Schwarzes Gold - Dominique Manotti - E-Book

Schwarzes Gold E-Book

Dominique Manotti

4,4

Beschreibung

Neulich in Marseille 1973. Die großen Ölkonzerne halten den Daumen auf dem Erdölmarkt. Auch der transatlantische Drogenhandel blüht nicht mehr wie zuvor, die French Connection ist zerschlagen. Während Unterwelt und Polizei sich neu aufstellen, kämpft die Hafenstadt Marseille mit dem wirtschaftlichen Niedergang. Der junge Commissaire Daquin aus Paris stößt zu den Kriminalermittlern an der Côte. Sein erster Fall: Vor einem Casino in Nizza wird ein Marseiller Unternehmer mit zehn Schüssen niedergestreckt. Der Staatsanwalt vermutet eine Abrechnung im Milieu. Daquin zweifelt. Doch die Seilschaften vor Ort zu durchschauen ist einem Auswärtigen kaum möglich. Was für ein Spiel läuft hier? In diesem Roman (das französische Original erschien 2015 bei Gallimard) schickt Dominique Manotti ihren Protagonisten Théo Daquin in seine Vergangenheit – in eine Affäre, die nicht nur sämtliche unterirdischen Netzwerke von Marseille und Nizza umfasst, sondern vor allem die obskure Welt des Erdölhandels. Meisterhaft gestaltet die Wirtschaftshistorikerin das gigantische ökonomische und geopolitische Fresko einer hochkomplexen Epoche, die bereits das Gesicht des 21. Jahrhunderts erahnen lässt. Ausgezeichnet mit dem GRAND PRIX DU ROMAN NOIR 2016

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Dominique Manotti

SCHWARZES GOLD

Aus dem Französischen

von Iris Konopik

Ariadne Kriminalroman 1213

Argument Verlag

Schlaglicht: eine Hochzeit in New York. Späte Sechziger, doch statt der damit gern assoziierten Flowerpower fällt der Blick auf höfische und intime Rituale in einer Schaltzentrale der Macht, wo man Weichen stellt, von deren Existenz die gemeine Verbraucherschar nichts zu ahnen hat.

Schlaglicht: ein noch junger Commissaire Daquin betritt den Bahnhofsvorplatz von Marseille, Stadt der Schurken und Banditen, Tor zur Welt, brodelnder Moloch zwischen Klassenkampf und Krise, für manche ein Sprungbrett, für andere Endstation.

Kugeln treffen ihr Ziel, Deals gehen über die Bühne, und hinter den Kulissen des sonnenbeschienenen Mittelmeerhafens spinnen die kleinen und großen Geschäftemacher an ihren Netzen. Manottis Marseille fängt in Makro-Aufnahmen von extremer Schärfe und kühler Sinnlichkeit die intrigenstrotzende Wirtschaftspolitik der Siebziger ein. Präzise Action in einem harsch skizzierten Fresko der leidenschaftslosen Gewalt: Die Akteure sind Spieler, der Einsatz ist heute noch derselbe. Es ist unsere Welt.

Falls wir eine Chance haben, durch Literatur die Geschichte zu begreifen, dann ist Manotti eine unserer kostbarsten Dozentinnen. Vive la révélation.Else Laudan

Inhalt

Cover

Titel

Schlaglicht

Prolog

Mai 1966, New York

1 - Sonntag, 11. und Montag, 12. März 1973

Sonntag, Marseille

Montag, Marseille

2 - Dienstag, 13. März 1973

Dienstag im Morgengrauen, Nizza

Dienstagmorgen, Marseille

Dienstagnachmittag, Nizza

3 - Mittwoch, 14. März 1973

Mittwoch, Marseille

4 - Mittwoch, 14. und Donnerstag, 15. März 1973

Mittwochabend, Nizza

Nacht von Mittwoch auf Donnerstag, Hafen von Istanbul

Donnerstagmorgen, Cap Ferrat

5 - Donnerstag, 15. März 1973

Donnerstagmorgen, Marseille

Donnerstag, Nizza

Donnerstagnachmittag, Marseille

Donnerstagabend, Nizza

6 - Donnerstag, 15. März 1973

Donnerstag, Genf

7 - Freitag, 16. März 1973

Freitagmorgen, Marseille

Freitagnachmittag, Marseille

Freitag, Istanbul

8 - Samstag, 17. März 1973

Samstagmorgen, Marseille

Samstagvormittag, Malta

Samstagnachmittag, Marseille

Samstag, Istanbul

9 - Freitag, 16. und Samstag, 17. März 1973

Freitagnachmittag, St. Moritz

Samstagmorgen, Cap Ferrat

Samstagnachmittag, St. Moritz

10 - Sonntag, 18. und Montag, 19. März 1973

Sonntag, Marseille

Sonntagnachmittag, Nizza

Montagmorgen, Cap Ferrat

11 - Montag, 19. und Dienstag, 20. März 1973

Montagnachmittag, Marseille

Dienstag, Marseille

12 - Mittwoch, 21. März 1973

Mittwoch, Nizza, Saint-Tropez

Mittwoch, Marseille

13 - Mittwoch, 21. und Donnerstag, 22. März 1973

Mittwochvormittag, Cap Ferrat

Mittwochnachmittag, Genf

Donnerstagmorgen, Cap Ferrat

14 - Donnerstag, 22. März 1973

Donnerstag, Malta

15 - Donnerstag, 22. März 1973

Donnerstag, Saint-Tropez

Donnerstag, Marseille

16 - Freitag, 23. März 1973

Freitagvormittag, Marseille

Freitagnachmittag, Marseille

Freitagabend, Marseille

17 - Samstag, 24. und Sonntag, 25. März 1973

Samstagmorgen, Cap Ferrat

Sonntagabend, Johannesburg

18 - Samstag, 24. März 1973

Samstag, Marseille

Samstagabend, Nizza

19 - Sonntag, 25. März 1973

Sonntag, Marseille

Sonntagabend, Saint-Tropez

20 - Montag, 26. und Dienstag, 27. März 1973

Montag, Marseille

Dienstag, Marseille

21 - Mittwoch, 28. bis Freitag, 30. März 1973

Mittwoch, Marseille, Nizza

Freitag, Marseille

22 - Samstag, 31. März und Sonntag, 1. April 1973

Samstag, Marseille

Sonntag, Nizza, San Remo

Nachwort in Form einiger Zahlen

Weiterführende Lektüre, Links etc.

