Die Einsamkeit des modernen Menschen - Martin Hecht - E-Book

Die Einsamkeit des modernen Menschen E-Book

Martin Hecht

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Beschreibung

Der moderne Individualismus ist zum Problem der westlichen Staaten geworden. Die Befreiung des Ichs führt in übersteigerte Ansprüche nach dem perfekten Leben. Bleibt es aus, folgen Enttäuschung, Aggression, Protest. Am Ende entlädt sich der Frust in der Ablehnung eines ganzen gesellschaftlichen Systems, im Extremfall in Hass. So gefährdet der Individualismus die Demokratie. Ist er als Idee noch zukunftsfähig? Mit der Renaissance ist der Individualismus angetreten, den Menschen aus den Zwängen von Tradition und Glauben zu befreien. Doch diese Freiheit brachte auch Vereinzelung, gemeinschaftsferne Lebensentwürfe und Konkurrenz. Menschen sind plötzlich allein auf sich zurückgeworfen. Die Gesellschaft zerfällt in wenige Gewinner und viele Verlierer. Heute ist das Individuum erschöpft, überfordert – und protestiert: im Schrei nach Aufmerksamkeit, Anerkennung und Einzigartigkeit. Die politische Konsequenz heißt Populismus, Desintegration und Gewalt. Wo ist der Ausweg? Wie kann es uns gelingen, wieder mehr Gemeinsinn zu entfalten – und dennoch uns selbst treu zu bleiben?

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Seitenzahl: 292

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Martin Hecht

Die Einsamkeit des modernen Menschen

Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.dnb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-8012-7031-5 (E-Book)

ISBN 978-3-8012-0588-1 (Printausgabe)

Copyright © 2021

by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH

Dreizehnmorgenweg 24, 53175 Bonn

Umschlaggestaltung: Antje Hack | Lichten, Hamburg

Satz: Rohtext, Bonn

Frontispiz: Standbild aus dem Live-Video »Brother Eye« zur »Space Bubble

Show« der us-amerikanischen Rock-Band The Flaming Lips.

Aufgenommen im November 2020 im Club The Criterion in Oklahoma City, © Warner Music Group.

Mit freundlicher Genehmigung von THE FLAMING LIPS.

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021

Alle Rechte vorbehalten

Besuchen Sie uns im Internet: www.dietz-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1 Befreit zur Einsamkeit

Kapitel 2 Was uns alle einsam macht

Kapitel 3 Notsignale – Nehmt mich endlich wahr!

Kapitel 4 Der Sozialcharakter des Individualisten

Kapitel 5 Scheitern und Resignation

Kapitel 6 Vom Ego zum Shooter – Aufstand der Ausgestoßenen

Kapitel 7 Eigensinn und Solidarität

Literatur

Vorwort

Dieser Essay geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 23. Januar 2020 auf der 27. Tagung des Bayerischen Promotionskollegs »Politische Theorie« auf Schloss Schney bei Lichtenfels gehalten habe. Das Tagungsthema lautete »Gefahr im Verzug. Aktuelle Herausforderungen an die Demokratie«, mein Vortrag trug den Titel: »Vereinzelung und Radikalisierung. Alexis de Tocqueville und die Demokratie im Internet-Zeitalter«. In diesem Vortrag führte ich aus, wie aktuell vor allem die politische Theorie dieses scharfsichtigen französischen Intellektuellen und Politikers aus dem 19. Jahrhundert heute noch ist und wandte seine Thesen auf den Zustand und die Probleme unserer modernen Gesellschaft an. Dies alles – zumindest für mich – mit so viel Erkenntnisgewinn, dass ich aufgrund dieser Überlegungen die vorliegende Schrift verfasst habe.

Darin zeige ich umfassender, wie sich der moderne Individualismus, der einmal so optimistisch angetreten ist, die Menschen zu befreien, von einem kollektiven Glücksversprechen für alle zunehmend zu einer Gefährdung der politischen Ordnung gewandelt hat und den Zusammenhalt unserer modernen Demokratien zusehends erschwert. Das Buch versteht sich dabei keineswegs als kulturpessimistischen Abgesang auf ein überholtes Konzept oder gar als Aufruf zu einer Zwangseinweisung in alte Gemeinschaftsformen, sondern als eine Aufforderung, über Individualismus neu nachzudenken und einen Relaunch zu wagen, der den geänderten Bedingungen, unter denen sich das »Ich« in unserer Zeit entfaltet, gerecht wird.

Die Grundfrage, die alle diese Seiten durchdringt, lautet: Wie kann man individuelle Freiheit und Brüderlichkeit, die man heute besser »Geschwisterlichkeit« oder schlicht Solidarität nennt, in der modernen Welt miteinander versöhnen?

Mainz, im Frühjahr 2021

Martin Hecht

Einleitung

How does it feel, how does it feel? To be on your own, with no direction home A complete unknown, like a rolling stone?

Bob Dylan

Manche sind einsam, manche sind es nicht. Aber die Einsamkeit, über die ich schreiben will, betrifft uns alle: Es ist die Einsamkeit des modernen Menschen. Noch nie so sehr wie heute stehen wir maximal unbeteiligt nebeneinander und sind uns gleichgültig geworden. Jeder macht sein Ding. Aber keiner mehr, so scheint es, unser Ding. Wir leben in einer einsamen Gesellschaft.

Persönliche Einsamkeitserfahrungen gehören zu jedem Leben, wir machen sie, wenn wir verlassen werden, wenn die von uns gehen müssen, die uns lieb sind, aber auch wenn wir es sind, die andere verlassen und eine Verbindung lösen, die einmal innig bestanden hat. Diese Erfahrungen sind überzeitlich. Sie betreffen jeden, früher oder später. Es ist der Lauf des Lebens, der uns immer wieder von den anderen fortreißt – oder die anderen von uns.

