Die Eigenlogik der Städte -  - E-Book

Die Eigenlogik der Städte E-Book

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Beschreibung

Städte unterscheiden sich in ihrer Struktur und Anlage, in ihrem Potenzial, ihrer Geschichte und den Images, die sie hervorrufen. Obwohl die Differenzen im weltweiten Wettbewerb an Bedeutung gewinnen, wird die globale Angleichung der Städte zurzeit weitaus umfassender erforscht. Vor diesem Hintergrund verschiebt die neue Reihe die Perspektive von der Stadt auf diese Stadt. Städte werden in ihrer historisch gewachsenen und technisch-materiell fundierten Gestalt so analysiert und ins Verhältnis gesetzt, dass strukturelle Differenzen und Gemeinsamkeiten in den Blick geraten. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der eigenen Logik, die der Entwicklung jeder Stadt zugrunde liegt, sowie auf dem »lokalen Wissen«, das zur Lösung von Problemen beitragen kann. Die Herausgabe der Reihe erfolgt im interdisziplinären Verbund von Stadtforschern und Stadtforscherinnen aus den Sozial- und Geisteswissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Bauwesen und Architektur.

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Die Eigenlogik der Städte
Neue Wege für die Stadtforschung
Berking, Helmuth; Löw, Martina
Campus Verlag
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
9783593400594
Copyright © 2008. Campus Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Besuchen Sie uns im Internet: www.campus.de
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|7|Einleitung

Helmuth Berking, Martina Löw

Am 23./24. Juni 2007 fand in Darmstadt ein von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziertes Rundgespräch zum Thema »Die eigensinnige Wirklichkeit der Städte. Positionen zur Neuorientierung in der Stadtforschung« statt. Zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Stadtsoziologie, aber auch Kolleginnen und Kollegen aus den Fächern Politikwissenschaft, Europäische Ethnologie, Geografie, Geschichtswissenschaft, Sportwissenschaft, Philosophie und Ökonomie diskutierten gemeinsam über Möglichkeiten und Grenzen, über neue Perspektiven und alte Probleme in der Erforschung der »Stadt«. Im Mittelpunkt des Disputes standen die Präsentation und die kritische Würdigung einer Forschungsperspektive, durch die »die Stadt« und die Städte als eigensinnige Gegenstände konzeptualisiert und empirisch erschlossen werden sollen. Dieser Band dokumentiert die (erweiterten) Beiträge jener Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Workshops, die in unterschiedlichsten analytischen Zugriffen diese Idee einer lokalspezifischen, eigensinnigen Wirklichkeit von Städten zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen machen und in einer solchen Herangehensweise einen theoretisch und methodisch innovativen Weg für die Stadtsoziologie und die Stadtforschung sehen.

Die konzeptionelle Idee lässt sich zunächst als kritischer Einwand gegenüber der vorherrschenden Tradition der Stadtforschung so formulieren: Nicht länger und ausschließlich in den Städten forschen, sondern die Städte selbst erforschen, »diese« im Unterschied zu »jener« Stadt zum Gegenstand der Analyse machen. Vor dem Hintergrund der typischen Theorieannahmen erweist sich dieser Perspektivwechsel als keinesfalls trivial. Denn auf der einen Seite findet sich ein bereits mit der Chicago School beginnendes Theorieprogramm, »Stadt« lediglich als Teilmenge beziehungsweise als Subkategorie von »Gesellschaft« zu fassen. Die Stadt tritt gleichsam als Laboratorium für Gesellschaftsprozesse jedweder Art in den Aufmerksamkeitshorizont der Sozialwissenschaften. Diese subsumtionslogische Theoriefigur |8|(Berking/Löw 2005), die »die (Groß-)Stadt gemeinhin als ›Spiegel‹ oder ›Bühne‹ der Gesellschaft beziehungsweise als ›Laboratorium der (Post)Moderne‹« (Frank 2007: 548) konstruiert, erreichte in der »New Urban Sociology« ihre kohärenteste Form sowie ihren wirkungsmächtigsten Ausdruck. Auf der anderen Seite lässt sich eine gesteigerte Aufmerksamkeit für kleinräumige Vergesellschaftungsprozesse – im Stadtteil, im Quartier, im Milieu et cetera – konstatieren. Es geht um Lebensformen, um Lebensstile, um Migrations- und Armutsquartiere, kurz, um die spezifischen Orte spezifischer sozialer Gruppen in der Stadt. In beiden Fällen aber geht nicht nur das Spezifische der Vergesellschaftungsform Stadt, sondern auch die Besonderheit dieser Stadt als Gegenstand der Forschung verloren (vgl. Berking/Löw 2005; Löw 2008).

Die durchgängige Substitution des Forschungsobjekts »Stadt« durch »Gesellschaft« lässt sich von der Annahme leiten, Strukturprobleme des Kapitalismus, Ungleichheitsrelationen und Ausbeutungsmuster könnten wie in einem Brennglas in der Stadt abgebildet werden. Es sind vor allem drei, vorrangig im Kontext der relativen wohlfahrtsstaatlichen Stabilität der deutschen Nachkriegsgesellschaft sowie mit Bezug auf die »kapitalistische Stadt« entwickelte Argumente, die dafür angeführt werden, dass lokale Kontextbedingungen, Wissensbestände und Wirkungsgefüge für die stadtsoziologische Theoriebildung eher von sekundärer Bedeutung sind beziehungsweise nur als Filter wirken (vgl. z.B. Häußermann/Siebel 1978; Häußermann/Kemper 2005; Saunders 1987; Krämer-Badoni 1991): Die Urbanisierung der Gesellschaft nivelliere die Stadt-Land-Unterschiede und verbiete somit, Stadt als eigenständigen sozialen Tatbestand zu benennen; der administrativ festgelegte Raum Stadt sei keine soziologische Kategorie; Städte seien zu unterschiedlich, als dass Stadt selbst Gegenstand von Forschung sein könne.

Flankiert werden diese Argumente durch Vorschläge, die Analyse von Städten gegenüber anderen räumlichen Organisations- beziehungsweise Siedlungsformen nicht länger zu privilegieren (Hamm/Atteslander 1974; Friedrichs 1977; Mackensen 2000). Diese Grundsatzentscheidungen haben dazu geführt, dass die Erforschung der konkreten Stadt weitgehend zugunsten von Gesellschaftsanalysen in der Stadt preisgegeben wurde.

Vor dem Hintergrund neuer Forschungsergebnisse zur Lokalisierungspolitik, zu Modernisierungskonzepten sowie zur Raumtheorie teilen alle Beiträge dieses Bandes die Erkenntnisabsicht, diese Grundsatzentscheidung zu überdenken und die forschungsstrategische Bedeutung einer eigenlogischen |9|Entwicklung von Städten zum zentralen Thema machen. Wir stellen die Frage, inwieweit die notwendige Reformulierung der stadtwissenschaftlichen Perspektiven zugleich theoretisch-konzeptioneller und methodisch-empirischer Erweiterungen bedarf – oder ob sogar eine »Neuerfindung« (Läpple 2005) der Stadt und der Stadtforschung auf der Tagesordnung steht.

Die analytische Aufmerksamkeit richtet sich auf die eigensinnige Strukturbildung moderner Städte, auf ihre im Unterschied zum modernen Territorialstaat distinkte, raumstrukturelle Form und den damit einhergehenden soziokulturellen Inklusionserwartungen (Held 2005). Was folgt aus der Annahme, dass sich die für die moderne Großstadt signifikanten Aggregatzustände – größere soziale und stoffliche Masse, Heterogenität und Dichte (Wirth 1974) – strukturell von den Homogenitätsanforderungen des überformenden Nationalstaates unterscheiden? Liegt nicht die unwahrscheinliche, sozialintegrative und kulturelle Leistung moderner Urbanität gerade in der »institutionalisierten Indifferenz für Differenzen« (Hondrich 2006: 493) von Lebensstilen, sozialen Praktiken, der Ko-Existenz und Ko-Evolution von symbolischen Universen, die dort zum Tragen kommt und kommen muss, wo die Nivellierung von Differenz auf der normativen Grundlage territorialstaatlicher Einschlussmechanismen zwangsläufig an Grenzen stößt? Bilden materielle, soziale und kulturelle Heterogenität und nicht Homogenität folglich das genuine Forschungsfeld der Stadtforschung? Die Stadtsoziologie in Deutschland kann zwar viel über die Stadt als Laboratorium der Gesellschaft sagen, aber bisher nur wenig über die Stadt als distinktes Wissensobjekt der Sozialwissenschaften.

Die Grundsatzentscheidung, Städte in ihrer Differenz und in ihren lokalen Besonderheiten als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung auszuklammern, ist eng mit Modernitätskonzepten verknüpft. Wie zum Beispiel Stuart Hall u.a. (1995) und Anthony Giddens (1996) kritisieren, wird die Herausbildung moderner Gesellschaftsformationen als mehr oder weniger monokausale Wirkung von Differenzierungsprozessen oder Produktionsverhältnissen verstanden. Weder werden die multiplen Effekte einer Kultur des Kapitalismus beachtet, noch gelingt es, Modernität mithilfe eines notwendig multikausalen und pluralistischen Konzepts von gesellschaftlicher Entwicklung zu erklären. Ein Modernitätsverständnis aber, das der gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik Determinismus unterstellt, kann der Stadt allenfalls noch Funktionen im System des globalen Kapitalismus zuerkennen, die Bedeutung der Städte und des Lokalen aber für gesellschaftlichen Fortschritt nicht benennen. Interessanterweise hat gerade |10|der Globalisierungsdiskurs diese Blindstelle des Lokalen überdeutlich ins Bewusstsein treten lassen. Insofern ist es kein Zufall, dass derzeit die Stärkung des Lokalen und der Städte durch Globalisierungsdynamiken (Le Galès 2002) und die gleichzeitige Schwächung des Nationalstaates diskutiert wird. Globalisierung wird in diesem Zusammenhang als ein Prozess konzeptualisiert, der lokal produziert wird (Massey 2006), wobei mit dem Lokalen vor allem die Stadt gemeint ist (Marcuse 2005). Was aber bedeutet es für die Stadtforschung, wenn die veränderten Modi der Produktion von Lokalität in ihrer relationalen Beziehung zu Globalität (Massey 2006) zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand gemacht werden? Kann mit dem Hybridbegriff der »Glokalisierung« (Swyngedouw 2004) eine Perspektive eingenommen werden, welche die Eigenlogik von Städten und lokalen Besonderheiten als konstitutive Elemente städtischer Wirklichkeit ins Zentrum sozialwissenschaftlicher Wissensproduktion stellt? Und reicht es nicht völlig aus, New York oder London zu nennen, um erkennen zu können, dass Städte nicht nur determinierte Strukturprozesse lokal filtern und ausdifferenzieren, sondern dass umgekehrt Städte auch strukturbildend wirken. Was zwingt uns zu der Annahme, dass alles, was in Städten der Fall ist, seine Ursachen anderswo habe? Muss die »Stadt« konzeptionell wie empirisch nicht vielmehr als gestaltendes Element im Globalisierungsprozess begriffen werden? Welche Art des Erkenntnisgewinns verspricht eigentlich der typische Einwand, die »Stadt« habe ihre Relevanz als Ort der Moderne verloren?