Impressum

Prolog

Mai 1966, New York

Im Monat Mai ist das Wetter schön in New York, die Luft seidig, noch fern von der drückenden Hitze des Sommers, eine gute Zeit für gesellschaftliche Ereignisse. Am heutigen Tag feiert man in der Großen Synagoge auf der Fifth Avenue die Hochzeit von Michael Frickx, dem Star-Trader von Co Trade, einem im Erzhandel tätigen Unternehmen mit Sitz in New York, und Emily Weinstein, Enkelin von Nat Weinstein, dem Besitzer der Südafrikanischen Minengesellschaft.

Nach der religiösen Zeremonie und vor dem großen Dinner mit mehreren hundert Gedecken in einem der großen Hotels der Stadt empfängt Joshua Appelbaum, Boss von Co Trade, bei sich zu Hause fünfzig Vertraute, um ihnen die junge Ehefrau persönlich vorzustellen und das Ereignis unter Freunden zu begießen.

Er bewohnt ein zweistöckiges Penthouse auf einem Wolkenkratzer an der Fifth Avenue. In einem an die Vorhalle angrenzenden kleinen Salon empfängt er seine Gäste in Gesellschaft der zwanzigjährigen Braut. Die Gäste mustern sie neugierig und mit einer Spur Argwohn. Niemand kennt sie, sie kommt direkt aus Südafrika, ein englischsprachiges Land, das schon, aber furchtbar … exotisch und unheimlich. Groß, schlank, kurzgeschnittenes braunes Haar, dunkle Augen und strahlendes Lächeln, hübsch verpackt in ihrem braven langen, kaum dekolletierten weißen Kleid, einladend und linkisch zugleich, ähnelt sie einer beliebigen Tochter aus gutem amerikanischem Hause. Günstiges Urteil, eine salonfähige junge Frau. An ihrer Seite ihr Ehemann Michael – dreiunddreißig Jahre alt, sehr groß, elegant in einem gut geschnittenen dunklen Anzug, das kastanienbraune kurze Haar ordentlich frisiert, längliches Gesicht, bewegliche Mimik, immer strahlend –, der die Gäste mit offenen Armen begrüßt. Für jeden hat er ein Wort, ein Lächeln, eine Anekdote, sein Gedächtnis funktioniert wie eine Kriegsmaschine. Glückwünsche, Umarmungen, er ist das Hätschelkind der Freunde von Jos.

Dann steuern die Gäste den großen Salon an, dessen Glasfront auf eine Terrasse hoch über dem Central Park führt. In der Türöffnung kommen sie an der Ketubba vorüber, der Heiratsurkunde von Emily und Michael, die auf einer Staffelei ausgestellt ist. Ein in Kalligraphie geschriebenes Dokument auf Aramäisch, verziert mit einem Muster stilisierter Blumen und Früchte, die sich in das Geschriebene ranken. Jeder Gast beugt sich über die Urkunde, bemüht, die Unterschriften der Zeugen zu entziffern. Joshua Appelbaum, ihr Gastgeber, hat für den Bräutigam gezeichnet. Nat Weinstein konnte als Blutsverwandter der Braut nicht selbst für seine Enkelin unterschreiben, darum hat das sein Stellvertreter bei der Südafrikanischen Minengesellschaft übernommen, Generaldirektor Leo Blumenfeld, der eigens für die Zeremonie aus Johannesburg angereist ist. Nachdem sie die nebeneinander stehenden Unterschriften mit eigenen Augen gesehen haben, gehen die Gäste weiter in den großen Salon, wo drei Buffets mit Getränken und allerlei Amuse-Gueules angerichtet sind, fügen sich zu Gruppen zusammen, die Frauen auf der einen Seite, die Männer auf der anderen, und unterhalten sich angeregt.

Ein paar Frauen wundern sich: Die Eltern des Brautpaars sind nicht anwesend? Leider nicht, die jungen Leute sind beide Waisen, die Ärmsten. Pflichtschuldige Seufzer. Michael wurde, viele wissen es bereits, in Anvers geboren, hat Vater und Mutter 1943 in den Konzentrationslagern verloren und ist dann als Zehnjähriger mit seiner Tante in den Staaten gelandet. Sie, die arme Kleine, hat Vater und Mutter bei einem Flugzeugunglück verloren, als sie zwei Jahre alt war. Sie wurde von ihrem Großvater Nat Weinstein großgezogen.

Die Männer reden über die beiden Unterschriften, Appelbaum und der Vertreter Weinsteins auf ein und demselben Dokument. Ein Erdbeben in der Geschäftswelt, versteigen sich einige zu sagen. Die Allianz von Co Trade, dem Weltmarktführer im Erzhandel, und der Südafrikanischen Minengesellschaft, die Roherze fördert und überreiche Vorkommen besitzt, ohne derzeit über die Absatzmöglichkeiten zu verfügen, die eine wirtschaftliche Ausbeutung ermöglichen: eine ungewöhnliche Heirat zwischen Rohstoffförderer und -händler, die die traditionelle Ökonomie beider Sektoren ordentlich erschüttern wird. Die Börse hat das übrigens gleich erkannt. Als sich die Nachricht von der Hochzeit vor zwei Wochen herumzusprechen begann, hat Co Trade an einem Tag um zwanzig Prozent zugelegt. Und der Börsenrausch ist seitdem nicht abgeflaut. Wirklich eine vorteilhafte Partie.

