Die ehrenwerte Gesellschaft - Dominique Manotti - E-Book

Die ehrenwerte Gesellschaft E-Book

Dominique Manotti

3,9

Beschreibung

Fesselnd, präzise und schnörkellos beschreiben Dominique Manotti und DOA die Korruptheit, die Intrigen und inzestuösen Machtverflechtungen der herrschenden Klasse. Ein mitreißend schneller Rhythmus, sich atemlos überschlagende Ereignisse und packende Dialoge sorgen für höchste Spannung. Eine düstere Affäre, fiktiv und doch so nahe an der Realität, dass es einen frösteln lässt.

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Dominique Manotti & DOADie ehrenwerte Gesellschaft

Eine Gruppe junger Ökoaktivisten plant einen spektakulären Coup und hackt den Rechner eines Ermittlers der obersten französischen Behörde für Atomenergie CEA. Sie wird zufällig Zeuge eines Kampfes zwischen dem Ermittler und Geheimagenten, bei dem der ehemalige Polizist zu Tode kommt. Ein Zwischenfall zu einem denkbar schlechten Zeitpunkt, kurz vor dem ersten Wahlgang zur Präsidentschaftswahl. Gegenüber stehen sich der blasse Kandidat der Linken, Eugène Schneider, und der zynische, machtbesessene Pierre Guérin, Finanzminister und Kandidat der Rechten, wenig zufällig an einen gewissen Nicolas S. erinnernd. Tief verstrickt in ein Machtgeflecht aus Politik, Geheimdiensten und den Eliten der französischen Industrie, will der voraussichtliche neue Präsident seinen Förderern die Privatisierung der französischen Atomindustrie auf dem Silbertablett servieren. Von der Polizei als Mörder ihres Kollegen verdächtigt, beginnt das Spiel für die Ökoaktivisten lebensgefährlich zu werden, denn nicht nur die ermittelnde Kriminalpolizei ist ihnen auf den Fersen, sondern auch die Schergen der Atommafia, die die Aufdeckung ihres Komplotts befürchtet.

Dominique Manotti, geboren 1942 in Paris. Ehemalige Professorin für Wirtschaftsgeschichte. 1976–1983 Generalsekretärin der Pariser Sektion der Gewerkschaft CFDT. Politisch geprägt durch den Widerstand gegen den Algerienkrieg und die Mairevolte 1968. Schrieb mit 50 Jahren ihren ersten Roman und erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen.

DOA (Dead on Arrival), geboren 1968 in Lyon, arbeitet als Schriftsteller und Drehbuchautor. Sein Pseudonym bezieht sich auf den legendären Film Noir gleichen Namens von Rudolph Maté aus dem Jahr 1950. Für seinen 2007 erschienenen Krimi Citoyens clandestins erhielt er den Grand Prix de la littérature policière.

Dominique Manotti & DOA

Die ehrenwerteGesellschaft

Aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer

Assoziation A

Französische Originalausgabe: L‘Honorable société (Gallimard, 2011)

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogrammsdes französischen Außenministeriums,vertreten durch die Kulturabteilung der französischenBotschaft in Berlin.

Cet ouvrage, publié dans le cadre du programme departicipation à la publication, bénéficie du soutien duMinistère des Affaires Etrangères, représenté par leService culturel de L‘Ambassade de France à Berlin.

Die Reihe NOIR wird herausgegeben vonElfriede Müller, Frieder Rörtgen und Alexander Ruoff.

© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin | Hamburg 2012 | 3. Auflage 2014Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | 10961 Berlinwww.assoziation-a.de | [email protected] | [email protected] und Satz: kvISBN 978-3-862-41419-2eISBN 978-3-86241-622-6

INHALT

1. Freitag

2. Samstag

3. Sonntag

4. Montag

5. Dienstag

6. Mittwoch

7. Donnerstag

8. Freitag

9. Samstag

10. Sonntag

11. Montag

12. Dienstag

13. Mittwoch

14. Sonntag

15. Und danach?

Dominique Manotti Bei Assoziation A

Roman Noir Bei Assoziation A

1. Freitag

Das Studio ganz oben im Hinterhaus eines alten Pariser Gebäudes ist groß und luftig. Beide Fenster stehen offen. Draußen Dächer und da und dort das leise Echo laufender Fernseher. Weiter weg deutlich, aber unaufdringlich, der Lärm der Stadt. Poster von Walen, schwarzen Fluten, Atompilzen an den Wänden verkünden mit einem gewissen Triumph den bevorstehenden Weltuntergang.

Im Studio drei junge Leute.

Mitten im Raum arbeitet Julien Courvoisier, ein rundlicher Blondschopf, Mitte zwanzig, fieberhaft und konzentriert an einem 24-Zoll-iMac in makellosem Weiß, der zwischen Papieren und leeren Bierdosen auf einer aufgebockten alten Holztür thront. Auf dem Bildschirm ist nicht der Desktop von OS X Tiger, sondern der von Windows Vista zu sehen. Ein Mauspfeil bewegt sich ganz von allein. Fenster sind geöffnet, Word, Explorer und Outlook, und man sieht, wie eine E-Mail geschrieben wird. Dann und wann grunzt Julien zufrieden.

Hinter ihm, auf Kissen auf dem Boden ausgestreckt, Erwan Scoarnec, etwa gleichaltrig, groß, brünett, schlank, aber nicht mager, mit leicht slawischen Gesichtszügen. Er lässt Juliens Rücken nicht aus den Augen und versucht seine Nervosität, seine schlechte Laune mit einem Joint zu bezwingen. »Julien, schaffst du’s? Läuft es?« Keine Antwort, sicher hat Julien ihn nicht mal gehört. Nervtötend. Zwei Züge. »Scheiße! Antworte wenigstens, sag doch was!«

Eine lässige Handbewegung, sonst nichts.

Erwan steht auf, holt sich ein Bier aus dem Eisschrank in der Küche. Im Vorbeigehen wirft er einen zweideutigen Blick auf das Mädchen, Saffron, kaum älter als zwanzig, hochgewachsen, schlank, taillenlanges schwarzes Haar und fast durchscheinende weiße Haut. Mit The Stooges in den voll aufgedrehten Kopfhörern hat sie sich von der Welt abgeschnitten. Und von ihm. Auch sie. Frustrierend. Sie wiegt sich im Rhythmus vor einem schmalen, hohen Spiegel, der an einem Bücherstapel lehnt, fasziniert von diesem Bild von sich selbst, in dem sie sich nicht auf Anhieb wiedererkennt.

Ein Gebrüll, an Tarzan erinnernd, Julien springt auf, wirft die Arme hoch. Die beiden anderen stürzen zu ihm. Sie stehen alle wie angewurzelt. Vor ihren Augen verändert sich das Bild auf dem Desktop, ein neues Fenster geht auf, darin wird ein Video sichtbar, und die Boxen des Geräts fangen an, Hintergrundgeräusche von sich zu geben.

»Live aus der Wohnung vom alten Soubise.«

»Du bist bei ihm zu Hause?« Saffron kann es nicht fassen.

»Ohne Scheiß?« Erwan, die Kippe im Mund.

»Yes, man. Und ich kontrollier auch seine Webcam.«

Die Bilder zeigen einen weißen Raum mit hoher Decke, Haussmannsche Maße, an den Wänden Regale voller Bücher und Aktenordner und im Hintergrund eine geöffnete Tür zum Flur. Im Vordergrund ein Mann, Anfang vierzig, graumeliertes Haar, bartloses, scharfgeschnittenes Gesicht, nicht schlecht für einen Alten. Er sitzt vor sich hinpfeifend am Schreibtisch.

Soubise. Der Mann im Hintergrund. Der Feind. In Reichweite, ihnen ausgeliefert. Das Feld der Möglichkeiten, das sich vor ihnen auftut, ist schwindelerregend.

»Erklär’s mir, Julien, ich versteh’s nicht.« Saffron hat eine dunkle Stimme und einen merkwürdigen Akzent, in dem sich Anklänge aus dem Südwesten mit einem Hauch Englisch mischen. Ihr Nachname ist Jones-Saber. Ihre vor langer Zeit verstorbene Mutter war Französin, ihr Vater ist Engländer, und sie ist im Périgord aufgewachsen.

