Kesseltreiben - Dominique Manotti - E-Book

Kesseltreiben E-Book

Dominique Manotti

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Beschreibung

Commandant Noria Ghozali, 25 Berufsjahre bei der Polizei, zuletzt in der Terrorbekämpfung des französischen Inlandsnachrichtendiensts, fällt in Ungnade, als ihr jüngerer Bruder nach Syrien in den Djihad zieht, und wird in die randständige Abteilung »Wirtschaftliche Sicherheit« versetzt. Dort verfolgt man aktuell die Aktivitäten um den ­Orstam-Konzern, französischer Weltmarktführer im Kraftwerksbau von natio­naler strategischer Bedeutung. Am Flughafen JFK wird ein Orstam-Manager verhaftet – Vorwurf: Bestechung beim Indonesiengeschäft. Eine konzertierte Aktion von amerikanischer Justiz, CIA, NSA und Unternehmerkreisen? In Paris bleibt es seltsam still: Der Orstam-Chef hüllt sich in Schweigen, die Regierung bleibt untätig. Ein interessierter Konkurrent, die amerikanische Power Energy, streckt bereits seine Finger nach Orstam aus. Während Noria Ghozali und ihr Team Bericht auf Bericht schreiben, die ihre Ansprechpartner in der Regierung vollkommen kalt lassen, rückt bei Orstam die entscheidende Aktionärsversammlung näher. Mit Anreizen, Manipulation und Erpressung sucht Power Energy gewisse Orstam-Mitarbeiter ins Boot zu holen oder unschädlich zu machen … Wirtschaftshistorikerin Dominique Manotti schöpft erneut aus dem Vollen: Locker inspiriert durch die »Alstom-Affäre«, den Kauf der Energiesparte des französischen Konzerns durch den US-Konkurrenten General Electric 2013–2015, schildert sie in einem fein justierten Plot das von organisierter Kriminalität kaum mehr unterscheidbare Zusammenwirken von Unternehmerhandeln, Regierungspolitik und Geheimdienstaktivitäten. Und schenkt uns ein Wiedersehen mit der herben Einzelgängerin Noria Ghozali.

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Dominique Manotti

KESSELTREIBEN

Aus dem Französischen

von Iris Konopik

Ariadne Krimi 1231

Argument Verlag

Dieser Roman ist frei (sehr frei) inspiriert von der »Alstom-Affäre«, der Übernahme des französischen Unternehmens Alstom Énergie durch den amerikanischen Konzern General Electric 2013–2015.

Inhalt

Cover

Titel

Vorbemerkung der Autorin

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Epilog

Weitere Bücher

Impressum

Ein Hammer, wie Manotti im Gewand einer rasanten Wirtschaftsermittlung aufdeckt, wer wo warum welche Strippen ziehen kann, um ungestraft und von unsereins gänzlich unbemerkt mit blutigem Geld zu hantieren, Konzerne zu schlucken, ganze Justizsysteme einzuspannen, alles mit Billigung, wenn nicht gar Unterstützung der amtierenden Politik. Die Ermittlung zu den Intrigen um den französischen Energieriesen Orstam wird eine große Prüfung für Noria Ghozali, die man zur Nachrichtendienstsektion Wirtschaftliche Sicherheit versetzt hat.

Commandant Ghozali begegnet uns hier zum dritten Mal in Manottis Gesamtwerk. In Roter Glamour ist sie eine noch sehr junge Frau, die sich gewaltsam von ihrer Migrantenfamilie trennt, Polizistin wird, sich als unbestechliche Fährtensucherin bewährt. In Einschlägig bekannt ermittelt sie zu polizeilicher Korruption in den explosiven Vorstädten von Paris. Kesseltreiben zeigt sie im Alter der Bestandsaufnahmen, wie sie es nennt, und hier trifft sie auch auf Théo Daquin, Manottis schlagkräftigen Kommissar aus den Romanen Schwarzes Gold, Hartes Pflaster, Zügellos und Abpfiff.

Manottis Ermittlerfiguren stehen im Sturm, sind jedoch keine einsamen Wölfe. Im Interview mit Libération sagt die Autorin: »Noria ist Einzelgängerin, aber sie arbeitet im Team. Meine Bullen agieren nie ganz allein. Daquin ist inzwischen pensioniert, Prof am Sciences-Po, der Hochschule für politische Studien, aber vorher war er Polizist und hatte sein Team. Ich glaube absolut nicht, dass der einsame Bulle der Realität entspricht: Bei der Polizei, wenn du da nicht im Team arbeitest, bist du tot. Und ich lege Wert auf Realismus. Bei der Polizei kommen sehr volkstümliche Milieus zusammen, und vor allem haben diese Leute mit der Scheiße zu tun, von morgens bis abends. Aber Empathie bedeutet nicht Kritiklosigkeit. Ich versuche zu verstehen. Und was mich enorm fasziniert, ist die Durchlässigkeit zwischen legal und illegal. Im Polizeiberuf ist sie besonders groß. Man balanciert dort unaufhörlich an der Grenze.«

Am Ende des Buchs finden Sie Hintergrundinfos und Links.

Prolog

Samstag, 13. April 2013

New York

François Lamblin ist bester Laune, als er aus Paris kommend nach acht Stunden Flug, drei Whisky und einem exzellenten Krimi am späten Nachmittag auf dem JFK-Airport landet. Beim Verlassen des Flugzeugs ist die Luft frisch, stimulierend. Heute Abend an der Bar seines Luxushotels ein hübsches Mädchen aufgabeln, und nach einer wohlverdienten Ruhepause ist er dann in Form für das Treffen mit Großkunden, die er mit seiner Präsentation zur Leistungsfähigkeit der neuen Generation Kraftwerksanlagen einwickeln wird. Erfolg garantiert laut der Abteilung Strategie. Und wenn er erst den amerikanischen Markt in der Tasche hat, erreicht seine Karriere im Unternehmen, dem größten französischen Hersteller von Turbinen und Kraftwerken jeden Typs, ihren Zenith, so viel ist sicher.

Er geht zum Einreiseschalter, zeigt seinen Pass. Zwei uniformierte Polizisten tauchen auf, flankieren ihn, legen ihm die Hände auf die Schultern, ein dritter nimmt ihm seine kleine Reisetasche ab, ein vierter legt ihm Handschellen an. Ein Blitzlicht flammt auf.

»François Lamblin?«

Wie vom Schlag getroffen, offener Mund, unfähig, einen Ton von sich zu geben. In seinem Hirn ein paar unzusammenhängende Bilder: Er sitzt im Büro von Gus Anderson, der Nummer zwei der Rechtsabteilung bei Orstam, dieser Dreckskerl von Anderson, seine großen blauen Augen und sein ach so distinguierter britischer Akzent. Er sieht sich selbst, tief im Sessel versunken: »Das vertrauliche Rundschreiben vom Oberboss, in dem er seinen Führungskräften rät, nicht in die USA zu reisen, eine fixe Idee oder besteht echte Gefahr? Ich habe potenzielle Großkunden in New York. Soll ich die Finger davon lassen?« Und sein Gegenüber, heiter: »Was Sie betrifft, keinerlei Gefahr. Sie sind durch die Einstellung des Verfahrens der französischen Justiz bestens abgesichert … und weiß wie Schnee seit den Ergebnissen unserer internen Untersuchung. Sie können unbesorgt reisen.« …

Zurück in die Gegenwart. Stockend bringt er heraus: »Ja, ich bin François Lamblin.«

»Sie sind verhaftet, kommen Sie mit.«

Endlich begehrt er auf. »Was soll das Theater? Wo bringen Sie mich hin?«

»Das erfahren Sie noch, wir führen nur Befehle aus.«

Um ihn herum gehen die Leute aus dem Weg, eilig, gleichgültig. Er wird in einen kleinen fensterlosen Raum in der Nähe des Zollamts geschubst. Hinter einem Tisch zwei Männer in Anzug und Krawatte, gutaussehende Vierziger mit freundlicher Ausstrahlung, die ihn offensichtlich erwarten und ihm bedeuten, sich zu setzen. Ein Polizist nimmt ihm die Handschellen ab. Lamblin stellt überrascht fest, dass er sich mechanisch die Handgelenke reibt, wie in den Fernsehserien.

