in der Tradition des anarchistischen Syndikalismus und hatten sich während der Franco- Zeit aktiv an dem subtilen Widerstand der illegalen Gewerkschaftsbewegung der ´Comisiones Obreras` beteiligt. Jetzt waren sie selbstverständlich wieder der gerade neugegründeten CNT/FAI, der Sammelbewegung des traditionellen spanischen Anarchosyndikalismus beigetreten. In ihrem Umfeld hatten die allgemeinen Normen der spanischen Gesellschaft wenig Gewicht und sie hatten keinerlei Einwände, als ihr Sohn ihnen eröffnete, dass er mit der deutschen Mutter seines Kindes zusammenleben wolle, ohne dass eine Heirat geplant ist.
Im Jahr darauf zogen die Eltern von Luis Antonio Sommer nach Barcelona, wo sie in dem kleinen Bergdorf El Papiol, 25 Kilometer südlich der Metropole ihre erste Wohnung fanden. Im Zentrum der Stadt selbst war es bereits in diesen 90er Jahren nahezu unmöglich eine bezahlbare Wohnung zu finden. Dennoch wollten sie die tief konservative Heimatstadt von José verlassen, die weiterhin nach gesetztem Bürgertum, Landadel, Kirchenallmacht und mittelalterlicher Tradition roch und sich dem Wandel im Lande versperrte.
Die permanenten Winde von den Hochebenen legen den Bewohnern der Region eine zähe Staubschicht auf ihre Häupter und feiner, grauer Sand dringt in Münder und Nasen und verbreitet auf den Zungen diesen leichten Belag von Erde, der für die Menschen dort nach Heimat schmeckt. Bei Claudia jedoch erzeugte dieser Wind ein unheimliches Gefühl von Hilflosigkeit und Ausgeliefert-Sein.
Die neugegründete CNT der alten Kämpfer und der jungen Träumer musste sich hier ähnlich konspirativ organisieren und in geschlossenen Zirkeln agieren, wie in dem kürzesten der deutschen Reiche die Jesuiten oder die Bünde der Freimaurer und konnte das politische und gesellschaftliche Klima in dieser Stadt am Ebro kaum beeinflussen.
Denn die Lüfte der neuen Freiheit in Spanien wehten vorerst nur in Madrid und in Barcelona. Und natürlich in dem Land der Basken, das Francos Schergen in 40 Jahren weder in den Städten noch auf dem Lande jemals vollständig unter ihre Kontrolle bekommen konnten. Aber die Freiheit der Basken wurde in einer Sprache besungen, die niemand erlernen kann und die emanzipatorischen Bewegungen in der Hauptstadt Madrid verliefen sich häufig in Streit, Chaos, Alkoholexzessen und endlosen Feiern in den Szenekneipen von Chueca und Malasaña, oder auch in einer inneren Immigration ihrer aktiven Zirkel. Für Claudia und José ergab sich nur in Katalonien eine attraktive Lebensalternative.
José Luis fand eine Anstellung bei dem Verband der katalanischen Textilindustrie, der gerade mehrere junge und sprachgewandte Funktionäre brauchte, um die notwendig gewordene Suche nach neuen Produktionsstandorten zu beschleunigen. Der Vater von Luis hatte somit gleich bei dem ersten Versuch eine ideale Anstellung gefunden, die ihm neben einem guten Auskommen auf den häufigen Auslandsreisen eine weitgehende Entscheidungsautonomie bei seinen Verhandlungen erlaubte. Für die Textilfabrikanten war eine maximale Flexibilität bei der häufigen Verlagerung der Produktionsstandorte eine Notwendigkeit ihres Überlebenskampfes. Diese hart umkämpfte Branche wird bis in den heutigen Tag beherrscht von einer stetigen Suche nach den billigsten Arbeitslöhnen.
Die Mutter von Luis scheiterte jedoch bei dem Versuch, ihr abgebrochenes Studium in Barcelona wieder aufzunehmen. Als sie nach einigen Jahren in Spanien endlich die Sprache sicher genug beherrschte, um sich ein Studium an der Universität zuzutrauen, musste sie feststellen, dass die ´Universitat de Barcelona` inzwischen eine schriftliche und mündliche Prüfung der ausreichenden Kenntnis in ´Catalan` als unabdingbares Aufnahmekriterium eingeführt hatte.