Julien glänzt: »Am schwierigsten war es, seine IP-Adresse zu finden. Ich habe ihm unter dem Namen seines Chefs Cardona, des großen Gurus der CEA, eine E-Mail mit einer JPG-Datei im Anhang geschickt. Und diese Virendatei hat mir die Adresse zurückgemailt.« Er frohlockt, wirft sich vor Saffron in die Brust. »Soubise ist nicht besonders vorsichtig. Er fühlt sich sicher, weil es sein privater Laptop ist.«

Erwan fasst wieder Fuß, das ist vertrautes Gelände. »Wie auch immer, dank der neuen Technologien sitzen diese Kerle jetzt im Glashaus.«

»Nein, nicht alle. Einmal bin ich schon erwischt worden.« Julien schnappt seine Bierflasche, trinkt einen Schluck und deutet auf den Bildschirm. »Okay, mit der IP-Adresse braucht man dann nur noch eine gute Software, die die Lücken einer anderen Software nutzt. Hier zum Beispiel ist der Schwachpunkt Quicktime.«

»Hör auf mit deinem Spezialistengewäsch, du siehst doch, dass du Saf’ auf die Nerven gehst.«

»Nein, gar nicht, red weiter, ich mag Poesie.«

»Einfach ausgedrückt, ist der Schwachpunkt die Art, wie die letzte Version von Quicktime mit den Speicherbefehlen umgeht. Da die üblichen Firewall- und Antivirus-Programme das Programm kennen, ist seine Aktivität nicht verdächtig. Wenn man darüber eindringt, erregt das keine Aufmerksamkeit. Und mit dieser krummen Tour kann man dann spielen, man braucht nur zu wissen, welchen Code man eingeben muss.« Pause. »Und ich weiß es.« Julien triumphiert.

Soubise beugt sich zu ihnen, das heißt zu seinem PC, und Saffron und Erwan haben denselben Reflex, sie zucken zurück, erst dann schauen sie sich an und lachen.

»Eine Runde für alle!«, ruft Erwan. Er zündet den Joint wieder an, zieht einmal und reicht ihn weiter an seinen Kumpel. Dann geht er noch mal zum Eisschrank und holt weitere Bierflaschen.

Benoît Soubise konzentriert sich ein letztes Mal auf den Bildschirm, um den Schluss seiner zusammenfassenden Mail noch einmal durchzulesen. Er verbessert ein Wort, ändert zwei Kommata, kürzt einen Satz, dann schickt er sie ab und verlässt Outlook.

Das Fenster seines Arbeitszimmers steht offen, die Fassaden der ruhigen Straße im 17. Arrondissement fangen das letzte Licht des Tages ein. Der April ist dieses Jahr besonders mild. Er schaut auf die Uhr, zwanzig Uhr vorbei, und denkt, er sollte los zu dem Abendessen, das Barbara für ihn organisiert hat, auch wenn ihn die Freunde, die sie ihm vorstellen will, nicht interessieren.

Auf seinem Computer erscheint der Bildschirmschoner.

Soubise steht auf, geht ins Schlafzimmer, betrachtet sich flüchtig im Ankleidespiegel. Er überlegt kurz, ob er sich umziehen soll, und verzichtet, die Jeans werden es tun, sie sind von Armani, und das weiße Hemd ist noch präsentabel. Er fährt sich rasch durchs Haar, um es etwas zu bändigen. Er nimmt den leichten Regenmantel von der Sessellehne, im Flur im Vorbeigehen seine Autoschlüssel und verlässt die Wohnung.

Das Autoradio ist auf France Inter eingestellt. Die Abendnachrichten laufen, hauptsächlich Berichte über den Präsidentschaftswahlkampf. Nach den letzten Meinungsumfragen vor dem ersten Wahlgang an diesem Wochenende liegt der Kandidat der Rechten, Pierre Guérin, weit vorn. Ihnen zufolge hat er über fünf Punkte Vorsprung vor seinem ernsthaftesten Herausforderer, Eugène Schneider, dem Champion der größten Oppositionspartei. Von den anderen zehn Kronprätendenten kann, heißt es im Kommentar des Senders, nur die Vertreterin des Zentrums noch punkten, wahrscheinlich auf Kosten Schneiders, dem sie am meisten Stimmen wegnähme.

Soubise, den Ellbogen im offenen Fenster, betrachtet die Gegend und hört zerstreut zu.

Der Moderator redet weiter über Politik, er erinnert an die Unterzeichnung des Dekrets zum Bau des EPR-Reaktors1 in Flamanville am 11. April letzten Jahres. Guérin, derzeit Finanz- und Wirtschaftsminister und Kandidat bei den Präsidentschaftswahlen, habe heute erklärt, für wie gut er dieses Projekt halte, das eine neue Ära für die französische Atomindustrie einläute und ihren führenden Rang bekräftige. Überrascht stellt Soubise lauter und hört aufmerksam zu. Vor ein paar Monaten noch war die Haltung des Ministers ganz anders, er war entschieden gegen die neue Technologie. Warum diese Kehrtwende? Jetzt? Das Timing droht Guérins eigene Projekte zu gefährden. Es sei denn, er plant irgendeine Schweinerei.

Sobald der Moderator geendet hat, greift Soubise zum Handy und sucht die Nummer von Cardona im Telefonbuch – vielleicht hat der eine Erklärung für dieses Rätsel –, ohne zu merken, dass er von der Spur abkommt. Sein rechtes Vorderrad streift den Gehsteig, er steuert zu heftig gegen und landet in einem parkenden Lieferwagen. Aufprall, der Sicherheitsgurt spannt sich, der Airbag bläst sich auf, die Hand mit dem Telefon wird nach oben gerissen und der Apparat schlägt ihm die Augenbraue auf, die zu bluten anfängt.

Soubise steigt gereizt aus, betrachtet die Schäden, Auto kaputt, die Frontschürze schleift am Boden und streift das linke Rad. Er schaut sich mit einem langen Seufzer um. Rote Rinnsale auf seinem Regenmantel. Er flucht und wischt mit dem Handrücken darüber. Sinnlos, er vergrößert die Flecken nur. Hinter Soubise hat ein Autofahrer angehalten und fragt, ob alles in Ordnung sei. Schlägt vor, den Rettungsdienst zu rufen. Nicht nötig. Pannendienst? Gern.

Bis sein Wagen abgeschleppt ist und er seine Adresse an der Windschutzscheibe des anderen Wagens hinterlassen hat, ist Soubise schon eine dreiviertel Stunde zu spät dran. Es ist dunkel geworden und Barbara ruft an, besorgt. Er beruhigt sie, aber fürs Abendessen sagt er ab, fast erleichtert. Er müsse nach Hause, um seine verletzte Augenbraue zu desinfizieren und sich umzuziehen, und würde viel zu spät da sein. Sie bietet ihm an, zu kommen, aber er lehnt ab, sie solle sich um ihre Gäste kümmern, er werde sie anrufen, bevor er ins Bett geht, und gute Nacht sagen.

Zwanzig Minuten später setzt ein Taxi Soubise vor seiner Haustür ab. Auf seinem Stockwerk angekommen, steckt er den Schlüssel ins Schloss, dreht ihn um und erstarrt. Etwas irritiert ihn. Er braucht eine oder zwei Sekunden, um zu begreifen, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er schließt seine Tür immer ab. Zweimal. Vielleicht hat er es vergessen, als er heute Abend gegangen ist, aber … Geräuschlos öffnet Soubise die Tür und schleicht hinein.

Der Flur liegt im Dunkeln. Er wartet, bis seine Augen sich an das mangelnde Licht gewöhnt haben, und lauscht. Die Treppenhausbeleuchtung hinter ihm erlischt. Jetzt ist es vollkommen schwarz. Ein paar Sekunden vergehen, dann sieht er es, undeutlich, flackernd, in seinem Arbeitszimmer. Ein Lichtbündel. Eine Taschenlampe. Jemand ist hier. Jetzt hört er es auch. Tastaturgeräusche, Papiergeraschel. Er hat eine Waffe, aber die befindet sich dort, bei dem oder den Eindringlingen.

Leise geht Soubise zur Küche am anderen Ende des Flurs. Ohne den Blick von der Richtung zu wenden, aus der die Gefahr droht, ertastet er seinen Messerblock auf der Arbeitsplatte und nimmt das größte heraus.

Er geht durch die Wohnung. Das Arbeitszimmer liegt ganz vorn, zur Straße hinaus, die zweite Tür nach dem Wohnzimmer. Gegenüber das Schlafzimmer mit der Ankleide und links das Bad. Langsam nähert er sich dem Licht, kann endlich einen Blick ins Zimmer werfen. Ein einzelner Mann, der seine Rückkehr nicht bemerkt hat. Soubise tritt auf die Schwelle, in der rechten Hand das Messer, die linke auf dem Lichtschalter. Einen Moment lang mustert er die vornübergebeugte Gestalt. Breitschultrig, dunkler Parka, Kapuzenmaske, Handschuhe, sichere Bewegungen, ein Profi. Er beobachtet die Aktivität einer externen Harddisk, die mit Soubises Laptop verbunden ist. Dessen Kontrolllampe blinkt.

Immer noch keine Reaktion.

Soubise macht Licht, bleibt einen Moment geblendet stehen.