»Können Sie mir verraten, was ich hier soll, was diese Farce zu bedeuten hat?«

»Wir wollen uns vorstellen, Mister Lamblin. Ich bin Agent Morris, und dies ist mein Kollege Agent Wolfram, FBI. Ihnen wird Bestechung vorgeworfen, im Rahmen einer Ermittlung der amerikanischen Justiz, die, wie Sie wissen, im März eingeleitet wurde und ein zwischen 2004 und 2006 abgeschlossenes Indonesiengeschäft betrifft, den Pampa-Vertrag, bei dem die Niederlassung, die Sie seinerzeit hier in den USA leiteten, als Vermittler fungierte.«

»Absurd, vollkommen abwegig, ich weiß von gar nichts.«

»Treiben Sie keine Spielchen mit uns, Mister Lamblin, Sie sind nicht Manns genug dafür. Über die Aufnahme der Ermittlungen durch die amerikanische Justiz sind Sie voll und ganz im Bilde, Ihre Firmenleitung hat Ihnen vor gut einem Monat ein vertrauliches Schreiben mit einer Reisewarnung geschickt. Sicher, in dem Rundschreiben war von ›mutmaßlicher Korruption‹ die Rede, aber weder Sie noch wir lassen uns davon täuschen.«

Lamblin spannt Rücken- und Bauchmuskeln an, um den Schlag einzustecken. Vertrauliches Rundschreiben, adressiert an etwa hundert Führungskräfte, nicht viel mehr …

»Keine Ahnung, wie Sie an dieses Schreiben gekommen sind. Wenn Sie es bis zu Ende gelesen haben, wovon ich ausgehe, wissen Sie, dass unser Generaldirektor für eine Situation wie diese zum Schweigen rät. Ich werde mich daher nicht äußern.«

»Wie Sie wollen, Monsieur Lamblin. Im Augenblick bitte ich Sie lediglich, mir zuzuhören. Ich könnte Ihnen ein paar Mailwechsel zwischen Ihrem Büro und dem Mutterkonzern vorlesen, zum Beispiel diese vom 12. Dezember 2004, ich zitiere: ›Was Pampa betrifft, trauen die Stromversorger unserem alten Freund nicht. Sie fürchten, er könnte ihnen nach Überweisung der Prämie nicht mehr als ein Taschengeld übrig lassen. Es scheint daher opportun, für diesen Abschnitt der Verhandlungen unseren alten Freund durch Monsieur Genève zu ersetzen. Zahlung verteilt über zwölf Monate, fünfundvierzig Prozent bei der ersten Rate. Was halten Sie davon?‹ Für uns war es ein Kinderspiel, Ihren alten Freund zu finden. Er war nicht gerade glücklich, dass man ihn ausgebootet hat, und bereit auszusagen, als wir ihn darum baten. Mit etwas handfesten Methoden, wie ich gern zugeben will.«

Morris schweigt, damit Lamblin das verdauen kann. Der versucht Ruhe zu bewahren. Sie haben unsere gesamten Mails abgefangen. Andersons Gesicht taucht wieder vor ihm auf, die blauen Augen, das strahlende Lächeln und die engelsgleiche Miene, keinerlei Gefahr, reisen Sie. Er hat mich regelrecht gedrängt zu fahren. Ein Verräter? Auch er hat sich bei diesen Geschichten mit zweifelhaften Verträgen die Finger schmutzig gemacht … Seine Haut gegen meine? Ganz sein Stil. Etwas spät, daran zu denken. Also gut, dies ist eine Katastrophe. Aber keine Panik. Keine dieser Mails wurde von meinem Computer aus verschickt, keine enthält meine Signatur …

Morris nimmt den Faden wieder auf. »Ich sehe schon, Sie fragen sich: Warum knöpft er sich mich vor? Korruption ist im Hause Orstam derart verbreitet, von oben bis unten und bei allen Geschäften, warum ich, wegen eines Vertrags über nicht mal zweihundert Millionen Dollar, Kinkerlitzchen …«

Agent Wolfram öffnet eine Akte, die vor ihm auf dem Tisch liegt, entnimmt ihr eine Reihe Schwarz-Weiß-Fotos und schiebt sie Lamblin zu.

Morris fährt fort: »Schauen Sie sich diese Abzüge an, Mister Lamblin, schauen Sie sie sich gut an. Sicher, keine herausragende Qualität, es sind Screenshots, aber die ganze Bande ist da, aufgenommen während dieser Privatsoirée bei einer Ihrer Londonreisen vor einigen Jahren, sehen Sie das Datum in der rechten Bildschirmecke? März 2007. Erkennen Sie sich wieder, auf diesem hier, wie Sie eine Line Koks ziehen? Und hier, am gleichen Abend, wie Sie eine Line für diese entzückende Blondine vorbereiten, die sie sich wie ein Profi reinpfeift? Und sich auf dem nächsten Foto mit Ihnen auf dem Sofa wälzt? Erinnern Sie sich? Heiß. Die entzückende Blondine war damals dreizehn Jahre alt. Wussten Sie das? Trügerisch, was, dieses Paar Titten … Zu unserer Zeit … Und die Szene spielt sich zwar in London ab, aber die Minderjährige ist amerikanische Staatsangehörige …«

Lamblin stopft seine Hände in die Hosentaschen, damit Morris sie nicht zittern sieht. Anderson, immer wieder er … Ich sitze schön in der Scheiße … Nervöses Zucken im linken Augenwinkel.

»Und ich bin noch nicht ganz fertig. Sie wurden schon einmal bei einer Kokainsoirée erwischt, während Ihres Studienjahrs in Harvard vor zwanzig Jahren, und Sie standen damals vor Gericht, ohne große Konsequenzen, nichts wirklich Gravierendes. Aber das macht Sie zum Wiederholungstäter. Wie ich Ihren Oberboss kenne, ein Schreihals ohne einen Funken Courage, sobald der erfährt, was in Ihrer Akte steht, und er wird es erfahren, darauf ist Verlass – oder sollte ich sagen: auf uns ist Verlass? –, wird er Sie abservieren, das wissen Sie so gut wie ich.«

Lamblin zerfällt innerlich. Sein linkes Lid zwinkert wild. Morris betrachtet ihn ein paar Sekunden lang, dann sagt er: »Jetzt können wir uns unterhalten.«

Kapitel 1

Samstag, 13. April 2013

Montreal

Ludovic Castelvieux wacht langsam auf. Heute ist Samstag, kein Stress. Erste Verabredung am Nachmittag um halb fünf. Er stellt fest, dass er gut geschlafen hat, lässt den Blick durch das große Studio schweifen, das er im zweiten Stock eines Backsteinpavillons im angesagten Viertel von Montreal gemietet hat, es herrscht Ordnung, oberflächlich. Das Halbdunkel des Zimmers hat goldene Reflexe, draußen vor den Fensterläden kündigt sich ein Sonnentag an. Luxus, Stille und Genuss. Beruhigend. Er streckt sich unter dem Federbett, wirft einen Blick auf die Uhr, zwei Minuten vor acht, er stellt das Radio an, drei Werbespots, im Anschluss die Nachrichten. Auseinandersetzungen in der Ukraine, Chaos in Libyen, Geiseln und Krieg in Syrien, der Welt geht es schlecht, er hört dösend zu. Dann, am Ende der Nachrichten:

»Topaktuelle Information, der Tiefbauunternehmer Giorgio Bonelli«, bei diesem Namen schreckt Ludovic hoch, plötzlich hellwach, »eine in der Stadtverwaltung und der Bevölkerung von Montreal wohlbekannte Persönlichkeit, wurde gestern Abend um dreiundzwanzig Uhr erhängt in seiner Wohnung gefunden. Monsieur Bonelli hatte in letzter Zeit Schwierigkeiten bei der Führung seiner Geschäfte. Die Ermittlung geht von einem möglichen Selbstmord aus.«

Ludovic schießt aus dem Bett. Er ist nackt, das Zimmer sehr kühl, er achtet nicht darauf, steigt auf einen Stuhl, greift sich einen oben auf dem Schrank verstauten großen Koffer, wirft ihn aufs Bett. Selbstmord, was für ein Witz. Bonelli ist das zweite Opfer im Krieg der Ost-Mafia gegen die italoamerikanische Mafia. Wenn ich mich nicht schnellstens in Bewegung setze, bin ich das dritte, denn ich bin der Strohmann für die große Geldwaschmaschine, und wenn die Maschine Aussetzer hat, knallt der Strohmann wie eine Sicherung durch, um den Kreislauf zu unterbrechen. Genug gespielt, ich habe viel Kohle verdient, und den Mafiakillern bin ich nicht gewachsen. Er beginnt zu schlottern. Ganz ruhig, keine Panik. Du wusstest, dass das früher oder später passieren würde, du bist vorbereitet. Geh methodisch vor.

Er schlüft in die Kleidung vom Vortag, das geht schneller. Aus dem Kühlschrank in der Kochnische schnappt er sich einen großen Becher Joghurt, den er reichlich zuckert, und isst im Stehen. Energie tanken, der Tag wird lang. Gut, jetzt meine Route. Endziel unbekannt. Erste Etappe: Grand Cayman, da räume ich mein Bankkonto. Danach sehe ich weiter. Ich nehme eine Woche Urlaub, warum nicht? Die Inseln, das Meer, die Mädchen, Zeit, um über die Zukunft nachzudenken … Miami also, dort finde ich leicht einen kleinen Vogel, der mich nach Grand Cayman bringt. Er ruft beim Flughafen an. Der erste Flug nach Miami: Boarding um halb eins. Der zweite am Abend. Ich muss den ersten kriegen, bevor meine »Partner« mein Verschwinden bemerken. Ich behalte beide Pässe, den kanadischen und den französischen, könnte von Nutzen sein, solange ich nicht weiß, wo ich am Ende lande. Jetzt der Koffer. Er angelt nach seinen Toilettenartikeln, stopft Kleidung und ein paar Papiere hinein. Aber nicht den Laptop, der in seiner Hülle steckt, den behalte ich am Mann, er ist meine Lebensversicherung. Dann montiert er die Schrankrückwand ab. Auf der Hinterseite, sorgsam mit Klebeband befestigt, Umschläge mit Bündeln amerikanischer Banknoten, zwanzigtausend Dollar, dort versteckt für den Fall eines überstürzten Aufbruchs, und sein französischer Pass mit Einreisevisum für Kanada auf den Namen Ludovic Castelvieux. Er löst sie ab, schiebt einen der Pässe und einen Teil des Geldes in seine Jackentaschen, versteckt den Rest verteilt in seinem Koffer und den anderen Pass im Einband eines Buches. Mit etwas Glück geht das so durch. Jetzt zum Flughafen. Vielleicht überwacht niemand den Hauseingang, noch nicht, aber ich gehe kein Risiko ein, ich nehme die Hintertür und haue über die Gärten ab, durch Matsch und Schneewehen. An der Schnellstraße finde ich ein Taxi, und dann schnurstracks zum Flughafen.