Sie fuhr kurz entschlossen nach Deutschland und meldete sich wieder bei ihrer alten Universität an. Bei ihrer Rückkehr nach Barcelona war ihr sehr wohl bewusst, dass hiermit ihr spanisches Abenteuer definitiv beendet war, weil es für einen Juristen mit Ausbildung nach deutschem Recht in dem Spanien der 90er Jahre kein Betätigungsfeld gab.
Luis Antonio blieb in Barcelona, wo er bereits in einer Vorschule eingeschult worden war. Seine Eltern einigten sich darauf, dass ihr Sohn eventuell bei der Mutter seine Schulausbildung in Deutschland fortsetzen könnte, sobald sie ihr Studium beendet und sich als Anwältin niedergelassen hat. Sie kamen zu der Ansicht, dass für ein zweisprachig erzogenes Kind ein derartiger Schulwechsel eigentlich kein allzu großes Problem darstellen sollte. Luis Antonio wurde mit seinen 5 Jahren natürlich nicht gefragt. Was bliebe denn von der Erziehung im christlichen Abendland noch übrig, wenn die Erwachsenen ihren Kindern erlauben würden, über ihr eigenes Schicksal bestimmen zu dürfen?
Seine Eltern trennten sich ohne Streit und ohne Groll. Sie sprachen von einer zeitweisen Trennung, einer befristeten Zwischenlösung, die halt nur den Umständen geschuldet ist. Aber im Grunde wussten beide, dass es keinen zweiten Versuch für sie geben wird. Die Attraktivität und Spannung ihrer Beziehung war ihnen irgendwie in diesen Jahren abhanden gekommen. Ihre Liebe war fast unbemerkt und ohne Aufbäumen erloschen und hatte einer satten Gewohnheit des Zusammenlebens Platz gemacht. Dieses Band war keiner größeren Belastung gewachsen und rechtfertigte schon gar nicht den Verzicht auf eine erhoffte Lebensperspektive.
Sie verabschiedeten sich mit warmen Worten in einer liebevollen letzten Umarmung und eingehüllt von trauriger Melancholie. Claudia und José empfanden ihre gemeinsame Zeit bereits in dem Moment des Abschiedes wie einen vergangenen Abschnitt des Lebens, welcher bereits der Erinnerung angehört.
*
Es gingen jedoch nicht einmal zwei Jahre ins Land, bis für Luis Antonio der erste Schulwechsel anstand. Sein Vater wurde ´Coordinador` in der ´Cooperación Española`, dieser neu gegründeten Körperschaft spanischer Entwicklungshilfe in den Ländern seiner ehemaligen Kolonien. In schneller Folge wurden nun Kooperationsverträge mit den Ländern Lateinamerikas, den Philippinen und mit Äquatorial Guinea in Afrika abgeschlossen und José verbrachte die nächsten 36 Monate in Konferenzen, Flugzeugen und stets wechselnden Hotels.
Die Großeltern in Zaragoza nahmen Luis auf und steckten ihn unter großen Gewissensqualen in eine von Nonnen geleitete kirchliche Schule. Inmitten eines laufenden Schuljahres fanden sie für ihren Enkel keine andere Alternative.
Der alte libertäre Freidenker versuchte, dem kirchlichen Einfluss auf seinen Enkel entgegen zu wirken. So erzählte er ihm an den Abenden Geschichten aus seiner Kinder- und Jugendzeit als Aktivist der CNT. Von dem großen Weltkongress der Anarchisten in Zaragoza kurz vor dem Bürgerkrieg, als sie die ganze Stadt mit schwarz-roten Fahnen beflaggt haben. Die Pfaffen hatten sich in ihren Kirchen verrammelt und die Guardia Civil war bis nach Guadalajara geflohen, obwohl es gar keine nennenswerten Unruhen gegeben hatte.
