Hartes Pflaster - Dominique Manotti - E-Book

Hartes Pflaster E-Book

Dominique Manotti

4,8

Beschreibung

Paris im Frühjahr 1980. Tausende von türkischen Einwanderern beginnen einen Streik und kämpfen für ihre Legalisierung. Als Sans-Papiers arbeiten sie in den Hinterhöfen der Stadt in zahlreichen Schneiderwerkstätten unter erbärmlichen Bedingungen für den Glanz der Modebranche. In einem Atelier wird die Leiche einer jungen thailändischen Prostituierten entdeckt. Kommissar Daquin nimmt die Ermittlungen auf. Die Spur führt ins Milieu der türkischen Drogenmafia � und ins Herz der Pariser High Society.

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Dominique Manotti

Hartes Pflaster

Über dieses Buch

Eines Morgens entdeckt die Polizei in einer Pariser Schneiderwerkstatt den leblosen Körper einer zwölfjährigen Thailänderin. Nicht weit davon entfernt werden einige Plastiksäckchen mit Heroin aus dem Iran gefunden. Zur gleichen Zeit nimmt eine Gruppe türkischer Arbeiter einen langwierigen Kampf gegen die französische Verwaltung auf. Während die Illegalen für die Legalisierung ihres Aufenthalts demonstrieren, vertiefen sich in der Türkei die gesellschaftlichen Grabenkämpfe: Links- und Rechtsradikale liefern sich erbitterte Auseinandersetzungen. Kommissar Daquin, der ein erotisches Verhältnis zu Soleiman, seinem wichtigsten V-Mann, unterhält, leitet die Untersuchungen. Da sind zum einen europaweit agierende Zuhälterringe in den einschlägigen Etablissements im Viertel Saint-Denis und zum anderen die Geheimnisse der Diplomatie des Mittleren Ostens, von denen die Waffenhändler profitieren.

Ausgehend von einem Mord Anfang der 1980er Jahre im Pariser Viertel Sentier stellt dieser Roman noir einen unmittelbaren Bezug zur Gegenwart und Geschichte her.

Über die Autorin

Dominique Manotti, geboren 1942 in Paris. Ehemalige Professorin für Wirtschaftsgeschichte. 1976–1983 Generalsekretärin der Pariser Sektion der Gewerkschaft CFDT. Politisch geprägt durch den Widerstand gegen den Algerienkrieg und die Mairevolte 1968. Schrieb mit 50 Jahren ihren ersten Roman. Zahlreiche literarische Auszeichnungen. Ihr Erstlingswerk Hartes Pflaster wurde mit dem Preis Sangre d’Encre ausgezeichnet. Im Argument Verlag erschienen u.a. ihre Krimis Letzte Schicht (Deutscher Krimipreis International, Platz 3); Roter Glamour und Einschlägig bekannt. Im Herbst 2012 erschien bei Assoziation A Manottis neustes, gemeinsam mit DOA verfasstes Werk Die ehrenwerte Gesellschaft (Preis für den besten französischen Kriminalroman 2011).

Dominique Manotti

Hartes Pflaster

Mit einem Interview mit Dominique Manotti

Aus dem Französischen von Ana Rhukiz

Französische Originalausgabe: Sombre Sentier, Éditions du Seuil, 1995.

Dieses Buch erscheint im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums, vertreten durch die französische Botschaft in Berlin. Cet ouvrage, publié dans le cadre du programme de participation à la publication, bénéficie du soutien du Ministère des Affaires Etrangères, représenté par le Service culturel de l‘Ambassade de France à Paris.

Die Reihe NOIR wird herausgegeben vonElfriede Müller, Frieder Rörtgen und Alexander Ruoff.

© der deutschsprachigen Ausgabe Berlin | Hamburg 2004, 2011:Assoziation A | Gneisenaustr. 2a | 10961 Berlinwww.assoziation-a.de | [email protected] | [email protected] und Satz: kvISBN Print 978-3-86241-411-6ISBN EPub 978-3-86241-616-5

Inhalt

Über dieses Buch

Über die Autorin

Prolog

1 Montag, 3. März

2 Dienstag, 4. März

3 Mittwoch, 5. März

4 Donnerstag, 6. März

5 Freitag, 7. März

6 Sonnabend, 8. März

7 Sonntag, 9. März

8 Montag, 10. März

9 Dienstag, 11. März

10 Mittwoch, 12 März

11 Donnerstag, 13. März

12 Freitag, 14. März

13 Sonnabend, 15. März

14 Sonntag, 16. März

15 Montag, 17. März

16 Dienstag, 18. März

17 Mittwoch, 19. März

18 Donnerstag, 20. März

19 Freitag, 21. März

20 Sonnabend, 22. März

21 Montag, 24. März

22 Dienstag, 25. März

23 Mittwoch, 26. März

24 Donnerstag, 27. März

25 Freitag, 28. März

26 Sonnabend, 29. März

27 Sonntag, 30. März

28 Montag, 31. März

29 Dienstag, 1. April

30 Mittwoch, 2. April

31 Freitag, 4. April

Epilog

Zumindest Zeuge sein. Interview mit Dominique Manotti

Prolog

Libération, 15. Januar 1980:

»Das Heroin kommt neuerdings aus dem Iran, aus Pakistan und Afghanistan. Im vergangenen Jahr wurden im Iran 1.500 Tonnen Rohopium produziert. Nach der Veredelung des Opiums in diesen Ländern – vor allem in der Türkei – wird es auf dem Landweg nach Westeuropa gebracht. Aber Vorsicht, dieses Heroin hat im Unterschied zur mexikanischen Produktion einen Reinheitsgehalt von 20 % (anstatt von bisher 3,5 %). In Deutschland gab es im Jahre 1979 bereits 600 Drogentote durch eine Überdosis mit diesem neuen Stoff.«

Das Mädchen ist da. Kindlich, aber mit stumpfem Blick sitzt es vollkommen nackt auf dem Rand dieses großen weißen Bettes, mitten im Zimmer, umgeben von Spiegeln. In einer Ecke steht ein antiker Lehnsessel aus der Zeit Ludwigs des XV. und weiter hinten ein Kühlschrank, nicht größer als ein Tisch. Darauf Wassergläser, Sektschalen, Weingläser und anderes.

Sie wippt leicht mit den Beinen, während sie singt. Ein Mann kommt herein. Auch er ist nackt. Sie betrachtet ihn aufmerksam, schätzt ihn ab. Er ist um die 45 Jahre alt, Stiernacken, fett, mit kleinem Hintern und dünnen Beinen, ein wenig kahlköpfig, aber dafür eine echt rot behaarte Brust. Sie lacht ihn an und macht eine Handbewegung in seine Richtung. Mit gierigem Gesichtsausdruck stürzt er auf den Kühlschrank zu, so als würde er beim Langsamerwerden das Gleichgewicht verlieren. Er öffnet ihn und schenkt sich großzügig einen Whisky ein: »Willst du trinken, Kleines?« Er hebt das Glas in ihre Richtung. Die Geste ist etwas zu schwungvoll, er verschüttet den Whisky auf den dichten weißen Teppich. Ohne ein Wort zu sagen, schüttelt sie den Kopf, immer noch lächelnd. Er trinkt, lässt das Glas auf den Teppich fallen, geht auf sie zu und lässt sich lachend auf das Bett fallen. Sie dreht ihn auf den Bauch und setzt sich auf seinen Rücken. Im Vergleich zu ihm wirkt sie unglaublich zerbrechlich. Sie beginnt ihn, schnurrend wie eine Katze, zu massieren, um einen Rhythmus zu finden. Er lässt sie gewähren, brummt vor Vergnügen und ermutigt sie: »Streichle deinen lieben Papa«. Sie legt sich auf ihn und beißt ihm in den Hals, knabbert an seinen Ohren. Er wälzt sich gemächlich hin und her, gibt einige kaum vernehmbare Laute von sich und krallt seine Finger in den Teppich.

Sie dreht ihn auf den Rücken. Er sieht zufrieden aus. Behutsam massiert sie sein Glied. Der Mann stützt sich auf seine Ellenbogen. Er betrachtet den kleinen Körper, der Mühe hat, das Gleichgewicht zu halten. Er dreht sich zu den Spiegeln und lacht hinein. Er grunzt. Sie ist still, ganz für ihn da. Sie konzentriert sich voll auf ihre Aufgabe. Der Gesichtsausdruck wird aufmerksamer, das Lächeln ein wenig starr. Sie lauert auf die Reaktionen des anderen, wartet ab.