Der Mann hat sich aufgerichtet, ebenfalls überrascht. Er fängt leise an zu fluchen, dreht sich um und sieht, dass ihn der Hausherr in flagranti erwischt hat. Schnell bemerkt er das Messer. Reflexhafte, beruhigende Geste, ein Schritt vorwärts. »Warten Sie, ich erkläre es Ihnen.«

Soubise hebt seine Waffe. »Komm nicht näher.«

»Wir können uns verständigen.«

»Geh zum Fenster und dreh dich um.«

Der Einbrecher zögert.

»Mach schon!«

Der Einbrecher gehorcht.

Soubise kommt ins Zimmer, mustert einen Moment lang seinen Computer. Der Fortschrittsbalken auf dem Bildschirm ist zu drei Vierteln voll. Er kopiert meine Dateien. Warum, für wen? Soubise unterbricht den Vorgang, dann schaut er den Mann an, der ihn nicht aus den Augen lässt.

»Ich hab gesagt, du sollst dich umdrehen.«

»Besser, Sie lassen mich gehen.«

»Du bist in meiner Wohnung, du hast mich angegriffen, ich hab mich mit den verfügbaren Mitteln gewehrt. Wenn ich dich ersteche, wird kein Hahn danach krähen.« Soubise greift nach seinem Handy. »Ist also besser, wenn du das Maul hältst und gehorchst.« Er wählt die 17 und will gerade auf die Anruftaste drücken, als sein rechter Arm brutal nach hinten gerissen wird.

Ein zweiter Einbrecher. Mit einer Hand umklammert er Soubises Handgelenk und kontrolliert die Waffe, mit der anderen stößt er ihn gegen die Wand. Stark, schnell. Aufprall. Gesicht voraus, die Nase bricht. Aufprall. Das Handgelenk knallt gegen den Türrahmen und bricht. Soubise schreit auf, verliert das Messer. Dreht sich um, der zweite Angreifer, ebenfalls maskiert, setzt zu einem Fausthieb ins Gesicht an. Soubise weicht aus, wendet das Gesicht ab. Gegenangriff, blindlings, erstaunlich schnell. Der Schlag ist nicht sehr wirkungsvoll, aber er überrascht den Gegner und trifft ihn seitlich am Kopf. Der Mann weicht etwas zurück, packt Soubise an den Schultern und stößt ihn vor Wut grunzend in Richtung Schreibtisch. Soubise verliert das Gleichgewicht, taumelt nach vorn und stürzt mit der Schläfe gegen die Tischkante. Bricht leblos zusammen.

Keuchen, die beiden Maskierten stehen reglos über der Leiche.

»Wir verduften!«, sagt der eine.

Der andere rührt sich nicht.

»Mach schon, wir hauen ab!«

Endlich eine Reaktion. Die Harddisk. Sie verschwindet in einem Beutel. Dann wieder Zögern, der Computer?

»Nimm endlich die Beine in die Hand!«

Das Licht geht aus. Hastige Schritte im Flur. Sein Kumpel verdrückt sich. Der zweite Einbrecher packt den Laptop, reißt mit einer knappen Bewegung alle Kabel ab und steckt ihn in die Tasche. Dann verschwindet er ebenfalls.

Im Studio reagiert Erwan als Erster, nach einem langen Augenblick der Verblüffung. »Hast du alles?« Er schüttelt seinen Freund heftig. »Oh! Julien!« – »Lass mich los! Geht’s noch!« – »Hast du alles gespeichert?« – »Ja!«

»Das Video und was er in seinem Computer hatte?«

»Ich sag doch, ja! Lass mich jetzt los!«

»Zeig’s mir noch mal.«

»Wozu?«

»Ich will sehen, dass wir wirklich alles draufhaben.«

Widerwillig geht Julien zum iMac. Er braucht ein paar Sekunden, bis er so weit ist, die Maus anzufassen. Er holt tief Luft, dann fängt er an, schiebt den Cursor im Quicktime-Fenster vorwärts und hält bei der Silhouette eines Maskierten an, der sich vor der Kamera im Zwielicht zum Objektiv beugt.

Das Licht geht an.

Scheiße… Aber was… Warten Sie, wir können uns verständigen …

Auftakt zu einer kurzen Auseinandersetzung, surreal, weil der dramatische Ausgang bekannt ist. Drei Gestalten beginnen ein morbides Ballett der Gewalt. Nur Soubise ist identifizierbar. Kampfgeräusche, Keuchen, Schläge, Krachen, Schmerzensschrei, blutendes Gesicht, Klagelaute, Grunzen. Weitere Schläge, Möbel fallen um, Stöße, ein Körper fällt.

Dann nichts mehr, nur noch Keuchen. Und das dringende Bedürfnis, etwas zu tun.

Julien hält den Film an.

Saffron zittert. »Dieser Typ, Soubise, ist tot.«

Sie wissen es alle drei, es geht jetzt nicht mehr bloß ums Hacken, sie sind in einen Einbruch und Überfall, wahrscheinlich mit Todesfolge, verwickelt. Und zwar nicht auf irgendwen. Der Ärger, der auf sie zukommen kann, ist ungleich größer geworden.

Erwan stellt die Frage, die allen dreien durch den Kopf geht.

»Julien, kann man das bis zu uns zurückverfolgen?«

Julien zuckt die Achseln, senkt die Augen, zögert. »Normalerweise müssten wir sicher sein.«

»Normalerweise?« Erwan regt sich auf. »Was soll das heißen, normalerweise?«

»Normalerweise heißt normalerweise. Ich hab deine IP-Adresse gespoofed, um sie zu verstecken, und bin über mehrere Apparate und Server gegangen, bevor ich die Verbindung zum Computer dieses Blödmanns hergestellt hab. So wäre er nie bis zu dir gekommen, aber …«

»Aber?«

»Wie konnte ich wissen, dass zwei Kerle bei ihm einbrechen und seinen Laptop klauen würden? Wusstest du es? Wenn sie sich das System anschauen, werden sie rausfinden, dass jemand drin war! Dann fangen sie an zu suchen, wer das war, das ist sicher. Und wenn sie gut sind, wird es dauern, aber sie werden es rausfinden.« Wie um sich weiter zu rechtfertigen, fügt Julien hinzu: »Es sollte diskret sein, so ein Scheiß war nicht vorgesehen!«

Erwan murmelt zwischen den Zähnen »Wenn sie gut sind«, dann explodiert er: »Verflucht noch mal!« Eine Zeitlang Stille. Er geht langsam durchs Zimmer, stützt sich einen Moment aufs Fensterbrett, holt tief Luft.

Die beiden anderen schauen ihn an, warten. Erwan kommt zu ihnen zurück. »Okay, wir müssen uns beruhigen. Und nachdenken.«

Alle drei setzen sich im Kreis auf die Kissen.

Erwan müsste reden, aber er bleibt stumm, also fängt Saffron an, mit unsicherer Stimme. »Müssten wir nicht die Polizei rufen?«

Die beiden Jungen füsilieren sie mit Blicken und Erwan antwortet: »Sicher nicht! Das ist das Letzte, was wir tun dürfen. Julien ist schon mal verurteilt worden, weil er sich in Computersysteme gehackt hat, und seine Bewährung würde aufgehoben. Er käme sofort ins Gefängnis. Und ich hatte schon heftige Auseinandersetzungen mit Soubise. Genau deshalb sind wir heute Abend hier. Kommt also nicht in Frage, dass wir mit den Bullen reden, ist zu riskant.«

Julien schlägt vor, das Video ins Netz zu stellen. »Das ist unsere beste Chance. Wenn es erst mal öffentlich ist, sind wir mehr oder weniger in Sicherheit.«

Erwan überlegt einen Moment. »Ist es möglich, herauszufinden, wer eine Datei auf eine öffentliche Videowebsite gestellt hat?«

»Nicht so leicht. Und wir können uns verstecken, damit wir nicht so schnell identifiziert werden können, aber … Es gibt immer ein Risiko.«

»Dann nicht, nicht ins Netz.«

»Verdammt, Erwan!«

»Nicht ins Netz! Nicht sofort. Uns bleiben noch zwölf Tage bis zu unserer Operation. Nach dem, was heute Abend passiert ist, wird es eine Untersuchung geben. Wenn wir darein verwickelt werden, werden wir verhört, auf die eine oder andere Art in die Enge getrieben, und Gédéon fällt ins Wasser, das kommt nicht in Frage. Wir verzichten nicht auf eine Aktion, die wir seit sechs Monaten vorbereiten, ein echt großes Ding, von dem alle träumen und das noch nie jemand durchgezogen hat.«

»Gédéon? Und was passiert, wenn deine Profis uns vorher finden?«

»Wir verschwinden. Wir haben schon alles geplant, oder? Maximal zwei Wochen müssen wir durchhalten, simple Routine.« Stille, dann steht Erwan auf. »Sehr gut, die Entscheidung ist getroffen. Die üblichen Sicherheitsmaßnahmen. Julien, du weißt, wo du hingehen musst, und arbeitest weiter an Gédéon. Saf’, ich nehm dich mit, ich bring dich in Sicherheit, dann geh ich in mein Versteck.«

Saf’ seufzt und nickt.