Blick auf die Uhr. Das reicht, ich kriege den Flug um halb eins. Er dreht sich um, ein letzter Blick durchs Zimmer. Salut, Montreal. Schade, so kurz vor Ausbruch des Frühlings fortzugehen. Ich hab mich hier gut geschlagen. Aber ich habe nicht vor, zurückzukehren.

Sonntag, 14. April 2013

Grand Cayman

Ludovic Castelvieux hat einen Platz in einem Lufttaxi ergattert, das zwischen Miami und Grand Cayman pendelt. Fünfundzwanzigjähriger Franzose, unauffälliges Äußeres, Amateursportler, Auftreten eines wohlerzogenen Bankangestellten, auf dem Gesicht ein dünner Firnis Allgemeinbildung, er gibt das sehr glaubwürdige Bild eines Durchschnittstouristen ab und passiert problemlos die Grenzkontrollen. Bis hierher gut gelaufen. Er beugt sich zum Seitenfenster. Das Flugzeug überfliegt ein tiefblaues Meer, und die Erinnerung an seinen ersten Aufenthalt auf der Insel, vergraben unter den Ängsten und dem Schnee von Montreal, steigt perlend in ihm auf. Etwas mehr als zwei Jahre ist das her. Da war er gerade in Geschäfte mit Michelis eingestiegen, dem stellvertretenden Vorsitzenden von PE-Credit Montreal. Eine sehr spezielle Bank. Angelehnt an den Konzerngiganten Power-Energy (Energie, Elektrizität, Anlagentechnik), hatte sie bei ihrer Gründung zunächst die Funktion, den Kleingewerbekunden der Mutterfirma Kredite zu gewähren, dann ließ sie sich vom Strom halsbrecherischer Finanzspekulation der 80er Jahre mitreißen. Seit der Hypothekenkrise hatte sie große Sorgen, belastet durch ihre Investitionen in zweifelhafte Börsengeschäfte und katastrophale Kapitalanlagen im Madoff-Fonds. Sie musste gleichzeitig ihre heikle Lage gegenüber der Mutterfirma verheimlichen und Geld auftreiben, um ihre Kunden auszuzahlen. Michelis und die Montrealer Niederlassung der Bank hatten daher ein ganzes System aufgebaut, um das Schwarzgeld der lokalen Mafia zusammenzuziehen, das sie mittels InterBank, einer auf die Steuerflucht des Konzerns spezialisierten PE-Tochter, auf den Kaimaninseln wuschen. Vorsichtshalber hatte Michelis nie direkten Kontakt mit der Mafia. Er machte nur Geschäfte mit Castelvieux, mit seiner Firma CredAto, als Verbindungsglied – ein Schutzwall zwischen der Bank und ihren mafiösen Kunden. Schutzwall, aber auch Sicherung: Im Fall einer größeren Panne geht der Mittelsmann hoch, auf die eine oder andere Weise, und Polizei oder Fiskus können den Weg nicht zur Bank zurückverfolgen. Deshalb hielt Castelvieux es für klug, die Initiative zu ergreifen und zu verschwinden. Zu Zeiten ihrer großen Harmonie hatte Michelis ihn zu einer Urlaubswoche auf Grand Cayman mitgenommen, um den Vertrag zu besiegeln und ihn den Bossen von InterBank vorzustellen. Eine platte Insel, reizlos, mit dürftiger Vegetation und einer verblüffenden Konzentration von offen zur Schau gestelltem Reichtum. Maseratis, Ferraris, Rolls-Royce zu Dutzenden auf der einzigen geteerten Straße der dreißig Kilometer langen Insel. Am Flughafen stauten sich Privatjets, Fünzig-Zimmer-Villen am Meer, ganzjährig so gut wie unbewohnt. Stevie, der Direktor von InterBank, empfing sie herzlich in seiner bescheidenen Acht-Zimmer-Villa (»Ich wohne das ganze Jahr über in diesem Haus«, sagte er, »wenn es größer wäre, würde ich mich einsam fühlen«). Er sorgte für ihre Unterhaltung, Jetski, Segeljacht, Hochseeangeln. In allen diesen Disziplinen war Stevie ein bemerkenswerter Athlet. Amphetamine, Koks und Nutten als Absacker. Castelvieux kam sogar in den Genuss einer Scheinromanze am Strand mit der Sekretärin von InterBank, zeitweilig Stevies Geliebte, eine prachtvolle Mestizin namens Carolina. Mit Verzückung gefärbte Erinnerungen, vielleicht auch ein wenig Nostalgie …

Und mit einem Übelkeit erregenden Beigeschmack: Nach einem ganzen Nachmittag koksbefeuertem Jetskiing und Jetlev-Flying stoßen Carolina und eine ihrer zahlungskräftigen Männern zugeneigten Freundinnen am Strand zu ihnen. Barbecue und Rum von den Inseln, dann wildes Vögeln. Mitten in der Nacht brechen sie auf und vergessen die Freundin, die nackt auf einem Badelaken eingeschlafen ist. Stevie setzt sich ans Steuer, um nach Hause zu fahren, während Ludovic und Carolina auf der Rückbank umschlungen dösen. Aufprall, Schlingern, abruptes Erwachen. Stevie, nur halb bei Bewusstsein, murmelt, er habe einen Fußgänger angefahren. Die drei Nachtschwärmer steigen aus dem Wagen, beugen sich über den Körper am Boden. Eindeutig tot. Eindeutig Träger einer Polizeiuniform. Das macht auf einen Schlag nüchtern. Ein Augenblick der Panik, angsterfüllte Blicke in alle Richtungen. Niemand. Sie steigen wieder in den Wagen, den sie in der Garage von Stevies Villa verstecken.

Am nächsten Tag hat Stevie Ludovic seinem Stellvertreter bei InterBank vorgestellt, einem gewissen Mike Burrough, ein pummeliger und friedfertiger Genießer, der ihm im Laufe des erneut sehr ausgelassenen und feuchtfröhlichen Abends einen fantastischen Vertrag zur Unterschrift vorgelegt hat, laut dem seiner Firma CredAto für jede über sie laufende Transaktion die automatische Überweisung einer Kommission in Höhe von ein Prozent auf ein Konto bei InterBank zufällt. Am übernächsten Tag ist er nach Montreal zurückgeflogen. Und einen Monat später hat Stevie Grand Cayman verlassen. Merkwürdig. Er schien so gut angepasst an das Leben auf dieser Insel, auf der alles erlaubt war. Wahrscheinlich die unliebsamen Folgen des Autounfalls. Burrough hatte seine Nachfolge angetreten.

Das Konto von CredAto, also sein eigenes, dürfte, wenn seine Berechnungen stimmen, heute ein Guthaben von zwei Millionen Dollar aufweisen. Ein Guthaben, das er in den kommenden Stunden abzuheben und fern von Montreal in Sicherheit zu bringen gedenkt.

Nach der Landung geht er in die Flughafenbar, bestellt ein Sandwich und ein Bier und ruft Burrough an.

»Hallo …« Der Mann ist noch nicht ganz wach.

»Guten Tag, Mike. Ludovic am Apparat, oder Louis Chauveau, ganz wie Sie wollen … Ich möchte Sie treffen.«

»Wann?«

»Sofort.«

»An einem Sonntag … Aber wo sind Sie denn?«

»Bei Ihnen um die Ecke, am Flughafen.«

»Sie hätten mich anrufen müssen, bevor Sie losfliegen. Sie wissen, dass die Situation in Montreal heikel ist …«

»Bonellis Tod könnte polizeiliche Ermittlungen auslösen, meinen Sie das?«

»Ja, und für Banken ist das niemals gut. Ich habe die Nacht am Telefon mit Michelis verbracht. Wir haben ein paar Maßnahmen zur Absicherung getroffen.«

»Kann ich mir vorstellen, aber ich bin nicht hier, um solche Fragen zu erörtern, sondern um mein Konto aufzulösen, also das von CredAto.«

»Michelis hat es heute Nacht gesperrt.«

Erdbeben.

»Wie das?«

Ludovic würde am liebsten schreien, aber er hat keine Stimme mehr, seine Beine geben nach.

»Ja, er hielt das für notwendig angesichts der Art, wie Sie abgereist sind – ich glaube, ohne sich zu verabschieden.«

»Aber Sie haben absolut nicht das Recht, so was zu tun …«

»Erinnern Sie sich nicht an den Vertrag, den Sie vor zwei, drei Jahren just hier mit mir unterschrieben haben?«

Stille. Mike fährt fort: »Ich frische Ihr Gedächtnis auf. Das Recht zur Sperrung des Kontos von CredAto durch den stellvertretenden Vorsitzenden von PE-Credit Montreal ist dort sehr wohl festgelegt, schwarz auf weiß. Wenn Sie Ihr Geld abheben oder transferieren wollen, ist das selbstverständlich möglich, aber ich brauche dafür Michelis’ Aval.«