Plötzlich fühlt sich der Mann beobachtet. Er scheint wie aus einem langen Schlaf zu erwachen, aber seine Augen wirken glasig. Das Mädchen lässt ihre Hände langsam nach oben auf die Männerbrust gleiten und beginnt zaghaft, ihn zu zwicken. Sein anfängliches Grunzen schlägt in ein missbilligendes Stöhnen um. Er richtet sich auf. Sie fällt rücklings auf das Bett. Panische Angst ergreift ihn. Seine Augen sind weit aufgerissen. Er schreit: »Sie wird mich töten!« Die Hände vor den Augen, krümmt er sich zusammen, dann tritt er mit den Füßen nach dem Mädchen. Sie fragt: »It’s a game?«, noch immer lächelnd, jedoch ein wenig verängstigt. Sie weicht seinen Fußtritten aus und versucht ihn zu beruhigen, indem sie ihn wieder auf das Bett zurückschiebt, seine Brust und Schultern streichelt. »Remember, I’m your baby.« Aber er schreit wieder: »Werde nicht größer, werde nicht größer!« Dann packt er sie am Hals, schüttelt sie, wirft sie auf das Bett und drückt zu, fester und fester. »Du wirst mich nicht kriegen!« Sie wehrt sich ein wenig, nicht sehr, wird von der Masse seines Körpers förmlich erdrückt. Sie kann nicht mehr schreien. Ein, zwei Minuten, dann wehrt sie sich überhaupt nicht mehr.

1

Montag, 3. März

7.00 Uhr, Métrostation Sentier

Hinten im Café-Tabac, gegenüber der Métrostation, eine dicht zusammengedrängte Gruppe von ungefähr fünfzehn Türken und fünf oder sechs Franzosen. Alle trinken Espresso, die Franzosen essen Croissants. Auf einem Tisch zwei dicke Stapel Flugblätter, lachsfarbenes Papier, mit Schreibmaschine getippt, hastig kopiert, Vorderseite auf Französisch, Rückseite auf Türkisch.

Das Komitee zur Verteidigung der Rechte der Türken in Frankreich ruft die türkischen Arbeiter vom Viertel Sentier auf, am 3. März ihre Arbeit niederzulegen und sich um 12.00 Uhr an der Métrostation Sentier zu versammeln, um für Aufenthaltsgenehmigungen und bessere Arbeitsbedingungen zu demonstrieren.

Sie stehen dicht gedrängt um einen Stadtplan von Paris. Soleiman lässt kleine Fünfergruppen bilden, vier Türken um einen Franzosen. Jede Gruppe erhält eine Liste mit Straßennamen, die sie abarbeiten sollen. Einige notieren die Namen auf einem Stück Zeitungspapier oder der Zigarettenschachtel. Ein Hauch vorrevolutionärer Stimmung – wie kurz vor 1917 – liegt über der Szene.

Alle stehen auf – Getöse – und finden sich draußen auf dem Platz wieder. Es wird ein schöner Tag werden. Das Gefühl, sich ins absolut Unbekannte zu stürzen, aber das darf man nicht zeigen; so tun, als sei man sich sicher.

Soleiman übernimmt die Führung einer Gruppe und begibt sich in die Rue d’Aboukir, eine Journalistin der Libération in seinem Schlepptau. Er ist groß, schlank, hält sich sehr gerade, fast ein wenig steif, er hat ein eher längliches Gesicht, hohe Wangenknochen, eine schmale spitze Nase, unglaublich große blaue Augen, kastanienbraunes, zerzaustes Haar und einen dunklen Teint. Die Türken hören ihm zu, die junge Journalistin schaut ihn an. In jedes Gebäude hineingehen, die Namen auf den Briefkästen lesen, diejenigen mit türkischen oder jugoslawischen Konsonanten notieren. Hochgehen. In den alten Wohnhäusern sind die Hausflure dunkel und die Treppenhäuser verwinkelt. Auf jeder Etage der Lärm von Nähmaschinen. Soleiman klopft an die Tür. Der Meister oder einer der Arbeiter öffnet. Die Diskussion verläuft entweder auf Türkisch oder Französisch. Guten Tag. Wir sind vom Verteidigungskomitee der Türken in Frankreich. Wir wollen mit Ihnen über Streiks und Versammlungen für die Legalisierung der türkischen Arbeiter sprechen. Der, der die Tür aufhält, dreht sich in Richtung Werkstatt: »Was haltet ihr davon? Lassen wir sie herein? Ja … Ja …« Während des gesamten Vormittags bleibt nicht eine Tür verschlossen.

Enge Werkstätten, schlecht beleuchtet, überheizt, Appreturgeruch. Aber eine herzliche Atmosphäre. Von irgendwo unten sind laut Nachrichten und Musik zu hören. Man unterhält sich, man scherzt. Ab und zu kommt ein Cousin vorbei, um Hallo zu sagen, oder ein Arbeiter geht nach unten, um eine Partie Flipper zu spielen.

Als Soleiman und seine Gruppe eintreten, werden die Maschinen angehalten, man drängelt sich um die Tische, Kaffee wird herumgereicht, der Meister mischt sich in die Diskussion mit ein. Der Streik scheint noch in weiter Ferne. Aber mittags im Sentier sieht es vielleicht schon anders aus. Soleiman lässt ein paar Flugblätter da. Die Gruppe bricht wieder auf, eine Etage tiefer, das nächste Gebäude.

Boulevard St. Denis, dann Rue du Faubourg-Saint-Martin: Die Häuser werden weiträumiger, die Werkstätten besser beleuchtet, besser belüftet. Hinter den Haussmannschen Fassaden befinden sich auf einigen Hinterhöfen noch echte Fabrikwerkstätten, auf allen Stockwerken wird Bekleidung hergestellt, ganz oben die Unterkünfte der Arbeiter. Es sind Frauen mit Schleier und langen Röcken, die die Tür öffnen. Soleiman weiß nicht, was er zu ihnen sagen soll. Er würde es zweifelsohne unpassend finden, wenn sie mit auf die Straße gehen würden.

Die Gruppe geht hinauf bis zur Rue Belleville. Einige sehr baufällige Gebäude, schäbige Flure, erbärmliche Werkstätten, oft nicht einmal eine Tür, stattdessen ein großer Karton, um den Eingang zu versperren, aber überall der gleiche Empfang. Die Gruppe ist erschöpft, es ist schon warm an diesem Vormittag. Immer öfter eine Pause in den Bistros (hier weiß jeder Bescheid), in denen die Arbeiter Soleiman schon von sich aus nach Flugblättern fragen. Sie müssen gehen, um gegen 12.00 Uhr wieder an der Métrostation Sentier zu sein.

Auf den Straßen, die hinunter zum Platz führen, treffen sich kleine Gruppen von Aktivisten, aufgekratzt von dem Empfang, der ihnen bereitet wurde. Zusammen erreichen sie den Platz. Niemand da. Nach alledem hätte man darauf gefasst sein müssen. Die Tür der Werkstatt öffnen, zuhören, ja, aber raus auf die Straße gehen, wenn man keine Papiere hat … das wäre zu viel verlangt. Aber der Kampfgeist ist ungebrochen, zumal sie an Rückschläge gewöhnt sind. Soleiman stellt die Lautsprecheranlage auf. Einige rote Stofftransparente werden entrollt, um den Ort der Veranstaltung zu markieren und einzugrenzen. Es ist schön, dieses leuchtende Rot in der Sonne. Soleiman beginnt zu sprechen, auf Türkisch. Er erzählt vom Leben im Verborgenen, wie man sich als Tourist mit Fotoapparat verkleiden muss, von der Angst, wenn man einen Bullen auf der Straße sieht – sie überwinden, einfach weitergehen – von den Durchsuchungen, den Nächten auf der Polizeiwache, der Abschiebehaft. Schluss damit. Das wollen wir nicht mehr. Wir sind hier, wir arbeiten, wir wollen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Unsere Würde.

Auf dem Platz beginnen sich die umliegenden überfüllten Cafés schließlich zu leeren. Die Männer hören zu, diskutieren miteinander, betreten den Platz der Versammlung. Zögerlich nähern sich kleine Gruppen von den Nebenstraßen dem Geschehen, nach und nach werden es immer mehr. Um 13.00 Uhr haben sich mehr als 2.000 Arbeiter auf dem Platz versammelt. Der Verkehr in der Rue Réaumur ist lahm gelegt. Nicht ein Bulle in Sichtweite. Es ist unglaublich. Die Arbeiter besetzen die Straße und niemand kommt, um sie davonzujagen. Die Männer skandieren Yasasin grevi, es lebe der Streik. Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. Die Megaphone werden herumgereicht, jeder will etwas sagen. Soleiman zittert in der Sonne. Mit ganzer Kraft hat er diesen Moment herbeigesehnt, aber nicht daran glauben wollen und nun, da es soweit ist, kann er es nicht fassen. In diesem schwindelerregenden Moment, in dem die Massen wirklich zu existieren beginnen, nicht nur abstrakt, wo es vielleicht möglich wird … die Welt von Grund auf zu verändern. Keiner weiß, wie mit einer solch unerwartet großen Menschenmenge umzugehen ist. Obwohl die Bullen nicht da sind, können sie jederzeit auftauchen. Nicht hier bleiben, zu verwundbar. Aber die Menschen wollen nicht auseinandergehen. Soleiman lässt vorsichtig die Transparente in Richtung Gewerkschaftshaus tragen. Dort wird man sich über die laufenden Verhandlungen mit der Regierung informieren, sich einnisten. In Sicherheit sein.

