Die einen tragen Steine, die anderen Gold - Daniel Schulze - E-Book

Die einen tragen Steine, die anderen Gold E-Book

Daniel Schulze

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Beschreibung

Viele Menschen beginnen in einer schweren Krise nicht nur gegen das Leid, sondern auch gegen Gott zu kämpfen. Doch wenn wir verstehen, dass wir anhaltende Krisen in Phasen erleben und verarbeiten können, besteht Grund zur Hoffnung! Hoffnung, dass wir mitten in dieser Welt mit ihrem unlösbaren Schmerz voller Akzeptanz und Frieden leben können. Daniel Schulze teilt sein eigenes starkes Zeugnis von diesem Prozess der inneren Heilung in unheilbarer Krankheit. Er öffnet mit seinem 5-Phasen-Modell der »Fünf Länder der Heilung« eine neue, anwendungsstarke Orientierung für Betroffene. Sehr persönlich gibt er Einblick, wie man den Glauben als Ressource für die Krisenbewältigung nutzen kann.

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Seitenzahl: 251

Veröffentlichungsjahr: 2025

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DANIEL SCHULZE (Jg. 1989) ist Pastor in Annaberg-Buchholz im Erzgebirge. Kurz vor der Hochzeit mit seiner Frau Miriam erhielt er die Diagnose einer Autoimmunerkrankung mit chronischen Folgen. Das legte eine schwere Last auf die junge Ehe und prägte seine Beziehung zu Gott intensiv. Nach einem Jahr des Stillstands studierte Daniel Theologie im Schwarzwald und wurde 2019 zum Pastor im »Bund Freikirchlicher Pfingstgemeinden« ordiniert.

»Wir können im Leben mehr mit Loslassen und Annehmen gewinnen als mit Kämpfen.«

Jeder Mensch geht mit Schmerz anders um. Die einen fallen in eine tiefe Glaubenskrise, die anderen klammern sich in ihrer Not an Gott, finden wie durch ein Wunder trotz der Krise einen Zufluchtsort. Alles, was passiert, kann uns von Gott wegführen oder uns zu ihm hinziehen. Vielleicht kann Gott durch den Schmerz dieser Krise eine Heilung bewirken, die ohne diesen schweren Stein nicht möglich gewesen wäre? Daniel Schulze hat das erlebt – und erzählt von seinem Weg wunderschön, klar und voller Zuversicht.

MIT EINEM VORWORT VON THOMAS HÄRRY

»Daniel ist einer, der Gold gewonnen hat in den tiefsten Krisen seines Lebens. Was Jesus ihm geschenkt hat, ist wundervoll. Daniels Buch ist eine wahre Schatzkammer – und wird zum echten Herzgewinn.«

RALF KNAUTHE / Vorsitzender »Stoffwechsel e.V. Dresden« und Autor

»Was dieses Buch so wertvoll macht, sind drei Dinge: die ungeschminkte Ehrlichkeit des Autors, sein lebensfroher Humor und die reife, oft unerwartete Perspektive, mit der Daniel beschreibt, was Gott ihm auf seinem Weg durch das erlebte Leid Wertvolles schenkt. Gottes Schönheit und Kraft leuchten in seinen Worten.«

THOMAS HÄRRY / Autor, Referent

und Berater von Führungskräften »Das ist ein Buch, das mich berührt, mich zum Weinen und Lachen bringt. Eine Geschichte, die meinen Blick auf das Leben nachhaltig verändert. Ein tiefgründiger Begleiter durch Lebenskrisen und Schicksalsschläge. Für alle, die lernen wollen, ihren Blick für die Schönheit des Lebens mitten im Schmerz zu schärfen.«

PRISKA LACHMANN / Autorin

D A N I E L    S C H U L Z E

Die einen tragen Steine, die anderen Gold

Ein geistlicher Wegbegleiter für chronische Krisen

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG („Text und Data Mining“) zu gewinnen, ist untersagt.

ISBN 978-3-417-27123-2 (E-Book)

ISBN 978-3-417-01030-5 (lieferbare Buchausgabe)

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

© 2025 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Str. 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de · E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel, © der deutschen Ausgabe 2002 und 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Weiter wurden verwendet:

Lutherbibel, revidiert 2017, © 2016 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart. (LUT)

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen. (ELB)

Das Buch. Neues Testament – übersetzt von Roland Werner, © 2009 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen. (DBU)

Lektorat: Christiane Kathmann, www.lektorat-kathmann.de

Umschlaggestaltung und Titelbild: Andreas Sonnhüter; grafikbuero-sonnhueter.de

Autorenfoto: © Daniel Schulze

Satz: typoscript GmbH, Walddorfhäslach

Für meine wunderbaren Töchter Jaliah, Salomea und Anouk

Inhalt

Vorwort von Thomas Härry

Vorwort von Miriam Schulze

Einleitung

1  Im Land der Verdrängung

2  Im Land des Kampfes

3  Im Land der Trauer

4  Im Land der Akzeptanz

5  Im Land Gottes

Nachwort

Danke

Vorwort von Thomas Härry

»Nein, das habe ich so nicht bestellt. Bitte zurück an den Absender!« Schon öfter formten sich diese Worte in meinem Kopf, wenn sich mein Leben mal wieder ganz anders entwickelte, als ich es mir gewünscht hatte. Doch was sich bei fehlgeleiteten Postsendungen am Schalter rasch erledigen lässt, funktioniert im Leben nicht. Es gibt keine Rückgabestelle für Schicksalsschläge, Krisen, Krankheit oder Scheitern.