Ludo unterbricht das Gespräch. Er schwankt. Bestellt einen Rum. Ich habe gearbeitet und bin Risiken eingegangen, zwei oder drei Jahre lang, und komme dabei mit zwanzigtausend Dollar raus. Weniger als ein Kellner in einer Bar. Ich habe für Betrüger geschuftet. Nicht so gewalttätig, dafür effizienter als die Dealer, mit denen ich früher in Paris Geschäfte gemacht habe. Ich darf mir das nicht gefallen lassen. Mich wehren. Wie? Ein Vertrag auf den Kaimaninseln zwischen Betrügern, da kann sich immer was ändern. Aber ich muss einen Vermittler finden, einen Hebel zum Ansetzen. Stevie, den ich vor zwei Jahren kennengelernt habe, der wirkte nicht so unerbittlich wie die anderen. Eher sportlich und sexfreudig. Vielleicht nicht eingeweiht in die Klausel mit der Kontensperrung, das haben bestimmt Michelis und Burrough ausgeheckt. Aber mit genug Gewicht im Hause, um angehört zu werden, wenn er ordentlich motiviert ist. Was wir zusammen erlebt haben (kurzes Bild des Toten in seiner Uniform, ausgestreckt auf der Straße, Rückkehr der Übelkeit), verbindet. Und sollte er es vergessen haben, kann ich es ihm in Erinnerung rufen, das ist ein schlagendes Argument, das ihn überzeugen wird, auf höchster Ebene Druck zu machen, damit man mir mein Guthaben überweist. Er ist der Vermittler, den ich brauche. Meine einzige Chance. Carolina, die ihn regelmäßig über die Lage auf der Insel informiert, hat mir erzählt, er arbeitet jetzt in Paris. Sie wird mir seine Kontaktdaten geben. Jetzt gleich bei ihr anrufen? Ziemlich riskant, für sie und für mich. Nein, nicht nötig, es von hier zu versuchen. Grand Cayman ist ein Dorf, Burrough, InterBank, PE gehören zur selben Familie, man wird mich in weniger als einer halben Stunde verhaften, zusammenschlagen und für unbestimmte Zeit in den Knast stecken. Möglich, dass Burrough schon die Bullen gerufen hat und sie in diesem Moment nach mir suchen. Zweiter Rum. Ich gehe nicht zurück nach Montreal, Michelis weiß das, zu gefährlich für mich. Rückkehr nach Paris, riskant? Gar nicht so sehr, solange ich keine Wurzeln schlage. Ich kann einen Umweg über Spanien nehmen, mit meinem kanadischen Pass wird niemand etwas von meiner Einreise mitkriegen … Ich rufe Carolina von Madrid aus an, damit sie mir hilft, Stevie in Paris zu erreichen. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie mir zwei Millionen Dollar durch die Lappen gehen.

Nächster Flug nach Miami in weniger als einer Stunde.

Montag, 15. April

Levallois-Perret

Wie jeden Morgen betritt Nicolas Barrot gegen acht Uhr sein Büro im Geschäftssitz von Orstam. Pausbäckiger junger Mann Anfang dreißig, korrekte Kleidung ohne Eleganz, den immer ein wohliger und sorgenvoller kleiner Schauder überläuft, wenn er im Aufzug auf den Knopf für die zehnte Etage drückt, die mit den Direktionsbüros. Wohlig, weil er auf der Chefetage ist, sorgenvoll, dass man ihn wie einen Eindringling von dort verjagen könnte. Er, der aus einer abgelegenen Provinzstadt kommt, wo er eine mittelprächtige Handelshochschule besucht hat, ist seit zwei Jahren persönlicher Berater des Generaldirektors. Weil er jung ist, dynamisch, einfallsreich, benutzt der Generaldirektor ihn als Kreativbox und für nicht-offizielle Missionen. Weil er nicht von einer der guten Universitäten kommt und folglich nicht über einflussreiche Netzwerke verfügt, kann er als Sicherung dienen und jeden Moment rausfliegen, wenn die Situation es erfordert. Er ist sich dessen vollauf bewusst, hat aber nicht vor, in der Firma alt zu werden, er zählt auf seine Nähe zu den höheren Sphären, um sich schleunigst ein Adressbuch zusammenzustellen, unerlässliches Sprungbrett für den sozialen Aufstieg, den er sich als steil erträumt.

Heute Morgen ist er guter Dinge, denn das Wetter ist schön und er hat keinen besonderen Anlass zur Sorge.

Bis er mit einer mechanischen Handbewegung seinen Computer anmacht und in seinen elektronischen Medienspiegel sieht. Und ihm der Himmel auf den Kopf fällt. Die Nachrichtenagentur Bloomberg meldet die Festnahme von Monsieur Lamblin, Leiter des Kraftwerksgeschäfts von Orstam, am Flughafen JFK. Korruptionsaffäre, schreibt die Agentur. Die Nachricht ist mit einem schockierenden Foto aufgemacht: Dreiviertel von hinten aufgenommen, damit man die auf dem Rücken gefesselten Hände gut sieht, flankiert von zwei robusten Polizisten, deren dunkle Uniformen das fahle Gesicht des Verhafteten zur Geltung bringen, als er sich zu dem Fotografen umdreht und der Blitz ihn voll ins Gesicht trifft, verzerrt vor Fassungslosigkeit und Angst. Fassungslosigkeit und Angst sind auch Barrots erste Reaktionen. Er sieht sich selbst an Lamblins Stelle auf dem Foto, in Handschellen.

Genau in diesem Moment klingelt das Telefon. Noch unter Schock nimmt Barrot ohne nachzudenken ab.

»Salut, Nicolas …«

Barrot erkennt die Stimme von Sidney Morton, einem amerikanischen Journalisten in Paris, mit dem er immer gute Beziehungen unterhalten hat. Aber gerade heute …

»Sidney am Apparat … Sie wissen, warum ich anrufe? Einer Ihrer Manager wurde dieses Wochenende in New York verhaftet. Eine Korruptionsaffäre laut Agentur Bloomberg. Können Sie mir etwas zu Ihrer ersten Reaktion sagen?«

»Ganz sicher nicht.«

Und Barrot legt auf. Sturmwarnung, ich muss in die Gänge kommen. Oberste Priorität: mich mit der Presseabteilung abstimmen, damit sie ein phrasenreiches Kommuniqué vorbereiten. Und Carvoux aufsuchen, den Großen Manitu. Nicolas, mein Alter, du musst jetzt standhaft sein. Einem dieser ultraheftigen Wutausbrüche trotzen, für die der Orstam-Boss berühmt ist. Und er hat guten Grund, wütend zu sein, denn anders als bei früheren Korruptionsprozessen mit der Weltbank oder Norwegen wegen vor seiner Zeit abgeschlossener Verträge hat er die zweifelhaften Geschäfte, die Lamblin ins Gefängnis gebracht haben, diesmal selbst besiegelt, er steht an vorderster Front, unmittelbar hinter Lamblin, der die Geldtransfers auf seine Direktive hin getätigt hat. Und unmittelbar vor mir, denkt Barrot, der ich vor weniger als einem Monat die gleiche Sorte betrügerische Provisionen für die gleiche Sorte Geschäfte ausgehandelt habe. Er steht auf, streckt sich, lässt die Gelenke knacken, atmet zweimal langsam und tief durch und steuert mit vorgeblich ruhigem Schritt das Büro des Generaldirektors an.

Im Direktionsbüro mit Ausblick auf die Défense und Standardluxusmobiliar steht Carvoux, der Oberboss, vor dem großen Panoramafenster. Er dreht sich um, ernste Miene, fixiert Barrot ohne ein Wort. Wider Erwarten keine Spur von Wut, der Boss ist von olympischer Gelassenheit. Nach einem Moment des Schweigens setzt er sich schließlich hin und gibt Barrot ein Zeichen, es ihm nachzutun.

»Sparen Sie sich die Mühe, ich kenne die Neuigkeit. Ich habe entschieden, Sie mit der internen Handhabung der Affäre Lamblin zu betrauen.«

»Mich, Monsieur?« Barrot hat vor Überraschung beinahe aufgeschrien. »Glauben Sie, ich habe für eine solche Aufgabe das nötige Format, die nötige Autorität hier im Haus?«

»Das ist keine Frage des Formats oder der Autorität. Damit zwischen uns Klarheit herrscht, werde ich Ihnen erklären, warum ich Ihnen diese Aufgabe anvertraue.« Breites Raubtierlächeln. »Sie verdanken mir Ihre Stellung, und Sie haben nicht die Mittel, mich übers Ohr zu hauen, deshalb genießen Sie mein vollstes Vertrauen …«

Barrot schließt die Augen. Nicht zu widerlegen. Aufwallen von Hass.

»Dann haben Sie vor kurzem ein Asiengeschäft ›wie geschmiert‹ eingefädelt, Sie sind mit derlei Vorgängen also bestens vertraut und haben ein persönliches Interesse daran, dass der Fall Lamblin gut gemanagt wird und sich nicht zu einer Kette von Katastrophen für allerlei sogenannte Korruptionsaffären auswächst. Und schließlich ist die Handhabung dieser Angelegenheit einfach. Die Linie ist klar. Erstens: Orstam trifft keine Schuld. Zweitens: Wir übernehmen Lamblins Verteidigung, solange er sich an diese Linie hält. Ihre Aufgabe besteht schlicht darin, undichte Stellen und Tratsch im Unternehmen zu unterbinden. Absolute Diskretion. Die amerikanische Justiz besteht darauf. Und Sie schirmen mich ab, in dieser Sache dringt nichts bis zu mir. Ich kümmere mich mit der Presseabteilung um die Medien und externe Firmenkontakte. Haben wir uns verstanden?«

»Firmenintern, Monsieur, scheint mir das möglich. Aber nach außen? Die Nachrichtenagentur Bloomberg hat das Foto veröffentlicht, die Presse wird sich darauf stürzen, der Präzedenzfall Strauss-Kahn …«