Der Demonstrationszug setzt sich sehr vorsichtig in Bewegung. Sie ist beeindruckend, die dicht gedrängte Gruppe dunkelhäutiger, schnauzbärtiger Männer, ganz in grau gekleidet. Pausenlos skandieren sie Parolen auf Türkisch, klammern sich an die langen roten und stummen Transparente.

16.00 Uhr, Kommissariat des 10ten Arrondissements

»Kommissariat im 10ten. Hallo, ich höre.«

»Ist da die Polizei?« (starker ausländischer Akzent).

»Ja.«

»Kommen Sie schnell, ich habe eine Leiche entdeckt, eine Frau, in meiner Werkstatt.«

Thomas und Santoni betreten das Portal der Hausnummer 43, in der Rue du Faubourg-Saint-Martin. Linker Treppenaufgang, dritte Etage. Natürlich kein Fahrstuhl. Die Tür ist halb geöffnet. Sie klopfen an. Ein Mann kommt sofort zur Tür, sehr aufgeregt.

»Polizei. Haben Sie uns gerade angerufen?«

»Ja. Kommen Sie herein.«

Drinnen, im dunklen Eingang, ungefähr zwanzig rote Pluderhosen aus Baumwolle, auf dem Boden ausgebreitet. Der Mann hebt sie hoch. Darunter der Körper eines sehr jungen Mädchens, fast noch ein Kind, asiatischer Typ, vollständig nackt, auf dem Rücken. Thomas kommt näher, beugt sich über sie. Kein Zweifel, sie ist tot. Er versucht, einen Arm zu bewegen. Mit Sicherheit mehr als vier- undzwanzig Stunden her. Bläuliche Flecken am Hals. Vermutlich Würgemale. Er blickt genauer hin. Mit bloßen Händen.

»Sie haben sie gefunden?«

»Ja« (nervös).

»Santoni, ruf die Kripo an.«

Thomas wirft einen Blick in die Wohnung. Der Eingang ist zugestopft mit Stoff- und Plastikrollen. Ein Flur trennt zwei große Zimmer, beide ziemlich hell, zum Hof gelegen. In den zwei Zimmern fünf große Holztische, am Boden befestigt, verdreckt und verschmiert, ungefähr zwanzig stabile Stühle aus Metall, große Neonröhren an der Decke, elektrische Kabel hängen überall herunter. Und zwei alte Nähmaschinen, ziemlich abgenutzt. Auf der anderen Seite des Flures eine Küche. Weiße Fliesen, Spüle mit warmem und kaltem Wasser. Kühlschrank, Herd, Ablage. Alles ist von blendender Sauberkeit. Nicht ein Teller steht herum. Thomas wirft einen kurzen Blick in den Kühlschrank. Er ist voll mit Gemüse, Käse und Getränken. Unter der Spüle der Mülleimer, er ist geleert und ausgewaschen. Hinter der Küche zwei dunkle Kammern, vermutlich ein ehemaliges Badezimmer und ein Abstellraum.

Dann lenkt er seine Aufmerksamkeit wieder auf Bostić, den Mann, der sie angerufen hat. Er ist Jugoslawe, Mieter der Wohnung und der Meister der Werkstatt.

»Wann haben Sie die Leiche gefunden?«

»Als ich die Werkstatt geöffnet habe, heute Nachmittag.«

»Warum nicht heute Morgen?«

»Wegen des Streiks. Ich habe die Leiche dort unter den Hosen gefunden. Ich habe die Arbeiter nach Hause geschickt und die Polizei angerufen. Ich habe nichts angefasst.«

Thomas brummt vor sich hin.

Wenig später kommen die Inspektoren der Kripo an und nehmen die Sache in die Hand. Spezialisten, ein Richter, Fotos von der Leiche, Abtransport ins Leichenschauhaus. Thomas gibt die Aussagen von Bostić weiter, ohne Kommentar.

»Was haltet ihr von dem da?«

»Ich würde ihn gerne in Gewahrsam nehmen. Sie werden ihn dann morgen wieder zur Verfügung haben, wenn Sie wollen. Und wir, wir werden ihm ein paar Fragen stellen über seine Werkstatt. Illegale Arbeiter, das ist sicher. Ein Jugo, wir riskieren nichts.«

»Einverstanden. Sonst noch was?«

Thomas schaut Santoni an.

»Von mir nicht. Und von dir?«

»Auch nicht.«

Nachdem Bostić in Untersuchungshaft genommen ist, wendet sich Thomas wieder an Santoni.

»Was hältst du davon, Kollege?«

»Er hat die Leiche schon heute Morgen gefunden, als er die Werkstatt geöffnet hat.«

»Einverstanden.«

»Das lässt ihm etwa acht Stunden Zeit.«

»Ungefähr.«

»Bevor er uns angerufen hat, hat er seine Maschinen verkauft, damit wir sie nicht beschlagnahmen.«

»Immer noch einverstanden.«

»Eine typische Werkstatt für das Sentier, durchschnittlich verdreckt. Aber nicht die Küche. Hast du gesehen, wie blitzblank sie ist? Bei dieser Art von Arbeit trinken und futtern die Arbeiter doch ununterbrochen. Selbst wenn sie gut geführt ist, ist es selten so aufgeräumt.«

»Also, was machen wir?«

»Wir gehen zurück und versuchen festzustellen, was sauber gemacht und was weggeworfen wurde. Und kein Wort zu den Genies von der Kripo.«

Im Haus gibt es eine Concierge, Kittel über einem unförmigen Kleid, Filzpantoffeln. Nach zwei Bieren und einer Viertelstunde stockender Konversation erfahren Thomas und Santoni, dass Bostić tatsächlich morgens gegen 10.00 Uhr gekommen ist, um die Müllsäcke abzustellen. Zwei blaue Säcke.

Ein altes Laken auf dem Boden im Hof, unter der Treppenhausbeleuchtung. Die zwei Männer ziehen ihre Jacken aus, krempeln ihre Ärmel hoch und entleeren den ersten der drei Mülleimer des Wohnhauses. Alle drei Minuten das Licht wieder einschalten. Die Müllsäcke einen nach dem anderen öffnen. Den Hausmüll sortieren, die Stoffreste, die Zeitungen, die leeren Flaschen. Da sie nicht wissen, wonach sie suchen, müssen sie umso sorgfältiger vorgehen. Zum Glück, vielleicht. Wenn man weiß, wonach man sucht, kann man schnell in einen Justizirrtum hineinschlittern, hat mir mein Chef gesagt, als ich mit diesem Beruf angefangen habe. Hier jedoch, keine Gefahr.

Die Concierge kommt ab und zu vorbei, um einen Blick zu riskieren. Erster Mülleimer, nichts. Die losen Abfälle wieder zurück. Zweiten Mülleimer auf das Tuch ausleeren. Erster Sack, nichts. Zweiter Sack, nichts. Dritter Sack, wie in den anderen Säcken, ein Inhalt, der aus der Küche von Bostić stammen könnte: Kaffeesatz, Pappteller, Einpackpapier, altes Brot. Und zwei feste Plastiktütchen, in der richtigen Größe, durchsichtig und leer. Thomas richtet sich wieder auf. Entlang der Schweißnähte ein sehr feiner Staub von weißem Pulver. Sehr behutsam nimmt er etwas davon auf seinen Zeigefinger, kostet es mit der Zungenspitze. Er lächelt Santoni zu. Tatsächlich. Heroin.

21.00 Uhr, Villa des Artistes

Es ist schon dunkel. Soleiman geht schnell, Avenue Jean-Moulin, stürzt in einen Hauseingang, betritt murrend die Villa. Dritter Pavillon rechts, in einem Wirrwar von Grünpflanzen die große Fensterscheibe eines Ateliers, weiße Vorhänge, erleuchtet. Eine Lampe brennt oberhalb der Eingangstür. Er klingelt zweimal, drückt die Tür auf, geht hinein und schließt hinter sich ab. Ein großer Raum, überall Lampen, Leder, Holz, ein Zwischengeschoss im Halbdunkel. Ein Mann, geschäftig in einer kleinen Küche, ganz hinten im Zimmer, hinter einem Holztresen. Die Küche sehr modern, gefliest in Ockertönen. Der Mann ist etwa fünfundreißig Jahre alt, hat ein eher schönes, kantiges Gesicht, breite Schultern, vom Typ Stürmer, dritte Reihe im Rugby, braune Augen, braune Haare. Bekleidet mit Jeans und Polo-Shirt, barfuß.