Auf diesen Seiten soll es um eine Einsamkeit gehen, in die uns nicht der Lauf des Lebens stürzt, sondern unsere moderne Gesellschaft, und die Werte, denen sie folgt, denen wir folgen. Die moderne Gesellschaft isoliert jeden einzelnen vom anderen und fügt uns zur »Einsamkeit des Lebens« noch eine weitere Form hinzu: eine kollektiv gefühlte Einsamkeit, weil sie jeden betrifft, die Einsamkeit des modernen Menschen.

Was ist Einsamkeit? In der Einsamkeit liegt so viel von einem Nichts, dass die innere Befindlichkeit, die sie beschreibt, kaum zu beschreiben ist. Sie gewinnt Konturen erst, wenn man sie als ein Verlust- oder Entzugsgefühl erfasst. Einsamkeit ist das Gefühl eines grundsätzlichen Mangels, den einer erlebt: und zwar an allen Formen von Verbindungen – an bestehenden oder auch nicht existierenden, aber gewünschten, an persönlichen, aber auch an Verbindungen zu sich selbst, zu eigenen Gedanken oder Tätigkeiten, die einen ansprechen und Erfüllung geben. Denn nicht Zweisamkeit, Dreisam- oder irgendeine Vielsamkeit ist das Gegenteil oder auch Antidot der Einsamkeit, sondern erst eine erfüllende Beziehung: zu anderen Menschen, aber auch zu sich selbst.

Um diese Einsamkeit besser in den Griff zu bekommen, vergleicht man sie am besten mit dem Alleinsein, mit dem sie oft verwechselt wird. Wenn man beide voneinander unterscheiden will, lässt sich, auf eine kurze Formel gebracht, behaupten: Einsam zu sein, ist ein psychischer Zustand, allein zu sein ein physischer. Alleinsein bezeichnet ganz objektiv einen Zustand, von anderen getrennt oder isoliert zu sein, Einsamkeit ist eine Empfindung.

Dieses Gefühl ist dabei mehr als nur der Ausdruck des objektiven Tatbestands, wonach ein Mensch über keine oder nur wenige Sozialbeziehungen verfügt. Einsamkeit ist ein innerer Zustand, dessen gefühlte Tiefe mit Alleinsein zu tun haben kann – aber damit ist noch nicht viel gesagt. Eher geht es darum, sich von denen, die einen umgeben, ob dies nun zahlreiche sind oder nur ganz wenige, nicht wirklich wahrgenommen, erreicht und verstanden zu fühlen. Einen Einsamen einfach in eine beliebige Geselligkeitsgruppe zu bringen, egal, ob am Biertisch oder in der Kaffeerunde, macht den Betreffenden nicht unbedingt weniger einsam. Wer an seiner Einsamkeit leidet, sehnt sich nicht allein nach Stallwärme, sondern nach einer echten inneren Verbundenheit zu anderen, in der er sich erkannt und geschätzt fühlt.

Der Zustand der Einsamkeit, in dem sich Gefühle der Nichtzugehörigkeit, Schutzlosigkeit, Verlassenheit und Heimatlosigkeit finden, stürzt uns letztendlich in ein Gefühl der Leere. Darin ist der Schmerz über das Ausgesperrtsein enthalten sowie die Sehnsucht, dieser Verbannung zu entkommen. Der Einsame ist ein Entfremdeter, ein Außenseiter: er ist draußen. Und das auch dann noch, wenn er mitten unter den Vielen weilt. Und er ist ein sehr bedürftiger Mensch. Oftmals gar ein stolzer Bedürftiger, der sich die eigene Bedürftigkeit nicht gerne anmerken lässt.

Mit der Einsamkeit ist es nicht einfach. Das liegt daran, dass es über sie viele vorgefasste Meinungen gibt, die ihr nicht unbedingt gerecht werden. Eine davon lautet etwa: Einsamkeit sei schlecht für den Menschen, ungesund und schädlich, das Alleinsein sei dagegen beizeiten gut – ein unheilvoller Satz, weil er gleich zwei problematische Aussagen trifft. Denn wenn das Alleinsein nur ein physischer Zustand ist, also eine völlig neutrale Statusbeschreibung, dann kann es weder gut noch schlecht sein. Aber auch wenn man nur am ersten Teil dieses Satzes festhalten möchte, wonach die Einsamkeit für den Menschen schlecht sei, dann ist auch das keineswegs ausgemacht. Denn in ihr können durchaus auch positive Anteile aufgehoben sein. Einsamkeit ist weder gut noch schlecht. Gut oder schlecht können höchstens die Formen sein, die Menschen wählen, um mit ihr klarzukommen. Wenn man nun immer wieder liest, Einsamkeit oder auch nur die pure soziale Isolation seien ein ebenso relevanter Risikofaktor für die Gesundheit wie etwa Rauchen oder Übergewicht, dann ist dies ein haltloser Vergleich: denn nicht die Einsamkeit ist ein Risikofaktor, sondern die häufig gewählten schädlichen Formen ihrer Bewältigung wie zum Beispiel übermäßiger Drogen- oder Alkoholkonsum. Der Vergleich drückt vielmehr aus, dass es vielen Menschen offenbar nicht gelingt, mit ihrer Einsamkeit gut umzugehen.

Einsamkeit hat zwar keinen guten Ruf, aber bei Licht betrachtet hat sie verschiedene Gesichter, darunter auch ein paar freundliche. Sie ist ähnlich der Melancholie ein höchst ambivalentes Gefühl. Menschen können sie als ganz und gar niederdrückend empfinden und dann auch wieder als erholsam oder sogar beglückend. Einsamkeitsgefühle sind etwas sehr Individuelles. Für viele sind sie ein Fluch, aber für andere können sie durchaus ein Segen sein. Oder beides zugleich. Dann ist oder kann Einsamkeit sein, was Sappho über die Liebe sagte: ein »bittersüßes« Gefühl. Und je nach individueller Ausprägung überwiegt mal mehr das Bittere, mal mehr das Süße. Die Frage, ob die Einsamkeit denn nun etwas eindeutig Negatives für den Menschen ist, gelegentlich etwas Positives oder unter Umständen sogar beides, ist am Ende eine weitgehend philosophische – und mehrere Antworten sind möglich. Vielleicht kann man sich auf die Behauptung einigen: Ja, es gibt auch diese inspirierende und poetische Einsamkeit. Für die meisten Menschen jedoch dürfte sie ein eher unheilvoller Zustand sein, der mehr belastet als guttut.