Ich bin ein Mensch, der das Unangenehme, das ihn ereilt, erst mal von sich weist. Ich tue, als wäre es nicht da, als wäre nichts passiert. So wie damals, als mein Arzt bei einer Untersuchung Asthma diagnostizierte und mir Medikamente verschreiben wollte. »Nein, brauche ich nicht!« war meine Antwort. Drei Wochen später, nachdem ich beim Joggen fast erstickt war, ließ ich sie mir zähneknirschend doch geben.

Oder wie vor zwei Jahren, ich befand mich in einer Buchhandlung und stöberte in Neuheiten, als mich mein Bruder anrief: »Vater ist gerade gestorben!« Ich setzte mich auf einen Stuhl, stammelte ein paar unbeholfene Worte und legte wieder auf. Minutenlang saß ich da, blätterte ziellos in einem Buch und begriff nur langsam, wie absurd mein Verhalten war. Ich gehörte nicht an diesen Ort, ich gehörte zu meiner Familie! Jetzt erst kam ich in Bewegung und brach schleunigst auf …

Nun ist diese Reaktion in einem solchen Kontext nicht dasselbe, wie wenn man Dinge anhaltend verdrängt. Dennoch: In manchen Momenten bin ich ein Verdränger. Nicht grundsätzlich, aber oft dann, wenn etwas sehr Unerwünschtes eintrifft. Dann ist er wieder da, der Satz in meinem Kopf: »Nein, das habe ich so nicht bestellt!«

Dabei sind meine bisherigen Erfahrungen mit den Zumutungen des Lebens von weit geringerer Tragweite als die, von denen Daniel Schulze in diesem Buch erzählt. Umso mehr staune ich darüber, wie er mit einer Krankheit umgeht, die ihm enorm viel abverlangt. Natürlich, auch Daniel kennt den Verdrängungsreflex. Aber er nimmt ihn zum Ausgangspunkt für eine Reise, die zwar dort beginnt, aber nicht damit endet. Was Daniel Schulze über seine Auseinandersetzung mit Kampf, Trauer und Heilung schreibt, geht tief unter die Haut.

Was dieses Buch so wertvoll macht, sind drei Dinge: Da ist als Erstes die Ehrlichkeit des Autors. Daniel gibt einen ungeschminkten Einblick in die Gedanken und Gefühle, die seine Krankheit bei ihm auslöst. Bei all dem damit verbundenen Schmerz werden die Leser aber nicht in dunkle Tiefen hinabgezogen. Nein, denn die zweite Qualität dieses Buchs zeigt sich im Humor und einer gewissen Leichtigkeit, die darin immer wieder aufblitzt. Daniel bleibt ein lebensfroher Mensch – einer, der sich nicht unterkriegen lässt. Einer, der nicht verlernt hat, zu lachen und sich am Guten zu freuen. Schließlich überzeugt mich ein Drittes: die reife, oft unerwartete Perspektive, mit der Daniel beschreibt, was Gott ihm auf seinem Weg Wertvolles zeigt und schenkt. Er verzichtet auf all die viel gehörten und unbedachten Floskeln, die auch Christen beim Thema Leid und Krankheit von sich geben. Stattdessen schenkt er uns eine beeindruckende Mischung von persönlichen Einsichten, biblischen Perspektiven und lebenstauglichen Orientierungshilfen – gewürzt mit einem Maß an Weisheit, Reife und kluger Einschätzung, das mich staunen lässt.

Ich hatte in den vergangenen Jahren das Vorrecht, einen tieferen Einblick in das zu bekommen, was Daniels Herz bewegt. Es beeindruckt mich, wie er herausfordernde Situationen bewältigt und darin den Weg nach vorne sucht. Er weicht Hindernissen nicht aus, sondern stellt sich ihnen. Er tut dies als ein vom Glauben an Jesus Christus erfüllter Mensch. Gottes Schönheit und Kraft leuchten in seinen Worten genauso auf wie in den Liedern, die er schreibt (in diesem Buch werden Sie einige davon kennenlernen).