Erwan nimmt ihr Gesicht in die Hände. »Ich kümmere mich um das Video, wenn Gédéon gelaufen ist. Versprochen! Und jetzt action!«

In den folgenden Sekunden beginnt das Klarmachen zur Flucht.

Julien kümmert sich um den Computer. Nachdem er die Festplatte so gut wie möglich gesäubert hat, schaltet er den iMac ab und verstaut ihn in einem großen Müllsack. Dann gibt er Erwan den USB-Stick. »Die Dateien, die ich Soubise geklaut habe. Mit dem Video. Das ist die einzige Kopie. Wäre besser, noch eine zu machen.«

»Nein, die hier genügt. Die Info kontrollieren, erinnerst du dich? Saf’?«

Die junge Frau, dabei, alle Spuren ihrer Anwesenheit im Studio verschwinden zu lassen, dreht sich zu Erwan um.

»Du bewahrst ihn auf. Julien und mich kennen die Bullen. Dich hat niemand auf dem Radar. Außerdem wird Julien beschäftigt sein, und ich muss mich bewegen können, es ist riskanter, wenn ich ihn habe. Da.«

Saffron zögert, dann streckt sie die Hand aus. Der Stick verschwindet in einer Tasche ihrer Jeans.

Das Aufräumen dauert bis nach Mitternacht.

»Von jetzt an Schluss mit den Handys. Ihr werft eure Chips und eure Batterien weg. Alle Kontakte laufen über Facebook, mit dem gültigen Code. Und Treffen finden am gewohnten Ort statt.«

Sie brauchen noch eine gute Stunde, um ein paar Sachen einzupacken und zu prüfen, ob nichts in der Wohnung bleibt, das sie verraten oder Gédéon in Gefahr bringen könnte. Und eine weitere, um ein letztes Bier zu trinken, bis sie sich entschließen können, sich zu trennen.

Als sie die Wohnung gegen zwei Uhr morgens verlassen, verfehlt Julien, angespannt und ungeschickt, im engen Treppenhaus eine Stufe und lässt fluchend den Mac fallen. Entnervt steht er wieder auf, lehnt die Hilfe der beiden anderen ab. Geht weiter. Ein paar Minuten später wird der Computer in Saffrons altem schwarzen Golf verstaut, Erwan und Saf’ steigen ein, und Julien geht zu Fuß in die Nacht.

2. Samstag

Ein anthrazitgrauer Peugeot 307 hält vor einem Gusseisenarchitektur-Gebäude in der Parallelstraße der Rue de Réaumur, direkt vor der Kreuzung Sébastopol. Darin zwei Männer. Der Beifahrer, ein großer, kräftig gebauter Schwarzer mit kurzen Haaren in einem dunkelblauen Parka steigt aus, einen Beutel in der Hand. Drei rasche Schritte, und er steht unter einem düsteren Portalvorbau. Er tippt den Code ein, drückt die schwere Metalltür auf und verschwindet.

Im ersten Gebäude, zur Straße hin, lauter Konfektionswerkstätten und Showrooms für Prêt-à-porter-Mode. Er geht durch einen düsteren Gang und kommt in einen Hof, der vom Neonlicht des Lofts im Erdgeschoss erhellt wird. Die einzigen Lebenszeichen sind seine gummisohlengedämpften Schritte und das durch die mattierten Scheiben verunreinigte bläuliche Licht.

Die Tür, die er sucht, liegt direkt neben dem Mülleimerunterstand. Neben der Tür ein Schild: SISS – Société Info Services Sécurité (Gesellschaft für Informations- und Sicherheitsdienste). Der Mann horcht, gedämpftes Klimaanlagengeräusch, und klopft.

Nach ein paar Sekunden öffnet ihm ein schmerbäuchiger Bärtiger, der offenbar allein ist. Hinter ihm mehrere Schreibtische, Computer und auf dem Boden ein Wirrwarr von Kabeln. »Tag, Jean.« Ohne abzuwarten, streckt er mit argwöhnischer Miene die Hand aus.

Der Beutel wechselt den Besitzer.

»Wir haben auch den Laptop mitgenommen.«

Überraschung, mit Angst gemischt. »Warum?«

Der Schwarze antwortet nicht, fragt stattdessen: »Wann?«

»Das war nicht vorgesehen!«

»Geht dich nichts an. Wann?«

Zögern. »Morgen früh um acht, hier.« Der Bärtige macht die Tür wieder zu.

Scoarnec steuert den alten Volkswagen präzise und vorsichtig über die kleinen Landstraßen in der Pariser Umgebung.

Saffron neben ihm, hypnotisiert von dem Asphalt, der im Licht der Scheinwerfer vorbeizieht, sieht in einer Endlosschleife die Szene wieder vor sich, die sie im Video zweimal mitangesehen haben. Er ist tot. Ihr Verstand ist blockiert. Sie weiß nicht, wo sie ist, sie weiß nicht, wohin sie fährt. Ein Blick zu Erwan. Er scheint ruhig. Sie ist unfähig zu sprechen. Ihre Nerven liegen blank. Sie spürt schmerzhaft den Stoff ihrer Jeans an den Beinen. Der USB-Stick in ihrer rechten Tasche brennt auf ihrem Schenkel.

Erwan hält vor dem Tor eines verlassen wirkenden Anwesens, parkt am Rand eines Weges und hilft Saffron beim Aussteigen. »Wir sind da. Hier kannst du dich bis Gédéon verstecken.« Lächeln. »Ich bin sicher, es wird dir gefallen.« Er nimmt sie an der Hand, zieht sie einen Pfad unter Bäumen entlang. Die Dunkelheit dort ist schwärzer als schwarz.

An seinen Arm geklammert geht Saf’ mit halbgeschlossenen Augen, wie eine Schlafwandlerin.

Vor der Tür eines massiven Gebäudes macht Erwan Halt. Nicht weit entfernt in der Dunkelheit das Plätschern von Wasser. Er klingelt. Um diese Zeit? Im ersten Stock wird es hell, dann im Erdgeschoss. Die Tür geht auf. Sie werden geblendet.

Eine große Frau im Morgenrock, breites, weißes Gesicht mit vorspringenden Backenknochen, zwei blassblaue Augen, ins Kupfer spielende rote Mähne. »Erwan!« Sie umarmt ihn. Ohne einen Blick für Saffron.

»Ich hab dir eine Freundin mitgebracht, Sylvie Jeansaint. Ich vertrau sie dir ein paar Tage an. Es ist wichtig, Tamara.«

Schneller Blick zu Saf’. »Wenn du’s sagst. Aber nur unter einer Bedingung: Du bleibst übers Wochenende hier.« Tamara dreht sich um, bevor er antworten kann, holt einen Schlüssel aus einem Schrank und reicht ihn Erwan. »Der rote Pavillon, du kennst ihn schon. Du nimmst das rechte Appartement, das linke ist schon besetzt. Maurice lässt Gérard das Stück lesen, das er für ihn geschrieben hat.« Sarkastische Schnute. »Kannst dir’s vorstellen.« Die Frau grüßt mit einer Handbewegung und macht die Tür wieder zu.

Saffron ist völlig verloren.

Roter Pavillon. Kleines Appartement, komfortabel. Im Livingroom stechen die Blautöne eines Nicolas de Staël grell von der scharlachroten Wand ab. Im beruhigenden weißen Schlafzimmer ein Gemälde des Fujiyama im Frühling.

Saf’ beginnt lautlos zu weinen.

Erwan führt sie sehr sanft zu dem makellosen großen Bett, zieht sie mit behutsamen, keuschen Gesten aus und hilft ihr, unter die Bettdecke zu kriechen. Auf dem Rücken liegend, mit geschlossenen Augen und nassem Gesicht, lässt sie sich gehen.

Erwan holt im Bad ein Glas Wasser, durchsucht den Toilettenschrank, findet wie erwartet ein Sortiment Schlafmittel und trifft umsichtig seine Wahl. Saf’ ist nicht an Schlaftabletten gewöhnt. Er kommt ins Schlafzimmer zurück, lässt sie die Kapseln schlucken, setzt sich auf die Bettkante und hält ihre Hand. Kaum eine Minute später schläft sie. Vier Uhr morgens, der graugesichtige junge Polizeioffizier, der die Männer von der Brigade criminelle empfängt, sieht sauer aus. Er hatte im Kommissariat des 17. Arrondissements Bereitschaftsdienst, als der Anruf kam. Endlich mal was Interessantes. Aber es gibt noch weitere Bereitschaften in Paris, bei der Staatsanwaltschaft und am Quai des Orfèvres. Und bei der Polizei herrscht die unerbittliche Realität der Nahrungskette, wie anderswo auch. Ein Verbrechen gehört der Kriminalpolizei. Vor allem wenn sie in dem Moment nicht viel zu tun hat.