Von Buenaventura Durruti, der mit seiner Kolonne im Bürgerkrieg vor den Toren der Stadt gelegen hat, um die Putschisten zu vertreiben, die so viele der Freiheitskämpfer dieser Stadt eingekerkert und ermordet hatten. Der Großvater erinnert sich, wie er sich mit anderen Jugendlichen des Nachts durch die Linien geschlichen hat, um den Milizionären die Lebensmittel zu bringen, die sie tagsüber auf den Feldern und Gärten im Ebrotal geklaut hatten. Und wie sie lange nach dem großen Krieg den ganzen Kommandotrupp von Francesc Sabaté mehrere Tage vor einem riesigen Aufgebot von ´Guardias` und ´Nacionales` in der Stadt versteckten. ´El Quico`, der aus Barcelona kam und irgendwie über die aragonesischen Pyrenäen wieder nach Frankreich in Sicherheit gebracht werden musste.
Sein Großvater hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Geschichten und seine Erzählungen erweckten weitere Erinnerungen. Der alte Aktivist wurde häufig von seiner eigenen Geschichte eingeholt und redete sich solchermaßen in Rage, dass manches Mal seine resolute Frau einschreiten und ihn stoppen musste. Wenn Doña Isabel ihren Mann energisch aufforderte zu schweigen und Luis in Ruhe zu lassen: »Hör endlich auf, dem Jungen nur Geschichten von Revolution und Straßenkampf zu erzählen. Er ist schließlich noch ein Kind«, dann grummelte der Großvater gewöhnlich: »Der Junge muss lernen, was richtig und was falsch ist, er muss Gut und Böse erkennen«, aber er hörte auf sie. Denn Doña Isabel war die einzige Person auf dieser Welt, die er ohne Vorbehalte respektierte.
Aber wenn sie nicht im Hause war, dann konnte es vorkommen, dass er seinem Enkel auch mal im Detail beschrieb, was die siegreichen Milizionäre mit den Kirchen und den Pfaffen gemacht haben, und besonders, wie sie mit den Nonnen umgegangen sind. Er versuchte ihn darüber aufzuklären, was Männer mit Frauen machen, woher die Kinder kommen und dass unser Geld nur ein Instrument der Knechtung und Knebelung von freien Menschen sei:
»… und Tonito, traue niemals einem Reichen oder einem von der Regierung, solche Menschen betrügen uns immer!«
Luis Antonio war für sein Alter ein ´aufgeweckter Junge`, wie man in Deutschland sagen würde, und er begriff auch in der Schule schnell, wenn ihn ein Thema oder ein Fach interessierte. Aber in den meisten Fächern lernte er nur gerade soviel, um eine minimale Norm zu erfüllen und um Doña Isabel zu beruhigen, die sich Sorgen machte und einmal in der Woche mit seiner Mutter in Deutschland telefonierte.
Es interessierte ihn einfach zu wenig, was seine Lehrerinnen ihm beibringen wollten. Wenn die Nonnen mit den Kindern bei der wöchentlichen Morgenandacht in der Kapelle die Nähe zu dem Allmächtigen beschworen, verschloss Luis seine Ohren und grübelte über die Frage, wie Großvater und seine Compañeros wohl einen Steinbau wie diesen zum Brennen gebracht haben. Oder warum sie diese Dinge mit den Nonnen gemacht haben, von denen ihm der Großvater erzählt hat. Er musste unbedingt bei seinem Opa nachfragen, ob Nonnen damals vielleicht anders ausgesehen haben. Solche Fragen konnte er seinen Lehrerinnen niemals stellen, soviel verstand er bereits.
*
Im Jahr darauf war die permanente Wanderzeit seines Vaters beendet, denn er wurde nun der Koordinator eines Projektes der Cooperación in Argentinien.
José zog in die Provinz Santa Fé nach Rosario und nahm diesmal seinen Sohn mit sich. Luis Antonio wurde in einer Privatschule eingeschult, denn nun gehörte sein Vater zu der Klasse der Besserverdienenden, deren Angehörige ihre Kinder nicht auf staatliche Schulen schicken und die ihrem Nachwuchs das Betreten gewisser Viertel in der Stadt verbieten.