Das Wortbild »Stadt« kann höchst Unterschiedliches bedeuten, und seine wissenschaftliche Auffächerung ist kaum noch zu überblicken. Die Bedeutungszuschreibungen reichen von der Patchwork City über die Edge City und die Dual City bis hin zur Global City, um nur einige typologische Zugriffe zu nennen. Die Vagheit und Offenheit des Begriffs spricht nicht notwendig gegen ihn (Begriffe wie Struktur, Kultur oder Globalisierung teilen dieses Schicksal), sondern zwingt zur begrifflichen Klärung der Problematik, ob die herkömmlichen Bedeutungszuweisungen von »der Stadt« nicht vielleicht überholt sind. Andere Disziplinen haben in den letzten zwanzig Jahren ihr Verständnis vom Gegenstand deutlich verändert. War es zum Beispiel in der Literaturwissenschaft zunächst eine Geschichte und ein Erzähler, auf denen die Erzähltheorie aufbauen konnte, so rückt schließlich der Akt des Lesens als dritte Komponente in das Zentrum der theoretischen Aufmerksamkeit. Der Text scheint nicht mehr ohne ein Wissen über die differenten Praktiken, Emotionen, Sinn- |11|und Bedeutungszuschreibungen der Lesenden, kurz ohne die Beziehung zwischen Text und Leser/in, verständlich (Suleiman/Crosman 1980). In den Neunzigerjahren folgt dem »Leser im Text« nun »der Betrachter im Bild« (Kemp 1992), demzufolge das Kunstwerk nicht als Objekt an sich oder als Resultat einer Beziehung zwischen Künstler/in und Werk verstanden werden kann, sondern von der Rezeption ausgehend das »Wesen« des Bildes auch aus der Betrachtung abgeleitet werden muss. Die Frage ist nun, ob auch für die soziologische Stadtforschung eine Gegenstandsbestimmung über einen erweiterten Praxisbegriff hilfreich wäre? Ist Stadt eine Erfahrungskategorie? Sind Städte als Resultat wie als Voraussetzung kultureller Praktiken und Prozesse zu betrachten oder handelt es sich um Entitäten beziehungsweise historisch gewachsene Formen (Featherstone 1999)? Haben Städte eine Eigenlogik oder sind sie das Resultat übergeordneter Prozesse? Wenn Städte als Ergebnis übergeordneter gesellschaftlicher Prozesse betrachtet werden, geht dann nicht die Stadt als spezifischer Forschungsgegenstand verloren? Trägt der Vergleich zum Land noch als Gegensatzkonstruktion zur Stadt? Wie können Städte untereinander verglichen werden?

Wie auch immer die »Neuerfindung« beziehungsweise Reformulierung stadtsoziologischer Forschung zu begründen sein wird, sie wird nicht auf die selbstreflexive Problematisierung der stadtsoziologischen Begrifflichkeit und ihrer Begründungsgeschichte in Deutschland verzichten können. Hierbei müssen nicht nur die historischen Ausgangsbedingungen der deutschen Stadtsoziologie sowie gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturebene beziehungsweise auf der Ebene individueller Lebensstilbildung mitbedacht werden, sondern genauso Effekte der kulturellen Modernisierung. Der »cultural turn« in den Sozial- und Geisteswissenschaften hat Fragen an die Stadtforschung formuliert, die weitgehend unbeantwortet geblieben sind: Fragen nach den kumulativen Strukturen lokaler Kulturen und ihrer Sedimentbildung in der Materialität der Städte oder in der Stadt als kollektivem Gedächtnis (Boyer 1996), nach den lokalen »Gefühlsstrukturen« (Williams 1965), dem »Habitus« (Lee 1997; Lindner 2003), der »individuellen Gestalt« und der »Biographie« der Stadt oder der Aggregation städtischer Erfahrungen durch die »Temperatur« der Städte (Braudel 1979).

Ziel des vorliegenden Buches ist es, Konzepte zu versammeln, die sich dieser Problematik zunächst in grundlagentheoretischer Absicht stellen, um die Fundamente zu legen, auf denen zukünftig in empirischer Forschung |12|Differenz zwischen den Städten systematisch berücksichtigt werden und der Gegenstand »Stadt« auch aus der lokalen Eigenlogik entfaltet werden kann. Damit sollen langfristig Forschungspotenziale ausgelotet werden, die systematische Blindstellen überwinden. Bisher existiert praktisch kein stadtsoziologisches Wissen über die Positionierung der verschiedenen Städte in einem relationalen Feld, das die Wahrnehmung und (Un)Attraktivität von Städten ebenso prägt wie das Handeln der Akteure – ein Feld, das den Strom von Waren und Menschengruppen ebenso kanalisiert wie planerisches Handeln, Images und Repräsentationen einer Stadt. Der Stadtforschung fehlt das empirische Wissen über die eigenlogische Entwicklung von Städten und deren Rahmenbedingungen sowie eine systematische soziologische Typenbildung von Städten.

Das Buch erscheint als erster Band einer neuen Reihe im Campus-Verlag mit dem Titel Interdisziplinäre Stadtforschung. Stadtforschung ist ein Profilschwerpunkt der Technischen Universität Darmstadt, an dem 25 Professorinnen und Professoren plus deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus sieben Fachbereichen beteiligt sind. Der Forschungsschwerpunkt hat sich zum Ziel gesetzt, in interdisziplinärer Zusammenarbeit das Wissen und die Werkzeuge zu entwickeln, um lokale Potenziale von Städten erkennen und stärken zu können. Die Eigenlogik von Städten zu analysieren ist das gemeinsame Programm der interdisziplinären Darmstädter Stadtforschung. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die die diesem Buch zugrunde liegende Tagung ermöglichte, sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern für ihre ebenso kritischen wie innovativen Interventionen. Unser besonderer Dank gilt Heike Kollross, Wiebke Kronz, Jochen Schwenk und Christina Stein, die sich der mühsamen Aufgabe des Redigierens und Korrigierens angenommen haben.

Darmstadt im Juli 2008     Die HerausgeberInnen

Literatur

Berking, Helmuth/Löw, Martina (2005) (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16, Baden-Baden.

Boyer, Christine M. (1996), The City of Collective Memory: Its Historical Imagery and Architectural Entertainments, Cambridge, MA.

|13|Braudel, Fernand (1979), Civilisation matérielle, économie et capitalisme, XV–XVIII siècle. Le structure du quotidien: Le possible et l´impossible, Paris.

Featherstone, Mike (1999), »Globale Stadt. Informationstechnologie und Öffentlichkeit«, in: Rademacher, Claudia/Schroer, Markus/Wiechens, Peter (Hg.), Spiel ohne Grenzen? Ambivalenzen der Globalisierung, Opladen, S. 169–201.

Frank, Susanne (2007), »Stadtsoziologie. Literaturbesprechung zu Bernhard Schäfers (2006) Stadtsoziologie. Stadtentwickung und Theorien – Grundlagen und Praxisfelder, Wiesbaden«, in: KZfSS Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 59-3, S. 548–549.

Friedrichs, Jürgen (1977), Stadtanalyse, Reinbek bei Hamburg.

Giddens, Anthony (1996), Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main.

Hall, Stuart u.a. (1995) (Hg.), Modernity, Cambridge.

Hamm, Bernd/Atteslander, Peter (1974) (Hg.), Materialien zur Siedlungssoziologie, Köln.

Häußermann, Hartmut/Kemper, Jan (2005), »Die soziologische Theoretisierung der Stadt und die ›New Urban Sociology‹«, in: Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16, Baden-Baden, S. 25–53.

Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (1978), »Thesen zur Soziologie der Stadt«, in: Leviathan, 6-4, S. 484–500.

Held, Gerd (2005), Territorium und Großstadt. Die räumliche Differenzierung der Moderne, Wiesbaden.

Hondrich, Karl Otto (2006), »Integration als Kampf der Kulturen«, in: Merkur, 60686, S. 481–498.

Kemp, Wolfgang (1992), Der Betrachter ist im Bild: Kunstwissenschaft und Rezeptionsästhetik, Berlin/Hamburg.

Krämer-Badoni, Thomas (1991), »Die Stadt als sozialwissenschaftlicher Gegenstand«, in: Häußermann, Hartmut/Ipsen, Detlev/Krämer-Badoni, Thomas u.a. (Hg.), Stadt und Raum: Soziologische Analysen, Pfaffenweiler, S. 1–29.

Läpple, Dieter (2005), »Phönix aus der Asche. Die Neuerfindung der Stadt«, in: Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16, Baden-Baden, S. 397–413.

Le Galès, Patrick (2002), European Cities: Social Conflicts and Governance, Oxford.

Lee, Martyn (1997), »Relocating Location: Cultural Geography, the Specificity of Place and the City Habitus«, in: McGuigan, Jim (Hg.), Cultural Methodologies, London/Thousand Oaks/New Delhi, S. 126–141.

Lindner, Rolf (2003), »Der Habitus der Stadt – ein kulturgeographischer Versuch«, in: PGM. Zeitschrift für Geo- und Umweltwissenschaften, 147-2, S. 46–53.