»Na also. Bravo! Eure Versammlung war ein Erfolg, sie hat alle Erwartungen übertroffen. Meine Leute haben das nicht erwartet, und sie wussten wirklich nicht, was sie machen sollten.«

»Wir haben abgemacht, dass du dich da nicht einmischst und dass du mir freie Hand lässt.«

»Aber ich mische mich ja gar nicht ein. Ich beglückwünsche dich.«

»Lass’ mich in Ruhe. Auf deine Glückwünsche kann ich verzichten.«

»Ist ja gut. Lass uns arbeiten. Du hast eine Menge Leute gesehen. Also, hast du etwas für mich?«

»Vielleicht Rue du Faubourg-Saint-Martin, in der Nähe des Boulevards. Links oben gibt es einen türkischen Imbiss. Ein ganz kleiner Laden mit einem Tresen direkt zur Straße hin. Die Kurden sagen, dass dort mit Drogen gehandelt wird.«

»Ich weiß, welchen Laden du meinst … Morgen werde ich ihn unter Beobachtung stellen lassen. Vielleicht haben wir endlich eine erste Spur, nach fast einem Monat ohne Ergebnisse. (Während er aus der Küche kommt:) Es ist fertig, deck den Tisch.«

»Ich bleibe nicht zum Essen. Ich muss noch Freunde treffen.«

»Soleiman! Red’ keinen Blödsinn. Du wirst besuchen, wen du willst, aber später. Du isst mit mir zu Abend, denn ich habe Lust mit dir zu vögeln, nachdem wir gegessen haben und nicht vorher. (Und mit einem genüsslichen Lächeln:) Du musst deine finstere Miene nicht den ganzen Tag vor dir hertragen. Nicht, dass es mich stören würde, im Gegenteil, es gibt mir das Gefühl, dich zu bedrängen, und das erregt mich.«

2

Dienstag, 4. März

8.00 Uhr, Rue du Faubourg-Saint-Martin

Daquin ist in einem Café, genau gegenüber von dem Imbiss, der gerade aufgemacht hat, auf Beobachtungsposten gegangen. Ziemlich schlicht. Es ist nur ein enger und dunkler Schlauch mit einem ebenso langen Tresen, einem winzigen Schaufenster zur Straße, das jetzt wegen des schönen Wetters ganz geöffnet ist. Keine Tische, keine Stühle. Drei Männer sind hinter dem Tresen beschäftigt. Weiter hinten eine Tür und eine Durchreiche zur Küche hin. Ein unaufhörliches Kommen und Gehen der Gäste, auf den ersten Blick alles Türken. Sandwiches, Salat, Kaffee, Tee, Raki, Bier. Niemand scheint lange zu bleiben. Falscher Tipp?

»Noch einen Kaffee, bitte.«

Nachdem die Hektik des Vormittags vorüber ist, nun ein eher ruhiges Publikum. Die Gäste, die am Tresen stehen, unterhalten sich länger. Ab und zu geht jemand nach hinten in den Laden, hinten am Tresen vorbei und von dort in die Küche, dann kommt er wieder. Überprüfen, ob man daraus Rückschlüsse ziehen könnte.

10.00 Uhr, Passage du Désir

Daquin geht zu Fuß bis zum Sitz des Kommissariats des 10ten Arrondissements, Passage du Désir. In einem ziemlich schmutzigen Durchgang befindet sich ein kleines Backsteingebäude. Dort haben sich in der dritten und letzten Etage Daquin und seine Truppe in einem zum Büro umfunktionierten Versammlungsraum für die Dauer ihrer Untersuchung eingerichtet. Eine kleine, eigens dafür einberufene Gruppe, zusammengestellt vom Chef des Rauschgiftdezernats, verfolgt die Spur eines möglichen »türkischen Drogennetzes«, einem Tipp der deutschen Polizei folgend. Ein großes helles Zimmer unter dem Dach, ausgestattet mit zwei Metallschreibtischen, einem für Daquin und einem für seine Inspektoren, zwei Sessel von guter Qualität, sechs Stühle, ein runder Tisch, zwei Schreibmaschinen, zwei Telefone, eine kleine Spüle, ein Kocher, eine Kaffeemaschine. Auf der einen Seite zwei große Fenster mit Blick zum Hof, auf der anderen Seite eine Glastür, die zu einem hellen und ruhigen Flur führt. Eine Behelfsunterkunft, aber durchaus angenehm.

Seine beiden Inspektoren warten auf Daquin. Attali und Romero sind sich sehr ähnlich. Sie sind zusammen in einem Sozialbau in Belle-de-Mai, einem Arbeiterviertel im Norden von Marseille, aufgewachsen. Sie sind gleich alt, Mitte zwanzig, und tragen beide Windjacke, Jeans und Turnschuhe. Aber im Gegensatz zu Romero war Attali ein braver Junge, Klassenbester, hat die Inspektorenaufnahmeprüfung auf Anhieb bestanden. Er wollte schnellstens Geld verdienen, um seine Mutter und seine Schwestern unterstützen zu können, die in großen Schwierigkeiten steckten. Er sieht ernsthaft, nett und eher langweilig aus. Romero aber bewegte sich von Anfang an im Grenzbereich zur Kriminalität. Ein schöner Kerl, ebenmäßiges Gesicht, tiefschwarze Haare. Er weiß um seine körperliche Ausstrahlung. Er hat zur selben Zeit wie Attali die Inspektorenaufnahmeprüfung absolviert, aus bloßer Herausforderung und vielleicht mit dem geheimen Wunsch, sich aus dem Staub zu machen. Nach drei Jahren Berufserfahrung ist es das erste Mal, dass sie zusammen ein Team bilden, seit einem Monat unter Daquin. Als dieser hereinkommt, sind sie gerade dabei, »Schiffe versenken« zu spielen.

Daquin wirft ihnen einen enttäuschten Blick zu, macht sich einen Kaffee und dann:

»Ich habe Arbeit für Euch. Ganz in der Nähe, unten in der Rue du Faubourg-Saint-Martin ist ein türkischer Imbiss zu überwachen. Das ist ein Tipp von einem meiner V-Männer. Vom Auto aus unmöglich. Wenn wir einige Tage dort bleiben müssen, werden wir sofort auffallen. Man müsste eher versuchen, ein Fenster, vielleicht im Wohnhaus gegenüber zu finden. Kümmert euch um die Sache. Ich will nicht unbedingt von allen Gästen Fotos, aber von denjenigen, die in den Laden gehen und hinter dem Tresen verschwinden. Schaut bei Meillant, Kommissar vom 10ten Arrondissement, vorbei. Er weiß über unsere Gruppe Bescheid. Er ist mit dieser Ecke seit über zwanzig Jahren vertraut. Er kennt sich aus und kann euch sicher weiterhelfen.«

Als die zwei Inspektoren fort sind, vertieft sich Daquin in die Zeitungen. Er ist überzeugt, dass ein Teil der Lösung des Problems dort unten, in den Herkunftsländern zu finden ist, und wenn man die Drogenhändler hier festnehmen will, muss man erst einmal verstehen, was dort passiert. Der Machtantritt von Khomeini, der immer wieder für Unruhe sorgt, die amerikanischen Geiseln in Teheran, Rechts- und Linksradikale in der Türkei, die sich gegenseitig massakrieren mit mindestens zwanzig Toten pro Tag auf beiden Seiten und jetzt auch noch die sowjetische Intervention in Afghanistan. Die Zeitungslektüre nimmt einige Zeit in Anspruch.

10.00 Uhr, Pfarrgemeinde St. Bernard

Hier hat das Komitee für die Verteidigung der Rechte der Türken in Frankreich ein Domizil gefunden. Ein kleines fensterloses Büro hinten im Pfarrgebäude, das neben der Kirche steht.

Heute, einen Tag nach der Demonstration, ist hier die Hölle los.

Die engen und dunklen Flure des Erdgeschosses sind überfüllt mit Türken, die gerade Mitglieder des Komitees geworden sind. Jedes neue Mitglied lässt Soleiman einen anonymisierten Fragebogen ausfüllen. Wie viele Stunden Arbeit pro Tag im Moment? Und wie viele außerhalb der Saison? Die Löhne? Wann und warum wurde der Arbeitsplatz gewechselt? Die Familie? Seit wann in Frankreich? Die Unterkunft? Wer ist der Eigentümer, wer der Vermieter? … Vier dicht beschriebene Seiten, auf Türkisch und Französisch. Die Männer sitzen überall herum, in den Fluren, im Hof, und füllen mit äußerster Aufmerksamkeit ihre Fragebögen aus. Und wer weiß, vielleicht nützt es ja doch was? Soleiman liest sie alle noch einmal durch, diskutiert mit jedem, erklärt und ergänzt, wenn die Fragen schlecht verstanden worden sind. Er ist für sie da, aufmerksam. Er, der niemals hinter einer Nähmaschine gesessen hat, der in Paris von Anfang an entweder von den Einkünften als Fotograf für Touristen am Fuße des Eiffelturms oder als mobiler Verkäufer von Popcorn und Kastanien gelebt hat, wird nun Experte für Arbeitsrechtsfragen in der Bekleidungsbranche. Man erzählt sich, dass im Sentier bereits ein Handel mit Mitgliedsausweisen begonnen hat. Vom Verteidigungskomitee für 16 Francs gekauft, werden sie in den Werkstätten bis zu einem Preis von 100 Francs an jene, die nicht rausgehen wollten oder es nicht gewagt hatten, weiterverkauft. Für die Türken wird es das erste offizielle Papier in Frankreich sein. Man erzählt auch, und das stimmt zweifellos, dass Männer in der U-Bahn bei einer Ausweiskontrolle ihre Mitgliedsausweise gezeigt haben und dass die Bullen sie durchgelassen haben.