Luis gefiel diese Stadt am Rio Paraná, die ihn an Zaragoza erinnerte und er durchstreifte die Uferpromenaden und Straßen des Zentrums in jeder freien Stunde. Am meisten jedoch faszinierten ihn die verrufenen Gebiete der ´Villas`, die an den Stadträndern begannen und deren Hütten sich endlos zu beiden Seiten am westlichen Ufer des Flusses hinziehen. Hier spielten die Jungen barfuß Fußball in den engen Gassen, während die Mädchen mit ihren jüngsten Geschwistern auf dem Arm in Gruppen an den Ecken standen und mit den jungen Burschen auf ihren Enduros kokettierten. Kein Kind schien zur Schule gehen zu müssen und die Erwachsenen, die auf Plastikstühlen vor ihren Haustüren saßen und auf einen Bildschirm starrten, der halb auf der Straße stand, reichten die Kalebasse mit Mate herum und kümmerten sich nicht um die Kinder.
Manchmal saß ein Gitarrenspieler oder ein Mann mit einer Harmonika vor einer dieser offenen Kneipen, die meistens aus nichts Anderem bestanden, als einem mit gestapelten Bierkisten und einigen Brettern zusammengehauenen Tresen vor einem Hauseingang und einigen Plastikstühlen auf der Straße. Nach jedem Regenguss bespritzten Autos die Kneipenbesucher und Passanten, wenn sie zu schnell durch die matschigen Wege fuhren und wurden beschimpft und mit Pappbechern beworfen. Es konnte jedoch auch geschehen, dass eine Frau hinter dem Tresen hervorkam, in einer obszönen Geste ihren Rock hob und dem Fahrer ein heftiges: ´la concha de tu madreee!` hinterher schickte. Wonach dann auch für alle Zuschauer die Frage geklärt war, ob sie unter ihrem Rock noch ein Höschen trägt, oder ob sie auf derartige Feinheiten verzichtet.
Hier in den Villas von Rosario verliert Luis auch seine ´Unschuld`, wie es allgemein so unglücklich formuliert wird. Er hat sein erstes sexuelles Erlebnis mit der Tochter von Immigranten aus Paraguay, die ihn persönlich zur Feier ihrer ´Quinze`, also zu ihrem 15jährigen Geburtstag eingeladen hatte. Dieser Eintritt in das ´Erwachsenenalter` wird in allen Ländern Südamerikas gefeiert, aber besonders von den Paraguayern sehr ernst genommen.
Oftmals ruiniert sich eine Familie wortwörtlich, wenn sie sich hoch verschuldet, um eine aufwendige Veranstaltung zu organisieren und die Tochter wohl möglich auch noch aus den Zukunftsplanungen der Familie streichen kann, da sie von dieser Feier schwanger zurück bleibt, weil sie es an diesem Tage eben auch genau wissen wollte.
*
Theresita ist 14, als Luis sie das erste Mal in der ´Despensa` ihrer Mutter erblickt, wo er sich bei seinen Streifzügen durch die Villas oftmals mit ´Empanadas` eindeckt. Die meisten der kleinen Verkaufsläden führen diese selbstgebackenen Teigtaschen, die einem 13 jährigen Jungen wie eine Gabe des Himmels erscheinen, wenn er bei seinen Streifzügen durch das Viertel ein plötzliches Rumpeln in seinem Magen verspürt und unter einer von Fliegen umlagerten Käseglocke die ersehnten Leckereien entdeckt. Bei Luis stellte sich pünktlich ein flaues Gefühl im Magen ein, sobald er um die Ecke einer gewissen Gasse in den Villas biegt. Hier, eingezwängt zwischen zwei Bretterkneipen, liegt auf einem kleinen Platz die Despensa mit den schmackhaftesten Empanadas des Barrios.