Als alle Gäste willkommen geheißen und der Braut vorgestellt sind, umarmt Jos Emily. »Madam, Sie sind perfekt. Ich hoffe, Ihnen in diesem fremden Land ein treuer Freund zu sein, auf den Sie immer werden zählen können. Jetzt entspannen Sie sich, amüsieren Sie sich ein wenig mit Ihren Gästen, ich entführe Ihnen für ein paar Minuten Ihren Mann, Ihr Großvater erwartet uns in meinem Arbeitszimmer.«

Emily betritt den großen Salon, drei Geiger stimmen ihre Instrumente. Sie werden ein paar traditionelle Festweisen spielen, die Gäste bilden kleine Gruppen, die Gespräche sind lebhaft. Sie durchquert den Raum, alle Blicke wenden sich ihr zu, sie nimmt davon keine Notiz, nähert sich einem jungen Mann in Militäruniform, der mit verschlossener Miene allein in einer Ecke sitzt. Sie umarmt ihn, zieht ihn hinaus auf die Terrasse.

»David, mach nicht so ein finsteres Gesicht. Sieh dir diesen Ausblick an, diese Stadt.«

»Du hast es geschafft, du bist in New York, genau das, was du wolltest, bist du glücklich?«

»Glücklich, ich weiß nicht. Mein Ehemann wirkt ein bisschen wie ein Handelvertreter.«

»Er ist Handelsvertreter.«

»Aber ich bin in dieser Stadt, da, wo ich hinwollte. Hier pulsiert das Leben. Spürst du es nicht?«

Schweigen.

»Ich bin Joburg entronnen, dem Stillstand. Ich bin am Mittelpunkt der Welt. Mein Leben beginnt hier, jetzt.«

»Hart für mich, das zu hören. Ich dachte, wir hätten in der Welt da drüben einige schöne Jahre miteinander verbracht.«

»Wir waren Kinder, lieber Cousin. Sprechen wir über dich, erzähl. Warum hast du dich entschlossen, Soldat zu werden? Nichts hat dich dazu verpflichtet.«

»Um mein Leben zu beginnen. Für dich ist es New York, für mich die Armee.«

Das Arbeitszimmer ist nüchtern, dunkles Holz und dunkles Leder, ohne jedes Dekor. Nat Weinstein hat es sich in einem großen Sessel bequem gemacht und trinkt Whisky. Er ist so alt wie das Jahrhundert, hat die Statur eines kleinen Stiers, untersetzt und draufgängerisch, und einen kaum gezähmten weißen Haarkranz. Als Jos und Michael den Raum betreten, hebt er sein Glas.

»Ich trinke auf das Gelingen dieser Ehe und auf das Glück der Eheleute.«

Jos und Michael schenken sich ein und stoßen an.

»Michael, unterhalten wir uns ein bisschen, ehe wir zum Geschäftlichen kommen. Ich kenne Sie kaum. Emily und Sie kennen sich überhaupt nicht. Ich habe Ihnen die Hand meiner Enkeltochter gegeben, weil mein Freund Jos sich für Sie verbürgt hat«, Michael verbeugt sich leicht in Jos’ Richtung, »und weil Jos und ich gemeinsam in einen langfristigen Geschäftskreislauf einsteigen. Ich liebe Emily von Herzen. Ich könnte es nicht ertragen, wenn Sie sie unglücklich machen.«

»Seien Sie versichert, dass das nicht meine Absicht ist.«

»Ich habe einige Erfahrung auf dem Gebiet. Glauben Sie mir, gute Absichten reichen nicht aus.«

»Ich verpflichte mich, alles mir Mögliche zu tun, um Emily glücklich zu machen.«

Weinstein zögert kurz, fährt dann fort: »Gut, sprechen wir übers Geschäft. Wir, Jos und ich, haben die finanziellen Modalitäten des Zusammenschlusses von Co Trade und Südafrikanischer Minengesellschaft abschließend geklärt. Die Sache ist geritzt. Reden wir jetzt darüber, was bei mir zu Hause, in Südafrika, und auf meinem gesamten Kontinent passiert. Afrika verändert sich grundlegend, davon bin ich überzeugt. Viele meiner Mitbürger sehen es nicht, aber ich, ich spüre es bis in die Knochen. Der Wandel wird sich mit Gewalt vollziehen, viel Gewalt, und unter chaotischen Umständen. Ich benötige die Unterstützung eines sehr guten Logistikers, der mir hilft, meine Kommunikationsnetze in Afrika so gut wie möglich zu festigen, und einen exzellenten Trader, der mir Handelswege eröffnet, über die mein Unternehmen im Ausland Fuß fassen und vielleicht eines Tages Afrika den Rücken kehren kann, was nicht mein Wunsch ist. Aber sollte mein Land unglücklicherweise in einem Blutbad untergehen, will ich, dass meine Firma überlebt. Jos hat mir versichert, dass Sie der geeignete Mann sind. Stimmt das?«

Michael nimmt sich Zeit zum Nachdenken, lächelt dann. »Ich bin ein Abenteurer, und Jos weiß das. Ja, ich denke, ich bin der Mann, den Sie brauchen.«

»Nat, Michael ist mein geistiger Erbe bei Co Trade. Damit ist alles gesagt.«

Die drei Männer trinken.