»Das hat nichts miteinander zu tun, Nicolas, bewahren Sie Ruhe. Lamblin ist ein Unbekannter, kein Kandidat für die Präsidentschaftswahlen. Nur die Wirtschaftspresse ist imstande, sich dafür zu interessieren. Unsere Presseabteilung wird es übernehmen, deren Eifer zu dämpfen. Sie wird erklären, dass Lamblin in unserem Unternehmen kein wichtiger Mitarbeiter ist, dass wir keine genaue Kenntnis des Dossiers haben, aber seine Verteidigung übernehmen, wie für alle unsere Firmenangehörigen, und dass im Sinne von Lamblins Sicherheit Zurückhaltung geboten ist. Und das wird funktionieren. Im schlimmsten Fall bekommen wir es mit ein paar Kurznachrichten in Fachorganen zu tun. Gegenüber diesen Medien haben wir Argumente, die wir geltend machen können. Wenn Sie selbst von Journalisten kontaktiert werden, verweisen Sie sie an die Presseabteilung.«

»Gut, Monsieur. Ich tue mein Bestes.«

»Sie erstatten mir täglich Bericht. Frohes Schaffen, Nicolas.«

Barrot flüchtet sich in sein Büro ganz am Ende der zehnten Etage. Er ist durcheinander, muss sich beruhigen, nachdenken. Er kann sich eines seltsamen Eindrucks nicht erwehren. Zu ruhig, der Oberboss. Als hätte er mit Lamblins Verhaftung gerechnet … Ein Schatten von Argwohn … Und ich soll bei der Geschichte mitmischen … Zu groß, keine Handhabe … Und wenn das meine Chance wäre? Er träumt eine Weile vor sich hin. Diese Krise, könnte sie ein Wendepunkt in meiner Karriere sein? Das kommt zu früh, zu überstürzt …

Er sitzt vor seinem Computer, sagt sich, dass er das Recht hat, sich etwas Gutes zu tun. Barrot ist ein unverheirateter und ehrgeiziger Provinzler, seine Arbeitszeiten sind daher aberwitzig, und nach zwei Jahren in Paris hat er immer noch weder Lebensgefährtin noch Freund. Seine einzige kleine Freude, sein süßes Geheimnis, ist der regelmäßige Konsum von Entspannungsmassagen. Nacktmassagen. Öko, Zen und Lust. Voll im Zeitgeist. Buck, ein Amerikaner in der Abteilung Strategie, ebenfalls Junggeselle, hat ihm den Tipp gegeben und die Adresse eines guten Salons, wo er seit einem Jahr Stammkunde ist. Er tippt auf seiner Tastatur und hat schnell einen Termin für heute Abend zwanzig Uhr, mit Lara, seiner Stammmasseuse, in Kabine fünf, seiner Lieblingskabine.

Ruhiger jetzt, macht er sich endlich an die Arbeit.

Polizeipräfektur Paris

Die Commandante Noria Ghozali, fünfundzwanzigjährige Polizeikarriere, macht Zwischenstopp in der Brasserie des Deux-Palais auf der Île de la Cité, auf halber Strecke zwischen dem Justizpalast und der Polizeipräfektur, in der die Nachrichtendienstliche Abteilung DRPP logiert. Erinnerungsort. Macquart, lange Zeit Chef der RGPP, der Pariser Einheit des Zentralen Nachrichtendiensts, kam regelmäßig her, um einen Happen zu essen, ein Glas zu trinken. Macquart, der als Erster auf die zwanzigjährige kleine Maghrebinerin aufmerksam wurde, einzelgängerisch, leidenschaftlich, unwohl in ihrer Haut und in ihrem Viertelkommissariat. Er holte sie in seine Nähe, zu den RGPP. Die Anfänge waren nicht einfach.

Sie erinnert sich an die rassistischen, sexistischen Witze, die Andeutungen über ihre Beziehung zum Chef oder ihre mutmaßlichen religiösen Praktiken. Macquart, stets präsent, stets wohlwollend, schritt nie ein. Sollte sie sich allein ihren Platz erobern. Indem sie die Zähne zusammenbiss, arbeitete, Ergebnisse vorlegte, verdiente sie sich schließlich den Respekt ihrer Kollegen. Aber nicht ihre Freundschaft. Zu hart, zu wild. Sie durchlebte die eine oder andere Krise des Überdrusses und der Mutlosigkeit, aber Macquart war da, sein beunruhigendes Lächeln mit zusammengekniffenen Lippen, er sagte ihr: »Die Polizei, das ist deine Identität und deine Familie, und du bist ein Spitzenbulle. Also machst du weiter.« Er hatte recht, sie machte weiter. Es gab nichts anderes in ihrem Leben.

Sie erinnert sich. Vor fünf Jahren saß sie auf dem gleichen Platz und aß ein Käseomelette, Macquart auf der Bank ihr gegenüber trank ein Glas Roten. Er setzte sich immer auf die Bank und überwachte die gesamte Mahlzeit über diskret den Speisesaal. Die Zentraldirektion des Inlandsnachrichtendiensts DCRI war gerade gegründet worden, mit der Bestimmung, über das Inlandsnachrichtenwesen zu herrschen und das Personal des Zentralen Nachrichtendiensts RG zu schlucken. Aber die RGPP widersetzten sich. Noria musste sich entscheiden: DCRI oder DRPP, Überbleibsel der RG, zu einem Nichts geschrumpft und missliebig bei den Mächtigen?

Für Macquart stand die Wahl fest: »Die DCRI ist das neue Spielzeug der Politiker, sie wird Rückenwind haben und sich alles einverleiben. Für dich gibt es keine berufliche Zukunft außerhalb der DCRI, und ich will dich im Rang einer Commissaire erleben, bevor ich sterbe.«

Ein paar Tische weiter trank Commissaire Daquin, Chef des Pariser Drogendezernats, ein Glas mit einem anderen »Topbullen«. Als sie sich zum Gehen erhoben, winkte Macquart Daquin, der daraufhin zu ihnen kam, sich neben sie setzte und einen Café-Cognac bestellte. Macquart schilderte ihm das Problem: Sollte Noria die DCRI wählen oder die DRPP?

Antwort: »Die Hauptfunktion des neuen Ladens besteht darin, der Regierung die Kontrolle über die Nachrichtendienste zu ermöglichen, um das Durchsickern für sie kompromittierender Informationen und unliebsame Gerichtsverfahren zu verhindern. Die Ehemaligen vom zivilen Inlandsnachrichtendienst DST werden das Sagen haben. Wer von den RG kommt, findet dort keinen Platz. Die beiden Kulturen sind zu verschieden.«

Noria kannte Daquin kaum und mochte ihn nicht. Sie hatte seine Meinung nicht berücksichtigt. Inzwischen ist sie bei der DCRI rausgeflogen, sie geht zurück zu dem, was von den RGPP übrig ist, sie erkennt an, dass Daquin recht hatte. Und erinnert sich an den Geruch seines Café-Cognac. Kopf hoch, wird Zeit, dass du aufbrichst.

In der Präfektur angekommen, nimmt sie die Treppe. Sie ist einer Sektion zugeteilt worden, die sich mit dem Schutz der wirtschaftlichen Sicherheit befasst, ein Bereich, der aktuell unterbesetzt ist, sie wird im Team mit zwei etwa dreißigjährigen Männern arbeiten müssen, ziemlich kompetent in ihrem Feld, wie man ihr sagte, ein Feld, von dem sie nicht die geringste Ahnung hat, und das als ihre Vorgesetzte. Komplizierte Situation. Wie den Erstkontakt gestalten? Auf Ehrlichkeit setzen, auch wenn es mich Überwindung kostet.

Sie kommt vor der Tür von Büro 609 an, nicht weit von dem, in dem sie vor so vielen Jahren gesessen hat. Sie klopft, tritt ein. Zwei junge Männer sind dabei, Möbel herumzuschieben, um Platz für den dritten Schreibtisch zu schaffen. Ihren Schreibtisch. Sie richten sich auf, mustern sie, wischen sich die Hände ab und stellen sich vor.

»Capitaine Fabrice Reverdy.«

Noria findet ihn erstaunlich, aber nicht unangenehm. Er ist groß, schlank, Gesicht eines himmlischen Schurken, üppiger blonder Wuschelkopf, kunstvoll zerzaust. Lässige Erscheinung in seinem knallroten Lacoste-Shirt, Jeans und schwarzen Turnschuhen, nicht gerade der Typ Bulle, mit dem Noria in letzter Zeit zu tun hatte. Der Chef der DRPP hat von »intelligent und findig« gesprochen, sie denkt als Erstes »hübscher Kerl«. Sie schütteln sich die Hand, lächeln einander zu. Reverdy hat das Lächeln eines Engels.

»Lieutenant Christophe Lainé.«

Unauffälligerer junger Mann, Typ Allerwelts-Büroangestellter, aber ein schönes Leuchten in den grauen Augen. Handschlag.

Dann hockt sich Noria mit einer Pobacke auf einen der Schreibtische.

»Ich bin Commandant Noria Ghozali. Ich habe zwanzig Jahre bei den RG verbracht, in der ›illegalen Ausländerbeschäftigung‹. Dann fünf Jahre in der DCRI bei der Terrorismusbekämpfung. Vor zwei Monaten habe ich erfahren, dass einer meiner Brüder, den ich seit meiner Jugend nicht mehr gesehen hatte, nach Syrien gegangen und in den Djihad gezogen ist. Ich habe sofort meine Vorgesetzten unterrichtet, alle Informationen weitergegeben, über die ich verfügte …«

Noria schließt die Augen, ihre Rede versiegt, eine Flut heftiger Erinnerungen. Sie sieht sich, wie sie im Februar zwei Commissaires gegenübersitzt, die die Abteilung Terrorbekämpfung bei der DCRI leiten. Zwei Commissaires, denn die DCRI hat leichte Ähnlichkeit mit der mexikanischen Armee, mehr Generäle als Soldaten. Man hatte praktisch sämtliche Führungsposten doppelt besetzen müssen, um all diese Ranghöchsten unterzubringen. Sie lieferte einen knappen, klaren Bericht über das, was sie gerade erfahren hatte. Ihre Familie, die sie vor dreißig Jahren aus den Augen verloren und am Vortag beim Begräbnis ihres Vater wiedergesehen hatte, die Neuigkeit vom Aufbruch des jüngsten Bruders, Achour, zum Djihad im Irak im vergangenen Dezember. Sie machte weiter mit den möglichen Recherchepfaden für die DCRI. Achour selbst, vierunddreißig Jahre alt, qualifizierte Tätigkeit im Telekommunikationsbereich, kompensierte seinen beruflichen Frust seit einiger Zeit durch intensivere Religionsausübung und schwärmerische Reden über ISIS, den Islamischen Staat im Irak, die Rückeroberung Syriens, das Land Bilad asch-Scham, der Ort, wo er leben, kämpfen und sterben wollte, weil Mohammed prophezeit hatte, es werde der Ort der apokalyptischen Schlacht zwischen Christen und Muslimen sein.