Kaum ein Kunde betritt jemals den winzigen Verkaufsraum, dessen Bestand an Waren bei der schwächlichen Beleuchtung schwer zu erkennen ist und die ersichtlich von einer beeindruckenden Staubschicht bedeckt werden. Vermutlich wurde das Sortiment seit der Eröffnung niemals ausgewechselt oder auch nur gesäubert. Aber die Empanadas und die ´Sopa Paraguaya` auf dem Verkaufstresen an der Straße sind sehr begehrt und die strategisch günstige Lage zwischen den beiden Straßenkneipen garantiert dieser Despensa einen guten Umsatz.
Eines Tages liegen keine Empanadas und auch keine Sopa unter der Käseglocke und statt der dicken Besitzerin erblickt Luis eine junge Frau hinter dem Tresen der Despensa, die ihn mit einem seltsam zwingenden Blick festnagelt. Doch Luis hat mit seinem leeren Magen keine Geduld für Spielchen, wie er sie bei den Großen manchmal beobachtet hat. Er weicht ihrem Blick aus und schaut auf die leeren Plastikstühle der Kneipe nebenan, während er fragt:
»Werden heute noch Empanadas gemacht?«
»Nein.«
»Und Sopa?«
»Nein, auch nicht. Meine Mutter ist heute nicht hier.«
»Dann komme ich ein anderes Mal wieder.«
Aber da ist das Mädchen schon aus dem Laden getreten und hält ihn leicht am Arm fest.
»Bitte geh noch nicht. Ich kann dir doch etwas anderes verkaufen.«
Wieder spürt Luis den intensiven Blick, der bei ihm ein unwillkürliches Kribbeln auslöst, wie er es zuvor noch nie verspürt hatte. Jetzt bemerkt er auch, dass dieses Mädchen nahezu genauso jung ist wie er selbst. Ihr Schmollmund erinnert ihn an die albernen Chicas aus seiner Klasse und auf ihren Hüften sitzen noch die deplatzierten kleinen Rundungen, wie sie hierzulande die ganz jungen Frauen haben, bevor sie endgültig der Pubertät entwachsen. Aber die Brüste des Mädchens sind bereits vollständig gereift und in ihrer Stimme schwingt dieses Timbre mit, dass Männer aufhorchen lässt und sie dazu bringt, eine heranwachsende Muchacha mit anderen Augen zu betrachten.
Luis ist sich ziemlich sicher, dass ihn kein einziger Artikel in diesem chaotischen Kramladen auch nur die Bohne interessieren wird, aber statt der ablehnenden Antwort, die er sich zurecht gelegt hat, entschlüpft ihm zu seinem eigenen Erstaunen eine Zustimmung:
»Gut, dann zeig mir doch einmal, was ihr anzubieten habt.«
Das Verkaufssortiment ist aus der Nähe gesehen noch deprimierender, als es von draußen her den Anschein hat. Billiges Spielzeug für einen Peso in verstaubten Plastikbeuteln, deformierte Fußbälle in der Form wildwachsender Melonen und oftmals bereits völlig ohne Luft für fünf Pesos, Plastikschmuck und Plastiksandalen mit chinesischer Gebrauchsanweisung und einem aufgedruckten Einheitspreis von einem Yuan. In dem hinteren Regal befinden sich uralte Lebensmittel in Tüten und Dosen ohne irgend ein Haltbarkeitsdatum. Ein Eckschrank ist mit Damenunterwäsche der absolut grausamen Art vollgestopft und den Kinderschuhen daneben ist anzusehen, dass sie sicherlich kaum einen Regentag in den matschigen Gassen dieses Barrios überstehen würden.
Als Luis sich umdreht, um aus diesem verstaubten und leicht muffig riechenden Laden zu verschwinden, versperrt ihm das Mädchens den Weg. Sie zieht ihn an sich und Luis spürt die verwirrende Wärme ihres Körpers, als sie ihn bittet noch zu bleiben.
»Geh noch nicht, es ist so langweilig alleine.«
Doch Luis schiebt sie zur Seite und tritt nach draußen auf die Straße. Er muss in der freien Luft durchatmen und einen klaren Kopf bekommen. Aber das warme Gefühl, das ihre pulsierenden Brüste auf seiner Haut hinterlassen haben, kann er nicht so einfach abschütteln.