»Auf die Zukunft!«

1

Sonntag, 11. und Montag, 12. März 1973

Sonntag, Marseille

An einem Sonntagmorgen im März 1973 steigt Commissaire Théodore Daquin am Bahnhof Saint-Charles mit zwei großen Koffern und sehr wenig Erfahrung aus dem Zug. Siebenundzwanzig Jahre alt, glänzendes Studium, Politologie, Jura-Examen, Polizeihochschule, die er als einer der Jahrgangsbesten abgeschlossen hat, dann ein Jahr im Sicherheitsdienst der französischen Botschaft in Beirut, sehr weit weg von den Straßen Marseilles. Er durchquert die Bahnhofshalle, tritt hinaus auf den Vorplatz und bleibt geblendet stehen. Vor ihm führt eine monumentale Treppe hinab in die sonnendurchflutete Stadt, mündet in eine schnurgerade, von Bäumen gesäumte breite Straße, ein spektakulärer Blick. Auf dem ersten Absatz der Treppe eine Café-Bar, Tische, Stühle. Daquin nimmt Platz, bestellt einen Espresso. Er hat die kräftige Statur eines Rugby-Spielers, spielt übrigens auch sporadisch auf der Position des Dritte-Reihe-Stürmers, ein breites, kantiges Gesicht ohne Unebenheiten, braune Augen und braune Haare, insgesamt eher ein Allerweltsgesicht, aber eine starke Präsenz, sobald Leben in ihn kommt. Er streckt die Beine aus, schließt die Augen, nimmt die frische Sonnenwärme eines Märzmorgens in sich auf. Schöner Empfang, gute Gefühle. Der Espresso kommt, lauwarm und mittelmäßig, daran muss man sich wohl gewöhnen. Marseille, Kopfsprung in eine unbekannte Stadt, seine erste Anstellung, seine ersten Verantwortlichkeiten, Lust, die Partie mit vollem Einsatz zu spielen, zu begeistern, zu überzeugen, zu gewinnen.

Taxi. Daquin nennt eine Adresse: 80 Quai du Port, die Wohnung gehört einem Studienfreund namens Porticcio, ein Marseiller, in seine Heimatstadt zurückgekehrt, um seinen Beruf als Anwalt auszuüben, er überlässt sie ihm für die Dauer seines Praktikums in New York.

»Du hältst sie während meiner Abwesenheit in Ordnung, damit hast du ein Jahr, um zu sehen, ob du dich in Marseille akklimatisierst. Ich will nicht pessimistisch sein, aber das ist keine ausgemachte Sache. Wart’s ab.«

Das Taxi hält am Vieux-Port, ein großes, sehr belebtes Hafenbecken, überall Boote, Fischerboote, Segeljollen, kleine Frachtkähne in lärmendem Durcheinander, mitten in der Stadt. Nach außen begrenzen das Becken zwei mittelalterlich anmutende Wehrtürme, aufgefrischt durch Vauban. Daquin sucht das Meer und kann es nirgends sehen. Er dreht sich um. Seine Wohnung befindet sich in diesem langgezogenen Gebäude aus schönem Sandstein, strikt moderne Architektur, gepflegte Fassade, er ist begeistert.

Er steigt hoch in die dritte Etage. Er stellt seinen Koffer im Dunkeln ab, öffnet die Stores, vor ihm eine nach Süden gelegene Loggia, sonnenüberflutet, zu seinen Füßen der Vieux-Port mit seiner Geräuschkulisse, die Quais wie Perlenschnüre aus Terrassen, Bars, Restaurants, Nachtclubs, dahinter die Hügel von Marseille, die Wallfahrtskirche Notre-Dame de la Garde und ein riesiger Himmel. Ein Anblick, an dem man sich bestimmt nicht sattsieht, eine Szenerie, die tatsächlich das Aroma von Glück haben könnte. Er wendet sich um: Das Wohnzimmer, in gebrochenem Weiß gestrichen, helles Parkett, ist sehr schlicht eingerichtet mit einem großen Bauerntisch aus dunklem Holz, flankiert von zwei Bänken. In der Salonecke Sessel und Sofa aus weichem Leder, ein Couchtisch aus gebürstetem Stahl. In einem Bücherschrank ein paar Bücher, ein Hifi-Turm, stapelweise Schallplatten und Kassetten. In der kleinen, übertrieben ausgestatteten Küche registriert Daquin das Vorhandensein zweier Kochbücher. Das Bad gefliest mit Émaux de Briare-Mosaiken in Grau- und Blautönen. Im Schlafzimmer eine Schrankwand mit Schiebetüren und ein riesiges, einladendes Bett. Daquin lächelt, Erinnerung an gewisse Kneipentouren mit Porticcio, mehr oder weniger kontrollierte Entgleisungen während ihrer Studienzeit, unmittelbar nach ’68. Eine Sexszene, für die komplette Dauer einer besonders langweiligen Vorlesung zu zweit in die Projektionskabine eines Unihörsaals gepfercht, und der Filmvorführer sah ihnen zu und setzte mit einer Hand seine Arbeit fort, während er sich mit der anderen einen runterholte. Er meint bis heute zu spüren, wie sich die Eisenteile des Projektors in seinen Rücken bohren. Der Aufenthalt in Marseille lässt sich gut an.