Noria erinnert sich. Sie betonte, dass Achour nicht isoliert war hier in Frankreich. Er war nicht aus einer Laune heraus auf eigene Faust losgezogen. Man hatte ihn ausgewählt, angelockt, einem Kader unterstellt, in religiöser Hinsicht geschult und bis zu seinem Aufbruch finanziell unterstützt, nachdem er seine Stelle gekündigt hatte. Man hatte ihm Flugtickets gegeben, ihn vor Ort erwartet. Dank seiner Kontakte konnte er den Einmarsch von ISIS in Syrien Monate im Voraus kommen sehen. Ausgehend von diesem Mann eröffnete sich für die DCRI ein ganzes Ermittlungsfeld, um seine Freunde, seine Verbindungen, seine Bank, seine Gebetsstätte, seine Netzwerke zu identifizieren …

Keine Reaktion.

»Wenn ISIS es schafft, sich in Syrien zu verwurzeln, könnte die Wiederherstellung des Kalifats, die seit Bin Laden im djihadistischen Diskurs Kreise zieht, ohne einen Landeplatz zu haben, dort endlich ihr gelobtes Land finden. Ist Ihnen klar, welche Anziehungskraft die wiedererlangte Einheit zwischen Koranprophezeiung und der Wiege der arabischen Großreiche hätte?«

Kein Widerhall.

Intensiv durchlebt sie noch einmal dieses Gefühl, allein in einem menschenleeren Bunker zu sein und laut vernehmlich eine Rede zu halten.

Sie bringt ihre Stimme unter Kontrolle und spricht weiter. »Meine Chefs haben mir wortlos zugehört. Dann haben sie sich bei mir bedankt, mir die Hand geschüttelt und mich hinauskomplimentiert. Als ich am nächsten Morgen in der DCRI eintraf und in der Eingangsschleuse wie üblich meinen Zutrittsausweis vorzeigte, funktionierte er nicht mehr. Ich war gefeuert. Und jetzt bin ich hier.«

Noria durchlebt erneut die bürokratische Brutalität des Vorgangs, ihre Marke öffnet die Schleuse nicht, der Beamte am Eingang kommt zu ihr, lässt sie hinein, händigt ihr eine auf ihren Namen lautende Vorladung zum Personaldirektor aus, der sie von der Aufhebung ihrer Ermächtigung für geheime Verschlusssachen in Kenntnis setzt, mit anderen Worten, sie ist entlassen, und ihr eine Stunde gibt, um ihre »persönlichen Sachen« zu holen. Sie hat keine »persönlichen Sachen«. In ihrem Büro, in ihrem Leben ist alles geheime Verschlusssache. Danach geht es sehr schnell. In den Fluren wenden sich bereits die Blicke ab, niemand grüßt sie. Fremd. Suspekt. Und als Nächstes steht sie draußen auf dem Bürgersteig.

»Die DRPP hat mich wiedereingestellt, und dafür bin ich dankbar. Aber unmöglich, mich bei der Terrorbekämpfung oder der Immigration zu behalten, ohne einen offenen Krieg mit der DCRI auszulösen. Deshalb bin ich hier. Bei Ihnen muss ich alles erst lernen. Und ich bin Ihr Commandant.«

Lange Zeit Stille in dem kleinen Büro. Dann sagt Reverdy: »Commandant Ghozali, Sie waren noch bei den RG, als ich dort anfing. Sie kennen mich nicht, aber ich erinnere mich an Sie. Respekt. Willkommen bei der DRPP. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Wir haben Ihnen mit Bordmitteln diesen Schreibtisch hier vorbereitet. Sagt er Ihnen zu?«

Lainé holt Kaffee am Automaten der Etage, die drei setzen sich und Reverdy erzählt von ihrer Abteilung.

»Vor ein paar Monaten bestand die Sektion Wirtschaftliche Sicherheit aus acht Personen fürs gesamte Pariser Einzugsgebiet. Da war es schon unmöglich, alles abzudecken. Nach diversen Versetzungen und Weggängen sind wir inzwischen nur noch zu zweit, mit Ihnen jetzt zu dritt. Die Chefs sprechen von ›Wiederbelebung‹ … Vorrangig befassen wir uns mit den Branchen Energie und neue Technologien. Und wir arbeiten nach altem Rezept, indem wir auf menschliche Beziehungen setzen. Wir frequentieren alle Sorten Fitnessstudios, Sporthallen, Spielhallen, wo die Mitarbeiter der anvisierten Firmen anzutreffen sind. Lainé und ich halten mindestens eine Aktie von jedem Betrieb, den wir beobachten, wir nehmen an den Aktionärsversammlungen teil. Weitere ›Eingangstür‹: die zahlreichen Exbullen, die die Betriebsschutzabteilungen in den Firmen bevölkern.«

Reverdy redet gern, er tut es in unbeschwertem Ton, als handele es sich bei dem Ganzen um ein riesiges Rollenspiel.

»Wir ernten viel Klatsch und Tratsch und ein paar Informationen, von denen wir nicht wissen, was wir damit anfangen sollen, angesichts des geringen Interesses, das sie üblicherweise hervorrufen«, schließt er.

Noria ist eine gute Zuhörerin und findet den blonden Capitaine amüsant.

Die beiden Männer übergeben ihr einen Packen Unterlagen, Notizen, Berichte, damit sie sich mit der Abteilung vertraut machen kann. Die Arbeit im Team beginnt morgen.

In der Zwischenzeit beschließt Noria, Liebhaberin des amerikanischen Film noir, die Nähe zu den Programmkinos im Quartier Latin zu nutzen und zu schauen, was im Grand Action läuft, zwei Schritte von der Präfektur entfernt.

Kapitel 2

Dienstag, 16. April

Levallois-Perret

Gilbert Lapouge, Finanzdirektor bei Orstam, und Maurice Sampaix, sein ältester Mitarbeiter, treffen sich vor einer Sitzung der Abteilungsleitung zu einer kurzen Besprechung. Die beiden Männer, weit in den Fünfzigern, Bauchansatz, schütteres Haar, seriöse Ausstrahlung und grauer Konfektionsanzug, ähneln sich und vertrauen einander.

»Sie wissen von Lamblins Verhaftung in New York?«

»Ja, ich habe es gestern erfahren. Seit 28. Februar habe ich in meinem Medienspiegel einen Alert ›amerikanische Justiz‹ eingerichtet.«

»Und was halten Sie davon?«

»Rustikales Einschüchterungsmanöver. Dieser Idiot ist trotz des warnenden Rundschreibens geflogen …«

»Der Chef reagiert nicht …«

»Gelähmt?«

»Es wäre nützlich, ein diskretes Treffen mit unseren amerikanischen Bankern zu organisieren, um zu erfahren, was ihrer Einschätzung nach in den nächsten Monaten an Bußgeldern, Strafzahlungen und dergleichen auf uns zukommt.«

»Ja, das wäre nützlich.«

»Na dann, Maurice, organisieren Sie das, je früher je besser.«

»Soll ich den Chef einweihen?«

»Selbstverständlich.«

Paris

»Hallo, Alice?«

»Wer ist da?«

»Ludovic. Erkennst du meine Stimme nicht?«

»Ludovic …« Ein Moment Schweigen. »Wo bist du?«

»Hier in Paris.«

Wieder Schweigen.

»Alice, ich muss dich sehen. Ich weiß, ich bin ein Dreckskerl, ich habe dich in Gefahr gebracht und bin abgehauen. Aber erinnere dich, wenn ich geblieben wäre, wäre ich in den Knast gewandert … Ich wusste mir nicht anders zu helfen.«

»Du riskierst immer noch, in den Knast zu wandern, weißt du, du wurdest in Abwesenheit verurteilt, und deine Kumpels, die sitzen auch ein. Warum hast du mir nicht Bescheid gesagt, dass du zurückkommst?«

»Ich bin überstürzt aufgebrochen, es war nicht geplant. Ich steck in der Scheiße, Alice. Ich brauche deine Hilfe.«

»Nenn mir einen einzigen guten Grund, warum ich dir helfen sollte.«

»Ich weiß nur einen, aber der ist sehr gut. Wir haben zusammen in Saus und Braus gelebt, ein ganzes Jahr voller Leidenschaft, Abenteuer, Kohle und Glück. Ich weiß, dass du das nicht bereust. Ich bitte dich nur um ein Klimpern mit den Wimpern, diesen Blick, den du früher draufhattest und der mich verrückt gemacht hat. In memoriam.«

»Du hast dein Plädoyer ja schön vorbereitet.«

Ludovic hört das Lächeln in ihrer Stimme, sieht es vor sich. »Ein bisschen. Ich wäre um ein Haar Anwalt geworden, erinnerst du dich? Sag mir, wann ich dich besuchen kann.«