Also zieht er ein langes Gesicht, der müde kleine Leutnant in Uniform, als er den drei Herren in Zivil voraus die mit rotem Läufer belegten Treppen zu Soubises Wohnung hinaufsteigt. »Seine Lebensgefährtin hat uns angerufen. Gegen zwei Uhr früh. Sie hatte ihn gerade gefunden.«

Er wendet sich an den Mann direkt hinter ihm, den freundlichsten von den dreien.

Anfang vierzig, nicht sehr groß, braune Mähne, Seitenscheitel, Brille. Ein Playmobilschnitt über einem Allerweltsgesicht. Wildlederblouson, Jeans und Slipper. Commandant Michel Pereira, Criminelle, hat er sich vorgestellt. Commandant. Und er spricht auch am meisten. Wahrscheinlich der Teamchef.

»Gefunden? War sie nicht bei ihm?«

»Nein. Sie lebt nicht mit ihm zusammen.«

»Verheiratet? War sie seine Geliebte?«

»Ledig, also nein. Sie waren nicht verheiratet. Sie waren zusammen, aber noch nicht so lange. Heute Abend hatte sie Gäste bei sich zu Hause. Das Opfer, ein gewisser Benoît Soubise, sollte auch kommen, aber er hat abgesagt. Autounfall, angeblich. Jedenfalls sagt sie das.«

»Was wollte sie dann hier? War es ausgemacht, dass sie danach zu ihm kommt?« Der so unausgegoren fragt, folgt direkt hinter Pereira. Mit seinen Turnschuhen und dem städtischeren, jugendlichen Outfit ist er wahrscheinlich ein unterer Dienstgrad. Einfacher Polizist. Thomas hatte er nur gesagt, als er ihm die Hand gab.

»Der Frau zufolge wollte er wieder anrufen und hat es nicht getan. Sie hat sich Sorgen gemacht und ist zu ihm gefahren.« Der Polizeioffizier vom 17. zögert. »Sie ist ziemlich erschüttert. Glaube ich zumindest.«

Als die vier Männer Soubises Stockwerk erreichen, sagt der letzte Typ von der 362, der bis dahin noch nicht den Mund aufgemacht hat, nicht mal um guten Tag zu sagen, sich im Hintergrund gehalten und überall umgeschaut hat: »Sagen Sie mir den Namen der Lebensgefährtin noch mal?«

Der kleine Leutnant dreht sich überrascht zu Pereira um und erntet nur ein wohlwollendes Lächeln. So antwortet er dem großen Hageren, der ein sehr elegantes schwarzes Samtjackett trägt und in so gebieterischem Ton spricht, dass klar wird, wer hier zu befehlen hat: »Barbara Borzeix. Sie wohnt in der …«

»Das sehen wir noch. Ist sie das unten bei den Feuerwehrleuten?«

»Ja.«

Unverzüglich erhält Thomas, Toto, den Befehl, sich um die Frau zu kümmern, zu prüfen, ob sie in Ordnung ist, und wenn ja, sie zu ihnen zu bringen und um Geduld zu bitten. Dann wendet sich schwarzer Samt an ihren Gastgeber vom Siebzehnten und begrüßt ihn endlich. »Pétrus Pâris«, die Hand ist schmal und zart, der Händedruck fest, »nach Ihnen.« Und er schubst den Polizeioffizier in die Wohnung vor ihnen, die offen ist, wobei er sich bemüht, den Techniker von der Spurensicherung, der an der Tür arbeitet, nicht zu stören. Tatsächlich ist er der Teamchef.

Der andere, Pereira, ist nur der Stellvertreter. Der zeigt beim Eintreten auf das Schloss. »Einbruchspuren?«

»Keine.«

»Die Leiche?« Immer noch Pereira.

»Hinten im Arbeitszimmer.«

»Todesursache?« Pâris.

Diese beiden kennen sich in- und auswendig.

»Der Gerichtsmediziner ist dran, er wird es Ihnen vielleicht sagen können. Der Mann hat sich geprügelt, das ist sicher, in dem Zimmer herrscht Chaos. In der Nähe des Toten haben wir ein Küchenmesser gefunden, aber niemand hat es eingesetzt. Jedenfalls nicht gegen das Opfer.«

Sie gehen durch den Flur und bleiben auf der Schwelle zum Tatort stehen, neben einem Mann in Zivil. Dem Arzt. Begrüßungen, die zwischen alten Bekannten üblichen nachlässigen Höflichkeiten. Im Zimmer weitere Techniker, Ausrüstung, Markierungen. Eine Leiche. Heruntergeleierte Erklärungen zur Todesursache. Die Todeszeit scheint mit den Aussagen der Frau übereinzustimmen, zwischen zwanzig Uhr und zwei Uhr morgens. Es hat einen Kampf gegeben. Das Handgelenk und die Nase des Opfers sind gebrochen, eine Augenbraue verletzt und der Schädel auf der linken Seite eingeschlagen. Diese Verletzung hat wohl zum Tod geführt. Wahrscheinlich auf eine Tischkante aufgeschlagen. Der Schreibtisch ist markiert.

Pâris mustert das billige Möbelstück aus dunklem Holz, Typ Ikea, von weitem. Er bemerkt den Drucker rechts, auf einem Metallrollkasten mit Schubladen, und die leere Tragtasche des Laptops links auf dem Boden. Papiere liegen verstreut herum. Herunterhängende Kabel. Es fehlt etwas. Ein Computer zum Beispiel. Zerstreut hört er jemand sagen: schiefgegangener Einbruch. Er wendet sich an Pereira, der ihn beobachtet, deutet mit dem Kinn zur Mitte des Raums. »Und im Rest der Wohnung irgendwas Besonderes?«

»Nein, auf den ersten Blick ist nichts angerührt worden. Unser Mann hatte noch seine Papiere bei sich, Bargeld, eine teure Uhr. Ebenso im Schlafzimmer, eine weitere, ältere Uhr aus Gold, und zwei oder drei Kleinigkeiten, Kette und Siegelring, ebenfalls aus Gold, in einer Schatulle auf dem Nachttisch. Meiner Meinung nach ist er zurückgekommen und hat den oder die Einbrecher überrascht. Sie hatten keine Zeit, irgendwas mitzunehmen.«

Außer dem Computer vielleicht. Komischer Einbruch. Wieder ein Blick von Pâris zu Pereira, der mit einer Grimasse und einem Nicken antwortet.

Eine Stunde später sind die Jungs vom Siebzehnten fast alle verschwunden. Auch Pâris ist zum Quai des Orfèvres zurückgekehrt. Pereira ist noch da. Mit ihm Ange Ballester, der Pedant, ein athletischer Mittdreißiger – er ist Langstreckenläufer –, sehr gepflegt, der inzwischen angekommen ist, um die Arbeit der Techniker zu überwachen. Für den Augenblick sucht er vor allem den Schlüssel zu einem gepanzerten Kästchen, das er in einem der Schränke von Soubises Arbeitszimmer entdeckt hat.

Ebenfalls vor Ort Estelle Rouyer und Claude Mesplède, zwei der drei Beamten, die Pereira in die anderen Stockwerke geschickt hat, um die Nachbarn zu befragen, als die anderen Bewohner sich über den Trubel aufzuregen begannen.

»Ich hab ihn.« Und last but not least Yves Coulanges, genannt La Coule, ein gut aussehender Blondschopf, der Querdenker laut Pâris.

»Wo war er?«

»Im Badezimmer. In einem Korb mit Kämmen, Bürsten und Deodorants.«

»Komischer Platz für ein Versteck.«

»Gar nicht. Wärst du drauf gekommen?«

»Du bist es.«

Coulanges zuckt die Achseln und geht vor Pereira zu dem Kästchen. Er schließt auf und öffnet es. Darin ein paar Goldstücke, persönliche Papiere, eine Box Visitenkarten mit dem Logo der CEA3, ein Ersatzmagazin und eine Glock 19 im Holster. Ein Polizeiausweis mit der Trikolore. »Verflucht, dieser Soubise war ein Kollege.«

Die 36, zwei winzige, niedrige Zimmer hintereinander unter dem Dach, kaum voneinander getrennt und vollgestopft mit den verwaltungsüblichen genormten Metallmöbeln. An schlechten Tagen arbeiten hier acht Personen, das ganze Team von Pâris. Gedämpftes Licht, Computer aus grauer Vorzeit, an den Wänden abgenutzte, verwaschene Pastellfarbe, eine schwächliche Grünpflanze im Duell mit drei kümmerlichen Kakteen. Auf den Schränken Verpackungsmaterial und leere Flaschen Single malts. Hinter jedem Bürosessel Nippes nach dem Geschmack des Arbeitsplatzinhabers oder Fotos.

Und ganz hinten in dieser Höhle sitzt Pâris, der leise spricht. Hinter ihm nur ein einziges Foto. Eine Frau um die vierzig mit zwei jungen Mädchen. Seine Familie. Hinter ihm.