Die einen tragen Steine, die anderen Gold beschreibt den glaubwürdig gestalteten Weg eines Menschen, der nicht versucht, das, was er nicht bestellt hat, an den Absender zu retournieren. Dennoch bleibt Daniel Schulze nicht passiv, sondern wendet sich an Gott und bittet ihn um eine Bedienungshilfe.

Genau das brauchen wir, wenn uns das Leben überfordert und die Umstände sich nicht so leicht zum Guten verändern lassen: eine Anleitung zum Umgang mit dem Neuen, Ungewohnten und Schwierigen, was uns da gerade zugemutet wird. Daniel Schulze teilt genau das mit uns, damit wir nicht ratlos bleiben, wenn uns wieder einmal eine Sendung erreicht, die wir nicht bestellt haben.

Aarau im Sommer 2024Thomas Härry

Vorwortvon Miriam Schulze

Gemeinsam sind wir unterwegs auf unserer Reise mit einer chronischen Krankheit im Gepäck. Als ich Daniel im Sommer 2010 geheiratet habe, wusste ich, dass Krankheit nun Teil meines Lebens sein würde. Mir war sehr bewusst, dass ich JA dazu gesagt hatte, dass mein Mann möglicherweise eine kürzere Lebenserwartung hatte als andere. Auch wenn ich mir unsicher war, wie dieser Weg aussehen würde, wollte ich ihn mitgehen. Diese Ungewissheit, wie viel Zeit uns zusammen bleibt, lässt mich jeden Tag neu dankbar werden für diesen Tag. Jeder neue Morgen ist ein Geschenk für mich. Vielleicht ist das in diesen Jahren mein größter Schatz geworden.

Ich habe mich am Anfang unserer Ehe entschieden, Daniels Erkrankung als einen Teil unseres Lebens zu integrieren. Obwohl ich selbst nicht chronisch krank bin, habe ich die verschiedenen Länder der Heilung, von denen Daniel in diesem Buch schreibt, ebenfalls erlebt – in anderer Geschwindigkeit und eigener Intensität. Mein Wunsch, zu verstehen, was mit fortschreitender Krankheit auf uns zukommt und wie wir unser Leben aktiv verbessern und gestalten können, hilft mir, mich nicht hilflos oder ohnmächtig zu fühlen, sondern mein Leben aktiv zu gestalten.

Trotzdem bin ich auch immer wieder an meine eigenen Grenzen gestoßen. Das Leid in all seinen Facetten zu spüren, auszuhalten und durchzuhalten, kostet mich viel Kraft. Die alltäglichen Herausforderungen lasten auch auf mir. Manchmal sind sie schwer zu tragen, an anderen Tagen sind sie leichter. Allein könnte ich den Weg nicht gehen und es ist ein großes Geschenk, dass wir ihn als Ehepaar gemeinsam gehen können, dass wir nicht versuchen, uns jeder alleine durchzukämpfen. Daniel hat mir all die Jahre dabei geholfen, dass ich mit ihm weitergehen kann. Sein Humor, seine positive Lebenseinstellung, seine Liebe und Hingabe an Gott verwandeln mein Leben und meinen Glauben. In den schwierigsten Zeiten haben wir angefangen, die kleinsten guten Dinge in unserem Leben zu genießen. Es gab Tage, da reichte die Kraft nicht mehr aus. Alles Wichtige musste unwichtig werden und wurde abgesagt. Mitten in Schmerz, Trauer und Verlust haben wir uns aufgemacht, das Gute zu suchen: das Vogelgezwitscher, den Sonnenuntergang oder einen leckeren Tee. Das Gute und das Schlimme liegen oft direkt nebeneinander. Ich schaffe es, diesen Weg weiterzugehen, weil ich mich entscheide, dass das Gute schwerer wiegen soll als das Schlimme.

Es ist eine Entscheidung, und diese Entscheidung verändert alles. Das habe ich in über vierzehn Ehejahren immer wieder erlebt. Während dieser Zeit hat sich mein Gottesbild sehr stark verändert. Denn trotz all des Leids und Verlusts ist mir Gott überaus liebevoll, gnädig, sorgend und großzügig begegnet. In jedem neuen Abschnitt konnte ich neue Facetten an Gottes Wesen entdecken. Viele biblische Geschichten haben sich durch mein trauriges, verzweifeltes und ängstliches Herz ganz anders angefühlt. Ich habe erfahren, dass Gott sich im Leid zu mir stellt und mir die Sicherheit gibt, dass ich nie allein bin. Vieles wird im Angesicht von Krankheit und Leid unwichtig und Sinn-los, und das kann ein kostbarer Schlüssel sein, um das Leben in seiner Einfachheit zu entdecken.

Mein Gebet ist, dass dieses Buch Menschen in chronischen Krisen Kraft und Zuversicht bringt, um verborgene Schätze zu bergen und Wertvolles im Alltag zu entdecken. Ich bete dafür, dass es Ihnen Mut gibt, sich auf Neues einzulassen und Gott darin neu zu begegnen. Mein Herzenswunsch ist, dass dieses Buch bedrückten und geplagten Herzen einen Hoffnungsschimmer bringt.