Obwohl die Einsamkeit als Konzept uneindeutig erscheint, geht es auf diesen Seiten dennoch darum, ihre problematischen Anteile herauszustellen. Für den einzelnen Menschen, der unter ihr leidet, aber in erster Linie für das Gemeinwohl in der modernen Massendemokratie, die durch die allseits um sich greifende Vereinsamung der Individuen in der Gesellschaft zusehends dysfunktional wird, wie man es in der modernen Systemtheorie ausdrücken würde, oder weniger technisch: die dadurch zunehmend herausgefordert und in ihrem inneren Zusammenhalt infrage gestellt wird.

Bei so viel Ambivalenz lässt sich noch eines eindeutig feststellen: Einsamkeit wird ganz allgemein dann als belastend empfunden, wenn sie Menschen unfreiwillig trifft, wenn sie etwas ist, das einem widerfährt, ohne es zu wollen. Der einsame Pilger auf dem Jakobsweg, der Eremit oder Asket, der sich zur inneren Versenkung in die Wüste zurückzieht, sie alle haben ihren Weg selbst gewählt und profitieren wohlweislich von ihrem Rückzug. Einsamkeit schmeckt dann nach frischer Luft, so schrieb Klaus Mann einmal in seinem Roman über Pjotr Iljitsch Tschaikowski, »wenn man zu lange in einem rauchigen Lokal gesessen hat«. Wenn sich jedoch ein Mensch in eine Einsamkeit begeben muss, die er gar nicht erwählt oder erwünscht hat, weil er entweder von Menschen, die er liebt und die ihn lieben, verlassen ist oder ihm die Gemeinschaft mit denen, die er um sich hatte, aus irgendeinem Grund verwehrt ist – wenn die Einsamkeit also ganz und gar ungewollt ist und ihn gänzlich gegen seinen eigenen Willen trifft, dann ist sie schmerzhaft und nur schwer zu ertragen. Wie sehr, dafür gibt es vielleicht kein erschütternderes Zeugnis als Leben und Werk dieses großen russischen Komponisten, der ein ganzes Leben lang unter seiner Einsamkeit so sehr litt und nirgendwo zu Hause war, ein zerrissener Mensch, der zu keinem, der ihn erlöst hätte, Brücken oder Wege fand – wohl auch nicht zu sich selbst.

Unfreiwillige Formen von Einsamkeit kennt das Leben in vielfacher Form. Unfreiwillige Einsamkeit, die einem zudem auch noch ganz ohne jedes eigene Verschulden zustößt, gibt es aber auch jenseits der privaten Sphäre: Sie ist die Folge der modernen Lebensart, der globalen Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Diese Einsamkeit wird bewirkt durch die immer radikalere Auflösung von Gemeinschaftsformen, die man gemeinhin der traditionellen Welt zuordnet, und gleichermaßen durch die zunehmende Ich-Fokussierung, die der moderne Individualismus dem Einzelnen auferlegt. Der moderne Mensch ist Opfer dieser Auflösung, und er forciert sie als Täter zugleich: durch seine Selbstbezogenheit, den Wesenszug des Individualismus, und all jene aus ihr resultierenden sozialen Praktiken der Selbstvervollkommnung, zu der ihn diese geistige Kraft zu verpflichten scheint. Er wird nicht nur aus den alten Verbindungen entlassen, sondern gibt diese im Verfolgen individueller Ziele selber preis, weil er seine Prioritäten anders setzt: Ich für mich, du für dich, jeder für sich.

Der Mensch der Moderne hat sich nicht bewusst für diese neue Form der Einsamkeit entschieden, und doch ist sie die klare Konsequenz seines individualistischen Lebensentwurfs. Diese Einsamkeit, die man in der politischen Theorie auch Vereinzelung nennt, weil sie kein persönlicher Schicksalsschlag ist, sondern eine strukturelle Größe, die nicht mehr nur einzelne Unglückliche trifft, sondern alle – sie ist die Einsamkeit des Abgeschnittenseins aller von allen. Sie fühlt sich an wie eine Art Gefangenschaft in einem Raum, der keine Mauern hat, sondern der offen und grenzenlos ist, und dennoch jede Verbindung nach außen zu all den anderen unmöglich macht. In der Moderne, so könnte man es wenden, ist das Individuum befreit, jetzt aber verhaftet in seinem Exil des Ausgesperrtseins.

Es geht hier also um die »Einsamkeit in der Vereinzelung«, eine Einsamkeit, die nicht so sehr als individuelle Begleiterscheinung einer unglücklichen Biografie verstanden wird, sondern als eine Art soziales Virus, das kollektiv über die gesamte Gesellschaft gekommen ist, seit diese in jenes Stadium eingetreten ist, das geprägt ist vom modernen Individualismus. Diese Einsamkeit der isolierten Individuen ist in den Wohlstandsgesellschaften demokratischen Zuschnitts inzwischen omnipräsent und nahezu täglich spürbar. Greifbar wird dieser aufgelöste Zusammenhalt, wenn man sich ein Bild vergegenwärtigt, das Alexis de Tocqueville gerne gewählt hat. Er spricht beim Prozess der zunehmenden Vereinzelung der Menschen immer wieder von den gelockerten, weniger, dünner oder brüchiger werdenden oder gar vollends zerrissenen »Bande«, die einmal die einzelnen Gesellschaftsmitglieder miteinander eng verbunden haben. Er beschreibt, wie sich diese im Zeitalter der Demokratie erst allmählich lockern, sich langsam immer mehr lösen, bald auseinandergehen und, lose geworden, darauf warten, irgendwann wieder neu geknüpft zu werden.