Löw, Martina (erscheint 2008), Soziologie der Städte, Frankfurt am Main. Mackensen, Rainer (2000), Handeln und Umwelt, Opladen.

Marcuse, Peter (2005), »The Partitioning of Cities«, in: Berking, Helmuth/Löw, Martina (Hg.), Die Wirklichkeit der Städte. Soziale Welt, Sonderband 16, Baden-Baden, S. 257–276.

|14|Massey, Doreen (2006), »Keine Entlastung für das Lokale«, in: Berking, Helmuth (Hg.), Die Macht des Lokalen in einer Welt ohne Grenzen, Frankfurt am Main/New York, S. 25–31.

Saunders, Peter (1987; orig. 1981), Soziologie der Stadt, Frankfurt am Main/New York.

Suleiman, Susan R./Crosman, Inge (1980), The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation, Princeton.

Swyngedouw, Erik (2004), »Globalisation or ›Glocalisation‹? Networks, Territories and Rescaling«, in: Cambridge Review of International Affairs, 17-1, S. 25–48. Williams, Raymond (1965), The long Revolution, Harmondsworth.

Wirth, Louis (1974; orig. 1938), »Urbanität als Lebensform«, in: Herlyn, Ulfert (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur. Arbeiten zur sozialen Segregation, Ghettobildung und Stadtplanung, München, S. 42–67.

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|15|»Städte lassen sich an ihrem Gang erkennen wie Menschen« – Skizzen zur Erforschung der Stadt und der Städte

Helmuth Berking

»Was ist das?« Solche Fragen dürfen Kinder stellen. Für die Wissenschaften, zumal im Zeichen des radikalen Konstruktivismus, ist das »Was« tabu, in jedem Falle aber höchst suspekt. Wer die Frage dennoch stellt, hat eines schon entschieden, nämlich, dass etwas und nicht nichts ist. Wenn die Antwort jedoch in ihrem Kern immer nur lauten kann: das ist … etwas, schwebt der Verdacht und manchmal die Entrüstung in der Luft, der Fragende intendiere, jenen alten/neuen Essenzialismus zu reanimieren, der längst auf dem Müllhaufen der wissenschaftlichen Irrtümer gehöre. Die Verführung freilich bleibt, impliziert doch jedes Reden über die »Stadt« ein Wissen darüber, was die Stadt denn sei. Um dieses Dilemma zumindest ein wenig zu entschärfen, soll die Erkenntnisabsicht genauer formuliert werden. Nicht: Was ist die Stadt, sondern: »Was ist die Stadt als Objekt des Wissens«, als Gegenstand und Wissensobjekt der Soziologie? Auch wenn das Thema auf den ersten Blick als Sperriges erscheint, ist das Motiv recht deutlich; es geht um Positionsbeschreibungen zur Neuorientierung in der Stadtforschung. Der Wunsch nach Neuorientierung drängt sich immer dann auf, wenn das Alte nicht mehr frag- und restlos überzeugt und das Neue noch viel zu konturlos scheint, als dass es sich gleichsam wie von selbst verstünde.

1. Die »Stadt« und die Soziologie

Die gegenwärtige Problemkonstellation stadtsoziologischer Forschung lässt sich anhand zweier komplementärer Theorieprogramme kurz und grob so typisieren, dass eine Leerstelle scharf ins Relief tritt.

Auf der einen Seite findet sich die bereits mit der Chicago School beginnende Theorietradition, »Stadt« als Laboratorium für Gesellschaftsprozesse |16|jedweder Art zu konzeptualisieren. Die Stadt ist eine Adresse, um die Krisenphänomene des Kapitalismus, der Moderne oder der Postmoderne, der Globalisierung oder Unterentwicklung zu lokalisieren. Diese subsumtionslogische Theoriefigur, für die »die Stadt nur der Ort [ist], an dem die Gesellschaft in ihrer Struktur und ihren Konflikten erscheint« (Siebel 1987: 11), erreicht in der »New Urban Sociology« (Lefèbvre 1972; Castells 1977; 1977a; Harvey 1989; 1996) ihre kohärente Form und ihren wirkungsmächtigsten Ausdruck und wird schließlich auch zu einem zentralen Paradigma bundesrepublikanischer Stadtsoziologie (Häußermann/Siebel 1978; 2004; Häußermann 1991; 2001; Krämer-Badoni 1991).

Auf der anderen Seite lässt sich seit Mitte der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts eine gesteigerte Aufmerksamkeit für kleinräumige Vergesellschaftungsprozesse – im Stadtteil, im Quartier, im Milieu et cetera – beobachten. Hier richtet sich das Erkenntnisinteresse explizit auf die Verräumlichung sozialer Besonderheiten (Berking/Neckel 1990; Blasius/ Dangschat 1994; Dangschat 1999; Matthiesen 1998). Es geht um Lebensformen, um Lebensstile, um Migrations- und Armutsquartiere, kurz, um die spezifischen Orte spezifischer sozialer Gruppen in der Stadt. Während so das Forschungsproblem »Stadt« gleichsam unter der Hand in der Konkretion von Stadtteilen und Quartieren verloren geht, verweigern sich die subsumtionslogischen Theoriestrategien der Gegenstandskonstitution »Stadt« mit der expliziten Grundsatzentscheidung, Stadtforschung nur mehr als Gesellschaftstheorie zu betreiben. Die einen, so scheint es, erwarten zu wenig, die anderen freilich wollen zuviel. In beiden Fällen verschwindet die »Stadt« und mit ihrem Verschwinden bleiben bedeutsame Wissenshorizonte verriegelt. Die stadtsoziologische Forschung ohne Stadt ist nicht nur blind für die Differenz zwischen Städten, für die Eigenlogiken und lokalen Kontextbedingungen »dieser« im Unterschied zu »jener« Stadt, sondern auch für die »Stadt« als Wissensobjekt selbst (vgl. Berking/Löw 2005). Diese zugegebenermaßen grobschlächtige Typisierung führt zu einer Erwägung, die sich als Verdacht formuliert. Könnte es sein, dass wir es in den letzten Dezennien mit einer Stadtforschung ohne Stadt zu tun hatten? Welche Disziplin hat sich, mit Ausnahme der Geschichtswissenschaft, um die Analyse der individuellen Gestalt »dieser« im Unterschied zu »jener« Stadt tatsächlich gekümmert?

Die ebenso überraschende wie irritierende Feststellung, dass die »Stadt« kein Gegenstand der Soziologie, das Zentrum der Stadtforschung leer und die Theoriebildung weitgehend uninteressiert ist, liefert das Motiv für den |17|Versuch, einen Konzeptbegriff »Stadt« zu skizzieren. Wenn man bedenkt, dass die Soziologie selbst ein Kind der Großstadt ist, wird man in den tradierten Wissensbeständen sicherlich wichtige Hinweise und Ansätze für eine »Soziologie der Stadt« finden. Dass die Großstadt in der Gründungsphase der Soziologie als ein revolutionär Neues erlebt und auch thematisiert wurde, steht außer Zweifel – man denke nur an die über den »Markt« konstruierte Typologie von Produzenten- und Konsumentenstadt, die Max Weber zur Charakterisierung der okzidentalen Stadt entwirft, an die heute als Gründungsdokumente der Stadtsoziologie gefeierten Arbeiten Georg Simmels, aber auch an Robert Parks Beobachtung, dass »it is because the city has a life quite its own that there is a limit to the arbitrary modifications which it is possible to make (1) in its physical structure and (2) in its moral order« (Park 1967: 4; orig. 1925). Die Stadt, ein Phänomen, das sich von sich aus evident macht, »a state of mind, a body of customs and traditions, and of the organized attitudes and sentiments that inhere in these customs and are transmitted with this tradition« (Park 1967: 1) ist in den Augen ihrer Beobachter wie Kritiker zweifelsfrei eine genuin eigenständige Vergesellschaftungsform. Gleichwohl scheint die historische Konstellation durch und durch paradox. Die Großstadt hat bereits in dem Augenblick als Wissensobjekt ausgespielt, in dem sie sich als zentraler Erfahrungsraum aufdrängt. Es ist die Großstadt, die die ›moderne Gesellschaft‹ repräsentiert, ohne dass die Wissenschaft von der modernen Gesellschaft die Stadt in ihr grundbegriffliches Repertoire aufgenommen hätte. Es ist die Großstadt, die der Anschauung das empirische Material liefert, aus dem die Theorien der Gesellschaft entstehen, ohne dass die Stadt ihrerseits theoretisch bedacht worden wäre.1 Und es ist die Großstadt, von der heute mit einer ebenso irritierenden wie wirklichkeitsresistenten Selbstgewissheit behauptet wird, dass sie »nicht mehr als definierend für Modernität verstanden werden [kann]« (Stichweh 2000: 203). Vor diesem Hintergrund |18|ist die Frage nach der Stadt als Wissensobjekt der Soziologie nicht trivial. Welche allgemeinen Aussagen lassen sich über die »Stadt« formulieren und, wenn möglich, zu einem gehaltvollen Konzeptbegriff zusammenführen? Gesucht wird nach einer Theorie der Stadt, die gegenüber Subsumtions- wie Konkretionslogik eine eigenständige Stellung zu behaupten und einen gewissen analytischen ›Mehrwert‹ zu versprechen vermag. Tatsächlich mehren sich nicht nur die empirischen Hinweise, sondern auch die vor allem im Kontext des soziologischen Globalisierungsdiskurses entwickelten theoretischen Einsprüche gegen einen Konzeptbegriff von »Gesellschaft« (vgl. Giddens 1990; Beck 1997; Albrow 2002; Urry 2000), der zur analytischen Erschließung der Stadt heute kaum noch hinreichend scheint. Was wäre, so könnte man spielerisch einen Perspektivwechsel imaginieren, wenn das Register »Gesellschaft« nicht länger oberste Referenz für die Stadt, sondern umgekehrt, wenn alle Gesellschaft ›Stadt‹, ›Stadtgesellschaft‹ wäre, man also der Stadt die theoretische Aufmerksamkeit erwiese, die sie historisch ebenso wie aktuell verdiente?