Annaberg-Buchholz im Sommer 2024Miriam Schulze

Einleitung

Wenn man als junger Mann von seiner chronischen Krankheit erzählt, erntet man betroffene Blicke. Der eigene Verlust wird oft in den Augen der anderen Menschen sichtbar. Doch es hat auch einen Vorteil, wenn man diese Herausforderung schon früh angehen muss: Man ist noch anpassungsfähig und veränderungsbereit. Die Krise reißt einen nicht aus einem Leben heraus, in dem man sich bereits eingerichtet hat. Man ist noch nicht angekommen, sondern findet überall neue Abenteuer. In meinem Fall folgten auf die Turbulenzen der Jugend ziemlich schnell die Turbulenzen einer schwerwiegenden Autoimmunkrankheit. Plötzlich wurde ich zu einer Reise aufgerufen, die ich mir nicht ausgesucht hatte. Sie sollte mich näher zu mir selbst, zu Gott und zu anderen Menschen führen. Sie würde meine Grenzen offenbaren und mir die wichtigen Dinge des Lebens zeigen.

Auf diesem Weg habe ich etwas entdeckt, was ich die fünf Länder der Heilung nenne. Es sind fünf Stationen im Verarbeiten einer Krise, die sich sehr unterschiedlich anfühlen. Immer wieder musste ich meine Sicht auf mich selbst, auf das Leben und auf Gott verändern lassen. Die einzelnen Länder provozierten starke Gefühle und zeigten unüberwindbare Grenzen auf. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, diese Länder zu erkunden und Wege zu finden, die mich weiterbringen. Dabei habe ich Menschen getroffen, die sich in einem bestimmten Land eingerichtet hatten. Ich konnte ihren Schmerz fühlen, weil ihre Hoffnung unbeantwortet blieb. In fünfzehn Jahren chronischer Krankheit habe ich diese Länder bereits dreimal durchlaufen, denn im Leben ergeben sich immer wieder neue Herausforderungen, die dafür sorgen, dass wir uns erneut in dem einen oder anderen Land wiederfinden. Jedes Kapitel des Buches widmet sich einem dieser Länder und beschreibt, wie es sich anfühlt, wie man darin leben kann und wie man Wege findet, die einen weiterführen.

Die fünf Länder der Heilung sind inspiriert von den Phasen der Trauer, wie wir sie aus der Psychologie kennen. Sie beschreiben den inneren Weg eines Menschen, der einen großen Verlust hinnehmen musste. Dieser Verlust kann unterschiedlich aussehen, vielleicht haben wir einen geliebten Menschen verloren, vielleicht wurde der Herzenswunsch nach einem Kind oder einem Partner nicht erfüllt oder eine chronische Krankheit oder eine Behinderung wurde bei uns selbst oder einem nahen Angehörigen diagnostiziert. Plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Weil das Leben aber weitergeht, ist es von immenser Bedeutung, dass wir die Herausforderung annehmen und den Verlust verarbeiten, um (wieder) ein erfülltes Leben zu finden.

Meine Gedanken zu diesem Thema speisen sich aus zwei Quellen: Da sind zum einen meine zahlreichen persönlichen Erfahrungen und zum anderen meine intensive Beschäftigung mit der Bibel. In vielen Predigten habe ich mich mit Leid, Krankheit und ihrer Bewältigung befasst. Die Bibel wurde mir auf meinem Weg zum größten Schatz, denn sie ist auf der einen Seite ehrlich und auf der anderen Seite voller Barmherzigkeit für leidende Menschen. Die Bandbreite ist nicht zu überbieten, denn die Heilige Schrift beschreibt Menschen in den unterschiedlichsten Lebenssituationen und zeichnet die Hoffnung eines Lebens in versöhnter Beziehung mit sich selbst, Gott und anderen.

Ich möchte Ihnen mit diesem Buch einen Reiseführer an die Hand geben, denn ich wünsche mir, dass niemand auf dem Weg der Heilung und des Heilwerdens – innerlich wie äußerlich – stehen bleibt, sondern immer einen neuen Ansatz findet, weiterzugehen. Ich wünsche mir, dass Menschen, die schon seit langer Zeit nicht mehr weiterkommen, neue Wege finden und mehr Heilung für ihre Seele und ihren Körper erlangen. Ich hoffe, dass auch sie erleben, wie Steine zu Gold werden. Dabei geht es mir nicht darum, dass jede Last verschwinden oder ins Gute verwandelt werden muss. Doch auf diesem Weg können wir Schätze finden, die das Leben inmitten der Schwierigkeiten lebenswert machen.