Kann man diese »kollektive Einsamkeit« messen, also diese eher diffuse und allgegenwärtige Einsamkeit, die sich wie ein Nebel zwischen die Individuen legt, sodass sie die, die um sie sind, nicht mehr sehen können? Ellen Lee, Professorin für Psychiatrie an der University of California in San Diego, hat zusammen mit einem Team knapp 350 Teilnehmer im Alter zwischen siebenundzwanzig und hunderteins Jahren auf Einsamkeitsgefühle untersucht. Bei denen, die sich testen ließen, handelte es sich keineswegs um psychisch auffällige Personen, sondern um Menschen des Durchschnitts, wenn man so will. Mit einem standardisierten Psychotest erfasste das Forscherteam den Grad der Einsamkeit ihrer Probanden und auch deren Lebensumstände. Das Ergebnis überraschte: Drei Viertel der Teilnehmer empfanden sich als mittel- bis hochgradig einsam – erwartet hatten die Forscher maximal 50 Prozent. Ein erstaunliches Ergebnis fand Lees Kollege, der Neuropsychiater Dilip V. Jeste, zumal die Teilnehmer der Studie vorher nicht als besonders anfällig gegenüber der Einsamkeit galten. Sie hatten keine psychischen Störungen oder Erkrankungen und waren auch nicht überdurchschnittlich stark sozial isoliert. Jeste betont: »Unsere Teilnehmer waren ganz normale Leute.« Fazit: Die strukturelle Einsamkeit ist heute in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Sie ist ein Thema von uns allen.

Kapitel 1

Befreit zur Einsamkeit

Wertlos, so schien es ihm, wertlos und sinnlos hatte er sein Leben dahingeführt; nichts Lebendiges, nichts irgendwie Köstliches oder Behaltenswertes war ihm in Händen geblieben. Allein stand er und leer, wie ein Schiffbrüchiger am Ufer.

Hermann Hesse, Siddhartha

Armer Robinson

Einsamkeit ist ein Gefühlszustand, den jeder kennt, der tief in die Seele hinabreicht und immer weit zurück in früheste Kindertage. Einsamkeitserlebnisse sind prägende Urerlebnisse, und jeder Mensch weiß ziemlich genau, wie sich Hänsel und Gretel im tiefen Wald fühlten – auch wenn sich die beiden in ihrer Not wenigstens ein bisschen Gesellschaft leisten konnten. Jeder Mensch fühlt mit einem anderen, den die Einsamkeit trifft. Es ist nicht besonders schwer für den Autor einer Erzählung, das Mitgefühl eines Lesers zu gewinnen, wenn man ihm eine Geschichte über einen Einsamen erzählt. Denn der Mensch, selbst in die Welt geworfen und darauf angewiesen, sein Denken und Fühlen mit denen, die ihn umgeben, zu teilen, ist immer berührt und ergriffen, wenn er Geschichten von Einsamen hört, immer wird er mit ihnen leiden und sich mit ihnen identifizieren. Schon dann, wenn kein besonders großer erzählerischer Aufwand geleistet wird, aber erst recht, wenn die Geschichte so angelegt ist, dass ein guter Mensch unverdient in sie gerät: Die früheste Form von menschlicher Einsamkeit, die uns in der Literatur begegnet, ist die durch Unglück entstandene – und die, die uns von anderen absichtsvoll zugemutet wird: Einsamkeit als Verbannung, die man Ausgestoßenen auferlegt, Einsamkeit, die wie Folter oder Einzelhaft empfunden wird.

Sicherlich gibt es sie in den Erzählungen auch einmal als freiwillige Form: Meist aus Gründen spiritueller Selbsterfahrung ziehen sich Eremiten und andere asketische Virtuosen von der Welt zurück in die Stille der Einsamkeit. Aber der normale Mensch meidet diese Form, wo er nur kann, sie ist ihm unheimlich, es graust ihm vor ihr, er betet inständig, dass sie ihn niemals ereilen möge. Denn Einsamkeit ist eine Strafe Gottes.

Ihren frühen literarischen Niederschlag findet die grausame Einsamkeit in Robinson Crusoe von Daniel Defoe, einem der berühmtesten Werke der Weltliteratur. Erschienen im Jahr 1719 unter dem Originaltitel: »Das Leben und die unerhörten Abenteuer des Robinson Crusoe, eines Seemanns aus York, der achtundzwanzig Jahre lang ganz allein auf einer unbewohnten Insel vor der Küste von Amerika lebte, nahe der Mündung des großen Orinoko-Stromes, wohin er durch Schiffbruch verschlagen worden war, bei dem alle Mann außer ihm umkamen. Mit einem Bericht, wie er zuletzt auf ebenso merkwürdige Weise durch Piraten befreit wurde. Von ihm selbst beschrieben.« All alone, ganz allein, mutterseelenallein. Das Buch ist bis heute ein Weltbestseller, eine Geschichte, die seine Leser, egal ob jung oder alt, seit Jahrhunderten aufwühlt und tief erschüttert.

Robinson Crusoe – das ist nicht nur eine Story, die anfangs des 18. Jahrhunderts den Durst eines wachsenden bürgerlichen Lesepublikums nach Abenteuer stillen sollte, sondern, in der Zeit ihrer Entstehung gar nicht anders denkbar, eine Art Parabel über die schlimmen Folgen menschlicher Hybris. Der Ort der Handlung, eine einsame Insel, unerreichbar für jeden Retter im unendlichen Ozean liegend, erhöht gleichsam die Fallhöhe. Erst hier kann die Einsamkeit in ihrem ganzen Schrecken gefühlt werden, erst hier gelingt ein Ausloten der Abgründe dieses Gefühlszustandes bis in die letzten Tiefen der menschlichen Seele.