Die Skizze zur Konstitution eines soziologischen Wissensobjekts »Stadt« ist raumtheoretisch fundiert. Es geht um die analytische Erschließung dessen, was Edward Soja »the spatial specificity of urbanism« (Soja 2000: 8) genannt hat. Auch in diesem Zusammenhang gibt es historische Wissensbestände, an die sich anschließen lässt. Einen ersten und für die stadtsoziologische Forschung außerordentlich prägenden Versuch, Urbanität als spezifische räumliche Vergesellschaftungsform konzeptionell zu fassen, hat Louis Wirth 1938 mit den Kriterien »size«, »density« und »heterogeneity« vorgelegt. Wirths Erkenntnisinteresse freilich zielt auf »Urbanität als charakteristische Lebensform«, als deren typische Merkmale er

eine spezifische »physisch-reale Struktur«

ein spezifisches »soziales Organisationssystem« und

einen »festen Bestand an Haltungen und Gedanken«

(Wirth 1974: 58) identifiziert. Wenn der privilegierte Ort dieser »Lebensform« die Großstadt ist, mag der Versuch ebenso nahe liegend wie aussichtsreich sein, das starke Konzept von »Urbanität als Lebensform« auf das Konzept von »Großstadt als räumliche Form« herunter zu deuten. Denn Größe und Dichte sind zuallererst räumliche Marker, genauer: räumliche Organisationsprinzipien, die in ihrem Zusammenspiel mit Heterogenität ein gewisses Proportionengefüge aufweisen. Erst eine bestimmte (und bestimmbare?) Proportionalität zwischen allen drei Größen |19|»macht« Großstadt – und das immer und überall. In dieser Lesart ist »Stadt« nicht nur Kontext, Hintergrund, Feld, Medium, sondern zuallererst »Form«, räumliche Form, oder präziser, ein sehr spezifisches räumliches Strukturprinzip.

2. Dichte: Stadt als raumstrukturelle Form der Verdichtung

Das Ansinnen, »Stadt« als eine spezifische räumliche Form zu konzeptualisieren, setzt die logische Markierung eines Abstandes, einer Differenz zu anderen räumlichen Formen voraus. Gerd Held hat den anspruchsvollen Versuch unternommen, die Verräumlichung der Moderne analytisch zu erschließen (vgl. zum Folgenden Held 2005). Im Anschluss an die Beobachtung Fernand Braudels, dass Stadt und Territorialstaat in einer bestimmten historischen Konjunktur konkurrierende Organisationsformen räumlicher Einheiten darstellten – zwei Wettläufer, die eine lange Zeit auf Augenhöhe unterwegs sind – wird die These der Komplementarität von Stadt und Staat als räumliches Signum der Moderne entwickelt. Nicht »Stadt und Land« sondern »Territorium und Großstadt« bilden den Bezugsrahmen für eine raumstrukturelle Differenzierungsleistung ganz eigener Art: die Separierung von räumlichen Einschluss- und Ausschlusslogiken. Historische Grundvoraussetzung für die räumliche Differenzierung der Moderne ist die Auflösung der fiktiven Einheit »Raum«, das Aufsprengen der alten, auf einer einfachen Geografie der Orte und Wege basierenden Ordnung. Territorium und Großstadt werden als raumstrukturelle Formen gefasst, Realabstraktionen, die räumliche Strukturbildung ermöglichen und sich wechselseitig verstärken. Das Territorium als räumliches Strukturprinzip setzt auf Ausschluss, die Großstadt auf Einschluss. Das Eine braucht die Grenze und erhöht auf diese Weise die Homogenität im Inneren, das Andere verneint die Grenze und erhöht die Dichte und die Heterogenität. Empirisch gilt zwischen beiden eine gewisse Proportionalität, die sich als Dichtegefälle ausspielt.

Folgt man diesen Überlegungen zu Territorium und Großstadt als den zwei zentralen raumstrukturellen Prinzipien der Moderne, ergeben sich gerade in Hinblick auf die Frage nach der Konzeptualisierung der Stadt als räumliche Form interessante Erwägungen.

|20|Wenn Großstadt als raumstrukturelles Prinzip von Einschluss und Dichte thematisiert wird, verbietet sich eine (Kontinuitäts-)»Geschichte der Stadt« von den Anfängen bis zur Gegenwart. Denn raumtheoretisch argumentierend gilt, dass etwa die mittelalterliche Stadt vor der raumstrukturellen Trennung von Einschluss und Ausschluss liegt und sich zumindest auf diesem Abstraktionsniveau nicht als raumstrukturelle Differenzierungsleistung zu erkennen gibt. Der Modus der Vergesellschaftung ist ein grundsätzlich anderer. Hier darf, wie in anderen Fällen auch, die Stadt-Land-Differenz ihr volles Recht beanspruchen.

Versteht man Stadt als räumliches Strukturprinzip, als Form, die Verdichtungsphänomene organisiert und reglementiert, ergeben sich weitreichende Konsequenzen im Hinblick auf die typischen Strategien der Gegenstandskonstitution. »Stadt« ist dann nicht »Kommunikation«, »Interaktion«, »Lebensstil«, »Milieu«; Stadt ist nicht »face to face«, »Stadtteil«, Identität, Wirtschaftszentrum oder Habitus et cetera. Alle inhaltlichen Zugriffe kommen hier zwangsläufig zu früh. Auch der Städtevergleich setzt noch zu hoch an. Die lokalspezifischen Differenzen zwischen Musikstadt und Bierstadt etwa, sagen wir zwischen Wien und Dortmund, wären in einem raumtheoretisch instruierten Zugriff ihrerseits erst als Effekte der internen und in diesem Sinne, lokalspezifischen Differenzierungs- und Verdichtungsleistungen zu beschreiben.

Größe, Dichte und Heterogenität sind nicht als Quantitäten von sonderlichem Interesse, sondern einzig in ihren qualitativen Effekten. Schon Georg Simmel beschreibt das Zusammenspiel von äußerer Dichte, Kontaktintensität und innerer Reserviertheit. Die räumliche Logik des Einschlusses ist eine der systematischen Erhöhung der Kontaktintensität bei niedrigem Verpflichtungscharakter. Stadt organisiert Dichte durch die extreme Steigerung von Kontaktflächen. Elemente unterschiedlichster Art werden nicht nur zusammengebracht, sondern in einen »Aggregatzustand« versetzt, der sie reaktionsfähig macht und ihre gegenseitige Einflussnahme verändert (Held 2005: 230). Größe, Dichte und Heterogenität sind auch in Bezug auf die stofflichen Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt von zentraler Bedeutung. Material-, Energie- und Verkehrsströme, Wasser-, Wissens- und Menschenströme evozieren neue Wechselwirkungen durch Konzentration: Zivilisationskatastrophen und Seuchen ebenso wie technische Innovationen und sozialmoralische Anspruchsniveaus.

|21|Großstadt als raumstrukturelle Form ist »Verdichtung in der Bewegung (ebd.: 240) nicht nur auf der stofflichen, sondern auch auf der institutionellen und sozialen Ebene. Verdichtung ist nicht Verdrängung, sondern Intensitätssteigerung im Einschluss. Dichte (und Dispersion) mögen, auch zeitlich, variieren. Immer weist die räumliche Struktur der Großstadt unterschiedliche Dichte- und Dispersionsstufen auf: das stabile Nebeneinander von Betrieben und Wohnstätten, das in der spezifischen Situation eines zentralen Platzes, Kaufhauses oder Stadions in ein verwirrendes Ineinander umschlägt und permanente »Transformationen« evoziert. Held setzt den Begriff der Transformation – eine Ansammlung von Arbeitskräften wird zur Belegschaft, eine Ansammlung von Kunden wird zum Publikum et cetera – anstelle des Begriffs der Interaktion, um die Intensität und Breite dieses Modus der »einschließenden Vermittlung« zu artikulieren (ebd.: 103). Dichte ist zugleich härteste Zumutung – das liefert das zentrale Motivbündel der Großstadtkritik – und Ermöglichungsraum, eine Temperatur, ein Hitzegrad, der die Reaktionsfähigkeit zwischen heterogensten Elementen bereitstellt und die unmöglichsten Verbindungen Wirklichkeit werden lässt.

Bei den raumtheoretischen und in diesem Sinne formspezifischen Erwägungen zu Dichte und Verdichtung spielen Maßstabswechsel und Proportionalitäten eine bedeutsame Rolle. Dabei geht es nicht um die Anwendung der ehrwürdigen Unterscheidung von Mikro-, Meso- und Makroebene im Feld der Stadtforschung. Bezugsrahmen bleibt vielmehr die raumstrukturelle Logik des Einschlusses, die Art und Weise, wie Dichte sich auf verschiedenen Maßstabsebenen ›artikuliert‹. Was auf der Ebene von face to face und alltäglicher Begegnung – der Umgang mit Fremden etwa – als arbiträr und trivial, aber eben ganz und gar nicht folgenlos für den großstädtischen Sozialcharakter erscheint (Simmel 1957; orig. 1903), gewinnt aufgrund der großen Zahl im großstädtischen Verdichtungsraum eine spezifische Kohärenz als Teilstruktur eines großstädtischen Allgemeinen. Städtische Arbeits-, Partner- und sonstige Märkte sind Zufallsgeneratoren ganz eigener Art, deren besondere Leistung darin besteht, die Wahrscheinlichkeitsrate systematisch zu erhöhen. Das schließt individuelles Scheitern nicht aus, schafft aber zugleich einen Möglichkeitsraum struktureller Korrespondenzen, die auf der Ebene einfacher Interaktion nicht in den analytischen Blick geraten. Es ist die Logik der raumstrukturellen Form selbst, |22|die interne Differenzierungen hervortreibt. Eine Typologie der Stadt ließe sich so als Resultat unterschiedlichster Verdichtungen entwerfen.