Dieses Buch kann außerdem Menschen bereichern, die andere auf ihrer Reise begleiten. Denn die Art, wie wir helfen können, verändert sich in jeder Phase der Bewältigung. Was in dem einen Land richtig ist, kann in dem anderen zur Belastung werden. Deshalb gibt meine Frau Miriam am Ende jedes Kapitels Tipps für Angehörige. Wir sind nicht nur den Weg gemeinsam gegangen, sondern sie hat sich auch in ihrer Masterarbeit intensiv mit der Bewältigung von chronischen Krankheiten auseinandergesetzt.

Ich habe darauf verzichtet, eine chronologische Lebensgeschichte zu erzählen. Meine persönlichen Eindrücke orientieren sich stärker am Thema des jeweiligen Landes, auch wenn die zeitliche Ordnung dafür hin und wieder aufgegeben wird.

Als Musiker und Songwriter ist mir der Klang der Sprache besonders wichtig. Deshalb habe ich in diesem Buch bewusst auf Formulierungen verzichtet, die alle Geschlechter explizit einbeziehen. Auch wenn es die Wörter nicht immer ausdrücken können, wendet sich dieses Buch an alle Menschen, die sich mit mir auf den Weg durch die fünf Länder der Heilung begeben wollen.

1

Im Land der Verdrängung

Von der Kunst, aufzuwachen

Feuer! Im untersten Schacht lodern Flammen und fressen sich langsam nach oben. Balken knarren unter der Hitze und drohen einzustürzen. Ich starre auf den Überwachungsbildschirm des Bergwerks und kann nicht glauben, was dort in der Tiefe vor sich geht. Das Feuer ist noch weit entfernt, aber in diesem Moment kann ich seine Gegenwart innerlich spüren. Was soll ich tun? Soll ich in die unteren Etagen gehen, um alle Menschen zu evakuieren, oder um mein Leben rennen? Ich entscheide mich dafür, tiefer zu gehen, dem Feuer entgegen, und zu retten, was noch zu retten ist.

Auf meinem Abstieg wundere ich mich über diesen seltsamen Ort. In den oberen Ebenen des Bergwerkes sind Büroräume eingerichtet, mit Hunderten Menschen, die emsig an ihren Computern arbeiten oder Besprechungen abhalten. Erst in den tieferen Ebenen wird man daran erinnert, dass man in einem Bergwerk ist. Dreckige Männer treiben mit einfachem Gerät verschlungene Gänge in den Berg. Je tiefer ich komme, desto mehr nimmt das Feuer meine Gedanken in Besitz. Es kann nicht mehr weit sein. Es zieht mich in die unterste Ebene. Sie ist menschenleer, so leer, dass man den Eindruck hat, als wären sie nicht geflohen, sondern als wäre nie jemand hier gewesen. Ich spüre die Hitze auf meinem Gesicht, während mir ein flackernder Schein entgegenkommt, der sich an den Wänden spiegelt.

In diesem Moment wache ich auf und versuche, mich daran zu erinnern, wo ich bin. Die Sonne ist schon aufgegangen und sucht sich durch die Ritzen des Vorhangs einen Weg in mein Zimmer. Das Einzige, was mich noch an das Feuer erinnert, ist der Schweiß auf meiner Stirn.

Als ich an diesem Tag unterwegs bin, denke ich über den Traum nach. Mir schaudert immer noch bei dem Gedanken an das Bergwerk, aber meine Intuition sagt mir, dass es sich nicht um einen gewöhnlichen Albtraum gehandelt hat. Hier muss es eine Botschaft für mich geben. Ganz bewusst lasse ich meine Gedanken schweifen, ich schaue über die Wiese zu den Bäumen am Ufer des Flusses.

Plötzlich trifft mich ein neuer Gedanke und ich bleibe kurz stehen. Was ist, wenn das Bergwerk meine Seele ist? So wie das Bergwerk unter der Oberfläche liegt, ist auch mein Innerstes unsichtbar. Wenn im tiefsten Teil meiner Seele Feuer ausgebrochen wäre – würde ich es bemerken? Wie lange müsste es brennen, damit es auch die bewussteren Teile meiner Psyche erreicht? Ein paar Wochen, Monate oder Jahre?

Ich erinnere mich, wie real mir die Flammen in meinem Traum vorgekommen sind, und bekomme eine Ahnung, dass dieses Feuer wirklich in mir brennt. Irgendetwas in meinem Leben geht gerade schief und ich muss herausfinden, was es ist. Die Bäume stehen immer noch still am Wasser, aber in mir hat sich alles verändert. An diesem Tag werde ich zum zweiten Mal wach.

Dieses zweite Aufwachen haben schon viele Menschen erlebt. Man hat sich einer Illusion hingegeben, Gedankenschlösser gebaut, im Traum gelebt. Man wollte etwas nicht wahrhaben, hat einfach weitergelebt und die Augen vor der Wirklichkeit verschlossen. Aber jeder Traum geht einmal vorbei. Ein Leben bricht in Sekunden zusammen, weil Menschen die Anzeichen vorher nicht sehen konnten oder wollten. In Beziehungen ist das manchmal so. Plötzlich ist alles aus. Oder im Bereich der Gesundheit.