Die Einsamkeit Robinsons ist Resultat ungünstiger Umstände, ein brutaler Schicksalsschlag, das größte anzunehmende Unglück, das einem Menschen widerfahren kann. Einsamkeit begegnet dem Leser als Strafe, auch wenn es scheinbar nur ein schlimmer Zufall, ein fürchterliches Unwetter auf hoher See war. »Was habe ich getan?«, fragt der verzweifelte Mann unter Tränen an Gott gerichtet, als er sein Unglück zu fassen versucht. Später wird ihn die existenzielle Krise, die die Einsamkeit in ihm auslöst, zu diesem unerbittlichen Gott führen, an den er sich im Gebet wendet, wenn er ihn immer wieder anfleht, sein Schicksal abzuwenden: Er wird erst durch seine Not ein gläubiger Mensch.

Wofür diese Strafe? Einsamkeit ist die Strafe für die ganz spezifische Erbsünde des modernen Menschen, wie der Literaturwissenschaftler Ian Watt schreibt. Sie besteht darin, »die Bedingungen, unter denen man geboren wurde, anstatt sie hinzunehmen, verbessern zu wollen.« Dies sei ein grundlegender Zug im Lebensschema des Individualismus, so Watt. Robinson verkörpert dieses Schema. Er ist Stellvertreter für Abertausende, die in diesem frühen 18. Jahrhundert in die Weiten der Weltmeere aufbrechen, auf der Jagd nach Gold und Geld – er begeht die kapitalistische Sünde schlechthin. Robinson ist eine Art moderner Ikarus. Die Strafe folgt auf dem Fuß. Für zu viel Kühnheit, überhaupt, für sein tatkräftiges Unternehmen, sein Leben zu verbessern, für den »unsteten Lebenswandel«, für sein Herumtreiben, für seine, wie es im englischen Original heißt: »Foolish inclination of wandering abroad« – anstatt irgendeine innere von Gott auferlegte Pflicht zu tun, die ihm aufgetragen ist. Eine moralische Geschichte, wie könnte es auch anders sein in dieser Zeit, in der in fast jeder Bauernstube ein Gemälde mit einer Genreszene an der Wand hängt, das den braven Mann und seine treue Frau täglich neu ermahnt, es auch zu bleiben. Der Sinnspruch könnte lauten: »Wenn Du nicht sittsam bist und Dich nicht Deines Gottes Auftrag in Bescheidenheit und Demut unterwirfst, wenn Du Dir die Freiheit des eigenen Willens herausnimmst, endest Du in der Verbannung aus Gottes Reich und Güte!« Robinsons Insel ist eine Form der Hölle. Nur Steine, Sand und ein paar Kokosnüsse. Später wird Sartre sagen, die Hölle, das sind die anderen, zu Robinsons Zeiten kennt man diese Form des Zynismus noch nicht oder wagt sie, zumal als Schriftsteller, nicht auszusprechen. Die Hölle, das ist für ihn wie für viele andere das Nichts – oder die Abwesenheit der anderen, der Gemeinschaft. Worin besteht diese Strafe genau? Die Insel ist ein Symbol für ewig währende Isolation, und damit für einen schmerzhaften Dauerentzug an allerlei Stimuli, an Gemeinschaft, an Freuden und dem Glück, das es nur mit anderen gibt. Diese Insel ist zugleich Sinnbild für maximale soziale Deprivation, Schauplatz von Marter durch Monotonie, Langeweile. Die Einsamkeit als Strafe. Wer kennt sie nicht noch aus ganz frühen Tagen, als man im Kindergarten »ins Eck stehen« musste, ausgegrenzt wurde, nicht mitmachen durfte, wenn man irgendetwas angestellt hatte? Den Ausschluss, den Verweis, die rote Karte, nichts fürchtet ein Kind mehr.

Warum erzählt Defoe diese Geschichte? Robinson Crusoe trägt Züge eines dystopischen Romans, ganz ähnlich der vielen anderen, die nun in den kommenden Jahrzehnten geschrieben werden. Gegenstand einer Dystopie ist eine irreale Welt, in der jedoch real existierende Bedrohungspotenziale verarbeitet sind und übersteigert werden – so lange bis ein Kosmos entsteht, in der diese nicht mehr nur drohen, sondern tatsächlich herrschen. Scheinbar ist die bedrückende Einsamkeit Robinsons eine Erfahrung, die in der Welt des Jahres 1719 schon angelegt ist. England ist eine Weltmacht, diese Zeit kennzeichnet eine frühe Stufe des weltweiten kolonialen Kapitalismus. Der moderne Mensch greift nach unsagbaren Möglichkeiten, beutet die fernsten Länder dieser Welt aus, nimmt Sklaven, bereichert sich ohne Schranken. Der Sündenfall ist so groß, dass er Reinigung verlangt, Besinnung, Demut. Die Geschichte vom Robinson ist eine Warnung an den modernen Menschen, es nicht zu weit zu treiben.

Robinson ist einer der frühen Individualisten in der Literaturgeschichte, ein unabhängiger Mann ohne Bande, ohne familiäre oder sonstige. Ob er eine Partnerin hat, eine Verliebte oder Verlobte erfährt der Leser nicht. Er ist vielleicht der erste echte Soloselbstständige der modernen Literatur, der dem Leser begegnet, wenn auch noch sehr auf das Ökonomische beschränkt oder von dieser Plattform aus agierend, von diesem Motiv getragen. Er ist der erste »normale« Mensch in der Moderne, der individualistisch ist, all die Künstler, Intellektuellen und jene aus der Gesellschaft Herausgehobenen einmal ausgenommen. Aber solche Virtuosen der eigenen Lebenskunst gab es immer auch schon vorher. Die alte Geschichte von Robinson Crusoe ist die Geschichte des ersten modernen Individualisten. In ihm findet sich jeder wieder. Jeder bangt mit ihm, wünscht ihm nichts so sehr, als dass er wieder unter die Leute kommt, der arme einsame Kerl – und dass er: gerettet wird von seiner Insel. Dass ihm für seine missliche Lage so viel Verständnis entgegenbrandet, hat aber noch eine andere Ursache, denn im Individualismus wird jeder Mensch zu einer Insel.