Das kleine fensterlose Büro platzt langsam aus allen Nähten. Alle Flure des Erdgeschosses stinken nach kaltem, starkem Tabak, das Linoleum ist mit Zigarettenkippen und Brandlöchern übersät. Der Andrang ist so groß, dass Warteschlangen eingerichtet werden mussten, mit Hinweisschildern auf Türkisch. Die Toiletten sind zum Kotzen. Die kleine ruhige Kantine ist in Beschlag genommen worden, Kaffee zu jeder Tageszeit, total verraucht.

Der Pfarrer und die anderen Gemeindeangehörigen igeln sich in ihren Büros ein. Das Zusammenleben wird schwierig werden.

Die Verhandlungen mit dem Kabinett des Staatssekretärs für Immigranten werden morgen beginnen. Das Verteidigungskomitee wird daran teilnehmen. Soleiman wird einstimmig als Vertreter des Verteidigungskomitees gewählt. Daquin vergessen, durchatmen. Soleiman geht raus, Mädchen anmachen auf den Boulevards.

19.00 Uhr, Rauschgiftdezernat

»Wir haben endlich erste Spuren. Aber es gibt einige Punkte, die wir nicht vernachlässigen sollten. Darüber möchte ich mit Ihnen reden, denn sie tauchen nicht im schriftlichen Bericht auf.«

»Ich höre, Théo. Ich habe alle Zeit der Welt, meine Frau ist in den Skiurlaub gefahren, ich bin also Strohwitwer, genau wie Sie. Einen Whisky?«

»Nein, danke. Einen Wodka, wenn Sie einen haben. Als Sie vor einem Monat meine Gruppe zusammengestellt haben, war das Ziel klar. Eine sehr lockere, sehr mobile Gruppe, um erste Spuren ausfindig zu machen. Sie haben mir versprochen, die Gruppe analog zu unseren Fortschritten aufzustocken beziehungsweise einige Fälle des Pariser Rauschgiftdezernats, die bereits zu den Akten gelegt wurden, wieder aufzurollen. Gilt das noch?«

»Ja, das gilt immer noch.«

»Gut. Wir haben während des letzten Monats praktisch nichts gefunden. Die Überprüfungen der von den Deutschen übermittelten Namen und Daten hat rein gar nichts ergeben. Entweder sind die betreffenden Jungs gar nicht in Frankreich oder, was wahrscheinlicher ist, wir haben keinen Nachweis ihrer Anwesenheit. Folglich hat Attali alle Polizeiakten nach Fällen von Überdosis in den letzten drei Monaten in Paris und Umgebung durchgesehen, um herauszufinden, ob eine auffällige Häufung von Fällen im Vergleich zum normalen Konsum zu konstatieren ist und dabei eventuelle Dealer ausfindig gemacht werden können. Gute Idee, viel Arbeit, totaler Flop. Übrigens zeigen unsere Statistiken, im Gegensatz zu denen der Deutschen, keinen alarmierenden Anstieg von Drogentoten durch Überdosis auf. Wahrscheinlich ist das türkische Heroin noch nicht im Umlauf. Zweite Arbeitsschiene: die Nase in die türkische Community der Gegend stecken. Romero hat sich bei den Arbeitern von Citroën-Aulnay herumgetrieben. Sie sind sehr isoliert, leben sehr abgeschottet, ohne Kontakt zur französischen Bevölkerung. Also, unwahrscheinlich. Und ich habe mir das Sentier vorgenommen. Ich kenne dieses Viertel überhaupt nicht, aber ich hatte so ein Gefühl: mitten in Paris, eine steigende Zahl von Immigranten. Das sind keine bäuerlichen Analphabeten, und sie werden weder von unserer Polizei noch von unseren Einwanderungsbehörden kontrolliert. Zeitgleich formiert sich eine Bewegung dieser türkischen Arbeiter aus der Bekleidungsbranche, um Papiere zu erhalten. Ich weiß nicht, ob Sie die Geschichte in der Presse verfolgt haben.«

Der Chef macht eine vage Geste, die absolut nichtssagend ist, und schenkt sich einen doppelten Whisky ein. Daquin ertappt sich dabei, wie er sich fragt, ob das, was er dem Alten erzählt, diesen wirklich interessiert. Dieses Gefühl von Mutlosigkeit gar nicht erst hochkommen lassen und fortfahren.

»Siebzehn Türken befinden sich seit dem 11. Februar im Hungerstreik. Dieser Streik wird von Linksradikalen unterstützt. Unseren deutschen Kollegen zufolge sind die Drogen in der Hand der Rechtsextremisten, wie Sie sich erinnern werden. Mich haben vor allem die Hungerstreikenden interessiert. Ich habe Fotos machen lassen und unsere türkischen Kollegen um Berichterstattung über diese Leute gebeten. Aus ihren Beschreibungen habe ich einen Jungen ausgewählt, der mir – sagen wir mal – ›empfänglich‹ erscheint. Er ist ohne Papiere und unter falschem Namen hier. In der Türkei ist er als Mitglied einer sehr aktiven linksradikalen Gruppierung registriert. Seit November 1979 wird er in Istanbul wegen Mordes an einem Rechtsradikalen und unmittelbar danach wegen Mordes an einem Polizisten, der auf seine Verfolgung angesetzt war, gesucht. Und das ist noch nicht alles. Im Alter zwischen achtzehn und zwanzig Jahren ist er mehrmals wegen Prostitution in den Touristenvierteln Istanbuls von der Polizei festgenommen worden.«

Ein Blick durch sein Glas in Richtung Chef. Aha, es interessiert ihn. Daquin würde fast schwören, dass er gelächelt hat, aber er zieht es vor, dieses Lächeln und das, was es bedeuten könnte, zu ignorieren.

»Er schien mir genau derjenige zu sein, der dem Profil entspricht, nach dem ich gesucht habe. Also haben wir eine Schlägerei in seinem Stammlokal provoziert und ungefähr zwanzig Jungs eingebuchtet und sie auf mehrere Polizeiabschnitte verteilt. Am darauffolgenden Morgen kam mein junger Mörder zu mir ins Büro. Dort habe ich ihn vor die Wahl gestellt: Entweder er lässt sich etwas einfallen, wie er an Tipps über Drogen im Sentier herankommt, oder ich schiebe ihn direkt in die Türkei ab. Das hat nicht sofort geklappt. Also habe ich hinzugefügt, dass das Drogennetz von türkischen Rechtsradikalen kontrolliert wird. Wenn er mir Hinweise liefert, werde ich gegen sie ermitteln und während dieser Zeit kann er mit seinen Kumpels machen, was er will: die Legalisierung der Sans Papiers … ist mir egal. Ich habe noch ein paar Bemerkungen dahingehend gemacht, was passieren würde, wenn seine Kumpels davon erführen, dass er sich prostituiert hat. Und ich habe ihm erzählt, dass die türkische Polizei uns Fotos geschickt hat, was nicht wahr ist, und dass ich die besseren Karten habe. Gestern hat er mir einen ersten Tipp gegeben, der vielleicht von Bedeutung sein könnte. Romero und Attali sind dran. Das also zu unserer ersten Spur. Aber heute Morgen kamen mich zwei Inspektoren des Kommissariats in der Passage du Désir besuchen. Eine Leiche ist gestern in einer Schneiderwerkstatt im Sentier gefunden worden, ein junges Mädchen zwischen zwölf und dreizehn Jahre alt, Thailänderin, anscheinend hat sie sich prostituiert. Und in derselben Werkstatt wurden zwei Päckchen Heroin von sehr reiner Qualität entdeckt, genau die, nach der wir suchen. Schätzungsweise ein Kilo. Das könnte der Beginn einer zweiten Spur sein.«

»Brillante Arbeit, mein lieber Théo, und in einer absoluten Rekordzeit. Nun, was sind Ihre Forderungen?«

»Zuerst einmal wollte ich Sie, im Interesse meines V-Mannes, von seinen derzeitigen Aktivitäten auf Seiten der türkischen Arbeiter in Kenntnis setzen. Und dann die Leiche in dieser Werkstatt. Der Meister der Werkstatt ist in Untersuchungshaft, die sich allerdings dem Ende nähert, und die Geschichte gehört von nun an der Kripo. Ich würde jedoch gerne die Untersuchung dieses Mordfalles behalten, weil er wahrscheinlich mit dem Drogenhandel zu tun hat. Dann möchte ich zur Verstärkung meiner Gruppe die zwei Inspektoren des Kommissariats des 10ten Arrondissements überstellt bekommen. Sie haben uns zu diesem Treffer verholfen und schon sehr viel Einsatz gezeigt. So könnten wir gewinnen.«

»Das ist eine vernünftige Forderung. Für Ihren Typen werden wir die Untersuchungshaft noch eine Weile verlängern und was den Rest angeht, gebe ich Ihnen morgen die offizielle Antwort, aber was mich betrifft, ich bin einverstanden. Ich muss Ihnen auch sagen, dass die Gruppe aus Marseille total gescheitert ist. Trotz der, sagen wir mal, ›beharrlichen‹ Tipps der Amerikaner. Und trotz der vielversprechenden Anfänge. Sie erinnern sich doch noch an die Beschlagnahmung der sechs Kilo Morphium aus den Autoreifen eines Armeniers im Dezember letzten Jahres? Seitdem nichts mehr, unmöglich eine erste Spur zum Ring zu finden. Wir haben soeben die Gruppe aufgelöst. Daquin, geben Sie nichts auf den äußeren Eindruck, glauben Sie mir, ich habe Ihnen mit größter Aufmerksamkeit zugehört. Ich schätze Ihre Arbeitsweise.«