Daquin hält sich nicht lange auf. Sobald er seinen Koffer ausgepackt hat, geht er in das erste Bistro, über das er in dem alten Viertel gleich hinter seinem Haus stolpert, schlingt ein Sandwich hinunter und eilt zum Évêché, dem ehemaligen Bischofspalast, heute Sitz des Zentralkommissariats von Marseille. Der Bau beherbergt auch den SRPJ, die Regionaldienststelle der Kriminalpolizei, der er zugeteilt ist, er hat es eilig, Kontakt aufzunehmen, die Luft dort zu schnuppern. Zehn Minuten Fußweg durch ein Labyrinth aus steil ansteigenden, ärmlichen Gassen, dann kommt er bei einem Ensemble imposanter Gebäude heraus, in dem sich das eher Moderne mit dem sehr Alten mischt. Nach einigem Umherirren in einem Netz wenig frequentierter Flure und Treppen findet er schließlich die Büros der Kriminalpolizei, im dritten Stock des einstigen Palasts, wo eine Handvoll Inspektoren in nahezu menschenleeren Räumen zugange sind. Daquin wendet sich an einen, der ihm ein wenig Autorität zu haben scheint, stellt sich vor. »Commissaire Daquin, ich bin frisch hierher versetzt, ich trete meine Stelle morgen an und wollte mich schon mal umhören …«

»Sie kommen gerade recht. Ich bin Inspecteur Principal Courbet von der Kriminalabteilung. Wir hatten gerade einen Anruf von der Quartierspolizei, Schießerei im Viertel Belle de Mai, zwei Tote, wir müssen hin. An einem Sonntag zur Mittagsessenszeit, bei sonnigem Wetter und gutem Schnee in den nahen Bergen sind wir nicht viele, wie Sie sehen. Ich lasse zwei Inspektoren hier, um die Erreichbarkeit zu gewährleisten, und nehme Sie im Patrouillenwagen mit zum Tatort. Passt Ihnen das?«

»Das passt mir sehr gut.«

Im Wagen, der mit angemessener Geschwindigkeit fährt, heulende Sirenen fürs Standing, ist die Stimmung entspannt und der Pariser wird freundlich aufgenommen. Schüsse, zwei Tote, das scheint niemanden groß zu beunruhigen. Daquin sieht das Belle de Mai-Viertel vorüberziehen. Breite Durchgangsstraßen, quasi ausgestorben, Zeilen mit ärmlichen Einfamilienhäusern, hier und da durchbrochen von schnell hochgezogenen Sozialwohnungsblocks, Brachflächen, ein paar wenige Billigläden, er hat das Gefühl, ein Katastrophengebiet zu durchqueren. Ein ganz anderes Gesicht von Marseille.

Die Kreuzung der Boulevards Guigou und Burel ist blockiert durch einen Auflauf von Polizisten und Schaulustigen. Auf der Fahrbahn ein roter Simca mit zersplitterten Scheiben und verschrammter Karosserie.

Courbet parkt den Wagen und geht zu den Polizisten, die den Évêché alarmiert haben. Der stellvertretende Staatsanwalt und der Gerichtsmediziner sind noch nicht eingetroffen, die Kriminalpolizei ist als Erste vor Ort, sie hat Reaktionsschnelligkeit bewiesen, darum geht’s. Daquin nähert sich dem Kantstein, beugt sich hinunter. Im Innenraum zwei von Kugeln durchsiebte Körper, alles zerfetzt, blutgetränkt, übersät mit Glasscherben und Blechstücken. Der Fahrer, oder was von ihm übrig ist, wirkt wie ein eher reifer Mann, seinem Beifahrer wurde das halbe Gesicht weggeschossen, sein lebloser Körper hat die Anmut der Jugend. Die Quartierspolizisten erstatten Bericht. Ihren Verletzungen nach zu urteilen, wurden die beiden Opfer mit einem abgesägten Gewehr, wahrscheinlich einer Schrotflinte, unter Beschuss genommen und dann aus nächster Nähe mit einer großkalibrigen Kugel in den Kopf getötet. Die Zeugen, nicht viele, haben wenig gesehen: Der Simca sei gemächlich den Boulevard Guigou entlanggerollt, vom Boulevard Burel kam ein anderer Wagen, schnitt ihm den Weg ab, der Simca hielt an, dann näherten sich zwei Fußgänger, die wohl auf dem Gehweg gewartet hatten, schossen und fuhren mit dem Wagen weg, der die Kreuzung blockierte.

Marke? Farbe? Niemand weiß es. Wie die beiden Fußgänger ausgesehen haben? Durchschnittliche Größe, Regenmäntel, Hosen, ansonsten … Der Gerichtsmediziner trifft ein. Er hilft zwei Inspektoren bei der Durchsuchung der Leichen, wobei er es möglichst vermeidet, sich mit Blut zu besudeln. In der Gesäßtasche des Fahrers sein Führerschein.

Ein Inspektor verkündet mit lauter Stimme: »Marcel Ceccaldi.«

»Ceccaldi!« Courbet stößt einen langen Seufzer der Erleichterung aus. »Den sind wir also los …« An Daquin gewandt: »Ein Mann von Francis le Belge, wir hatten ihn ein Dutzend Mal bei uns. Es handelt sich demnach um eine Abrechnung innerhalb des Milieus. Ich warte auf den stellvertretenden Staatsanwalt, aber damit ist die Sache erledigt. Der Fall wird Richter Bonnefoy übertragen, der uns mit der Ermittlung betraut. Die Täter werden wir nicht finden, es dürften italienische Auftragsmörder sein, die längst wieder zu Hause sind. Und niemand wird sich darum scheren.«

»Und der Junge?«

»Unbekannt, fürs Erste. Wahrscheinlich ein Kollateralopfer. Soll ich Sie zurückbringen lassen?«

»Nicht sofort. Ich würde mich gern in der Gegend umsehen. Ich fahre dann mit Ihnen zurück zum Évêché.«

»Wie Sie wollen.«

Daquin geht einmal um die Kreuzung herum. Die Ecke ist verwaist, keine Läden, keine Bars. Erst hundert Meter weiter oben auf dem Boulevard Burel sichtet er den Parkplatz eines Gebäudes, ein paar Wagen, die vor einem Sozialwohnungsblock parken, und auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig eine Telefonzelle. Auf der Fährte des roten Simcas läuft er den Boulevard Burel etwas mehr als einen Kilometer hoch. Er kommt an einer einzigen Bar vorbei, etwa achthundert Meter von der Kreuzung entfernt. Als er eine weitere Telefonzelle erreicht, dreht er um und kehrt zurück zu seinen Kollegen am Ort des Massakers.