Maßstab und Proportionalität spielen auch zwischen Ausschluss und Einschluss eine entscheidende Rolle. Die Differenzierung der raumstrukturellen Formen Territorium und Großstadt gewinnt den Charakter einer allgemeinen Ordnung: in der Globalisierung des Staatensystems auf der einen und der Globalisierung des Städtesystems auf der anderen Seite. Auch hier erlaubt die Konzentration auf die Art der Raumintervention interessante Differenzierungen. So wie das Interstaatensystem eine ›andere‹ Wirklichkeit repräsentiert als ein einzelner Territorialstaat, gewinnt die raumstrukturelle Form der Verdichtung im Städtesystem eine andere Dimension als in der Stadt. Städtehierarchien reflektieren arbeitsteilige und wechselseitige Verdichtungsleistungen, die ihrerseits über Reichweiten und Interdependenzen bestimmen. Das Feld der Städte, wenn man so will, ist selbst raumstrukturell differenziert. Es macht nämlich einen erheblichen Unterschied in der Organisation von Dichte, ob eine Stadt eine Zentralfunktion innerhalb eines Territoriums, einer Region et cetera innehat oder gleichsam in »Sichtweite« eines weiteren Verdichtungsraumes agiert. Generell aber gilt, dass auf dieser Abstraktionsstufe die »Großstadt« nicht als einzelne Stadt, sondern erst als großstädtisches System in ihrer Form und ihrem Potenzial entschlüsselt werden kann.

Die »Stadt« als räumliche Form des vermittelnden Einschlusses, als raumstrukturelle Form der Verdichtung konzeptionell zu fassen, bietet den Vorteil, von allen ebenso kontroversen wie arbiträren Versuchen einer »inhaltlichen« Begriffsbestimmung zunächst einmal absehen zu können. Was, wie und wo, mit welchen Effekten verdichtet wird, sind dann die berüchtigten empirischen Fragen. Für die empirische Forschung eröffnet sich so eine vielversprechende Perspektive, das insgesamt schwache Konzept, Stadt nur mehr als Arena für gesellschaftliche Probleme zu nutzen, durch die starke Hintergrundorientierung zu ersetzen, die Stadt als Ganzes zu erforschen, die individuelle Gestalt2 ›dieser‹ im Unterschied zu ›jener‹ Stadt ins Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit zu rücken und auf |23|diese Weise die lokalspezifischen Modi der Besonderung zu identifizieren, ohne übereilt in Funktionszuschreibungen für das gesellschaftliche Ganze Zuflucht zu suchen. Zweifellos wird niemand bestreiten, dass es »Armut« in Städten gibt. Allerdings gilt es genau, dies zu bedenken: dass »Armut« ebenso wie »Macht« oder »Ausbeutung« eben kein exklusiv städtisches Phänomen ist, man also den ›Zuschuss‹, den diese Stadt zur Gestaltung des Phänomens leistet, zuallererst einmal zu entziffern hat. Nicht Armut in München, sondern Münchner Armut als ein stadtspezifisches Phänomen, das sich alltagspraktisch, institutionell und organisatorisch von dem in Liverpool oder Leipzig unterscheidet, lautet dann die Problemstellung für eine komparative Stadtforschung, die sich theoretisch um den Konzeptbegriff Stadt als raumstrukturelle Form der Verdichtung und empirisch um die Erforschung der »Eigenlogik der Städte« organisiert. In diesem raumtheoretischen Zugriff ist »Eigenlogik« zunächst relativ einfach als der für diese im Unterschied zu jener Stadt typische Modus der Verdichtung: von bebauter Umwelt, von Material- und Stoffströmen, Verkehrs- und Menschenströmen et cetera zu operationalisieren.

Stadt als räumliche Form der Verdichtung markiert ein Erkenntnisinteresse, das sich jenseits der subsumtions- wie konkretionslogischen Ansätze der Stadtforschung situiert. Die theoretische Aufmerksamkeit richtet sich, paradox genug, auf das Allgemeine einer distinkten räumlichen Vergesellschaftungsform. Was es empirisch zu entdecken und theoretisch zu modellieren gilt, ist die Eigenlogik der Städte, die Dynamiken der Besonderung, jene für uns Alltagsmenschen so fraglos gegebene Gewissheit, dass New York nicht Wanne-Eickel und Eimsbüttel nicht Chicago ist. Das aus dem Vergleich der individuellen Gestalten der Städte herauszupräparierende Allgemeine lässt sich theoretisch genauer beschreiben. Denn die raumstrukturelle Organisation von Dichte und Heterogenität zeitigt Folgen in Gestalt eines besonderen Bedingungsgefüges, einer »Wahlverwandtschaft« zwischen räumlicher Organisation, materialer Umwelt und kulturellen Dispositionen: »Stadt« geht mit Wahrnehmungs- und Gefühls-, mit Handlungs- und Deutungsschemata einher, die in ihrer Gesamtheit das ausmachen, was man als »großstädtische Doxa« auszeichnen kann.

|24|3. Doxa

In der sozialphänomenologischen Theorietradition bezeichnet »Doxa« jene auf Fraglosigkeit und Vertrautheit basierende ›natürliche‹ Einstellung zur Welt, die mich praktisch mit den Prinzipien des Handelns, Urteilens und Bewertens versorgt. Die Entdeckung der »Lebenswelt« als »letzte Grundlage aller objektiven Erkenntnis« (Husserl), die unter dem Stichwort ›tacit knowledge‹ mittlerweile selbst in der Managementliteratur zu einer erstaunlichen Prominenz gelangt ist, rückt die Modalitäten des natürlichen Welterlebens ins Zentrum der analytischen Aufmerksamkeit.3 Erkundungen in diese präreflexiven und unthematischen Bodenbildungen »lebensweltlichen Hintergrundwissens« (Matthiesen 1997) haben zu konzeptionellen Erwägungen geführt, die sich im Hinblick auf die ›Verräumlichung doxischer Weltbezüge‹, wie sie im Begriff »großstädtische Doxa« avisiert werden, als hilfreich erweisen.4 So lässt sich die Annahme, dass die alltagsweltlichen Erfahrungen zugleich sozial und kulturell spezifiziert und in ihrer Reichweite geografisch begrenzt sind, mit der von John Searle vorgeschlagenen »Minimal-Geographie des Hintergrunds« (Searle 1983: 183; zit. nach Matthiesen 1997: 175) abstützen. Searle unterscheidet einen »tiefen«, gleichsam Gattungskompetenzen systematisierenden, von einem »lokalen Hintergrund«, der auch lokale, doxisch fundierte Kulturtechniken einschließt. Und es ist dieser lokale, intern durch die Unterscheidung von »wie die Dinge sind« und »wie man was macht« strukturierte Hintergrund, der für die räumlichen Dimensionen der Lebenswelt von besonderem Interesse ist. Denn wenn die »stumme Erfahrung der Welt als einer selbstverständlichen« (Bourdieu 1987: 126) nicht voraussetzungslos ist – niemand lebt in der Welt im Allgemeinen – dann gehören Raumwahrnehmungen und Ortsbezüge, »senses of place« (Feld/Basso 1996) fraglos zu |25|den konstitutiven Rahmungen lebensweltlichen Hintergrundwissens. Die Konstruktion der habituellen Dispositionen, mittels derer die Welt sich selbst-evident macht, verbraucht Zeit und strukturiert Räume. Doxisch oder selbst-evident ist daher auch die Erfahrung von Räumen und Orten, die Ausbildung jener auf der Unterscheidung von Vertrautem und Fremden basierenden »Heimwelt« und die Konstruktion »stabiler habitueller Zentren« (Waldenfels 1994: 200f.).

Doxische Weltbezüge implizieren doxische Ortsbezüge. »Es gibt keinen ›natürlichen‹ Ort, wohl aber signifikante Orte, so wie Mead von einem ›signifikanten Anderen‹ spricht« (Waldenfels 1994: 210). Für George Herbert Mead markieren die signifikanten Anderen die primäre Instanz des In-der-Welt-Vertraut-Seins, ohne die das Niveau generalisierter Rollenübernahme nicht erreicht werden kann. In Analogie dazu wären signifikante Orte jene Prägestätten der prä-reflexiven Erfahrung von Räumen und Orten, von selbstverständlicher Zugehörigkeit und affektiver Einbindung, die noch jeden generalisierten und reflexiven Raum- und Ortsbezug zu grundieren vermögen. Doch der fraglos gegebene »Horizont der Vertrautheit und des Bekanntseins« (Schütz 1971: 8) kann sich verdunkeln, die Erfahrung und die Behandlung der Welt als einer selbstverständlichen kann zerbrechen, kurz, doxische Gewissheiten, gerade weil sie auf der Kongruenz räumlicher Formen und habitueller Dispositionen beruhen, werden erschüttert, wenn die Routinen nicht greifen und die unmittelbare praktische Übereinstimmung zwischen den ganz gewöhnlichen Gewohnheiten und der räumlichen Umgebung, auf die diese abgestimmt sind, sich nicht herstellt.