Gemeinsam einsam

Über hundert Jahre später schreibt ein anderer eine auf ihre Art gruselige Geschichte über die Einsamkeit. Allerdings vollzieht dieser Autor einen denkbar radikalen Kulissenwechsel und verlegt den Schauplatz von einer öden Insel mitten in die wuselige Großstadt, ins Getümmel einer der tiefsten Höllenschlünde aus Stein und Ziegel, in die Rushhour Londons an einem kalten Novembertag. Edgar Allen Poes Held, der sich hier tummelt, hat keinen Namen, er ist anonym wie alles in dieser kalten harten Welt. Er ist nur The Man of the Crowd, so auch der Titel dieser Novelle im Original aus dem Jahr 1840. In der deutschen Übersetzung: »Der Mann in der Menge«. Eine eigenartige Erzählung ist das, im Grunde eine ohne wirklichen Plot, eher die Skizze eines furchtbaren Gedankens. Ein Icherzähler sitzt in einem Londoner Café, die einzige behagliche Stätte in dieser Short Story. Er ist allein, liest die Zeitung, beginnt aber irgendwann durch die Scheiben nach draußen zu blicken. Bald gibt er sich der Beschäftigung hin, die Menschen zu studieren, die hektisch und in großem Gedränge in dieser stark bevölkerten innerstädtischen Geschäftsstraße in beide Richtungen aneinander vorbeihasten, einem unbekannten Ziel zueilend, nur in sich und für sich seiend und ohne sich wahrzunehmen.

Irgendwann macht der Erzähler im Café eine interessante Beobachtung: Einer der unzähligen Passanten, die da durchs Bild stürzen, kehrt wieder, immer wieder, mal kommt er von rechts, mal von links. Der Mann, der da seinen Kaffee nimmt, ist bald von dieser Figur, der etwas Unheimliches anhaftet, fasziniert. Er beschließt das Rätsel zu ergründen. Er bezahlt die Rechnung, verlässt das Lokal und heftet sich an die Fersen des Mannes. Er verfolgt ihn in gebührendem Abstand, stundenlang, nur um herauszufinden, was diesen armen Menschen antreibt. Am Ende beschattet er ihn bis in den Abend, ja, die ganze Nacht hindurch und bis zum nächsten Morgen. Dieser Mensch, der nicht müde wird – das wird rasch deutlich – hat offenbar kein festes Ziel. Was er tut? Er sucht nur immer wieder die Menge auf. Ihn zieht es wie von magnetischer Kraft getrieben dorthin, wo sich viele Menschen drängen, und hat er solch eine Ansammlung erreicht, weicht die Verzweiflung in den Zügen seines Gesichts einer gewissen Erleichterung. Aber sobald die Menschen, auf die er trifft, weniger werden, beschleunigt er seine Schritte, es befällt ihn eine leichte Panik, bis er wieder aufgeht in einer größeren Gruppe, in einer Menschenmenge. Dieser Mann verströmt eine schreckliche Einsamkeit. Er ist, daran besteht kein Zweifel, The Man of the Crowd. Ein Mensch, von dem Poe schreibt: »Er weigert sich, allein zu sein.« Ein ruheloser, rastloser, getriebener Mensch ist das, den es immerzu in die Menge zieht, dessen innerster Wunsch nach Verbindung sich im Moment des sich Hineinstürzens in das Gewühl aber nicht wirklich erfüllt, sondern bestehen bleibt: Er hat ein Ziel, das Ziel sich zu verbinden, aber eines, das er nie wirklich erreicht.

Edgar Allen Poe ist gewiss kein besonders politischer Schreiber gewesen, aber er erinnert hier doch an einen, der es ohne Zweifel war: an Alexis de Tocqueville. Eine der berühmtesten Textstellen aus seinem Hauptwerk Über die Demokratie in Amerika, das in zwei Bänden 1835 und 1840 erschien, hat viel mit Poe gemeinsam. Diese Stelle aus dem zweiten Band wird gerne zitiert und lautet: »Ich will mir vorstellen, unter welchen neuen Merkmalen der Despotismus in der neuen Welt auftreten könnte: Ich erblicke eine Menge einander ähnlicher und gleichgestellter Menschen, die sich rastlos im Kreise drehen, um sich kleine und gewöhnliche Vergnügungen zu verschaffen, die ihr Gemüt ausfüllen. Jeder steht in seiner Vereinzelung dem Schicksal aller andern fremd gegenüber: Seine Kinder und seine persönlichen Freunde verkörpern für ihn das ganze Menschengeschlecht; was die übrigen Mitbürger angeht, so steht er neben ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, und er fühlt sie nicht; er ist nur in sich und für sich allein vorhanden, und bleibt ihm noch eine Familie, so kann man zumindest sagen, dass er kein Vaterland mehr hat.«