3

Mittwoch, 5. März

8.00 Uhr, Rue du Faubourg-Saint-Martin

Attali übernimmt die erste Schicht zur Überwachung des Imbisses, der gerade aufmacht. Sie benutzen die Wohnung eines Polizeibeamten des 10ten Arrondissements, seit gut 15 Jahren in Pension. Meillant, Kommissar im 10ten, hat sie miteinander bekannt gemacht. Dritte Etage, schräg gegenüber vom Laden. Zwei winzige Zimmer, aber mit zwei großen Fenstern zur Straße hin, Möbel aus massivem dunklem Holz, eine kleine Küche, Bad und WC: Alles, was man heute so hat. Attali ist tief in einen Voltaire-Sessel versunken, vor dem Fenster ist das Teleobjektiv auf den Imbisseingang gerichtet, wirklich sehr bequem. Der Alte, mit einem vom Alkohol aufgedunsenen roten Gesicht, schlurft in Filzpantoffeln im Zimmer umher. Er sei überglücklich, ihnen einen Gefallen tun zu können, sagt er. Er hat Milchkaffee und Croissants hingestellt. Und dann, ohne jede Vorankündigung, Pastis. Attali mag ein noch so standfester Trinker sein, ein Pastis bereits nach dem Milchkaffee, das überrascht ihn dennoch. Aus der Küche dringt schon der Geruch des Mittagessens: Schafsragout mit Bohnen.

Fotos nur von denen, die aus dem schmalen Gang im Inneren des Ladens kommen. All die anderen zu fotografieren, die vor dem Laden stehen bleiben, wo sowieso immer großer Andrang ist, würde keinen Sinn machen. Der Alte schwatzt über den kulturellen Verfall des Viertels. Früher war alles besser, jetzt sind überall nur noch Ausländer, man versteht ja niemanden mehr. Der Auslöser des Fotoapparats klickt mit einer gewissen Regelmäßigkeit.

10.00 Uhr, Rue Saint-Denis

Hat man die Chance, an der Sache dranzubleiben, müssen Ergebnisse her. Eine kleine zwölfjährige thailändische Prostituierte fällt nicht einfach aus heiterem Himmel erwürgt und nackt in eine Schneiderwerkstatt des Sentier.

Aus dem Bericht des Gerichtmediziners geht hervor, dass das Mädchen nach ihrem Tod transportiert wurde. Soweit so gut, aber wo ist sie getötet worden? Eine Prostituierte. Santoni kennt sich auf dem Gebiet aus. Er geht in einen Sexshop. Hinter der Kasse ein pickeliger junger Mann mit Brille. Er sieht nicht von der Zeitung auf. Einige Kunden, ausnahmslos Männer, schlendern zwischen den Regalen hin und her, verstohlene Blicke, rote Wangen, die Hände in den Taschen, aber nicht wirklich entspannt. Santoni zückt seinen Ausweis und ruft mit lauter Stimme: Polizei! Er geht auf den Typen mit der Brille zu, der vor Angst zusammenzuckt und ihn erschrocken ansieht. Als er die Kasse erreicht und sich umschaut, ist niemand mehr da.

»Siehst du, so einfach ist das, deinen Laden kaputt zu machen.«

»Warum tun Sie das, Inspektor?«

»Um dich ein bisschen auf Trab zu bringen, Schwuchtel. Ein Thaimädchen, zwölf Jahre alt, eine Prostituierte, wurde hier in der Nähe umgebracht (er legt ein Foto der Toten auf den Tisch). Thomas und ich wollen wissen, wer sie ist und wer die Tat begangen hat. Ihr solltet ein Interesse daran haben, es herauszufinden, wenn nicht, werden wir gezwungen sein, uns selbst ein wenig umzuschauen. Das heißt, du wirst mich hier öfter sehen, als dir lieb ist: Durchsuchungen, Festnahmen, Verhöre. Die ganze Palette. Nicht besonders gut fürs Geschäft. Das ist dir doch klar?«

»Inspektor, ich habe nie von diesem Mädchen gehört.«

»Du kannst dir sicher denken, dass mir das nicht reicht. Streng dich an! Steck das Foto ein, es wird dir helfen. Du kannst mich zur Mittagszeit bei Mado erreichen.«

Santoni geht, ohne sich noch einmal umzudrehen. Die Straße ein bisschen weiter aufwärts, im Eingang eines schmalen, dreckigen und sehr dunklen Flures eine Black Beauty, wie sie schöner nicht sein kann: um die zwanzig, superkurzer roter Stretchrock und passend dazu ein hautenger und so knapp gehaltener Pulli, dass man den Bauchnabel sehen kann. Santoni lächelt, fasst ihr unter den Rock, schiebt ihren Slip beiseite und kneift ihr in die Möse, ungefähr so, wie früher die Großväter ihren Enkeln in die Wange gezwickt haben.

»Hallo Schneewittchen! Wo ist deine Freundin?«

»Oben. Aber gehen Sie nicht hoch. Sie ist beschäftigt.«

»Hau ab!«

Er stößt sie beiseite und geht die sehr steile Treppe hinauf, den Flur entlang, holt einen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnet ohne Zögern die letzte Tür links. Kleines Zimmer mit Fenster zur Straße, links die Waschgelegenheit, rechts ein großes Bett, überall Spiegel, sowohl an der Decke als auch an den Wänden. Eine Blondine, ausgestreckt auf einem Tisch am Fußende des Bettes, die Beine baumeln herunter. Der Freier dreht sich um, zu Tode erschrocken.

»Polizei« (Santoni zeigt seinen Ausweis). »Ziehen Sie sich an und hauen Sie ab. (Die Blondine sitzt immer noch auf dem Tisch. Eine echte Blondine, eher zierlich, aber mit Riesenbrüsten und rosafarbenen Brustwarzen.) Und du ziehst dich auch an! Dich schnappe ich mir.«

Der Freier ist längst fort. Wahrscheinlich ist er gerade dabei, sich im Flur Hemd und Hose zuzuknöpfen.

»Warte, soviel Zeit muss sein. Lass mich zwischen deinen Brüsten kommen.«

Und Santoni, noch in der Tür stehend, lässt seine Hose herunter. Nachdem sich das Mädchen gewaschen und angezogen hat, reicht ihr Santoni das Foto der kleinen Thailänderin und gibt ihr noch einige Informationen.

»Du hast genau zwei Stunden Zeit, dich umzuhören. Ich gehe zu Mado mittagessen. Sollte ich bis zum frühen Nachmittag nichts von dir hören, sitzt du abends im Knast. Kalter Entzug. Sagt dir das was?«

Etwa zur selben Zeit sieht sich Thomas, begleitet von fünf Polizisten, in einem der zwei thailändischen Restaurants in der Nähe um. Auffallen und mit Härte vorgehen. Umgeworfene Tische und zerschlagenes Geschirr. Ein Paar Ohrfeigen für den Besitzer, das Personal an die Wand gestellt, einen jungen Koch ohne Papiere aus seinem Versteck unter einem Tisch in der Küche hervorgezogen, Handschellen angelegt und am Garderobenständer neben dem Eingang angekettet.

Passanten bleiben neugierig stehen.

»Kennen Sie dieses Mädchen? (Foto der Toten). Ein Mädchen aus ihrem Land. Wir wollen wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Liefern Sie uns die Informationen und wir geben Ihnen Ihren Koch zurück. Wenn nicht, wird er morgen abgeschoben und Sie haben die Steuerfahndung am Hals.«

Thomas und Santoni nennen das »Bäumchen schüttel dich«.

12.00 Uhr, Rue Faubourg-Saint-Martin

Nach dem vierten Pastis isst Attali das Schafsragout vom Teller auf seinen Knien und trinkt dazu eine Flasche Cahors, ohne sich vom Fenster wegzubewegen. Er sieht nur Türken, die in den Imbiss gehen. Kaffee mit Cognac. Attali hofft, dass diese Überwachung nicht allzu lange dauern wird. Der Alte hält seinen Mittagsschlaf. Attali macht ebenfalls ein Nickerchen. Nachdem er aufgewacht ist, kommt der Alte zu Attali, schaut sich um, interessiert sich für die Technik, fragt. Was für eine Nervensäge, denkt Attali, aber er muss freundlich bleiben.

»Warum fotografieren Sie nur den Imbiss?«, fragt ihn der Alte.

»Weil wir uns für die Leute interessieren, die dort arbeiten. Wollen Sie, dass wir etwas anderes fotografieren?«

»Wissen Sie, der Laden nebenan (Nähmaschinenbedarf und Zubehör) hat denselben Besitzer. Sie sind entweder in dem einen oder in dem anderen Laden, das hängt von der Tageszeit ab.«

»Woher wissen Sie das?«

»Die sind schon seit mehreren Monaten hier, also hatten wir Zeit, sie zu beobachten, der Wirt vom Bistro unten und ich. Über einen Flur, da hinten, gehen sie von einem Laden in den anderen. Das spricht sich herum.«

Attali fotografiert murrend weiter.