Vor diesem Hintergrund erscheint die »Großstadt« zunächst als offenkundige Zerstörerin doxischer Gewissheiten. Auf Dauer gestellte Verdichtungsdynamiken, hochgetriebene Heterogenisierungsprozesse und mit ihnen die Pluralisierung von Normalitätsunterstellungen lassen die raum- und ortsspezifischen Dimensionen von Vertrautheit und Zugehörigkeit prekär und die Ausbildung stabiler, habitueller Zentren unwahrscheinlich werden.5 Doch dies bleibt nicht das letzte Wort. Denn auch die Großstadt nötigt zur praktischen Übereinstimmung, auch sie evoziert eine ›natürliche Einstellung‹ zur Welt, die sich als großstädtische Doxa Ausdruck und Geltung verschafft. Es kommt zur Verstädterung lebensweltlichen Hintergrundwissens|26|. Die These von der Verstädterung der Lebenswelt lässt sich von der Annahme leiten, dass ähnlich wie im Falle technischer Großsysteme – Wasser, Elektrizität et cetera – städtische Erlebnis- und Wahrnehmungsweisen in den unthematischen Horizont lebensweltlichen Hintergrundwissens einrücken. Der lokale Hintergrund und die ihm, und nur ihm eigenen doxischen Kulturtechniken sind nicht nur städtisch, sondern auch lokalspezifisch präfiguriert. Die Klassifikation als ›großstädtisch‹ verweist auf relevante Verschiebungen und bedeutsame Abstände. Denn großstädtische Doxa lässt sich gleichsam als Resultat erschütterter Doxa fassen, handelt es sich doch um die Verstetigung und Habitualisierung jener prekären Erfahrungen, die sich aus dem Aufbrechen doxischer Gewissheiten ergeben. Dieser neue, eben großstädtische ›praktische Sinn‹, dieser neue »Zustand des Leibes« (Bourdieu 1987: 126) verfügt, verordnet, erzwingt und ermöglicht die Habitualisierung des Flüchtigen, des Unsicheren und Fremden, seine Anverwandlung mit Vertrautheit und Zugehörigkeit. Nicht dass ich als Fremder unter Fremden lebe, sondern dass ich diese Konstellation als selbstverständlich erfahre, macht den Eigensinn dieser habituellen Dispositionen aus. Georg Simmel hat zentrale Motivbündel der großstädtischen Doxa in kräftigen Strichen als Blasiertheit, Reserviertheit, Distanziertheit und Indifferenz konturiert. Dem typischen Einwand, Simmel habe so allenfalls die Reaktions- und Anpassungsmuster des bürgerlichen Individuums, nicht aber die Institutionalisierung von Solidaritäts- und Reziprozitätsnormen der Mehrheit der Stadtbewohner beschrieben, wäre in der hier intendierten Erkenntnisabsicht die Frage entgegenzuhalten, ob die Verdichtung von Solidaritätskernen nicht ihrerseits als Effekt der Habitualisierung von Unsicherheit, und damit als eine ganz moderne, eben großstädtische Disposition zu interpretieren wäre.

Wenn großstädtische Doxa das unthematische Universum präsentiert, innerhalb dessen die Stadt sich selbstevident macht, gibt es keinen triftigen Grund, warum diese »vertraute Welt« nicht nur als etwas Selbstverständliches, sondern zugleich auch als etwas positionsspezifisch variierendes Selbstverständliches wahrgenommen und behandelt werden sollte. So zu sprechen heißt, darauf zu bestehen, dass es sich um Variationen zum Thema, also um etwas gemeinsam Geteiltes handelt. Dies ist der Kontext, in dem Pierre Bourdieu seine Konzeptbegriffe von »sozialem Raum« und »Habitus« situiert.

»Wird die soziale Welt tendenziell als etwas Evidentes wahrgenommen und als etwas, das – in Husserl’schen Begriffen – gemäß einer doxischen Modalität erfasst |27|wird, dann deshalb, weil die Dispositionen der Akteure, ihr Habitus, das heißt die mentalen Strukturen, vermittels deren jene die soziale Welt erfassen, wesentlich das Produkt der Interiorisierung der Strukturen der sozialen Welt sind« (Bourdieu 1992: 143).

Das Zusammenspiel von Position und Disposition erzeugt jene doxischen Gewissheiten, deren soziologischer Kern Bourdieu in Anlehnung an Erving Goffman in der überaus einprägsamen Formel vom »sense of one’s place« kondensiert. Es ist dieser unthematische sense of one’s place sowie der sense of other’s place (Bourdieu 1992: 144), dieser inkorporierte Sinn für die eigene Position und die Positionierung der anderen im sozialen Raum, der die Fraglosigkeit der Alltagswelt garantiert. Der sense of one’s place ist das Resultat einer Kompromissbildung, eine Anpassung der »Wahrnehmungsdispositionen« an objektive Strukturen. Zu den »objektiven« Strukturen aber lässt sich zwanglos auch der physische, respektive der »angeeignete« physische Raum rechnen.

Dieser Übergang ist deshalb bedeutsam, weil Doxa nun in ihren raumtheoretischen Dimensionen bedacht, für die Analyse doxischer Ortsbezüge interessante Perspektiven eröffnet.

Auf der Ebene der Theoriebildung scheint es ebenso plausibel wie vielversprechend, die Differenzierung der räumlichen Formen der Vergesellschaftung mit der Differenzierung der Doxa ins Verhältnis zu setzen. Der sense of one’s place ist im Modus großstädtischer Vergesellschaftung zwangsläufig ein anderer als … auf dem Land. Großstädtische Doxa ist ebenso Voraussetzung wie Resultat jener immer aufs Neue und ganz fraglos zu erbringenden, antizipierenden Ausrichtung und Anpassung subjektiver Dispositionen an die durch Dichte und Heterogenisierung produzierten Unsicherheitslagen.

Großstädtische Doxa ist gleichsam die Hintergrundmelodie, die durch alle Aufführungen des städtischen Lebens hindurchklingt. Was für die »Stadt« als Wissensobjekt der Soziologie gilt und für eine Theorie städtischer Eigenlogik konzeptionell fruchtbar gemacht werden soll, soll empirisch gewendet, für jedes »Individuum« Stadt der Fall sein. Jede große Stadt, so die These, evoziert die ihr eigene »natürliche Einstellung« zur Welt. Jede große Stadt hat ihren lokalen Hintergrund, sie verfügt und verordnet ein Wissen darüber, »wie die Dinge sind« und »wie man was macht«.

Individuell oder »lokalspezifisch« ist dieser doxische Ortsbezug in Relation zur Nicht-Stadt, wie zu anderen Städten. Die habituellen Dispositionen|28|, der sense of one’s place sind ortsspezifisch. Dass dieser sense of place irritiert und herausgefordert wird, sich etwas anderes »aufdrängt«, das zur »Anpassung« nötigt, ist eine ganz alltägliche, mit jedem Ortswechsel verbundene Erfahrung.

Großstädtische Doxa ist ein relationales Konstrukt. Der individuelle Fall ist intern und zwar positionsspezifisch differenziert und fügt sich doch einem beschreibbaren Ganzen. »Man hat« so Pierre Bourdieu, »jeweils das Paris (oder die Stadt, in der man wohnt) entsprechend seinem eigenen ökonomischen, aber auch kulturellen und sozialen Kapital« (Bourdieu 1991: 32). Jede(r) hat sein (ihr) eigenes Paris, aber jede(r) hat Paris oder anders: Paris bleibt doch Paris.

Doxische Gewissheiten werden erst dann thematisch, wenn sie bedroht sind. Im Augenblick der Herausforderung bleibt die stumme Erfahrung der Welt als eine selbstverständliche, nicht länger stumme Erfahrung. Doxa transformiert sich in Orthodoxie. Es entstehen Stile, Erzählstrukturen, kognitive Schemata, die nun als legitime gegen andere behauptet werden und für die konsequenterweise wiederum gilt, dass sie ortsspezifisch ausgeprägt sind. Jede große Stadt, so die nun erweiterte These, evoziert nicht nur die ihr eigene natürliche Einstellung zur Welt; sie evoziert auch die ihr und nur ihr eigenen Orthodoxien.

»Dichte« und »Doxa« sind die konzeptionellen Rahmen, mittels derer die je individuelle Gestalt der Städte erschlossen und die lokalspezifischen Differenzen zwischen den Städten für eine Theorie der »Eigenlogik der Städte« fruchtbar gemacht werden können. »Eigenlogik« als jener lokalspezifische Modus der Verdichtung von bebauter Umwelt, Material- und Stoffströmen, symbolischen Universen und institutionellen Ordnungen ist auf zwei unterscheidbaren Ebenen zu platzieren. Das Konzept zielt in seiner empirischen Lesart auf die Analyse der historischen, der »kumulativen Textur« einer Stadt und der vielfältigen Homologien, die sich in diesem lokalen Gewebe ergeben; und es zielt in seiner erkenntniskritischen Absicht auf die theoretische Annäherung an das, was die »Verstädterung der Lebenswelt« genannt worden ist.

|29|4. Die Eigenlogik der Städte

Die möglichen Vorteile eines Konzeptbegriffs »Stadt« als räumlicher Vergesellschaftungsform, deren distinkter Charakter in der raumstrukturellen Organisation von Dichte und großstädtischer Doxa liegt, lassen sich zumindest kurz andeuten.

Zum einen: die intuitiven Einsichten der Gründungsväter der Stadtsoziologie – »city has a life of its own, is a state of mind, a body of customs and traditions« et cetera (Park) – kann nun raumtheoretisch fundiert und empirisch als Konstellation von Verdichtungseffekten, doxischen Ortsbezügen und lokalen Orthodoxien empirisch erforscht werden.

In dieser Perspektive wird zum anderen eine »Soziologie der Stadt« möglich, die ihre analytische Aufmerksamkeit auf eine spezifische Vergesellschaftungsform und eine spezifische Sinnprovinz lenkt, deren basale Logik auf Verdichtung und Heterogenisierung beruht. Verdichtung und Heterogenisierung, die Steigerung der Kontakt- und Reaktionsintensitäten (und damit die Evokation des ›Neuen‹) sind nicht nur skalensensibel; sie beziehen die stofflich-materielle Seite ebenso ein wie die sozial-symbolische Dimension. Ob diese »Wechselwirkungen« freilich über die doxischen Vorstellungen, die die Soziologie über das Soziale (Handeln, Sinn, Kommunikation) entwickelt hat, zu fassen sein werden, bleibt eine offene Frage.

Die Soziologie der Stadt ermöglicht und erfordert drittens ein empirisches Forschungsprogramm, für das die »Eigenlogik der Städte« gleichermaßen als Erkenntnisobjekt wie als Hypothesenrahmen fungiert. Die konzeptionelle Fassung der Stadt als raumstrukturelle Form der Verdichtung nämlich liefert die theoretische Orientierung für den Vergleich zwischen Städten, der seinerseits Aufschluss über die (noch) verborgenen Seiten städtischer Eigenlogiken verspricht. Für Robert Park wie die Chicago School insgesamt war die Figur der Eigenständigkeit, des Eigenlebens der »Stadt« mit Verweis auf das »Dorf« selbstevident. Doch es bleibt eine tiefe Irritation dergestalt, dass sich diese traditionsbildende Schule und damit die Stadtsoziologie bis heute für die Konkretionsebene der Städte nicht interessierte. Die Soziologie der Stadt verschiebt die Referenzen von der »Stadt« zu den Städten, von »the city has a life of ist own« zu »every city has a life of its own«. Systematischer Bezugspunkt des Forschungsprogramms ist deshalb die Frage nach den Eigenlogiken von Städten, die vergleichend über Intensität und Modus der räumlichen Organisation von Verdichtung und Heterogenisierung erschlossen werden. »Städte«, heißt es im Mann ohne |30|Eigenschaften, »lassen sich an ihrem Gang erkennen, wie Menschen«. Man muss nur ausdauernd und interessiert genug hinschauen.