Zum ersten Mal taucht in beiden Beschreibungen aus der Mitte des 19. Jahrhundert ein Phänomen auf, das es so – zumindest theoretisch reflektiert – bislang nicht gab: Der Einzelne ist einsam, und zwar inmitten der vielen anderen. Und alle Einsamen sind gemeinsam einsam. In der modernen urbanen Welt hat die Einsamkeit ihr Gesicht gewandelt. Sie ist nicht mehr die Inseleinsamkeit des Robinson Crusoe und auch nicht die Waldeinsamkeit eines Henry D. Thoreau, dieses eigenwilligen Kulturkritikers, Aussteigers und puritanische Hippies, der 1854 mit seinem berühmten Selbsterfahrungsbericht Walden or Life in the Woods über sein fast zweijähriges selbstgewähltes Einsiedlertum in der Wildnis von Massachusetts das Kultbuch aller Zivilisationsmüden seiner Zeit veröffentlichte. Die Einsamkeit ist nicht mehr jene, mutterseelenallein, menschen- und gottverlassen zu sein, sondern sie wird jetzt gefühlt inmitten der anderen. Und nimmt man all diese einsamen Wesen zusammen, ergibt sich das Oxymoron von der einsamen Masse, das David Riesman als Titel seines gleichnamigen Werks von 1950 gewählt hat: The lonely Crowd. »Die einsame Masse« ist das Porträt einer Gesellschaft, die in der Dämmerung ihrer Zivilisation angekommen ist: durchsetzt von Ängstlichen, deren Hauptimpuls der Wunsch nach Zugehörigkeit zum Wir der amerikanischen Gesellschaft, des amerikanischen Traums ist. Eine Welt ist das, die vornehmlich von »außengeleiteten Charakteren« bevölkert ist, deren Hauptmerkmal die Angst vor dem sozialen Ausschluss ist, die alles tun, um konform zu sein, akzeptiert, integriert, um dem einen amerikanischen Ungeheuer zu entkommen, dass diesem so furchtbar freien Land zusetzt, seit es gegründet wurde: eine Freiheit, die einen manchmal frösteln lässt.

Wenn man heute, bald zweihundert Jahre nach Poe und Tocqueville durch eine Fußgängerzone einer Großstadt in der Rushhour geht, hat sich gar nicht so viel geändert, liest man diese frühen Beschreibungen des modernen urbanen Lebens wieder. Man begegnet den vielen anderen Massenmenschen, neben denen man steht, sie aber nicht sieht, die man berührt, aber nicht fühlt. Jeder ist nur in sich und für sich ganz allein vorhanden, und wahrscheinlich ist jeder Zweite oder Dritte von ihnen mit Ohrstöpseln verkabelt, um mit irgendjemandem übers Mobiltelefon verbunden zu sein, eine Möglichkeit, die dem Tocqueville’schen Großstadtmenschen so wenig zur Verfügung stand wie dem »Man of the Crowd« in Poes Welt. Aber ist das nicht ein Zeichen, dass der moderne Mensch dank mobiler Kommunikationsmedien mit einiger Verspätung nun doch endlich wieder in einer neuen Verbundenheit angekommen ist? Ist das Gespenst der Vereinzelung aus den Schluchten unserer urbanen Geschäftsstraßen verscheucht? Außer einem ersten Anschein spricht dafür nicht viel. Die Dauerverbundenheit über das Mobiltelefon in der Masse ist eher Ausdruck dafür, dass da viel gefühlte Einsamkeit ist, der man entrinnen will. Die Individuen sind wie abgekapselt voneinander, jeder in seiner Welt, gefangen und befangen in einer enormen Vereinzelung, trotz aller Vernetzung. Es scheint, sie sind vielleicht gerade deswegen verkabelt, weil sie den Zustand ohne Verbundenheit so wenig ertragen wie schon die Protagonisten von Tocqueville und Poe in ihren Tagen – und ihm unbedingt entkommen wollen.

Die Vereinzelung in der modernen Massendemokratie, Alexis de Tocqueville hat sie ausgiebig untersucht. Die Einsamkeit in der Gesellschaft der Gleichheit, sie wird für ihn schon damals zu einem der Hauptprobleme der demokratischen Gesellschaft, wie er sie in den Vereinigten Staaten antrifft – und sie ist es bis heute. Alexis de Tocqueville ist der erste politische Theoretiker, der die neue Einsamkeit des individualistischen Menschen in der Moderne benannt hat. Wenn aber bei ihm von »Einsamkeit« die Rede ist, dann meint das nicht, dass er in Amerika nur Gemütsleidende antrifft. Vielmehr meint er damit »Vereinzelung« als eine ganz neue Form der Einsamkeit. Die alte, überzeitliche Einsamkeit, die allem lebendigen Wesen droht und sie beizeiten einholt, sie gibt es noch immer, aber es ist jetzt eine ganz neue Form hinzugekommen, eine kollektive Form: Der »Einzelne« ist vom anderen Bürger abgetrennt, abgesondert, isoliert – verfolgt nur noch seine Interessen und die seiner Familie und Freunde. Die Einsamkeit, von der Tocqueville spricht, ist die strukturelle Einsamkeit des Bürgers in der Gesellschaft, die Einsamkeit von uns allen.

Angst vor Autonomie – Sehnsucht nach neuer Symbiose

Individualisierung ist eine Art der Entfremdung. Eine Entfremdung von Seinesgleichen. Sie ist der Preis, die der moderne Mensch für seine neu gewonnene Autonomie bezahlt. Entfremdung bedeutet, sich abzuwenden von einer Sache, ihr nicht mehr zugehörig zu sein. Aber nicht nur von einer Sache, auch von den Menschen. So lautet die Klage des neuen selbstbezogenen Menschen: Ich gehöre nirgendwo mehr dazu!

Je mehr ich ich bin, desto mehr bin ich entfremdet vom Wir. Es scheint, der Zugewinn an Individualität kann nur gelingen, wenn sich der Einzelne gleichzeitig von den anderen Individuen distanziert, wenn er ihnen fremd wird. Diese Entfremdung des Menschen aus den traditionellen sozialen Bindungen ist der Grundzug der modernen Vergesellschaftung, der sich tendenziell so sehr breit macht, bis der soziale Kitt fast nur noch aus wechselseitigen Interessen besteht und sich fast alles auf Nützlichkeitsbeziehungen reduziert. Ohne Entfremdung gibt es keine Individualisierung, keine Freiheit. Diese Beobachtung ist der Urmoment aller Vergesellschaftung, anschaulich zu studieren etwa im Verhalten des modernen Großstadtmenschen, der sich in einem »Pathos der Distanz« begegnet – einer Art Panzer, der ihn schützt und den sozialen Verkehr regelt – der aber auch, wie in Edgar Allen Poes Kurzgeschichte, die Verbindung untereinander erschwert oder vollends unmöglich macht.