Montag, Marseille

Als Daquin am Montagmorgen im Évêché eintrifft, erwartet ihn Contrôleur Général Payet, der Direktor der Kriminalpolizei. Er empfängt ihn stehend hinter seinem Schreibtisch, weist ihm mit einer Handbewegung einen Stuhl zu und nimmt Platz. »Commissaire Daquin, erfreut, Sie bei uns zu haben, Sie sind uns herzlich willkommen.«

Die beiden Männer sitzen sich gegenüber. Payet ist schlank, geradezu mager, grauer Anzug, knochiges Gesicht, sehr kurzer Bürstenschnitt, erstarrt in der ständigen Furcht, die Kontrolle zu verlieren. Daquin, groß, athletisch, ein Tier, das auf Gefühlsregungen und Überraschungen lauert. Es funkt nicht zwischen ihnen.

»Regeln wir zunächst das Administrative. Ihr Posten: die Ermittlungsabteilung, Gruppe zur Bekämpfung der Bandenkriminalität, Sie sind zweiter Stellvertreter des Gruppenchefs. Ihnen untersteht ein kleines Team: Inspecteur Grimbert, ein hervorragender Kenner der Marseiller Situation, er ist seit über zehn Jahren hier im Évêché, und Inspecteur Delmas, ein Jungspund, frisch aus dem Südwesten. Büro 301 ist Ihrem Team zugeteilt. Alles klar?«

»Vollkommen klar, Herr Direktor.«

»Kommen Sie heute Mittag her, dann stelle ich Sie dem Leiter der Kriminalabteilung und dem Chef der Gruppe zur Bekämpfung der Bandenkriminalität vor. Und ich betraue Sie mit dem ersten Fall, um Sie einzuarbeiten. Courbet erzählte mir, dass er Sie gestern mit zum Tatort im Belle de Mai-Viertel genommen hat.«

»Das ist richtig.«

»Ein guter Einstieg in die Materie. Leider sind solche Vorkommnisse in unserer Gegend nicht selten. In letzter Zeit wurden sämtliche Fälle von Abrechnungen im Milieu gebündelt und die Ermittlungsverfahren Richter Bonnefoy übertragen. Sie werden das Team der Kriminalpolizei verstärken, das mit Bonnefoy zusammenarbeitet, und sich speziell um den Fall Belle de Mai kümmern. Ist Ihnen das recht?«

»Sehr recht, Herr Direktor.«

»Dann bleibt mir nur noch, Ihnen gute Arbeit und viel Glück zu wünschen.«

»Danke, Herr Direktor.«

Daquin sucht das ihm zugewiesene Büro, findet es bald am Ende eines Flurs, abseits der großen Verkehrsströme innerhalb des SRPJ. Der Raum ist zu klein, aber hell und ruhig, hastig eingerichtet, drei Stühle und drei Schreibtische, bunt zusammengewürfelt, zwei Schreibmaschinen, zwei Telefonapparate und zwei Metallschränke. Er wählt seinen Schreibtisch, gegenüber der Tür, Fenster im Rücken, und liest die regionale Berichterstattung über die Morde im Belle de Mai-Viertel, während er auf seine Teamkollegen wartet.

Die beiden Inspektoren treffen eine halbe Stunde später zusammen ein. Daquin steht auf und begrüßt zuerst den Älteren, Grimbert, den guten Kenner des Marseiller Lebens, den Mann, den der Chef, wie er annimmt, ebenso zu seiner Unterstützung wie zu seiner Überwachung abgestellt hat, den Mann, dessen Vertrauen er gewinnen muss. Seine Physis überrascht Daquin. Um die dreißig, ein großer Blonder mit halblangen Haaren und blauen Augen in einem länglichen, kantigen Gesicht, romantische Ausstrahlung, leicht britisch. Er stellt einen großen Karton mit Akten auf einem der leeren Schreibtische ab und drückt Daquin die Hand, während er ihn mustert. Gegenseitiges Beschnuppern.

Hinter ihm folgt Delmas, ein kleiner Dunkler von sechsundzwanzig, ein Muskelpaket mit dem Gesicht eines Lebemanns. Er kommt mit leeren Händen, begrüßt Daquin gut gelaunt und nimmt den letzten verfügbaren Schreibtisch.

Ein paar Willkommensworte, dann sagt Daquin: »Richten Sie sich in Ruhe ein, ich hole solange Espresso, dann machen wir uns an die Arbeit.«

»Espresso? Woher?«

»Auf der Etage. Keine Espressomaschine?«

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Dann in der Bar des Hauses. Es gibt doch wohl eine?«

Grimbert setzt sich mit einer Pobacke auf eine Schreibtischecke, schiefes Lächeln auf den Lippen. »Ja, natürlich gibt es eine, im Keller, die Garage, eine Bar, die die Kfz-Mechaniker der Truppe betreiben. Aber ich muss Ihnen das erklären. Sie sind dort nicht willkommen. Aus einer Reihe von Gründen. Der erste: Es ist das Terrain der Sécurité publique, Beamte in Uniform, die auf der Straße arbeiten, sich aufführen wie die Prolls der Profession. Uns, die Bullen in Zivil, die Ermittler der Kriminalpolizei, betrachten sie als Faulpelze und Intelligenzler, und sie wollen uns in ihrer Garage nicht haben. Zweiter Grund: Sie sind Commissaire, also einer von den Bossen, und kein Commissaire, nicht mal einer der Sécurité publique, ist in der Garage willkommen. Zu guter Letzt sind Sie Pariser. Wenn ein Pariser den Évêché betritt, schrillt im ganzen Haus die Alarmglocke. Das wird sich legen, aber es wird etwas Zeit brauchen.«

Grimbert spricht mit einem ausgeprägten Marseiller Dialekt. Überspielt, denkt Daquin, oder antrainiert.