Ihm gegenüber Barbara Borzeix. Groß, mit einer eindrucksvollen, kastanienbraunen, goldschimmernden Mähne. Schlichte, aber geschmackvoll gewählte Kleidung. Verführerisch, sogar im Schmerz. Sie hat nicht geweint, nicht vor ihnen. Die Beine übereinandergeschlagen, verschlossen, presst sie einen Becher mit schwarzem Kaffee in den Händen. Sie hat ihn noch nicht angerührt.

»Sie kennen also Monsieur Benoît Soubise seit vier Monaten. Wie haben Sie sich kennengelernt?«

»Beim Poker.«

»Spielen Sie oft?«

Borzeix nickt schwach. »Wenn ich die Gelegenheit habe.«

»In Klubs oder privat?«

»Beides.«

»Und Sie haben sich wo getroffen?«

»Im Aviation Club an den Champs Élysées.«

Kurze Pause.

»Seit wann sind Sie zusammen ausgegangen?«

»Seit etwas über zwei Monaten.«

Tastaturgeklapper von Thomas, der im Hintergrund die Aussage mitschreibt.

Neben ihm steht Leutnant Pierre-Marie Durand, der letzte Neuzugang der Gruppe. Auch er sehr groß, sehr schlank, Typ Intellektueller, immer ein Buch in Reichweite, sehr auf Sprache und Orthographie der Protokolle bedacht.

Eine Manie, die Thomas auf die Nerven geht.

Noch ein vierter Mann ist im Raum, ein ungebetener Gast. Auch er ist gerade erst in ihrem Umkreis aufgetaucht. Er heißt Nicolas Fourcade und ist stellvertretender Staatsanwalt. Ein kleiner Neuer. Vollkommen kahl, Brillengläser, die genauso rund sind wie sein Gesicht und seine verdutzten Augen vergrößern. Er hat darauf bestanden, bei der Aussage der Zeugin anwesend zu sein. Zur Kontaktaufnahme und Eingewöhnung.

Genug, um Pâris misstrauisch zu machen. Er fragt weiter. »Was hat Ihr Lebensgefährte so gemacht?«

»Er war nicht mein Lebensgefährte.«

»Was dann?«

Borzeix öffnet den Mund, um zu antworten, und macht ihn unentschlossen wieder zu. »Ich weiß nicht. Vielleicht doch mein Lebensgefährte, ja.«

»Lassen wir das. Also, was hat er gearbeitet?«

»Verkaufsingenieur. Für die EGT.«

»EGT?«

»Électricité générale et technique.«

»Was verkauft die EGT?«

»Industrie-Schaltschränke. Sie beliefert die EDF4 und vor allem die Areva5 … den Atom-Konzern.«

Belustigtes Lächeln von Pâris über diese Präzisierung. Sie scheint zu glauben, dass ich nicht weiß, was die Areva ist.

Borzeix bemerkt es.

»Kommen wir zum Ablauf dieses Abends zurück. Er sollte zum Abendessen zu Ihnen kommen, richtig?«

Borzeix nickt, dann berichtet sie von den Ereignissen des Abends, so wie sie sich daran erinnert. Der Anruf, der Unfall, die aufgeschlagene Augenbraue.

Damit ist schon eine der Verletzungen erklärt.

Unterbrechung von Fourcade, der Genaueres wissen will.

Gereizt fällt Pâris Borzeix, die antworten will, ins Wort, dazu kämen sie später. Er bittet sie, fortzufahren, was nach dem Pannendienst passiert ist und wann genau Soubise in seine Wohnung zurückgekehrt ist. Ihr zufolge.

»Kurz nach einundzwanzig Uhr dreißig, denke ich.«

»Sind Sie sicher?« Wieder Fourcade.

Borzeix nimmt ihr Handy aus der Handtasche, überfliegt die Anrufliste und schaut auf. »Ich habe ihn um einundzwanzig Uhr siebzehn angerufen. Da wurde sein Wagen gerade vom Pannendienst abgeholt. Er wohnt Richtung Place des Ternes und sein Unfall geschah, wie er sagte, in der Avenue Trudaine.«

»Wir werden das überprüfen, nicht wahr, Commandant?«

Pâris mustert den stellvertretenden Staatsanwalt, der nicht mit der Wimper zuckt, über die Schulter von Borzeix hinweg. Der Blick ist nicht freundlich. »Fahren Sie fort.«

»Er hat sicher nicht lange für den Heimweg gebraucht, wenn er sofort ein Taxi gefunden hat.«

»Okay, er kommt also zwischen einundzwanzig Uhr dreißig und einundzwanzig Uhr fünfundvierzig zu Hause an. Und dann?«

Leichte Überraschung. »Und dann? Wie soll ich das wissen?«

»Sie haben versucht, ihn zu erreichen, oder?«

»Ja, mehrmals. Aber viel später. Als meine Gäste gegangen waren. Ich war besorgt. Er hatte mich nicht wieder angerufen, wie er versprochen hatte. Ich habe mich gefragt, ob sein Unfall nicht schlimmer war, als er dachte, ob ihm schlecht geworden war.«

»Um wie viel Uhr war das?«

»Ich weiß nicht, ein Uhr oder viertel nach ein Uhr morgens.«

»Was haben Sie dann getan?«

»Ich bin zu ihm gefahren, um zu schauen, ob alles in Ordnung ist.«

Borzeix berichtet, dass bei ihrer Ankunft die Tür offen stand, sie sei hineingegangen und habe den Leichnam gefunden. Nach dem ersten Schock habe sie die Feuerwehr angerufen. Die dann die Polizei alarmierte. Die Fortsetzung wüssten sie.

»Es war also ein schiefgegangener Einbruch?«

»Wie kommen Sie darauf?«

Zum ersten Mal dreht sich Borzeix zu Fourcade um. »Das haben die anderen Polizisten vorhin gesagt.«

»Wir wissen es nicht. Vielleicht.« Pâris scheint einen Moment zu zögern, dann entschließt er sich. »Hatte Ihr Lebensgefährte einen Computer zu Hause? Einen tragbaren?«

»Ich weiß nicht. Möglich. Wahrscheinlich.« Kurze Pause. »Ja, ich glaube, ich habe ihn einmal mit einem tragbaren gesehen. Warum?«

Pâris kommt nicht zum Antworten, sein Handy auf dem Schreibtisch fängt an zu vibrieren. Pereira. Er nimmt ab, »Sag mir alles«, hört ein paar Sekunden zu. »Ich verstehe. Kommst du?« Wieder Stille. »Okay, bis gleich.« Er legt auf und schaut Borzeix lange an, bevor er wieder zu sprechen beginnt. »Was war noch der Beruf Ihres Lebensgefährten?«

Fourcade hört eine ganz leichte Spannung in Pâris’ Stimme.

Borzeix ebenfalls. »Verkaufsingenieur. Was ist denn?«

»Und Sie, in welchem Bereich arbeiten Sie?«

»Wirtschaftsrecht. Was ist denn los?«

»Sie sind Juristin? Anwältin?«

»Bis 2004 Anwältin. Dann bin ich in die Rechtsabteilung einer Hoch- und Tiefbaufirma gewechselt, die ich seit letztem Jahr auch leite.«

»Welche Firma?«

»PRG.«

Pâris hält einen Moment inne. PRG, der Picot-Robert-Konzern. Einst, in einem anderen Leben, war er bei einer anderen Polizei. Borzeix, jung, schön und vor allem brillant. Sie kontrolliert die ganze Rechtsabteilung der Nummer eins der französischen Betonunternehmen. Auf einen Schlag sitzt nicht mehr dieselbe Frau vor ihm.

»Ich verlange, dass Sie mir antworten, was ist los?«

»Commandant? Können wir uns unter vier Augen unterhalten?«

Fourcade macht Anstalten, aufzustehen.

»Das wird nicht nötig sein, Monsieur. Mademoiselle Borzeix«, Bedürfnis, das achtunddreißigjährige Fräulein auf seinen Platz zu verweisen, »sehen Sie einen einzigen guten Grund, warum Monsieur Soubise, Ihr Lebensgefährte«, Pâris insistiert auf diesem Wort, »Sie über seine wahre Tätigkeit belogen hat?«

Verwirrung. Nicht gespielt. Das kann Páris unterscheiden, schon lange.

»Was heißt das?«

»Der verstorbene Benoît Soubise war offenbar Polizeioffizier, wie ich.«

Ein Schlag für Borzeix. Schwankend stellt sie ihren immer noch unberührten Kaffee auf den Schreibtisch. Nach ein paar Sekunden bekommt sie wieder etwas Farbe.

Fourcade sagt ausnahmsweise nichts.