»Ich habe eine Idee,« sagt er über die Schulter zu dem Mädchen hinter sich, »ich hole uns ein paar Empanadas aus einer anderen Despensa. Dann haben wir beide etwas zu essen und du kannst den Rest verkaufen.«
Eine halbe Stunde darauf ist er mit einem riesigen Berg von Empanadas, Hamburgern und Sopa zurück und überreicht seiner neuen Bekannten stolz die große Papiertüte.
»Empanadas de Carne, Chololo und Pollo. Hamburger und Sopa. Du kannst gleich welche auf euren Tresen stellen, es ist genug da.«
»Warte, lass uns erst einmal drinnen selber welche essen, sonst werden wir nur gestört. Aber du könntest nebenan noch eine Cola holen.«
Sie bereiten sich zwischen all dem Tand mit einer geblümten Bettdecke für Kinderbettchen einen Lagerplatz auf dem Boden. Luis bemerkt mit Erstaunen, wie das Mädchen sich mit unverhohlener Gier über den Berg von Empanadas und Hamburguesas hermacht und erst nach einer Viertel Stunde wieder normal durchatmet. Sie muss von einem gewaltigen Hunger getrieben worden sein. Aber dann rutscht sie an ihn heran, nimmt seinen Kopf in ihre Hände und küsst Luis voller Leidenschaft mit weichen Lippen, an denen noch Reste von gebratenem Paniermehl und Fett aus der Fritteuse hängen.
Dieser erste erotische Kuss soll Luis sein Leben lang in Erinnerung bleiben als eine verwirrende Mischung von nachgiebigen Lippen, öliger Haut, dem Druck zweier warmer Titten auf seiner Brust, Geruch von Intimität und Staub und der überraschenden Erfahrung eines pulsierenden Vibrieren seines Geschlechts.
»Das ist für das Essen,« sagt das Mädchen. »Ich heiße Theresa. Wie ist eigentlich dein Name?«
»Luis«
»Du bist so süß, Luis«
Dann zieht Theresa mit einem Ruck ihr T-Shirt über den Kopf und legt die Hand von Luis auf ihre Brust:
»Und das ist, damit du wieder kommst.«
Am nächsten Tag macht sich Luis mit einer weiteren Ladung von Leckereien auf den Weg, die er in einer Plastiktüte versteckt trägt. Dummerweise hat er gestern vergessen Theresa zu fragen, ob ihre Mutter am diesem Tag wieder zurück in ihren Laden kommen wird. Mit einer Portion Empanadas anzutanzen, um weitere Empanadas zu kaufen, kommt ihm dann doch irgendwie nicht so logisch vor. Aber er erkennt bereits von Weitem, dass die Käseglocke des Tresens wieder ratzeputz leer gefegt ist. Entweder hat Theresa die Ware noch am Abend verkauft, oder sie hat sich selber über die Reste hergemacht. Ihre Mutter ist jedenfalls noch nicht wieder zurück gekommen.
Theresita ist offensichtlich wenig erstaunt über seinen Besuch. Sie hat bereits das Lager wieder vorbereitet, streift ohne weitere Umstände ihr Kleid ab und setzt sich nur mit einem Höschen bekleidet auf die geblümte Bettdecke. Mit der ersten Empanada im Mund wendet sie sich an Luis und stößt kauend hervor:
»Zieh dich doch endlich aus und setz dich!«
Luis streift sich sein T-Shirt über den Kopf und zieht seine Schuhe aus. Etwas verlegen öffnet er seine Jeans und entledigt sich seiner Hose, stopft eine Empanada in seinen Mund und setzt sich, nur mit seiner Unterhose bekleidet, ihr gegenüber. Während beide eine Weile still vor sich hin mümmeln und sich dem Genuss des Essens hingeben, weicht langsam seine Verlegenheit und er beobachtet mit wachsender Anspannung ihre Brüste, die sich bei jedem Atemzug gleichmäßig heben und senken. Aber als er eine Spitze ihrer Brust mit der Hand berührt, wischt Theresa unwillig seinen Arm beiseite.