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1

Dies gilt nur bedingt für die Chicago School, für die Soziologie bekanntermaßen als Stadtsoziologie auf den Weg kommt. Allerdings zeigt sich auch in den Arbeiten Robert Parks die Tendenz, Großstadt als pars pro toto der modernen Gesellschaft zu thematisieren (Lindner 2004: 127). Dass Georg Simmel die Großstadt als »Frühform der modernen Gesellschaft« (Häußermann/Kemper 2005: 27) beschrieben habe, ist eine Deutung, die die Problemverschiebung von Stadt auf Gesellschaft ebenfalls registriert, freilich ohne erstaunt zu sein. Das zentrale Argument, die Großstadt konnte historisch noch als eigenständige Form dem ›Land‹ gegenüber gestellt werden, erklärt nicht die wissenschaftsgeschichtlich und forschungsstrategisch so folgenreiche Substitution von Stadt durch Gesellschaft.

2

Interessante und für ein holistisch orientiertes Forschungsdesign vielversprechende Rahmungen offeriert die in der gegenwärtigen Diskussion etwas vernachlässigte Gestalttheorie. Zu Gestalt und Gestaltwahrnehmung des Städtischen vergleiche jetzt Lindner 2006.

3

»Alltag«, »Lebenswelt«, »Kontextwissen«, »Biographisierung«, »Geschichte von unten« sind nur einige der Stichworte, die Ulf Matthiesen dazu veranlassen, seit den Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts von einem regelrechten »Doxa-Boom« zu sprechen; vergleiche seinen instruktiven, perspektivisch auf die Deutungsmusteranalyse im Kontext der objektiven Hermeneutik abzielenden Aufsatz (Matthiesen 1997) sowie die profunden Einsprüche, die aus dieser Perspektive gegen die klassentheoretische Spezifizierung des Habitus-Konzept Pierre Bourdieus formuliert worden sind (Matthiesen 1989).

4

Vergleiche zur Thematisierung phänomenologisch instruierter Verräumlichungskonzepte allgemein Waldenfels (2007) sowie die anhaltende Debatte, um die räumlichen Dimensionen des »Milieus« (Grathoff 1989; Matthiesen 1998; Keim 1998; 2003; Somm 2005).

5

Hier findet die Großstadt-Kritik ihr fundamentum in re. Aber auch Erinnerungsoptimismus und normative Überzeichnung, wie sie sich im Idealbild der »europäischen Stadt« artikulieren, verweisen auf das Destruktionspotenzial dieser neuen Vergesellschaftungsform.

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|33|Eigenlogische Strukturen – Differenzen zwischen Städten als konzeptuelle Herausforderung

Martina Löw

»Er fühlte sich bereits als ihren Bruder in Schweigen und Schwermut; dieses schmerzensreiche Brügge war seine Schwester, soror dolorosa. Oh, wie gut hatte er getan, in den Tagen seiner großen Trauer hierherzuziehen!

O stumme Verwandtschaft! Gegenseitiges Sichdurchdringen von Seele und Dingen! Wir dringen in sie ein wie sie in uns.

Vor allem die Städte haben eine Persönlichkeit, einen eigenen Geist, einen fest ausgeprägten Charakter, welcher der Freude, der jungen Liebe, dem Verzicht, dem Witwerstand entspricht. Jede Stadt ist ein Seelenzustand, und kaum hat man sie betreten, so teilt sich dieser Zustand mit und geht in uns über; er ist wie ein Fluidum, das sich einimpft und das man mit der Luft in sich aufsaugt.«

(Gorges Rodenbach in »Das tote Brügge« 1892)

Ausprägungen von Differenzen zwischen Städten sind in aller Munde. Seit Richard Floridas Veröffentlichung »Creative Cities« (2005) weiß jeder Bürgermeister und jede Bürgermeisterin, dass es im Wettbewerb der Städte auf die drei ›Ts‹ ankommt (vgl. die Reden der Bürgermeister/-innen auf deren Homepages): Technologie, Talent, Toleranz. Nachdem der Spiegel (Nr. 34, August 2007: 98ff.) unter dem Titel »Was Städte sexy macht« die Konkurrenz der Städte um die kreative Klasse kommentiert und dokumentiert hatte, veröffentlichte im Februar 2008 die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung die Ergebnisse einer von ihr bei Roland Berger Strategy Consultants in Auftrag gegebenen Studie zum Kreativitätsindex 2008, der die Wettbewerbspotenziale der als relevant erachteten deutschen Großstädte (Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Köln, Leipzig, Frankfurt am Main, Nürnberg, Mannheim, Stuttgart, München) misst.

Daran anknüpfend diskutierten Journalisten und Journalistinnen und Publikum wichtige Fragen bezüglich der Differenzen zwischen Städten, zum Beispiel warum die Frankfurter/-innen nicht wie die Kölner/-innen ein Repertoire an Liedern über ihre Stadt entwickelt haben und warum sie nicht mit den heimischen Biermarken angeben, wie die Kölner/-innen dies tun. Ist es möglich, dass Köln als Stadt sich als regionale Einheit entwirft (s. Karnevalslieder wie »Hey Kölle, du bes e Jeföhl«/Hey Köln, Du bist ein |34|Gefühl), während Frankfurt am Main sich als Knoten im globalen Strom versteht? Debatten dieser Art verweisen auf ein Defizit soziologischer Stadtforschung. Bisher unbearbeitet bleibt die Frage, wie sich historisch gelagerte Sedimente mit Unterscheidungs- bzw. Vernetzungspolitik und Relevanzsetzungen in verschiedenen Skalierungen im Gebilde »Stadt« verschränken.

Auf der eigens eingerichteten Webseite der FAS zu dieser Studie beteiligten sich in den drei Wochen nach Erscheinen bereits 5.000 Menschen an einem Publikumsranking der Städte (http://ranking.faz.net/staedte/index. php, 26.08.2008). Auch die Stadtoberhäupter von München und Berlin, Christian Ude und Klaus Wowereit, sehen es nicht als Zeitverschwendung an, sich eigens zum Schlagabtausch über die Vor- und Nachteile der jeweiligen Stadt zu treffen (München-Magazin 2007: 15ff.), wenn München 850 Jahre alt wird und – wie das Titelblatt des München-Magazins verkündet – sich zu diesem Anlass »neu erfindet«.

Es existiert ein breites Alltagswissen über den ›Charakter‹ von Städten, das vor allem in Zeitungen und Zeitschriften öffentlichkeitswirksam verhandelt wird. Fast täglich sind Sätze wie die folgenden zu lesen:

»Es gibt drei Arten von Städten in Deutschland: Städte wie München, in denen viel Geld verdient, aber auch viel Geld ausgegeben wird; ein Blick auf die Cafés, die Läden und die Sportwagen auf der Maximilianstraße lässt keine Zweifel zu. Dann gibt es Städte, in denen fast überhaupt kein Geld verdient wird, aber dieses Nichts umso entschlossener auf den Kopf gehauen wird: Berlin zum Beispiel. Und es gibt Frankfurt, eine Stadt, in der enorm viel Geld verdient und fast keines ausgegeben wird« (Merian Frankfurt Heft 9, 2003: 136).

Oder: »München zu bussibussi, Hamburg zu kühl, Köln zu schwul, also: Leipzig« (Süddeutsche Zeitung 17./18. März 2007: III). Schließlich auch: »Städte sind wie Menschen. Köln ist der joviale Saufkumpan, Berlin der unrasierte Szenedichter, Amsterdam die hennahaarige Haschischbraut« (Spiegel Online 13. Juli 2007). Immerhin eine kurze Meldung ist der Frankfurter Allgemeinen wert, was im Zeitmagazin Leben (Nr. 32, 2. August 2007: 7) sogar als Karte abgedruckt wird, nämlich in welcher Stadt welche Suchbegriffe bei Google besonders häufig eingegeben werden:

»Begriffe wie Melancholie, Faulheit und Kultur werden in Deutschland nirgends häufiger bei Google eingegeben als in Berlin. Münchner interessieren sich demnach besonders für Karriere, Profit, Sport und Freude. Die Hamburger liegen bei Lust, Spaß, Arroganz und Hass vorn. […] Nach den Begriffen Seitensprung und Leidenschaft wird am häufigsten von Augsburg aus gesucht. Dem Kuss spüren am häufigsten |35|die Ulmer nach, dem Sex die Menschen in Osnabrück« (Frankfurter Allgemeine Zeitung 3. August 2007: 7).

Auch die Planungspraxis lebt davon, die Besonderheiten einer Stadt zu isolieren und daran angepasste Vorschläge für die Raumkonzeption zu erarbeiten. Dabei wird nicht selten davon ausgegangen, dass Besonderung, im Sinne von Strategien zur Erreichung von Unverwechselbarkeit und eigener Potenziale, zunächst zu erkunden ist, um darauf aufbauend passgerechte Lösungen für Städte zu konzipieren. Die Bonner Stadtbaurätin Sigurd Trommer bringt dies im Rahmen des im Jahr 2000 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung aufgelegten Forschungsprogramms »Stadt 2020« exemplarisch zum Ausdruck: »Im Organismus Stadt stecken Unmengen an Begabungen und Erfahrungen«, schreibt sie (Trommer 2006: 37) und schlussfolgert kurz darauf: »Die Chancen der Stadt liegen in ihrer Begabung, ein unverwechselbares Bild zu sein« (Trommer 2006: 42). Sieben der 21 in dem Forschungsvorhaben »Stadt 2020« bewillligten Projekte beschäftigen sich mit »städtischer Identität« (so die gewählte Formulierung), was das Auswahlgremium zunächst überrascht. »In diesen Projekten dominierten Fragen und Probleme der Stadtkultur, der jeweiligen Stadttradition, des Selbstverständnisses einer Stadt und ihrer Bevölkerung« (Göschel 2006: 15).