Leider musste ich das schon mehrfach erleben. Im Nachhinein ist mir vollkommen unverständlich, wie ich so lange blind für die Wahrheit sein konnte.

Doch bevor ich von meinem ersten großen Erwachen erzähle, das der Anstoß für meine lange innerliche Reise wurde, will ich mehr über den Schlaf und das Traumleben schreiben, die dem Ganzen vorausgehen: die Verdrängung.

Wie und warum funktioniert Verdrängung? Und wie können wir verhindern, dass wir die Brandherde in unserem Leben ignorieren und im Land der Verdrängung stecken bleiben, bis die Herausforderung so groß geworden ist, dass wir sie gar nicht mehr ignorieren können?

Wenn wir von einer schweren Krankheit oder anderem Leid betroffen sind, dann finden wir uns meistens als Erstes im Land der Verdrängung wieder. Das klingt sehr negativ, aber das ist der Ort, an dem die Heilung beginnen kann.

Gründe erforschen

Warum verdrängen wir Dinge, die uns unangenehm sind? Dafür gibt es eine einfache Erklärung: Das menschliche Gehirn ist auf Funktionalität ausgerichtet. In jedem Sinnesorgan sind schon in der Vorverarbeitung Filter eingebaut, die helfen, das Signal zu vereinfachen. Nur ein winziger Teil unserer Wahrnehmung kommt auf einer bewussten Ebene an, der Rest wird aussortiert, weil er in diesem Moment weniger wichtig erscheint. Ohne diese Grundeinstellung könnten wir nicht leben. Wir wären so überfrachtet von nebensächlichen Informationen, dass wir unsere Handlungsfähigkeit einbüßen würden.

Wir können jedoch nicht nur nebensächliche Alltagsinformationen verdrängen, sondern auch vieles, was mit unserem inneren Erleben zu tun hat. Das Online-Lexikon für Psychologie und Pädagogik definiert Verdrängung als wichtigsten Abwehrmechanismus der menschlichen Seele. Angstauslösende Erinnerungen, Gefühle oder Gedanken werden dadurch aus dem Bewusstsein ins Unterbewusstsein gedrängt, sodass man ihnen nicht mehr ausgesetzt ist und auch in schwierigen Situationen handlungsfähig bleibt.

Meistens ist dieses System durchaus sinnvoll und zielführend. Wenn wir uns beispielsweise in den Finger schneiden, spüren wir den Schmerz, und der Finger beginnt zu bluten. Ist es nur eine kleine Verletzung, dann holen wir ein Pflaster, behandeln die Wunde und arbeiten weiter. Normalerweise spüren wir dann gar keine Schmerzen mehr (außer wenn wir auf die Wunde fassen). Diese werden einfach verdrängt. Unser Körper hat ein unglaubliches Potenzial der Selbstheilung. Ganz nebenbei wächst die Wunde wieder zusammen und nach wenigen Tagen ist von alldem nichts mehr zu sehen. Das ist unser hauptsächlicher Umgang mit Schmerzen und anderen Symptomen. Sie werden kurz wahrgenommen, eventuell oberflächlich behandelt und dann verdrängt.

Dieses Prinzip lernen wir von Kindesbeinen an, da wird auf die Wunde gepustet und ein buntes Pflaster draufgeklebt und alles ist wieder gut. Doch obwohl dieses »Kurz wahrnehmen und dann ignorieren« die meiste Zeit die beste Arbeit verrichtet, kann es uns an anderer Stelle in größte Schwierigkeiten bringen, denn es gibt Krankheiten, die nicht von selbst heilen. Es gibt Feuer, die in den Tiefen des Körpers oder der Seele ausbrechen und uns das Leben kosten können. Vor diesem Feuer können wir uns nicht in Sicherheit bringen, sondern es braucht den Mut, in die tieferen Ebenen der Seele vorzudringen, um den wahren Grund des Brandes zu finden und ihn zu löschen.

Die Verdrängung ist deshalb so gefährlich, weil wir nicht wahrnehmen, dass wir verdrängen. Wie sollten wir auch erkennen, was die Seele mit viel Mühe ausblendet? Sie bewirkt einen blinden Fleck, dem wir nur indirekt auf die Schliche kommen können. Wie schon gesagt, die Seele hat viel Mühe mit der Verdrängung und genau hier liegt eine Möglichkeit, ihr auf die Schliche zu kommen. Wer viel verdrängt, hat weniger Kraft für andere Aktivitäten. Man fühlt sich in gewöhnlichen Situationen blockiert und kann sein volles Potenzial nicht ausschöpfen. Die Verdrängung ist zwar unsichtbar, aber nicht ihre Wirkung.