12.00 Uhr, Rue de la Fidélité

Mado ist eine Institution im Viertel. Eine ehemalige Prostituierte, die mit viel Engagement in die Gastronomie gewechselt ist. Thomas betritt die Bar, in der bereits ihr ehemaliger Zuhälter und heutiger Ehemann sitzt, betäubt vom Alkohol und leicht verdientem Geld. Schon lange ist er zu nichts mehr zu gebrauchen, aber Mado ist eine Frau mit Herz und Verstand. Thomas grüßt sie höflich, schiebt den roten Vorhang beiseite, der das Restaurant von der Bar trennt. Mado ist um die fünfzig, eine falsche Blondine, überdimensioniert in jeder Hinsicht, wie in den Filmen von Fellini, stark geschminkt, sie trägt einen kurzen schwarzen Rock, ein rosafarbenes Oberteil aus Angorawolle und an Fingern, Armen und Hals jede Menge Ringe, Armbänder und Halsketten. Ein Yorkshireterrier auf ihrem linken Unterarm schmiegt sich an ihre Brust, sie läuft zwischen den Tischen hin und her, um das Decken der Tische im Auge zu behalten.

Thomas legt beide Hände auf ihren großen und festen Po. Ein Vorgeschmack auf das, was noch kommt.

»Hallo Großer! Einen Tisch für nachher? Hier, zwei Bestecke.«

Sie stellt ein Kärtchen mit der Aufschrift »Reserviert« auf einen Tisch. Dann nimmt sie ihn am Arm und schlendert zur Wohnung, die genau über dem Restaurant liegt. Mado schläft immer noch mit ihren »seriösen« Kunden, aber sie lässt sich nicht mehr von ihnen bezahlen. Sie lädt sie wie selbstverständlich zum Essen ein, nachdem sie die Beine breit gemacht hat. Eine Entschädigung? Niemand denkt auch nur im Traum daran, dieses Angebot abzulehnen. Und Thomas schon gar nicht, der die fülligen Blonden bevorzugt und den Mado in dem Glauben lässt, dass er kein gewöhnlicher Liebhaber sei. Sie ist raffiniert, hat Erfahrung und denkt, dass es besser ist, sich gut mit der Polizei zu stellen.

Um 13.00 Uhr geht Thomas runter ins Restaurant, wo er sich mit Santoni verabredet hat. Mado kommt vorbei und setzt sich für ein paar Minuten an ihren Tisch. Das ist der Moment, um das Geschäftliche zu besprechen. Das hätte sie Thomas zuvor im Schlafzimmer nicht gestattet. Ein zwölfjähriges Thaimädchen, eine Prostituierte, ermordet in der Nacht von Freitag auf Sonnabend, deren Leiche man in einer Schneiderwerkstatt in der Rue Faubourg-Saint-Martin gefunden hat. Sagt ihr das etwas? Nein, überhaupt nichts. Habt ihr schon im Viertel herumgefragt? Den ganzen Vormittag? Na, vielleicht kommt etwas raus. Ich werde mal schauen, ob ich etwas erfahre. Ein paar wiegende Schritte zwischen den Tischen und Mado verschwindet galant hinter der Bar.

Sie ist eine wichtige Person im Viertel. Jeder weiß, dass sie mit der Polizei spricht, aber nur innerhalb bestimmter Regeln und festgesteckter Grenzen. Sie ist eine unverzichtbare Informationsquelle und wird von allen respektiert. Nach einigem Hin und Her kommt Mado wieder zu ihnen zurück und gibt dem Kellner ein Zeichen: zwei Kaffee und zwei Cognacs für die Herren.

»Über das Mädchen nichts. Aber es gibt in der Gegend Leute, die mit Thailand zusammenarbeiten und möglicherweise etwas auf dem Kerbholz haben. Eine sogenannte Veranstaltungsagentur, Ballett Aratoff, Rue des Petites-Ecuries. Sie organisieren Revuen, aber ihre eigentliche Beschäftigung scheint die Zusammenarbeit mit »spezialisierten« Reisebüros zu sein, die die Organisation von Rundreisen durch die Bordelle Bangkoks übernehmen.«

»Ist das unlauterer Wettbewerb durch Standortverlagerung ins Ausland? Danke, Mado, für den Tipp.«

»War mir ein Vergnügen, dich wiederzusehen, mein Großer.«

16.00 Uhr, Rue Faubourg-Saint-Martin

Romero kommt zum Schichtwechsel. Attali empfängt ihn leicht schwankend. Diskrete Beratung, während der Alte in die Küche geht. Die Entscheidung ist gefallen: Es sind alle zu fotografieren, die die zwei Läden verlassen. Alles weitere besprechen wir morgen mit dem Kommissar.

Attali geht. Durch die Toreinfahrt gelangt er in den Hinterhof des Wohnhauses. Zahlreiche Schneiderwerkstätten auf jeder Etage, ein Höllenlärm. Ein kleiner Plausch mit der Concierge, Mitte fünfzig und überglücklich, endlich wieder mit einem Franzosen reden zu können, das fehlt ihr sehr, verstehen Sie? Es gibt also zwei Läden mit zwei Namen und zwei Verwaltern, die aber einen gemeinsamen Briefkasten haben. Die Post holt mal der eine, mal der andere ab. Aber wissen Sie, es würde mich wundern, wenn es sich dabei um etwas Wichtiges handeln würde …

Mit sicherem Schritt kehrt Attali wieder auf die Straße zurück. Dennoch fühlt er sich betrunken. Unmöglich in so einem Zustand zu Hause aufzutauchen. Seine Mutter würde ihm was erzählen. Er bringt die Fotos ins Labor und entschließt sich, ins Kino im Quartier Latin zu gehen und sich dort einen alten Krimi anzusehen, um die ganze Aufregung des Tages abzustreifen.

4

Donnerstag, 6. März

8.00 Uhr, Passage du Désir

Die Nerven liegen blank. Das ist immer so, wenn eine Untersuchung losgeht. Danach kümmert man sich so gut es geht um die Routine und die Zufälle. Auf seinem Schreibtisch findet Daquin ein Paket mit Fotos von Attali. Gute Arbeit.

Thomas und Santoni treten ein. Vorstellung, Hände schütteln. Enge Mitstreiter von Meillant, Daquin weiß Bescheid. Thomas und Meillant haben sich während der Résistance kennengelernt und sind 1945 zusammen als einfache Polizisten in den Polizeidienst eingetreten. Aber Thomas wollte oder konnte nicht Kommissar werden. Er ist und bleibt Inspektor. Das hat ihn verbittert und es ist diese Spur von Bitterkeit, die seine ganze Persönlichkeit durchzieht. Santoni hat eine klassische Laufbahn absolviert, ist weniger ambitioniert und zufrieden mit der Rolle als treue rechte Hand Meillants. Die beiden ähneln sich, um die fünfzig, Bauch, Schnurrbart. Typisches Bullengehabe, eine Mischung aus Jovialität und Überheblichkeit. Daquin wirft einen Blick in den kleinen Spiegel über dem Waschbecken. Den Unterschied wahren.

Jetzt gehört der Jugo uns. Informationsaustausch. Verhörtaktik absprechen. Er wird auspacken. Los geht’s.

Der Jugo wartet im Büro von Thomas und Santoni, mit Handschellen gefesselt und am Heizungsrohr angekettet. Er sitzt auf dem Boden. Thomas zwingt ihn mit einem Fußtritt aufzustehen und setzt ihn ohne Rücksicht auf den Stuhl, die Hände auf dem Rücken und an die Stuhllehne gefesselt. Er zieht seinen Gürtel aus seinem Hosenbund und schnallt eine Wade am Stuhlbein fest, das Gleiche mit dem anderen Bein und dem Gürtel seines Kollegen. Daquin bemerkt, dass es an den entsprechenden Stellen bereits Löcher in den Gürteln der beiden gibt, die genau dafür vorgesehen zu sein scheinen. Er sagt aber nichts. Die beiden Männer machen das nicht zum ersten Mal, so viel ist klar. Sie ziehen die Stühle heran, jeder von ihnen setzt sich ganz dicht an eine Seite des Jugos. Daquin bleibt hinter seinem Schreibtisch. Santoni gibt ihm ein Zeichen, die obere Schublade zu öffnen. Er öffnet sie und sieht zwei sorgfältig eingewickelte Plastiksäckchen mit Heroin.

»Gut. Kommen wir zur Sache. Damit eins klar ist: Wir nehmen dir keine deiner gestrigen Aussagen ab. Wenn du nicht sofort mit dem rausrückst, was du weißt, und zwar schnell, dann hast du eine Anklage wegen Mordes und sexuellen Missbrauchs an einer Minderjährigen am Hals. Die Zeichen für Kanaken wie dich stehen schlecht. Deine Chancen, da wieder rauszukommen, sind minimal. Hast du das kapiert?«

Er nickt mit dem Kopf.