Pâris ist es zufrieden und fängt wieder an. »Das ist alles sehr merkwürdig. Ein Mann wird in seiner Wohnung überfallen, er stirbt. Gestohlen wird nichts. Seine Lebensgefährtin findet den Toten, und es scheint so, als hätte er sie über sein Leben belogen. Und über seine Arbeit als Polizist. Es sei denn, dass Sie uns an der Nase herumführen. Haben Sie etwas zu verbergen, Mademoiselle Borzeix? Besser, Sie sagen es uns jetzt, denn früher oder später finden wir es doch heraus.«

Der Blick von Borzeix, bis dahin ratlos und verloren ins Leere gerichtet, kehrt zu Pâris zurück, eisig.

Sie hat sich schnell wieder gefasst, die kleine Dame.

»Was unterstellen Sie mir?«

»Im Moment nichts.«

»Ich war den ganzen Abend mit Freunden zusammen. Am anderen Ende von Paris. Rufen Sie sie an, sie werden es Ihnen bestätigen.«

»Das werden wir tun. Aber zunächst müssen wir uns mit Ihnen befassen. Und ich glaube, das wird länger dauern als vorgesehen. Kann ich Ihnen noch einen Kaffee anbieten?«

Aus dem Augenwinkel bemerkt Pâris, dass Fourcade ihn aufmerksam beobachtet. Der stellvertretende Staatsanwalt hat schnell begriffen, dass die Geschichte eine neue Wendung genommen hat. Die eine Karriere befördern – oder zunichte machen könnte.

Wieder in den Räumen des SISS. Es ist kurz nach acht Uhr morgens. Draußen ist es hell, ein schöner Tag, aber die Räume sind immer noch in künstliches Neonlicht getaucht. Ein unangenehmer Geruch nach kalter Pizza hängt in der Luft.

In einem durch Mattglasscheiben abgetrennten Bereich, der für Versammlungen und als Lager für Elektronikelemente dient, mit denen niemand etwas anfangen kann, berichtet der Bärtige vom Vortag, mit graugrünen Ringen unter den Augen wegen der durchwachten Nacht, von seinen Entdeckungen. »Eure Datenübertragung war unvollständig und nicht zu entziffern.« Er deutet auf die externe Harddisk, die am Vorabend bei Soubise benutzt wurde. »Zum Glück hatte ich den PC.«

Jean, der große Schwarze, der zu seiner Linken sitzt, deutet ein Lächeln an, ohne den Blick von der schmutzig weißen Decke zu nehmen. Neben ihm sitzt ein anderer Mann, kleiner, knochig, rothaarig, ein Kläffer. Er heißt Michel und scheint sich nicht gerührt zu haben, seit er den Hintern auf den Stuhl gepflanzt hat.

»Das System war passwortgeschützt. Manche Dateien auf der Festplatte auch. Nichts besonders Schwieriges, ich konnte alles retten. Ich hab euch Kopien gemacht.«

Der Bärtige schiebt zwei DVD-RW auf dem Tisch zu dem letzten Teilnehmer der kleinen morgendlichen Party, einem Mann unbestimmten Alters mit einem jugendlichen Gesicht unter gepflegtem, graumeliertem Haar. Knapp vierzig? Er trägt einen gut geschnittenen grauen Dreiteiler und Krawatte, sogar am Samstagmorgen. Er ist der Chef der beiden anderen Knilche, derjenige, der die Rechnungen des Informatikers zahlt. Bar. »Bringt ihr den Computer zurück?«

»Dafür ist es ein bisschen zu spät.«

Jean und Michel mucksen sich nicht.

»Na gut, dann gebe ich ihn am Montag einem von meinen Jungs, damit er ihn gründlich untersucht. Vielleicht sind noch Dateien drauf, die schlecht gelöscht worden sind und die man noch retten kann.«

»Ist das wirklich nötig?«

»Sie entscheiden, aber man weiß nie.«

Der Auftraggeber winkt lässig Machen Sie nur. »Können Sie uns einen Augenblick allein lassen?«

Der Bärtige nickt und geht hinaus.

Nach ein paar Sekunden: »Der Mist, den ihr gebaut habt, hilft uns nicht gerade.« Der Ton bleibt höflich, aber darunter hört man den Zorn.

»Es war ein Unfall«, erwidert der Rotschopf angespannt und rutscht auf seinem Stuhl hin und her.

»Ihr wart zwei gegen einen, gab es keine Möglichkeit, ihn unblutig zu neutralisieren?«

»Er hat Jean mit dem Messer bedroht, er war rasend vor Wut.« Michel dreht sich zu seinem Komplizen um, der nickt. »Wir haben getan, was wir konnten. Entweder das, oder wir hätten riskiert, dass er uns enttarnt.«

Der Mann im grauen Anzug nickt und dankt im Stillen dem Himmel, dass Soubise seine Dienstwaffe nicht zur Hand hatte. »Ich war heute dort. Die Brigade criminelle ist eingeschaltet worden.«

Lange Stille. Die Crim’, das ist keine gute Nachricht.

»Na gut, und was machen wir?« Jeans Stimme ist ruhig.

»Euer Auftrag ist beendet, also macht ihr euch ganz klein, bis wir mehr über die Fortschritte der Ermittlung wissen. Mit etwas Glück hat euch niemand gesehen und alles ist gut in der besten aller Welten. Ihr habt nur den Computer mitgenommen?«

»Ja.«

Der graue Anzug zieht eine Grimasse.

»Was?«, fragt Michel unsicher.

»Sie werden sich fragen, warum nur der Laptop verschwunden ist. Vor allem wenn sie herausgefunden haben, wer Soubise war.«

Der Rotschopf stößt seinen Stuhl zurück und springt auf, gereizt. »Ich hab’s dir gesagt, wir hätten bleiben und noch anderes Zeug klauen sollen!«

»Du bist doch abgehauen wie eine gesengte Sau!«

»Was?«

Die beiden Schläger starren sich ein paar Sekunden lang herausfordernd an, dann haut der Chef mit der flachen Hand auf den Tisch, um das Ende der großen Pause anzuzeigen. »Beruhigt euch. Es ist ohnehin zu spät und nicht mehr zu ändern. Ich werde nachdenken, wie ich den Mist, den ihr angerichtet habt, am besten aus der Welt schaffe.« Jemand mit so einer Karriere wie Soubise hat sich wohl kaum nur Freunde gemacht, ich werde schon etwas finden.

Saffron erwacht, wie aus dem Koma. Zimmer unbekannt. Großes Bett. Kopfkissen und Laken neben ihr sind zerknüllt, das Bett ist benutzt worden. An der Wand die elegante Silhouette des Fuji. Wo bin ich? Der Film von Schlägerei und Tod, live, Voyeurismus und Schuldgefühl, auf einmal ist alles wieder da. Dann die nächtliche Flucht neben Erwan, der erschreckend kalt ist. »Erwan?« Keine Antwort. Sie steht auf. Nackt. Ihre Kleider liegen am Fußende. Keinerlei Erinnerung.

Das Badezimmer, rot-weiße Kacheln, luxuriöse Dusche, in die Wand eingelassen. Unter dem Wasserstrahl taucht Saf’ allmählich aus ihrer Erstarrung auf, sie duscht abwechselnd kalt und warm. Und plötzlich Panik. Es ist Samstag, der 28. April. Mein Zug nach Cahors, um sieben Uhr fünfundfünzig. Mein Vater, Omama.

Saffron springt aus der Dusche, stürzt zu ihrer Uhr. Elf Uhr zehn. Eisiger Schauer. Sie schlüpft in den Bademantel, der im Badezimmer hängt, läuft ins Schlafzimmer, die Jeans, die Hosentasche, das Handy ist noch da. Sie nimmt es, streichelt es, flüchtet sich ins Bad, verriegelt die Tür, drückt auf die Nummer ihres Vaters. Es klingelt zwei Mal, die vertraute Stimme. Schnell machen, sehr schnell, ihn am Reden hindern. »Dad …«

Am anderen Ende Frankreichs ein Mann mit zerfurchtem Gesicht und Dreitagebart, überrascht. Seit wann hat sie ihn nicht mehr Dad genannt?

»… ich komme nicht, ich konnte nicht kommen.« Die Wörter überschlagen sich, rasend schnell. »Ich bin bei einem Freund auf dem Land. Das Telefon funktioniert nicht richtig, ich ruf wieder an. Umarme Omama.«

Saf’ hört, wie die Tür des Appartements aufgeht. Ungeschickt, mit zittrigen Fingern nimmt sie den Chip und die Batterie ihres Handys heraus, wirft sie in die Toilette, drückt auf die Spülung und atmet tief durch. Habe ich jetzt Angst vor Erwan?