Man kann Verdrängung manchmal auch am Konsum von Medikamenten erkennen. Natürlich sind Medikamente ein großer Segen, wenn unser Körper krank ist, aber in ihnen steckt auch eine Versuchung, denn man kann sie verwenden, um Signale des Körpers oder der Seele auszuschalten. Durch Schmerzmittel ist es möglich, weiterzuarbeiten, wenn man sich schonen müsste, und wenn man nachts nicht zur Ruhe kommt, helfen Schlafmittel. Andere Medikamente unterstützen die Verdauung, verhindern die Übersäuerung des Magens, senken den Blutdruck oder den Cholesterinspiegel oder erhöhen die Konzentration. Für fast jedes Leiden gibt es ein Medikament mit dem Versprechen, dass man einfach so weitermachen kann wie bisher. Steht die Menge der Tabletten, die wir nehmen, im Verhältnis zu dem Grad, wie wir unser Leben verändert haben, um den Signalen des Körpers zu begegnen? Sprich: Geht das blutdrucksenkende Mittel beispielsweise einher mit weniger Arbeit und Stress sowie mehr Sport und gesünderem Essen? Wenn wir jede Menge Medikamente nehmen, aber immer noch so leben, als würden wir keine Tabletten brauchen, dann verdrängen wir höchstwahrscheinlich etwas und benutzen die Medikamente als Mittel, um unser Leben nicht zu ändern.

Genau darin liegt das Ziel der Verdrängung. Sie ist ein Schutz vor Veränderung. Sie will negative Reize nicht an uns heranlassen, weil wir sonst nicht so weitermachen könnten wie bisher. Wir wollen funktionieren und unser Tempo selbst diktieren. Wir sehen uns wie eine Maschine, die unserem Geist untertan sein muss, und wollen von unserer Bedürftigkeit nur wenig wissen.

Die Verdrängung geschieht auch dann, wenn wir Situationen erleben, die wir nicht ertragen können. So wie man bei einem Film wegschaut, wenn er zu intensiv wird, kann man auch im eigenen Leben die Augen vor der Wahrheit verschließen, um zu überleben. Manchmal wird der psychische oder körperliche Schmerz zu groß. Oftmals sagen wir in diesen Situationen: »Ich kann es nicht begreifen« oder »Ich kann es nicht fassen«, und so ist das Verdrängen wiederum erst mal ein Schutz. Was in der Notsituation sinnvoll ist und uns schützt, macht auf Dauer krank. Denn auf der Ebene des Unterbewussten müssen wir es trotzdem fassen. Wir können nicht ungeschehen machen, was uns passiert ist, und es kommt der Zeitpunkt, wo wir unsere größten Ängste konfrontieren müssen. Bleiben sie zu lange in der Dunkelheit, dann entwickeln sie ein Eigenleben und fressen sich wie ein Feuer langsam an die Oberfläche.

Strategien entlarven

So wie es unterschiedliche Gründe für Verdrängung gibt, nutzen wir auch verschiedene Wege, diese umzusetzen.

SOLANGE DIE TAGE DAHINFLIESSEN WIE EIN STROM, WIRD HOFFENTLICH DAS FEUER IM EIGENEN HERZEN KEINEN SCHADEN ANRICHTEN.

Da wäre zum Beispiel die Überlastung. Die Wunde am Finger vergisst man schnell, wenn man einfach weiterarbeitet. Mit diesem Prinzip kann man auch andere Symptome sehr gut betäuben. Man stürzt sich in Arbeit, nicht weil diese gerade erledigt werden muss, sondern um vor dem Schmerz zu fliehen. Solange der Kalender gefüllt bleibt, ist die Seele beruhigt, solange die Tage dahinfließen wie ein Strom, wird hoffentlich das Feuer im eigenen Herzen keinen Schaden anrichten.

Die jüngere Generation hat die Flut der Informationen zur Betäubung entdeckt. Man taucht in das Leben der anderen ein, ist mal hier, mal da, aber wird nicht heimisch bei sich selbst. Doch egal auf welche Weise die Überlastung erreicht wird, der Weg der Überlastung ist immer ein gottloser Weg, denn die Begegnung mit Gott braucht regelmäßigen Freiraum für sich selbst und die Beziehung zu ihm und anderen.

Hinter der Verdrängung steht oft Bequemlichkeit. Im Grunde genommen wollen wir, dass alles in Ordnung ist, warum sollte man sich auch unnötige Sorgen machen? Wenn dann keine negativen Impulse von innen kommen, lässt man sich gerne täuschen.