Wo sich der Einzelne herausdreht, entfernt und distanziert vom Wir, um sein Ich zu finden und zu erleben, entsteht bald eine Kälte. Die Freiheit, die man errungen hat, ist immer irgendwie ungemütlich. Sie äußert sich in dem Bedürfnis zurückzukehren zum alten Wir, das aber unwiederbringlich verloren ist. Es ist daher kein Wunder, dass sich in der ausgeprägten individualistischen Moderne im Einzelnen das Bedürfnis regt, wieder ins Wir zurückzudrängen, und sei es nur sporadisch oder irgendwie ersatzweise: Wo aus der Ich-Autonomie bald ein schmerzhaftes Gefühl der Isolierung wird, oder sie zumindest begleitet, ist die Sehnsucht nach einer Wiedervereinigung mit der warmen Masse geweckt. Die Voraussetzung zur dieser Sehnsucht, die erst die Moderne hervorbringt und über die zuletzt der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht in seinem Essay Crowds geschrieben hat, ist die gefühlte Einsamkeit des Individuums unter Seinesgleichen. Es verlangt ihn, wie der bekennende Fußballfan und Stadionbesucher Gumbrecht schreibt, nach wiederkehrenden »Ritualen der Intensität«, es verlangt ihn nach dem Bad in der Menge.

Schon Max Weber hat in seiner soziologischen Terminologie die Masse als eine »vergemeinschaftete Menge« erkannt: Sie gibt den isolierten Einzelwesen – wenn auch nur temporär – verlorene Verbundenheitsgefühle zurück, führt sie zurück wenigstens in Vorstufen der alten Behaglichkeit, die sich jetzt, in den Zeiten der Gesellschaft scheinbar nie mehr wirklich einstellen will. Man denke nur an die Love Parade, ein vollbesetztes Bierzelt beim Volksfest oder das Publikum im Fußballstadion, vor allem dann, wenn die einzelnen anonymen Mitglieder der Masse emotionalisiert oder berauscht sind, aufgehen in einen ganzen Massenkörper. Was sie sonst voneinander trennt, verschwindet jetzt, lässt sie zusammenströmen. Man erlebt den anderen endlich nicht mehr abweisend oder gar feindlich, sondern genauso wie sich selbst als einen Teil eines Ganzen, dem man sich gemeinsam verbunden fühlt. Man schenkt sich wie dem Ganzen tiefes Vertrauen und begegnet jedem der Einzelindividuen mit einem Maß an Zuneigung, dessen Tiefe sich aus dem gemeinsamen Massenziel eins zu sein, wie automatisch ergibt.

So wie die individualistische Gesellschaft den Einzelnen in eine Isolation der Selbstautonomie führt, so sehr erschafft sie, wenigstens periodisch, Orte und Gelegenheiten zur Kompensation dieser quälenden Einsamkeit, die sie zuvor noch selbst ins Werk gesetzt hat. Und der Einzelne bedient sich dieses Angebots, je nach Not und Bedürfnis, taucht ein in diese oft gefühlsintensiven Verbindungserlebnisse, in die inszenierte Gemütlichkeit, in der er sich für ein paar Stunden der drückenden Last seiner Isolation enthoben fühlt.

Für die Entwicklung moderner Massen ist der Umschlag von der alten abgeschiedenen Einsamkeit Robinsons zu jener neuen, inmitten der anderen empfundenen von großer Bedeutung. Erst die typisch moderne Einsamkeit des Einzelnen inmitten der anderen weckt seither den permanenten Impuls zur Wiedervereinigung, der in der Masse realisiert wird. Elias Canetti hat diesen Umschlagmoment in seinem atemberaubenden Werk Masse und Macht von 1960 beschrieben. Canetti macht den Anfang im Urerlebnis der Angst des Individuums vor seinesgleichen, die es erst einmal zu überwinden gilt. »Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes«, schreibt er. »Man will sehen, was nach einem greift, man will es erkennen oder zumindest einreihen können.« Das sind die ersten beiden Sätze dieses Buches. Der Mensch fürchtet den Angriff, schreibt Canetti, und meint mit »Angriff« immer auch ganz konkret das Angefasstwerden: wörtlich den Griff mit der Hand. Deswegen zieht er überall im sozialen Raum Barrieren ein. Umso mehr und strengere, je mehr ihm andere zu nahe kommen. Aber fatalerweise wird er durch diese Schutzreaktionen einsam, gerät in einen Zustand der Abschottung, der ihm genauso wenig behagt. Denn angefasst zu werden kann auch ganz und gar wohltuend sein: »Es ist die Masse allein, in der der Mensch von der Berührungsfurcht erlöst werden kann, sie ist die einzige Situation, in der diese Furcht in ihr Gegenteil umschlägt.«

Den modernen Menschen drängt es im Individualismus nach Distanzierung, zum Schutz seines Ichs und um sich abzusetzen von Seinesgleichen, damit er ganz er selbst sein kann – und zugleich ist ihm dieser Schritt alsbald unheimlich, und es zieht ihn wieder zurück: in die Gemeinschaft, ja, in das höchste Gedränge. Denn nur das Gedränge, in seiner höchsten Dichte lässt die Berührungsfrucht des Menschen umschlagen, weil es ihm Erleichterung von der Angst vor Seinesgleichen verschafft, beobachtet Canetti. Es ist für den modernen Menschen kaum auszuhalten, aber er scheut die Masse genauso, wie er sie sucht. Der einsame Individualist hat sich aus der Nähe zu Seinesgleichen emanzipiert und sucht sie zugleich auf, wo er nur kann, ein Dilemma, mit dem er nur schwer zu leben gelernt hat. Beides, die abweisende Distanzierung zum anderen wie die