Gespräch abgebrochen. Neal Jones-Saber ruft zurück. Kein Klingelton, nur die Mailbox. Verletzt steckt er sein Handy wieder ein. Schimpft vor sich hin. Saffron ist ein großes Mädchen, Familienfeste langweilen sie, gut. Aber heute … Vor neunzehn Jahren an diesem Tag ist Saf’s Mutter Lucille, die große Liebe seines Lebens, im Libanon umgekommen. Und Saf’ hat am selben Tag Geburtstag, sie wird einundzwanzig. Fest des Lebens und des Todes. Sie hätte sich überwinden können. Er fühlt sich verlassen, wieder einmal, trödelt noch eine Weile herum, dann rafft er sich endlich auf und geht zu seinen Gästen in ein Restaurant im Zentrum von Cahors.

Später, nach dem Mittagessen, der Nachmittag ist schon weit fortgeschritten. Neal geht langsam am Ufer des Lot entlang, mit seinen beiden engsten Freunden, alten Komplizen. Der erste ist Terrence Cooke, Pariser Korrespondent einer großen britischen Tageszeitung, The Herald. Ein sanftmütiger Mann mit dem für die Untertanen Ihrer Majestät so charakteristischen rosigen Teint und kaum jünger als Neal. Er hat die Reise gemacht, um an diesem Jahrestag bei seinem Freund zu sein. Der andere ist Pierre Salleton, der Wirt des Restauraunts Au Sanglier Bleu. Wie jedes Jahr hat er das Festessen geplant und gekocht. Auch er ist ein Bonvivant.

Verdauungsspaziergang. Schweigend rauchen die drei Männer kurze Zigarren. Sie kommen zum Pont Valentré, einer großartigen festungsartigen Konstruktion, und gehen hinüber. Zwischen den beiden Türmen bleiben sie stehen, lehnen sich an die Brüstung und blicken in die Strömung zwischen den mittelalterlichen Pfeilern. Ein geruhsamer Nachmittag.

»Jetzt«, sagt Salleton, ohne den Blick vom Wasser zu lösen, »sag uns, was mit deiner Tochter los war. Und keine Märchen, wir sind unter Männern.«

»Keine Ahnung.« Mit den Jahren ist der britische Akzent von Jones-Saber fast verschwunden. »Sie hat angerufen, kurz vor zwölf, nur um zu sagen, ich komme nicht. Nur das, ich komme nicht. Sie hat mir keine Zeit gelassen, auch nur ein Wort zu sagen. Sie hat aufgehängt und seither ist ihr Handy ausgeschaltet.«

»Machst du dir Sorgen?«

Neal richtet sich auf, mustert Salleton. »Sorgen? Nein, warum? Familie langweilt sie, Festessen auch. In ihrem Alter hat sie jedes Recht dazu. Nein, ich bin eher traurig.« Neal beugt sich wieder über die Brüstung und schnipst seinen Zigarrenstummel in den Fluss. »Die Kommunikation zwischen mir und meiner Tochter ist abgerissen. Ich habe ihr die Mutter nicht ersetzen können.«

Salleton wendet dem Fluss den Rücken zu. »Hör auf mit diesem Küchenpsychologen-Pathos und lass die Rumspinnerei. Wenn sie nicht zu dir kommt, fahr unter irgendeinem Vorwand nach Paris und mach ihr einen kleinen Besuch, einfach so, ganz nebenbei.«

Eine Weile schauen die drei schweigend auf den Fluss, dann stimmt Neal zu. »Vielleicht eine gute Idee.«

Salleton fährt fort, als hätte er nur darauf gewartet. »Ein Freund von mir hat ein sehr gutes Restaurant in Paris, Chez Gérard, wo alle Politiker der Hauptstadt verkehren. Mitten im Wahlkampf findest du da genug Material für eine deiner gastronomischen Kolumnen. Politik und gutes Essen, deine Engländer werden begeistert und mein Freund wird entzückt sein, das ist sehr gut für die Kundschaft. In Paris wirst du dann schon eine Gelegenheit finden, deine Tochter zu sehen.«

Cooke richtet sich nun auch auf und nimmt ein Paket Cigarillos aus der Brusttasche. »Abgemacht. Ich fahre morgen früh nach Paris zurück, ich nehm dich mit. Und wenn du drauf bestehst, gehe ich mit dir ins Chez Gérard mittag- oder abendessen. Ich bin sicher, dass du einen Berater brauchst, um die politische Karte der Gäste zu entziffern.«

Neal lächelt, die drei Männer spazieren weiter.

Borzeix unterschreibt schließlich ihre Aussage und verlässt den Quai des Orfèvres gegen sechzehn Uhr. Draußen wird sie, müde und von den Geschehnissen und Entdeckungen der Nacht aus dem Gleichgewicht gebracht, eine ganze Weile von der sorglosen Menge mitgetrieben, die samstags durch das Quartier Saint-Michel flutet. Endlich winkt sie einem Taxi und ist ein paar Minuten nach siebzehn Uhr unten vor ihrer Haustür.

In ihrer Wohnung angekommen, lässt sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer fallen, blickt sich um, um wieder Kontakt zu ihrer Einrichtung zu bekommen, mit den schicksten Designermöbeln, die heute Abend so abgehoben wirken, und bemerkt, dass noch Reste von gestern auf dem Esstisch stehen. Also ist die Putzfrau heute Morgen nicht wie vorgesehen da gewesen. Noch eine Unannehmlichkeit.

Eine zu viel.

Borzeix bricht in Tränen aus, ein paar Minuten lang weint sie lautlos, dann fasst sie sich wieder. Sie schaltet ihr Handy ein und wählt, ohne nachzusehen, ob jemand sie zu erreichen versucht hat, die Nummer ihrer Chefin, die sie auswendig weiß. Sie landet direkt auf der Mailbox. Eine kurze Ansage: Elisa Picot-Robert, hinterlassen Sie mir eine Nachricht, gefolgt vom üblichen Pfeifton. Borzeix findet die Worte nicht, zu früh, um zusammenzufassen, was passiert ist, und legt auf.

Sie legt ihr Handy auf die Theke ihrer amerikanischen Küche und holt sich im Bad ein Schlafmittel. Sie muss schlafen.

Feierabend in der 36, Pâris erstattet seinem Abteilungsleiter Bericht, Kommissar Stanislas Fichard, einem dicken Mann mit täuschend gutmütigem Gehabe und einem Überfluss an Schweiß. Er ist vorbeigekommen, um sich über die Sache informieren zu lassen. Ein Polizeioffizier ermordet, das ist keine Kleinigkeit. Aber es ist Wochenende, und Fichard hat keine Lust, sich lange aufzuhalten.

Pâris weiß das und stellt sich darauf ein. Nur das Wesentliche. »Im Moment gibt es keinen Grund, Mademoiselle Borzeix nicht zu glauben. Wir haben mit der Überprüfung angefangen, wie viel Zeit sie gestern Abend mit ihren Gästen verbracht hat, und das Resultat stimmt mit ihren Erklärungen überein. Außerdem hat der Gerichtsmediziner den Todeszeitpunkt präzisiert. Er ist sicher, dass er lange vor Mitternacht liegt. Wir erwarten den gerichtsmedizinischen Abschlussbericht für Mitte der Woche.«

»Diese Borzeix ist also nicht schuldig?«

»Sie war nicht anwesend …« Fourcade ist reingekommen, offiziell, um den Chef zu treffen. »Aber das schließt eine Verbindung zu dem Mord nicht aus. Ich finde es merkwürdig, dass das Opfer sie über seinen Beruf als Polizist belogen hat, Sie nicht?«

Fichard ignoriert den jungen Staatsanwalt und wendet sich an seinen Untergebenen: »Glauben Sie, sie versucht uns was vorzumachen?«

»Über die Lüge von Soubise? Nein.«

»Aber trotzdem, er hat sie belogen. Warum, Ihrer Meinung nach?«

Pâris zuckt die Achseln. »Sie begegnen sich in einem Spielklub, kein empfehlenswerter Ort für einen Polizeioffizier. Vielleicht lag es daran. Das Problem ist, dass sie sich gefallen, also sehen sie sich wieder. Und die Lüge bleibt. Schwierig, so was rückgängig zu machen.« Pause. »Es ist auch nicht auszuschließen, dass er wegen der Arbeit dort war.«

»Ihretwegen?«

»Wegen ihr oder etwas anderem. Bei der DCRG6 ist alles möglich.«

»Was haben Sie sonst über ihn?«

»Nicht viel. Die DAPN7 hat sich nur dazu herabgelassen, uns über seinen Dienst zu informieren. Für alles andere, glaube ich, werden Sie bei Ihren Abteilungsleiterkollegen an der Place Beauvau anfragen müssen. Ich habe etwas formuliert.« Pâris reicht Fichard ein Blatt Papier.

»Was noch?«

»Es wurden zwei Individuen, wahrscheinlich Männer, bemerkt, die ungefähr um zweiundzwanzig Uhr überstürzt das Haus des Opfers verlassen haben. Sie sind in einen dunklen Wagen gestiegen, Kompaktlimousine, Clio oder Golf, der Zeuge war sich nicht sicher, und sind schnell weggefahren.«

»Kennzeichen?«