»Wann genau hast du die Leiche gestern in deiner Werkstatt gefunden?«

»Gegen 16.00 Uhr.«

Keine Zeit, den Satz zu beenden. Er bekommt zwei Tritte gegen das Schienbein und schreit auf. Eine Ohrfeige von rechts. »Schrei nicht so, du wirst noch unseren Ruf ruinieren.« Eine Ohrfeige von links. »Antworte mit: Ja, Herr Inspektor, wenn mein Kollege mit dir redet.« Der Jugo ist völlig verwirrt. Gestern, als ihn die Kriminalpolizei verhört hat, ging es zweifelsohne weniger gewalttätig zu, mit einem solchen Empfang hat er nicht gerechnet. Er versucht, den Kopf zu drehen, um zu sehen, wer der dritte Mann im Hintergrund ist, hat aber keine Zeit. Thomas packt ihn an den Haaren und dreht ihm den Kopf nach rechts, während ihm Santoni erneut zwei Tritte gegen sein Schienbein verpasst.

»Schau uns an, Arschloch! Es gehört sich nicht, den Leuten, mit denen man redet, nicht ins Gesicht zu sehen. Nun wirst du ordentlich auf meine Frage antworten: Wann genau hast du die Leiche gestern in deiner Werkstatt gefunden?«

»Um 7.00 Uhr morgens.«

Die drei Bullen schauen sich kurz an: Das ist kein harter Brocken. Ist auch besser so.

»Und warum hast du nicht sofort beim Kommissariat angerufen? Was hast du zwischen 7.00 Uhr morgens und 16.00 Uhr nachmittags gemacht?«

»Ich habe meine Maschinen verkauft.«

»Warum?«

»Damit man sie mir nicht beschlagnahmt.«

»Und warum sollte man sie beschlagnahmen?«

»Weil ich Arbeiter ohne Papiere beschäftigt habe, und ich dachte, dass die Polizei dahinterkommt.«

Inspektor Thomas streicht ihm beharrlich übers Kinn.

»Schön zu hören, dass jemand die intellektuellen Fähigkeiten der Polizei zu schätzen weiß, gerade in der heutigen Zeit.«

Der Jugo sieht aus, als würde er gleich anfangen zu heulen.

Die Stimme des Kommissars, noch immer im Hintergrund:

»Und du hast die Küche sauber gemacht.«

In einem sehr ruhigen Ton, fast gleichgültig. Im gleichen Moment holt er aus seiner Jacke einen dicken Siegelring hervor, den er sich in aller Ruhe auf den Ringfinger der rechten Hand steckt. Der Jugo sagt nichts. Erneut eine Ohrfeige von Santoni.

»Antworte, hast du deine Küche geputzt, ja oder Scheiße?«

»Nein, ich habe meine Küche nicht sauber gemacht.«

Der Kommissar verlässt seinen Beobachtungsposten und schlägt ihm mit dem Handrücken mit voller Wucht ins Gesicht. Der Stuhl kippt nach hinten und der Jugo mit ihm. Beim Fallen stößt er an die Schreibtischkante. Aus seiner linken Augenbraue rinnt Blut.

»Hör mir gut zu, Arschloch. Die Leute vom Labor haben uns gesagt, dass deine Küche bereits am Montag gründlich gereinigt wurde und dass du in der Werkstatt gewesen bist. Es gibt Zeugen.«

Bei diesem Schlag fängt der Jugo an zu heulen, immer noch am Boden, der Kommissar genau über ihm. Das Blut läuft in seine Haare.

»Ja, vielleicht habe ich die Küche gereinigt, ich erinnere mich nicht mehr genau.«

»Streng dich an! Warum hast du die Küche geputzt?«

Im selben Moment packt er den Jugo am Kragen, hebt mit der anderen Hand den Stuhl auf und hält ihm die zwei Plastiksäckchen unter die Nase. Der Jugo schreit auf vor Entsetzen. Die Sache ist zu Ende, keine allzu harte Angelegenheit, bleibt nur noch, das Geständnis aufzunehmen.

Seine Idee war es nicht. Einer seiner türkischen Arbeiter. Er hat die beiden Säckchen gestern gegen 6.00 Uhr morgens mitgebracht. Beide sind sie in die Werkstatt gegangen, ohne dass ihnen etwas aufgefallen wäre. Der Türke hat sie in der Küche geöffnet und kleine Mengen à 50 Gramm abgewogen, die er in die Taschen von etwa zwanzig roten Hosen eingenäht hat, die zuoberst auf dem Haufen lagen. Diese Hosen mussten dann unter die Hosen gepackt werden, die für die Auslieferung vorgesehen waren. Als er die restlichen Hosen einpacken wollte, entdeckte er die Leiche.

»Und die Auslieferung, wie läuft die normalerweise ab?«

Normalerweise beliefert er fünf Hersteller. Der Türke hat ihm eine Liste mit Namen zusammengestellt, deren Reihenfolge er zu befolgen hatte: Es waren an die zwanzig Läden, die er mit den Drogen in den Hosen beliefern musste.

»Und du hast sie beliefert, bevor du die Leiche gemeldet hast?«

»Ja.«

Ein mit Mühe hervorgebrachtes Ja. Er erwartete eine erneute Ohrfeige, die blieb jedoch aus. Noch hatte er das Spiel nicht ganz verstanden.

»Erzähle!«

»Ich gehe in den Laden hinein, die rote Hose gut sichtbar auf meinem Arm. Jemand empfängt mich. Ich sage: ›Ich bringe das Modell.‹ Er nimmt die Hose entgegen und sagt: ›Danke, ich werde später zahlen‹. Das ist alles. Ich gehe wieder hinaus.«

»Du bekommst kein Geld?«

»Nein.«

»Wer bezahlt dich?«

»Der Türke.«

»Wie viel?«

»5.000 Francs.«

»Die Liste mit den Läden?«

Der Jugo versucht sich zu erinnern, zögernd zählt er die Namen der zwanzig Läden der Hersteller auf, die über das ganze Sentier verstreut sind.

»Und nun Name und Adresse des Türken!«

Der Jugo nennt einen Namen – Celebi –, eine Adresse – Rue du Faubourg-Saint-Martin, Nummer 25 –, aber er deutet an, dass sie vermutlich nicht stimmt. Er hat ihn vor zwei Wochen im Café Gymnase auf dem Boulevard getroffen und ihn eingestellt. So läuft das hier bei den Türken in der Regel ab: Man trinkt zusammen einen Kaffee im Gymnase, die Chefs der Werkstätten kommen dazu, man diskutiert und macht Geschäfte. Anschließend geben sie einem eine Adresse, aber es ist niemals die richtige. Jedenfalls werden sie immer in bar bezahlt.

»Würdest du ihn wiedererkennen?«

Zögern. Der Jugo ist sich nicht sicher. Ein zaghaftes Ja.

Santoni zeigt ihm die Fotoserie, die Attali und Romero gemacht haben, Daquin beobachtet ihn. Bei einem Foto sieht er auf und zu Daquin hinüber.

»Das ist er.«

»Sicher?«

»Sicher.«

»Kannst du das bezeugen? (Der Jugo hat Angst.) Hör mir gut zu. Wir werden dich erst als Zeuge befragen, wenn wir das ganze Netz gefasst haben. Zu diesem Zeitpunkt wirst du weder der einzige noch der wichtigste Zeuge sein, und die anderen werden alle im Knast sitzen. Du hast also nicht viel zu befürchten. Wenn du bezeugst, dass dieser Türke die Säckchen in deiner Küche an jenem Montag, den 3. März, präpariert hat, werden wir unsere Anschuldigung wegen Drogenhandels gegen dich fallen lassen. Solltest du nicht aussagen, müssen wir aber jemanden finden, der verantwortlich für die Heroinpäckchen in deiner Küche ist. Du verstehst, was ich meine? Gut. Jetzt scheinst du zu verstehen, worauf ich hinauswill. Ich werde also meine Frage wiederholen: Wirst du gegen diesen Türken aussagen, wenn wir dich danach fragen?«

»Ja.«

Daquin fährt ihm sanft über die Haare. So ist es viel besser.

»Nun zu einer anderen Sache. Du bist kein Franzose. Wer ist dein Geschäftsführer?«

»Ich bin nur der Meister. Ich habe keine Firma. Ich arbeite für Anna Berić. Sie macht die Bestellungen, die Zahlungsanweisungen und die Lohnabrechnung fertig.«

»Wer ist diese Anna Berić?«

»Eigentlich ist sie Jugoslawin. Sie gehört im weitesten Sinn zur Familie.«

»Wie lange arbeitest du schon mit ihr zusammen?«

»Sehr lange. Mindestens fünf Jahre.«

»Wo kann man sie erreichen?«

»Sie wohnt Rue Raynouard 21, in Paris.«

Daquin gibt dem Bullen an der Tür ein Zeichen:

»Nehmen Sie ihn mit und sagen Sie im Knast Bescheid, dass er einverstanden ist auszusagen, und dass man ihn vernünftig behandeln soll.«

19.00 Uhr, Villa des Artistes