»Oh nein, das bestimmt nicht. Ich habe mein Leben geändert, Ludo. Ich bin so gut wie verheiratet mit einem brillanten, verheißungsvollen jungen Anwalt, der keinerlei Sinn für Humor hat und kein Verständnis für ein Leben, wie wir, du und ich, es damals geführt haben.«

»Also wo dann?«

Ein kurzes Zögern, dann entschließt sich Alice: »Im Wepler, Place Clichy. Ein Ort, wo niemand uns kennt. In einer Stunde.«

Als Ludovic im Wepler eintrifft, sitzt Alice schon ganz hinten im Saal, versunken in die Betrachtung eines Glases Leffe, das vor ihr auf dem Tisch steht. Er erbebt, sehr viel aufgewühlter, als ihm lieb ist. Diese schlanke junge Frau, ihr hübsches Gesicht in Weiß und Rosa, ihre klaren Augen, ihr halblanges kastanienbraunes Haar, artig frisiert, hier auf der Bank im Wepler, wer hätte das gedacht? In heißen Wellen steigen all die Erinnerungen in ihm auf an Abende mit Koksdelirien und sportlichem Sex. Alice immer voll dabei, immer erfinderisch, Alice, die das Risiko, das Spiel, das Adrenalin über alles liebte. Er hat sie drei Jahre lang vergraben, und jetzt stellt er fest, dass sie ihm fehlt. Er tritt an ihren Tisch, bestellt ein zweites Leffe, setzt sich neben sie und legt los.

»Ich bin seit Mitternacht in Paris. Und habe dich gleich heute Morgen angerufen. Ich schaue dich seit fünf Minuten an und erkenne, wie sehr ich dich vermisse.«

»Hör bitte auf. Wo warst du die letzten drei Jahre?«

»Ich habe bei einer Bank gearbeitet …«

»Wo?«

»Irgendwo in Amerika. Ich hab dort leicht grenzwertige Geschäfte gemacht, aber nicht übertrieben, alles lief rund. Ich habe mit Italienern zusammengearbeitet. Und dann kamen die Russen.«

»Mafiosi?«

»Könnte man sagen, ja, wenn du so willst. Ein Krieg der Mafias. Nach zwei Toten dachte ich, ich könnte der dritte sein, und bin lieber abgereist. In knapp drei Jahren habe ich viel Geld verdient, aber die Summe liegt eingefroren auf einem Bankkonto, und ich bin hier in Paris, um sie loszueisen. Das ist die ganze Geschichte.«

»Was willst du von mir?«

»Dass du mir eine Bleibe besorgst. Die Kohle reicht für den Moment. Und in ein paar Tagen: bingo.«

»Du brauchst mich nicht, um eine Bleibe zu finden, wenn du Geld hast.«

»Doch. Ich will nicht ausfindig gemacht werden, also kann ich meine Papiere nicht benutzen. Die Mafiosi suchen mich unter meinem kanadischen Namen, die Polizei unter meinem französischen. Du selbst hast mich daran erinnert, dass ich eine Verurteilung in Abwesenheit am Hals hab, ich bin auf der Flucht.« Breites Grinsen. »Das ist romantisch, aber ich darf mich nicht zu lange aufhalten.«

Alice fährt mit dem Finger über Ludovics bierfeuchte, schaumgesäumte Lippen.

»Du bist mein unehrenhafter Zwilling.«

Ludovic träumt, dass nicht alles verloren ist. Sie nimmt ihr Handy und hat binnen drei Anrufen einen Bekannten aufgetrieben, der auf Geschäftsreise in Brasilien ist und bereit, einem Freund von Alice seine Wohnung zu leihen.

»Spätestens am 26. April musst du wieder raus sein.«

»Zehn Tage, das sollte reichen. Ich rechne fest damit, meine Probleme vor diesem Datum gelöst zu haben.«

»Also dann, gehen wir, ich bring dich hin.«

Mittwoch, 17. April

Paris

Castelvieux wacht langsam auf, braucht ein paar Sekunden, um zu erkennen, wo er ist. Unvertraute Wohnung, Alice, er hat wieder den Überblick. Er steht auf, wankt in die Küche, Alice hat den Kühlschrank gefüllt. Stich im Herzen. Diese Frau … Er isst ein Joghurt, ein Stück Gruyère, trinkt ein Glas Milch, dann lässt er sich in einen Sessel fallen, Blick ins Leere. Eine Verurteilung in Abwesenheit schwebt dräuend über ihm, er muss sich ranhalten. Stevie treffen.

Jahrelang an der Spitze von InterBank, ist er ein Mann mit Einfluss. Er muss einen Haufen Dinge über einen Haufen Leute wissen, er hat die Druckmittel, um Michelis zum Entsperren meines Kontos zu bringen, wenn er nur will. Carolina hat mir ohne zu zögern seine Handynummer gegeben, ein gutes Zeichen. Anrufen, eine Verabredung treffen, einfach. Aber dann, welchen Zug machen? Das Treffen in kumpelhaftem Ton beginnen oder ohne Vorgeplänkel drohen? Die feuchtfröhlichen Abende, waren sie freundschaftlich oder eine Falle? Organisiert um des Vergnügens willen oder um mich jeden Mist unterschreiben zu lassen? Stevie, der Komplize? Stevie, ein Unbekannter.

Ludovic wird sich allmählich seiner Naivität und seiner Isolation bewusst. Hilft alles nichts. Zwei Millionen Dollar … Er prüft die Uhrzeit, 9:35, und nimmt sein Handy.

»Stevie? Hier ist Ludovic Castelvieux, oder Louis Chauveau, wenn Ihnen das lieber ist.« Schweigen. Ludo hört seinen Gesprächspartner atmen. »Überrascht?«

»Ziemlich, ja. Aber nicht unangenehm. Sie wecken ein paar schöne Erinnerungen an dieses verlorene kleine Paradies. Wie geht es Ihnen?«

»Nicht so gut. Ich würde Sie gern treffen, um ein paar Begebenheiten aus den guten alten Zeiten aufleben zu lassen. Wäre das möglich?«

»Natürlich. An wann dachten Sie?«

»Heute Abend?«

»Neunzehn Uhr in der Hotelbar vom Sofitel an der Porte Maillot?«

»Das passt mir sehr gut. Bis nachher, Stevie, und danke.«

Als die Verbindung unterbrochen ist, atmet Stevie zwei-, dreimal tief durch, greift zu seinem Telefon, eine Nummer in Montreal. Sobald sein Gesprächspartner in der Leitung ist: »Sie hatten recht, Carolina hat es richtig gesehen, er hat mich gerade angerufen.«

»Und?«

»Wir treffen uns heute Abend um sieben in der Bar vom Sofitel Maillot.«

»Wir tun unser Möglichstes, aber das ist ein bisschen knapp für uns. Verabreden Sie ein weiteres Treffen in zwei, drei Tagen, um auf Nummer sicher zu gehen, und geben Sie uns schnellstmöglich Bescheid.«

»Mach ich. Aber wir sind uns einig. Keine direkte Kontaktaufnahme.«

»Die wird es nicht geben.«

Ende des Gesprächs.

Er öffnet seine unterste Schreibtischschublade, nimmt eine Schachtel heraus, eine Flasche Whisky, spült mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche zwei Tabletten runter, räumt sein Arsenal zurück und arbeitet weiter.

Levallois-Perret

Am Ende des Vormittags bekommt Nicolas Barrot einen Anruf von Sidney Morton, dem amerikanischen Journalisten, der ihn vor zwei Tagen angerufen und nach seiner Reaktion auf Lamblins Verhaftung gefragt hat.

»Nicolas, ich habe vertrauliche Neuigkeiten für Sie. Falls Sie nicht einfach auflegen.«

»Sie sind nicht nachtragend. Umso besser für mich. In einer Stunde zum Mittagessen im Café de la Jatte?«

Barrot hat seine Direktiven nicht vergessen: an die Presseabteilung verweisen. Aber ein amerikanischer Journalist kann für seine Karriere immer nützlich sein. Er wird sich vorsehen. Und er liebt das Café de la Jatte, ein ehemaliges Lagerhaus, in dem die Pariser Oper früher ihre Bühnenbilder einlagerte und das zu einem gastlichen und modischen Restaurant umgebaut wurde, nur zwei Schritte vom Orstam-Hauptsitz entfernt. An diesem Ort fühlt er, der kleine Provinzler, sich ganz als Pariser.

Es ist schönes Wetter, er geht zu Fuß, am Ufer der Seine entlang, über die Fußgängerbrücke, durchquert die Gärten der Île de la Jatte, betritt den großen Restaurantsaal, unter dessen Decke das ihm inzwischen vertraute riesige Plesiosaurierskelett hängt, Morton erwartet ihn etwas abseits in einer Ecke, kleiner runder Tisch und zwei niedrige, tiefe Sessel. Barrot, spritziger Laune, bestellt eine Schale Champagner, Morton hält sich an Whisky. Im Anschluss zweimal Kalbsconfit und eine Flasche Rosé. Sobald der Kellner gegangen ist, kommt Morton zur Sache.

»Also, schließen wir Frieden?«

»Sieht so aus.«

»Ich habe Neuigkeiten, die Sie interessieren werden. Revanchieren Sie sich bei Gelegenheit?«

Barrot lächelt. »Versprochen.«

»Lamblin ist immer noch in Isolationshaft im Wyatt-Gefängnis, Rhode Island …«

»Das weiß ich.«

»Er war vor ein paar Jahren in ein schmutziges Sittlichkeitsverbrechen verwickelt. Sex und Koks mit einer minderjährigen Amerikanerin während einer extravaganten Abendgesellschaft. Das FBI hat eine komplette Akte darüber. Erkennen Sie die Melodie?«

Barrot schließt die Augen. Das Foto, Lamblins fahles Gesicht, ist damit alles erklärt? Nicht so schnell.