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir eine peinliche Situation ersparen. Ich verzichte heute auf Kaffee, das wird schwer, aber ich werd’s schaffen. Und ich werde Mittel und Wege finden, in diesem Kabuff einen elektrischen Espressokocher zu installieren.«

Ein paar Minuten später machen sich die drei Männer an die Arbeit.

»Sie wissen, dass wir den Mordfall Belle de Mai geerbt haben?«

»Ja, der Chef hat uns informiert.«

»Er hat Ihnen gesagt, dass ich mit Inspecteur Courbet eine Fahrt zum Tatort gemacht habe?«

»Ja, das hat mich überrascht.«

»Reiner Zufall, ich kam gerade hier vorbei.«

»An einem Sonntag?«

Die Akte mit den Erhebungen am Tatort, ersten Ergebnissen und den Fotos liegt aufgeschlagen vor Daquin auf dem Schreibtisch, der sie Grimbert zuschiebt und fortfährt: »Bei diesem Fall sprechen der Chef und Courbet beide spontan von einer Abrechnung im Milieu. Woran erkennen Sie Abrechnungen im Milieu, Grimbert?«

»Zunächst die Vorgehensweise der Mörder: Sie halten sich nicht mit Feinheiten auf, veranstalten ein Gemetzel, schießen aus nächster Nähe oder mit einer Automatikwaffe. Auf offener Straße oder an öffentlichen Orten. Am helllichten Tag und mit unverhülltem Gesicht. Keine Spuren, wir sammeln zwar ein paar Patronenhülsen auf, aber die Waffen werden exportiert oder zerstört, im Allgemeinen werden sie nicht zweimal benutzt. Und auch keine Zeugen. Dann die Persönlichkeit der Opfer: Sie töten sich untereinander, im Rahmen von Machtkämpfen. Es gibt zwar manchmal Kollateralopfer, aber das ist schlichtes Pech und wir kümmern uns nicht groß darum … Schließlich und endlich wird keiner der Fälle mit der Identifizierung der Mörder abgeschlossen, schon gar nicht mit ihrer Festabnahme.«

»Das ist eine detailgetreue Wiedergabe dessen, was ich gestern gesehen habe. Der Chef sagte mir, dass solche Abrechnungen öfter vorkommen. In welchem Rhythmus, seit wann?«

»Seit letztem September hatten wir fünf, etwa einen pro Monat, mit insgesamt acht Toten. Ich schreibe Ihnen eine detaillierte Notiz, wenn Sie wollen.«

»Warum diese plötzliche Häufung?«

»Es ist die Rede von einem Erbfolgekrieg zwischen Zampa und Francis le Belge um die Kontrolle des Marseiller Milieus nach dem Fall des Hauses Guérini.«

»Wo kommen diese beiden her?«

»Beide sind Zöglinge von Guérini. Zampa wurde etwas länger bebrütet als Le Belge, er ist erfahrener. Im Moment trägt er allem Anschein nach den Sieg davon, es steht sechs Tote gegen zwei.«

»Ein Spielstand wie im Tennis«, bemerkt Delmas. »Zampa gewinnt das Set, aber noch nicht die Partie.«

Daquin beachtet ihn nicht weiter. »Etwas bequem als Erklärung. Ich bin neu hier, ich kenne mich mit der Marseiller Situation nicht gut aus, aber ich weiß, dass die Guérinis, die für Ordnung sorgten, seit mindestens vier Jahren von der Bildfläche verschwunden sind, Antoine wurde 1967 erschossen und Mémé 1969 eingebuchtet. Also warum nach so langer Zeit dieses Wiederaufflackern der Rivalitäten?«

»Wollen Sie meine Meinung hören?«

»Selbstverständlich.«

»Es hat mit der Zerschlagung des Heroinrings in Marseille zu tun, die in Wirklichkeit erst letztes Jahr im Februar begonnen hat, 1972, mit einem sehr großen Fang auf einem kleinen Frachtschiff, der Caprice des Temps, über vierhundert Kilo reines Heroin. Seitdem haben sich die Festnahmen vervielfacht, es ist einiges in Bewegung, und zwar in alle Richtungen, und jeder versucht sich die Situation zu nutze zu machen. Die Banditen verpfeifen ihre Konkurrenten oder Rivalen, damit die Bullen für sie aufräumen und ihnen alles hübsch sauber hinterlassen. Die verschiedenen Polizeidienste verbünden sich mit einem Clan gegen einen anderen, jeder Dienst verfolgt seine eigene Bündnispolitik …«

»Was erklärt, dass die Ermittlungen nie zu etwas führen?«

»Die Verantwortung für Ihre Schlussfolgerung müssen Sie selbst übernehmen, Commissaire. Aber Sie sollten wissen, dass Sie in einem Klima gelandet sind, das, sagen wir … Marseille-typisch ist.«

»Gut. Kommen wir zurück zu unserer Akte Belle de Mai. Keine Spuren, keine Zeugen, einverstanden. Aber ich habe mich in der Gegend umgesehen. Es handelte sich um einen sehr sorgfältig vorbereiteten Hinterhalt. Route und Zeitplan der Opfer waren bekannt. Woher? Es ist unmöglich, die Kreuzung längere Zeit zu blockieren. Jemand hat also ein Startsignal gegeben, und es war mindestens ein Späher in der Nähe der Kreuzung, um das zweite Signal zu geben. Folglich viele Komplizen, deren Spur man möglicherweise verfolgen kann. Welche Mittel zur Informationsweitergabe haben sie benutzt? Ich habe auf dem Boulevard Burel in der Nähe der Kreuzung eine Telefonzelle entdeckt, direkt gegenüber einem Parkplatz vor einem Gebäude. Die Mörder können dort gewartet und das letzte Zeichen über das Telefon in dieser Zelle bekommen haben. Auf dem Boulevard Guigou, weniger als einen Kilometer entfernt, gibt es eine Bar, die sonntags geöffnet hat, und eine Telefonzelle. Das erste Signal kann von einem dieser beiden Punkte aus erfolgt sein. Man kann die von diesen Anschlüssen getätigten Anrufe zurückverfolgen und im Umfeld nach Zeugen forschen. Jetzt zu den Opfern: Mit wem waren sie zu diesem Zeitpunkt verabredet? Mit wem hatten sie Streit? Wer kann sie verraten haben? Was sagen die Angehörigen? Welche Verbindung besteht zwischen den beiden Opfern, Marcel Ceccaldi und dem Jungen? Alle diese Punkte können wir verfolgen. Und dahinter werden sich die Auftraggeber abzeichnen.«