»Nein, nicht jetzt!«
Dann aber ergreift sie die Hand von Luis und drückt sie sich genau wie gestern auf ihre Brust. Sie schiebt die Essensreste beiseite, legt sich auf den Rücken und zieht Luis über sich. Luis beginnt sich vorsichtig auf ihr zu bewegen und reibt seinen Körper an dem ihren. Seit letzter Nacht hat er versucht, sich verzweifelt an die Erläuterungen seines Großvaters in Zaragoza zu erinnern, denn sein Vater selbst hat sich niemals mit ihm über diese Dinge unterhalten. Theresita schiebt ihn nun von sich und fängt an, seinen Penis unter der Hose zu streicheln. Nach dem ersten Schock über diese intime Berührung beginnt sein Geschlecht zu wachsen und peinlich hart zu werden. Nun legt sie sich auf Luis und bewegt ihren Körper in einer rhythmischen Welle, bei der sich ihre beiden Geschlechter aneinander reiben. Aber als Luis versucht, ihr das Höschen abzustreifen, wehrt sie ihn energisch ab, steht auf und schlüpft wieder in ihr Kleid. Immerhin verabschiedet sie ihn mit einer Ansage für ein neues Treffen:
»Mañana a las cuatro, okay«?
*
Die nächsten Tage strapazieren den Geldbeutel von Luis dermaßen, dass er seinen Vater um einen Vorschuss auf sein nächstes Taschengeld bitten muss. Aber wie stets erhält er auch dieses Mal das Geld ohne weitere Nachfrage.
Von Theresita weiß er inzwischen, dass ihre Mutter zu Hause erkrankt darnieder liegt und von einer Tante gepflegt wird, die auch die Geschwister von Theresa beaufsichtigt. Sie haben ihr Haus in einem anderen Barrio und diesen Verkaufsstand von dem benachbarten Kneipenbesitzer gemietet, der sich von einer attraktiven Despensa auch ein besseres Geschäft für seinen Barausschank verspricht.
Jeden Tag belohnt Theresa Luis für seine Mitbringsel mit ihren sexuellen Spielen, die sie ersichtlich ebenfalls zu genießen scheint, wie Luis aus ihren Bewegungen und den Lauten, die sie dabei von sich gibt, schließen kann. Bei ihm selbst baut sich jedoch mittlerweile ein wachsender Druck auf, der sich Tag für Tag mehr steigert. Doch Theresa wehrt resolut jeden Versuch ab, sich ihre letzte Hülle abstreifen zu lassen. Bei dem Höschen ist Schluss. Ende der Fahnenstange. Trotzdem steht er auch am nächsten Tag wieder erwartungsvoll mit seinem Essensbeutel vor der Despensa.
Als Luis an dem ersten Tag der folgenden Woche mit einer Tüte voller Empanadas und Hamburguesas in die Kneipengasse einbiegt, erkennt er schon von Weitem, dass die Käseglocke wieder gefüllt ist. Er stellt seinen Proviant an eine Hausecke und nähert sich der Despensa in der Hoffnung, dass Theresa ihre Mutter begleitet oder wenigstens irgend eine Nachricht für ihn in der Despensa hinterlassen hat. Aber er findet nichts und die dicke Mamita begrüßt ihn ohne ein Anzeichen von Überraschung oder besonderer Aufmerksamkeit:
»Zwei Empanadas, so wie immer?«
Luis linst verstohlen in alle Winkel der Despensa, dessen Ecken und Begrenzungen er ja nun bestens kennt, während er seine Empanadas verputzt. Aber er kann keinerlei Anzeichen einer Anwesenheit von Theresita erkennen. Die Mama von Theresa direkt zu fragen, traut er sich nicht.
Noch zweimal kommt er in derselben Woche an der Despensa vorbei, ohne irgend ein Zeichen oder eine Neuigkeit von Theresa zu erfahren. Ab der folgenden Woche macht Luis es sich zur Angewohnheit, nur noch an einem Tag bei der Despensa vorbei zu schauen. Er redet sich ein, dass Theresa ihm längst egal ist, aber in dieser Despensa gibt es nun einmal die besten Empanadas der Villas.