»Eine Manipulation der amerikanischen Polizei, ist das undenkbar?«

»Bei der amerikanischen Polizei kann man erst mal gar nichts ausschließen. Aber das ändert nicht viel. Lamblin ist bei Orstam kein kleiner Angestellter, er ist Abteilungsleiter. Wenn sich seine tatsächlichen oder mutmaßlichen Schandtaten in der New Yorker Presse verbreiten, hat das verheerende Auswirkungen für das Image von Orstam.«

»Sehe ich genauso.«

»Also Stillschweigen, Vorsicht, solange der Staatsanwalt nicht entscheidet, das Ganze publik zu machen. Aber Sie halten mich auf dem Laufenden über die Resonanz bei Ihnen im Laden, wenn es eine gibt.«

»Noch etwas?«

»Na sagen Sie mal, unersättlich. Anglish, vor ein paar Jahren stellvertretender Direktor von Orstam-USA, wurde letztes Jahr verhaftet und hat sich gerade für ein Schuldbekenntnis entschieden. Das heißt, er wird alle und jeden verpfeifen.«

»Das habe ich heute Morgen der amerikanischen Presse entnommen, der Staatsanwalt hat eine Pressekonferenz abgehalten …«

»Dann wissen Sie auch von der Durchsuchung des Geschäftssitzes von Orstam-USA und von den Millionen beschlagnahmter Mails?«

»Ja.«

»Nicht sicher, dass Sie den Unschuldskurs lange durchhalten können.«

»Was ich nicht verstehe, ist, wozu Lamblin jetzt noch dient. Wenn der Staatsanwalt schriftliche Beweise hat, ist er auf seine Zeugenaussage doch nicht angewiesen.«

»Er dient dazu, den Managern von Orstam Angst einzujagen, Nicolas, seien Sie nicht naiv. Haben Sie etwa keine Angst?«

Am Nachmittag ist das Treffen zwischen Finanzabteilung und der Eastern-Western Bank anberaumt, die die amerikanischen Belange von Orstam wahrnimmt. Es findet ohne großen Pomp im Konferenzraum der Finanzabteilung in der dritten Etage statt. Carvoux hat der Initiative von Lapouge grünes Licht erteilt, aber angekündigt, dass er nicht kommt. Er hat Nicolas Barrot als Beobachter geschickt und beauftragt, ihm zu berichten. Lapouge leitet daher die Sitzung, die Sampaix anhand der vor ihm liegenden dicken Akte voller Zahlen und Kurven mit Gesprächsstoff versorgen wird. Howard Simson, Direktor der Niederlassung der amerikanischen Bank in Frankreich, kommt auf die Minute pünktlich. Der Amerikaner ist groß, schlank, elegant, sorgsam in Wellen gelegtes graues Haar und maßgeschneiderter dunkler Nadelstreifenanzug. Er verteilt Lächeln und Handschläge und stellt vor:

»Madame Taddei, meine Mitarbeiterin, sie begleitet mich.«

Eine hinreißende Vierzigerin mit halblangem tiefschwarzem Haar und schlanker Silhouette, eine Italoamerikanerin reinsten Wassers. Sie grüßt diesen und jenen, drückt Barrot etwas zu lange und mit betontem Lächeln die Hand. Barrot kann sich gerade noch fragen, ob er träumt, dann nehmen alle Platz und die Diskussion beginnt. Nach einer höflichen und belanglosen Einleitung von Lapouge kommt Simson schnell zum Kern der Sache.

»Reden wir übers Geschäft.« Und er zeichnet ein schwarz-graues Bild der Situation von Orstam. »Die Konjunkturflaute in Europa wird anhalten, und Ihre Firma mit ihren strukturellen Schwächen trifft das mit voller Wucht. Die Kapitaldecke ist zu dünn. Wenn der Hauptaktionär beschließt, seine Anteile zu verkaufen, wovon er regelmäßig spricht, gibt das ein Desaster an der Börse. Außerdem ist das Unternehmen international betrachtet zu klein, zu spezialisiert. Das hervorragende technologische Know-how, das es einsetzt, wird nicht ausreichen, um es vor der sich abzeichnenden Auftrags- und Liquiditätskrise zu schützen.«

Lapouge und Sampaix tauschen einen skeptischen Blick.

Der Banker fixiert die Umsitzenden einen nach dem anderen und setzt nach: »Die Conclusio ergibt sich von selbst: Orstam hat nicht die finanziellen Mittel, um sich auf die Winkelzüge der amerikanischen Justiz einzulassen, die mit horrenden Kosten verbunden sind. Man muss schleunigst verhandeln und Unterstützung suchen, Allianzen in der Wirtschaftswelt.«

Der Banker holt Luft, Madame Taddei, die neben ihm sitzt, bleibt still, hört zu und beobachtet das Verhalten jedes Teilnehmers.

Sampaix nutzt die kurze Atempause für eine Richtigstellung: »Ich lege Wert darauf, dass die finanzielle Lage des Unternehmens bei weitem nicht so düster ist, wie Sie sagen.« Er klopft mit den Fingerspitzen auf die vor ihm liegenden Zahlentabellen. »Unsere Prognosen für das kommende Jahr sind gut, unsere Auftragseingänge steigen, das gesamte Geschäftsfeld Wartung unterliegt keinem Wettbewerbsdruck. Eine ausgehandelte Geldstrafe dürfte, so sie denn unumgänglich ist, unseren Berechnungen zufolge die Firma nicht gefährden.«

Simson lässt ihn nicht weitersprechen. »Meine Rolle hier ist die, Ihnen zu sagen: halsbrecherisch. Ich wiederhole: Sie verfügen nicht über die finanziellen Mittel, um es mit der amerikanischen Justiz aufzunehmen. Ganz zu schweigen von der nach wie vor akuten Gefahr einer persönlichen gerichtlichen Verfolgung des obersten Führungspersonals. Lamblins Verhaftung droht kein Einzelfall zu bleiben. Können Sie sich die Situation vorstellen, wenn Ihr Generaldirektor unter dem Druck eines amerikanischen Haftbefehls französischen Boden nicht mehr verlassen kann, ohne eine Auslieferung in die USA zu riskieren?«

Die letzten Worte des Bankers lassen die Stimmung gefrieren. Lapouge und Sampaix bringen ihre Missbilligung zum Ausdruck.

Simson beeilt sich zu ergänzen: »Ich will keine Panik verbreiten. Wir werden eine Vorwärtsstrategie entwickeln. Genau dafür sind wir Bankleute da. Wir werden mit Hochdruck daran arbeiten.«

Lapouge dankt dem Banker und Madame Taddei für ihre Einschätzung, die er natürlich berücksichtigen wird, und hebt die Sitzung auf.

Simson verlässt den Raum und geht zum Aufzug, wobei er mit Sampaix plaudert, den er väterlich an der Schulter hält, während Lapouge in sein Büro zurückkehrt. Nicolas Barrot hinkt etwas hinterher, findet sich allein mit der Mitarbeiterin wieder, der schönen Madame Taddei, die leise zu ihm sagt:

»Ich weiß, dass Sie den Fall Lamblin genau verfolgen …« Nicolas runzelt die Stirn. Woher weiß sie das? Wer ist sie? »… Wir müssen uns umgehend treffen, ich bin nicht oft in Paris.«

Erst der amerikanische Journalist, jetzt die Bankerin. Was geht hier vor? Mein Glückstag? Er zückt seinen Kalender.

Auf dem Bürgersteig vor dem Geschäftssitz von Orstam klopft Simson Maurice Sampaix auf die Schulter.

»Meine Mitarbeiterin scheint da oben Wurzeln zu schlagen. Ich bin in Eile, ich nehme den Wagen. Würden Sie ihr ein Taxi rufen? Sehr erfreut, Sie kennengelernt zu haben.« Damit verschwindet er.

Sampaix ruft ein Taxi, wartet auf Madame Taddei, die wenige Minuten später allein auftaucht. Das Taxi kommt, Sampaix öffnet die Tür, Madame Taddei steigt ein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»Zum Hotel Plaza Athénée.«

Die Tür schlägt zu.

Sampaix schaut dem Taxi hinterher, nimmt sein Handy, sucht die Nummer vom Plaza Athénée heraus, wählt, fragt nach Madame Taddei.

»Sie ist gerade nicht erreichbar, Monsieur. Wollen Sie ihr eine Nachricht hinterlassen?«

»Nein danke, nicht nötig.«

Maurice Sampaix und Gilbert Lapouge treffen sich kurz unter vier Augen, um nach der Sitzung Bilanz zu ziehen. Die beiden Männer arbeiten schon so lange zusammen, dass sie sich ohne viele Worte verstehen.

Sampaix merkt an: »Die Hübsche, die Simson begleitet hat und deren Anwesenheit durch nichts gerechtfertigt war, ist im Plaza Athénée abgestiegen. Nicht schlecht für eine gelegentliche Mitarbeiterin.«

»Simson hat Orstam als kurz vor der Pleite dargestellt, um dann zu schließen: ›Wir Bankleute werden für Sie eine Vorwärtsstrategie entwickeln.‹«

»Kein gutes Zeichen …«

»Ein Satz ist bei mir hängen geblieben … ›Über der Führungsriege schwebt nach wie vor die Drohung einer Strafverfolgung. Amerikanischer Haftbefehl, können Sie sich die Situation vorstellen.‹«

Die Männer sehen einander schweigend an.