Wir Christen nutzen auch gerne unseren Glauben, um die Wahrheit zu verdrängen. Der Glaube, Gebet und Fürbitte sind eine riesige Ressource, aber das alles kann auch missbraucht werden, um sich der Wahrheit nicht zu stellen. Wir benutzen geistlich klingende Formulierungen, doch letztlich sind es nur Verdrängungsmechanismen, die fromm angestrichen wurden und die wir als Vorwand nehmen, um uns nicht mit unserem Innersten beschäftigen zu müssen: Wir sprechen Gebete, um das Böse fernzuhalten und das Gute anzulocken, und hoffen auf die schützende Hand Gottes, die sich schon im Voraus um alle Probleme kümmern soll. (Wenn Sie das an heidnische Religionen erinnert, dann liegen Sie richtig.) Wir wollen glauben, dass dort in der Tiefe kein Feuer brennt, und wir nehmen jede Beruhigung gerne an. Die gefährlichste Lüge ist die, die man glauben will.

Letztlich wird man diesen inneren Ort nur finden, wenn man es wirklich will und wenn man bereit ist, den Preis dafür zu bezahlen. Doch ich bin überzeugt, dass Gott jeden Menschen tiefer zu ihm und tiefer in seine eigene Seele führen will, und das geschieht nicht, indem Gott alle Probleme von uns fernhält.

Auch mit einem übertriebenen Optimismus kann man sehr gut verdrängen. Oft wird er von Menschen verwendet, die nicht mit negativen Erlebnissen und Emotionen umgehen können. Diese Menschen lächeln jede Unannehmlichkeit weg und verbreiten ständig gute Laune.

Vor einigen Jahren habe ich mich gefragt, ob ich auch so bin, und startete ein einfaches Experiment. Ich installierte eine App auf meinem Smartphone, die vor jedem Entsperren des Geräts eine kleine Abfrage nach meinen momentanen Emotionen machte. Ich konnte dann zwischen verschiedenen positiven und negativen Gefühlen auswählen, klickte das entsprechende Feld kurz an, und das Smartphone startete wie gewohnt. Nach ein paar Wochen hatte ich eine Statistik meiner Emotionen. Über 80 Prozent meiner Gefühle waren positiv gewesen. In den wenigsten Zeiten fühlte ich mich gestresst, ärgerlich, traurig, einsam oder beschämt. Bei einem Waldspaziergang bewegte ich das Ergebnis. Ist es gut, so positiv zu sein? Oder fehlt mir einfach der Zugang zu den negativen Emotionen? Fehlt mir vielleicht ein wichtiger Teil meines Lebens? Denn wer in allem das Positive sehen muss, kann das echte Leben nicht ertragen. Auf diesem Spaziergang im Wald habe ich mich dazu entschieden, das echte Leben zu suchen, mit all seinen Höhen und Tiefen.

Gründe für diese Art des Verdrängens liegen oft in der Kindheit. Wenn im Elternhaus negative Gefühle nicht erwünscht sind oder ein gesunder Umgang mit diesen nicht vorgelebt wird, muss das Kind einen Weg finden, in diesem Umfeld zu leben. Für viele ist es unvorstellbar, ohne die gesamte Bandbreite der Gefühle aufzuwachsen. Man streitet und versöhnt sich, lacht und weint, ekelt sich vor einer Gemüsesorte oder erlebt, wie die ganze Familie darum bangt, rechtzeitig zum Flughafen zu kommen. Andere kennen Sprüche wie »Indianer kennen keinen Schmerz« oder »Was auf den Tisch kommt, wird gegessen«. Wenn negative Gefühle nicht erlaubt sind, belächelt oder unterdrückt werden, muss ihre Kraft eine andere Richtung nehmen. Diese Kraft zeigt sich später als Aggression, wenn sie nach außen gerichtet wird, oder als Depression, wenn sie sich nach innen verlagert. Unter diesem Verhalten oder dieser Diagnose liegen dann aber in Wirklichkeit unterdrückte Trauer, Wut, Angst oder Scham. Wenn Gefühle in der Kindheit nicht erlaubt waren, ist oft ein langer Prozess des Suchens notwendig, um sich dieser Emotionen bewusst zu werden.

Ich kenne die Verdrängung sehr gut. Schon von klein auf habe ich sie perfektioniert, bis der Zugang zu meinem Inneren komplett verschüttet war. In meinen Teenagerjahren beschrieben mich meine Freunde als immer freundlich und fröhlich, und genau das war mein Selbstbild. Als ich mit 16 Jahren anfing, Gedichte und Lieder zu schreiben, tat sich mir eine neue Welt auf. In der Lyrik kamen Worte aus mir heraus, die mir völlig fremd erschienen. Da waren Zweifel, Sorgen, Ängste, Wut und Trauer, die plötzlich ihren Weg an die Oberfläche fanden. Irgendwo in mir musste eine unbekannte Welt sein, wie tiefere Ebenen in einem Bergwerk, die ich bisher nicht erkundet hatte. Ich begann, das Schreiben zu nutzen, um einen Weg in diese Welt zu finden.