Doch eines Tages reicht ihm die dicke Mamita ein Kärtchen, als sie ihm seine Teigtaschen über den Tresen schiebt.
»Du bist doch Luis, oder? Das ist eine Einladung zur Feier des Quinze meiner Tochter. Die Adresse und das Datum steht auf der Karte. Theresita hat mir gesagt, dass du ihr manchmal geholfen hast, als ich krank gewesen bin. Wir würden uns freuen, wenn du kommen kannst.«
Luis kennt die Adresse. Jeder hier kennt sie, denn es ist das größte Gebäude in diesem Teil der Villas, ganz in der Nähe der Despensa. Hinter einer hohen Mauer liegt etwas zurückgesetzt ein großer flacher Bau, dessen Eingang sich unter einem Vordach befindet, das von verzierten Säulen gestützt wird. Ein roter Teppich führt von dem Eingang in der Mauer zu diesem erhabenen Vordach, über den ein mit bunten Girlanden verzierter schwarzer Baldachin gespannt ist. Hier werden Hochzeitsfeiern veranstaltet, Kindtaufen und Feiern zum Quinze der jungen Mädchen des Barrios. An manchen Tagen finden zwei Veranstaltungen hintereinander statt, denn die Miete für einen ganzen Abend in dem Festsaal ist nicht gerade billig für die Leute aus dieser Gegend.
Am Ende der Mauer liegt, abgesperrt durch einen Zaun, der Parkplatz für die Fahrzeuge der Gäste. Von dort aus sieht das Ganze weniger imposant aus, denn die Seiten und die Rückwand des Gebäudes sind nicht verputzt, sondern bestehen aus rohem Stein und Mörtel, genauso wie die meisten Häuser in den Villas. Doch dieser Umstand wird das Hochgefühl der Feiernden im Inneren des Saales wohl kaum sonderlich beeinträchtigen.
Am Tag des Festes betritt Luis zum ersten Mal dieses Gebäude, an dem er schon oft vorbeigekommen ist. Er erblickt in dem Inneren einfach nur einen großen geschmückten Saal mit einer Bühne im Hintergrund, auf der ein Mikrofon und die Instrumente einer Band stehen. Vor der Bühne sind hinter einer Tanzfläche auf der linken Seite mehrere Stuhlreihen aufgestellt, während auf der anderen Seite die Tische mit den Speisen, Getränken, den Tellern und Trinkgefäßen aus Pappe und dem Besteck aus Plastik stehen. Davor stehen weitere Tische mit Vasen und Körben für die Blumen und Geschenke der Gäste, die am Eingang von Theresa und ihrer Mutter in Empfang genommen werden.
Theresita ist wie eine Braut gekleidet, in Tüll und einem langen weißen Etwas, das ihre Schultern, Arme und ein Dekolleté frei lässt, welches zur Krönung mit einer breiten Kette aus filigranem Silber geschmückt ist. Die Haare sind kunstvoll hochgesteckt und zu einer Frisur gebaut, wie Luis sie noch nie bei ihr gesehen hat. Ihre Füße stecken in hohen Schuhen mit dünnen Absätzen, die Theresa um ein gutes Stück größer erscheinen lassen.
Erstaunt bemerkt Luis, dass sie anscheinend um Jahre älter geworden ist in den Wochen, in denen sie sich nicht gesehen haben. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die offizielle und irgendwie neutrale Haltung, mit der sie ihn bei seinem Eintritt begrüßt und sein Geschenk in Empfang nimmt. Kein Zeichen von besonderer Freude oder Wärme liegt in diesem Wiedersehen und Luis fragt sich, was zum Kuckuck er hier eigentlich soll. Aber er kann auch nicht kommen, Geschenk abliefern und gleich wieder gehen. Also schlendert er zu den Tischen mit Speisen und Getränken, deckt sich mit Proviant ein, setzt sich auf einen Stuhl in der hintersten Reihe und wartet ab, was nun geschehen wird.