Grimbert setzt wieder sein schiefes Lächeln auf. »Zweifellos, Commissaire. Aber bevor wir uns in dieses Abenteuer stürzen, gehen Sie zu Richter Bonnefoy. Vergessen Sie nicht, es ist seine Ermittlung, nicht Ihre.«

Im Gericht empfängt Richter Bonnefoy, ein freundlicher Mann von geruhsamen fünfzig, Daquin umgehend in seinem sonnigen Büro mit Blick auf den Vieux-Port. Er hört sich seinen Bericht des Belle-de-Mai-Massakers und seine Vorschläge zu möglichen Ermittlungsansätzen an. Er macht sich keine Notizen, trommelt mit den Fingern auf seinem Schreibtisch.

»Commissaire, Sie sind neu hier, wenn ich Contrôleur Général Payet richtig verstanden habe. Wie in jeder anderen Stadt fehlt es Polizei und Justiz hier in Marseille bitter an Mitteln. Und die Kriminalität, unter denen die ehrlichen Bürger leiden, nimmt sprunghaft zu, die Überfälle auf alte Leutchen beim Verlassen von Postämtern oder Banken, die Überfälle auf kleine Händler und, die neuste Masche, Überfälle auf Taxifahrer. Diese Kriminalität ist es, die unbedingt eingedämmt werden muss. Wenn die Banditen sich gegenseitig umbringen wie in dem Fall, über den wir sprechen, schert die anständigen Leute das wenig. Sie fühlen sich nicht bedroht. Was ich von Ihnen verlange, ist, dass Sie die Identität der Opfer feststellen, damit wir die Bandenkriege und die Entwicklung der Clans nachvollziehen können und nicht überrumpelt werden. Ich erwarte von Ihnen und Ihrem Team, dass Sie in diesem Sinne vorgehen und berichten.«

Als Daquin das Gericht verlässt, hört er Grimbert, »seine Ermittlung, nicht Ihre«, und sieht sein schiefes Lächeln, dessen Grundstimmung er endlich begreift: desillusioniert.

2

Dienstag, 13.März 1973

Dienstag im Morgengrauen, Nizza

Fast drei Uhr morgens. Die Nacht ist kalt, duftend und still auf der Promenade des Anglais, für manche eine der schönsten Straßen der Welt. Durch das große Portal des Palais de la Méditerranée verlässt ein Paar die Spielsalons des Casinos. In der Ferne das Geräusch eines anfahrenden Motorrads. Das Paar bleibt im Schutz der hohen Arkaden stehen, die die monumentale Fassade tragen, bombastisches Pappmaché-Dekor, geprägt vom Geist der Dreißigerjahre. Ein Page in Uniform eilt auf den Mann zu. Der stattliche Fünfziger, breite Schultern, massige Gestalt in dezentem dunklem Anzug, gibt ihm seine Wagenschlüssel. Der Page entfernt sich in Richtung Parkplatz. Die junge Frau im hellen, tief ausgeschnittenen Kleid schaudert, als die Kälte sie packt, in den Hügeln des Hinterlands hat es geschneit. Das Brummen eines näherkommenden Motorrads, verborgen hinter den Blumenkübeln, die die Arkaden und den Eingang des Palais vom Bürgersteig der Promenade trennen. Der Mann wendet sich seiner Begleiterin zu, die lächelt, hilft ihr eine bunte Kaschmirstola auf ihren Schultern zurechtzuziehen. Der Page verschwindet um die Hausecke. Das Motorrad hält vor dem roten Teppich, der bis zu den Eingangstüren reicht, der Mitfahrer steigt vom Sozius, bringt sich, ohne den Helm abzunehmen, dem Paar gegenüber in Stellung, nimmt eine stabile Position ein, breitbeinig, hebt eine Pistole mit beiden Händen auf Augenhöhe und schießt. Eine Kugel, der Körper des Mannes zuckt, seine Hand krallt sich in das Schultertuch seiner Begleiterin, zwei, drei, vier Kugeln hintereinander, der Körper des Mannes, die Hand an die Stola geklammert, fällt in Zeitlupe, das Blut spritzt stoßweise, das Gesicht der Frau, ihre nackten Schultern, ihr helles Kleid sind blutüberströmt, ein, zwei, drei, vier weitere Schüsse in Folge, die Frau steht starr, offener Mund, ohne einen Schrei. Der Mann liegt am Boden. Der Mörder jagt noch zwei Kugeln auf den leblosen Körper. Ende der Operation. Er schiebt seine Waffe unter dem Blouson ins Achselholster, berührt dabei mit dem Lauf der Waffe seine linke Brust, brennender Schmerz, er liebt diesen Schmerz, Kontraktion der Bauchmuskeln, Erregung, heftige Lust, er fühlt sich lebendig, sehr lebendig. Er steigt auf das Motorrad, das mit Vollgas davonrast. Die Frau fällt in Ohnmacht, in die Blutlachen, die den roten Teppich tränken, den weißen Marmorboden besudeln.

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