Das Eigene zu betonen oder – wie München anlässlich seines Jubiläums feststellt – neu zu erfinden, wird als vornehmliche Aufgabe von Städten erlebt. Die wachsende Zahl an Stadtbiografien (Mak/de Keghel 2006; Richter 2005; Large 2002; Elze 2000; Hürlimann 1994; Hibbert 1987; von Bechtoldsheim 1980) ist ein beredtes Beispiel für diese Suche nach dem Eigenen der jeweiligen Stadt.

Der folgende Beitrag wird sich aus soziologischer Perspektive dem Phänomen der Besonderung von Städten nähern. Obwohl sich gerade in den Sozialwissenschaften eine wirkungsmächtige Tradition herausgebildet hat, die das Interesse am Phänomen ›Stadt‹ auf die Lebensverhältnisse in Städten und auf die Bedeutung von Städten für Gesellschaftsentwicklung konzentriert (vgl. ausführlich Berking/Löw 2005), soll das Augenmerk dieses Beitrags auf jene Diskussionsbausteine geworfen werden, welche eine charakterisierende soziologische Stadtforschung vorbereitet haben. Im Kern geht es um die Frage, wie die Soziologie für zukünftige empirische Forschung eine Perspektive auf Städte gewinnen kann, die Unterscheidung nicht nur als Standortvorteile beziehungsweise Image-Kampagnen beobachtet, sondern Strukturen der Reproduktion städtischer Eigenlogiken erfasst |36|(im Folgenden als »Soziologie der Städte« benannt). Dazu soll zunächst die Perspektive auf eigenlogische Strukturen über die Ergebnisse einer exemplarisch ausgewählten britischen Studie plausibilisiert werden, um im nächsten Schritt Eigenlogik als strukturell angelegten Konzeptbegriff vorzuschlagen.

Lokale Strukturen des Fühlens: Manchester und Sheffield

Das britische Forscherteam Ian Taylor, Karen Evans und Penny Fraser veröffentlicht 1996 eine vergleichende Studie über Manchester und Sheffield. Fokus der Untersuchung sind die unterschiedlichen Entwicklungspfade der beiden Städte in Bezug auf Alltagspraktiken. Dahinter steht, wie die Autoren/Autorinnen schreiben, die von Doreen Massey beeinflusste Überzeugung: »It is still sensible, even in these globalising times, to recognise local cultural differences between cities […] and to treat them as having a sociological significance and continuing cultural provenance and impact« (Taylor u.a. 1996: XII).

Über den Vergleich lokaler Praktiken, hier der beiden nordenglischen Industriestädte, werden die verschiedenen Wege, dem Schicksal des postindustriellen Verfalls zu begegnen, nachgezeichnet. Dass Manchester die Herausforderung durch eine »Kultur des Wandels« bewältigt und über Restrukturierung von Arbeitsplätzen wie auch durch Großprojekte wie die Commonwealth Games neue Perspektiven findet, während Sheffield im nostalgischen Gefühl verlorener industrieller Größe verharrt, führen die Autoren/Autorinnen auf den gewachsenen Kanon routinierter und habitualisierter Praktiken zurück (vgl. zu Taylor u.a. auch Lindner 2005: 64). Mit dem Instrument der Fokusgruppe befragte das Team sehr unterschiedliche soziale Gruppen.

Die Idee ist es, dass im Zusammenwirken der Gruppen sich eine Struktur herausbildet, welche Zukunftsoptionen für Städte eröffnet und andere verschließt. Sie versuchen die Textur des Alltagslebens zu rekonstruieren, indem sie mit Gruppen von jungen Professionellen, von Arbeitslosen, Kindern und Jugendlichen, alten Menschen, ethischen Minderheiten sowie Schwulen/Lesben sprechen. Schwerpunkte der Studie sind die Organisation des öffentlichen Nahverkehrs und das Einkaufen. In beiden Fällen interessieren Taylor u.a. sowohl die stadtplanerische Ausgestaltung |37|im Vergleich (Erreichbarkeit, Quantität, Lage) als auch die Erfahrungen der unterschiedlichen sozialen Gruppen mit diesen zentralen Bereichen des Lebens. Die These ist: Wenn es eine Struktur gibt, die die Stadt wie ein Rückgrat durchzieht, dann muss diese in allen sozialen Gruppen aufzuspüren und in der Organisation des öffentlichen Lebens zu analysieren sein.

Tatsächlich sind die Ergebnisse der Studie markant. Beide Städte haben viele Gemeinsamkeiten. Sie verstehen sich als »nördlich« (»Northerness« Taylor u.a. 1996: 73) im Sinne einer distinktiven Selbstbeschreibung, beide haben den langsamen Prozess des Niedergangs der industriellen Fertigung mit dem rapiden Abbau von Arbeitsplätzen erlebt. In beiden Städten ist die Erinnerung an die Zerstörungen der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg und an die Ängste während der Bombardierung noch wach und eine Facette einer Erinnerungspraxis, welche es unmöglich erscheinen lässt, die eigene Geschichte als kontinuierlichen Weg zu Wohlstand und Erfolg zu denken. In Großbritannien sind die Lebensbedingungen der nordenglischen Arbeiterklasse, ihr Leiden unter dem Niedergang der Industrie und ihre Versuche, das Leben neu in den Griff zu bekommen, Gegenstand zahlreicher Fernsehserien und somit in Manchester und Sheffield gleichermaßen eingeübte Erzählpraxis. Trotzdem ist es Manchester, das phasenweise schon als Gunchester galt, so erfolgreich gelungen, in den Bereichen Informatik, Sport und Kultur neue Wachstumsbranchen zu etablieren, dass Manchester 2003 von der EU den Preis für den besten Strukturwandel einer europäischen Großstadt erhielt. Die Frage von Ian Taylor, Karen Evans und Penny Fraser ist weniger, wie lässt sich die unterschiedliche Erfolgskultur erklären, sondern worin artikuliert sich die Differenz.

Das überraschende Ergebnis ist, dass in den Details die Potenz einer Stadt deutlich wird. Nach der Deregulierung des öffentlichen Nahverkehrs und in der Konzeption der neuen Shopping Malls weisen beide Städte Mängel in der Zugänglichkeit der Gebäude und Orte für Rollstuhlfahrer/ innen und Kinderwagen auf, aber Manchester hat wenigstens ein großes Shopping-Center, das in den Fokusgruppen für Barrierefreiheit und Serviceleistungen wie Rollstühle im Parkgaragenbereich gelobt wird.

Es macht den Unterschied ums Ganze, ob Teilhabe in einem großen Areal möglich ist oder ob man vom Einkauf ausgeschlossen wird, ob der Eindruck erweckt wird, dass die städtische Umstrukturierung Belange jenseits der Mehrheit bedenkt oder nicht. »The way in which that shopping is undertaken through these different urban spaces is a key element in the |38|construction of a personal sense of the city for citizens« (Taylor u.a. 1996: 160). Auch der Umgang mit Bettlern/Bettlerinnen unterscheidet sich, Taylor u.a. zufolge, in Manchester und Sheffield. In Manchester ist Betteln und damit Armut nicht verborgen, das Zusammentreffen von Arm und Reich in der City ist Alltag. In Sheffield weiß man um die Armut, aber begegnet ihr kaum. Manchester gilt heute als Mekka der Schwulen und Lesben. Es existiert ein »Gay Village«, das heißt eigener Raum mit einer Reihe von Weinbars und Restaurants, die an die homosexuelle Gemeinschaft adressiert sind. An dieser Stelle ist es Manchester gelungen mit dem Zentrum von England, sprich London, in Konkurrenz zu treten. Die Szene in Manchester gilt als attraktiv und vielfältig, aber gleichzeitig als freundlicher und persönlicher als in London und attrahiert auf diese Weise junge Männer und Frauen (und zwar nicht nur Schwule und Lesben, sondern eine lebendige Gay-Szene gilt als Zeichen für ein tolerantes Umfeld und zieht damit sehr unterschiedliche Gruppen an). In Sheffield liegt die nicht-weiße Population unter dem nationalen Durchschnitt, in Manchester ist sie mit 12,6 Prozent zum Zeitpunkt der Studie mehr als doppelt so hoch. Nun kann und muss man auf der einen Seite sagen, dass Rassismus und Angst prägende Diskursstränge und Alltagserfahrungen insbesondere in Manchester sind, auf der anderen Seite erlaubt aber gerade die Anwesenheit der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen in Manchester, die eigene Stadt als Metropole, als kosmopolitisch, als international und nicht zuletzt als »capital of the North« (Taylor u.a. 1996: 205) zu erfahren.

Vielleicht sind die Gespräche mit alten Menschen sogar ein besonders guter Gradmesser für die Logik einer Stadt. In beiden Städten ist Nostalgie ein Thema in diesen Gruppen, aber in Sheffield sehr viel ausgeprägter. Man trauert nicht um Menschen oder um Orte, sondern um Perioden. Die Stadt der Stahl- und Besteckindustrie wird in den Diskussionen heraufbeschworen und das, obwohl die Mehrheit der Diskutanten keine eigene Beziehung zu diesen Industriezweigen hat (Taylor u.a. 1996: 247). Sheffield wird erfahren als eine Stadt, die mal ein besserer Platz zum Leben war. In Manchester ist die Einschätzung viel widersprüchlicher. Für die älteren Menschen existieren viel mehr Netzwerke und soziale Angebote, die die Vergangenheit überlagern und die Gegenwart auch in einem positiveren Licht erscheinen lassen. In den Fokusgruppen mit Jugendlichen ist die Unterscheidung offensichtlich. Manchester wird als Stadt des Umbruchs und als einzigartig charakterisierbar erfahren, Sheffield dagegen wird in erster Linie über die Vergangenheit und die Trauer über das verlorene |39|Potenzial erlebt. Manchester wird wahrgenommen als eine junge Stadt im Norden, Sheffield als eine Durchschnittsstadt. In Sheffield dominiert das Wissen um Verlust, in Manchester das Gefühl, (individuelle) Lösungen finden zu können.