Die Einzelkinder - Alec Ash - E-Book

Die Einzelkinder E-Book

Alec Ash

4,9

Beschreibung

Über 300 Millionen Chinesen sind zwischen 16 und 30 Jahre alt. In sechs großartig erzählten und miteinander verwobenen Porträts fängt Alec Ash das Lebensgefühl dieser unüberschaubaren Generation ein, die in den Boomjahren nach Deng Xiaopings Reformen geboren wurde. Diese jungen Menschen hegen ganz unterschiedliche Träume für ihre Zukunft und ringen doch alle um ihren Platz in einer Gesellschaft, die von rasantem Wandel und enormem Konkurrenzkampf geprägt ist. Eindrücklich vermittelt Ash, wie es sich anfühlt, heute in China erwachsen zu werden, und wie diese riesige Generation tickt, die in den kommenden Jahren nicht nur ihr eigenes Land prägen und verändern wird.

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Über das Buch

Fred, Tochter eines Provinzkaders, studiert an einer Pekinger Eliteuni, der Karrierepfad scheint klar. Was sie erlebt und beobachtet, weckt ihn ihr allerdings Zweifel an dem, woran ihre Eltern glauben – und sie doch eigentlich auch. Li Yan alias Lucifer wollte Rockstar werden, stattdessen hangelt er sich von kleinen Gigs zu Talentshows. Xiaxiaos Klamottenladen floppt, und obendrein machen ihre Eltern Druck, denn sie geht schon auf die 30 zu und hat noch immer keinen Mann! In sechs großartig erzählten und zum Teil miteinander verwobenen Porträts fängt Alec Ash das Lebensgefühl jener Generation junger Chinesen ein, die in den Boomjahren nach Deng Xiaopings Reformen geboren wurde. Sie hegen ganz unterschiedliche Träume und ringen doch alle um ihren Platz in einer Gesellschaft, die von rasantem Wandel und enormem Konkurrenzkampf geprägt ist. Eindrücklich vermittelt Ash, wie diese riesige Generation tickt, die nicht nur ihr eigenes Land prägen und verändern wird.

Hanser E-Book

Alec Ash

Die Einzelkinder

Wovon Chinasneue Generation träumt

Aus dem Englischen vonThorsten Schmidt

Carl Hanser Verlag

Die englische Originalausgabe erschien 2016unter dem Titel Wish Lanterns. Young Lives in New Chinabei Picador, London

ISBN 978-3-446-25430-5

© 2016 Alec Ash

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag München 2016

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Motiv: © Billy Hustace/Getty Images

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de.

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Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Für meinen Vater

© ML Design

Anmerkung zu den Namen

In diesem Buch verfolge ich die Lebensläufe von sechs jungen Chinesen, die zwischen 1985 und 1990 geboren wurden, und ich erzähle ihre Geschichten von der Kindheit bis in ihre späten Zwanziger. Bei denjenigen, die englische Namen haben, verwende ich diese aus Gründen der Vertrautheit. Dahai und Xiaoxiao haben keine, also benutze ich stattdessen ihre chinesischen Spitznamen, die auch ihre Freunde gebrauchen. Fred ist ihr englischer Name, dient aber auch als Pseudonym, und ich habe auf ihren Wunsch hin Detailinformationen über ihre Familie weggelassen, aus Sorge um den Ruf ihres Vaters als Funktionär der Kommunistischen Partei.

Für andere chinesische Namen und Wörter verwende ich Pinyin. Bei Ausdrücken mit einer einfachen Übersetzungsentsprechung benutze ich diese; bei einigen der geläufigeren oder interessanteren Ausdrücke gebe ich auch die chinesische Form an. Was die Aussprache angeht, hier ein paar hilfreiche Hinweise: »x« wird wie »chs« ausgesprochen, »q« wie »tsch«, »c« wie »ts«, »z« wie »dz«, »zh« und »j« wie »dsch«.

Alles, was in Anführungszeichen steht, ist, sofern nicht anders vermerkt, eine Übersetzung aus dem Chinesischen.

Besetzung

Dahai (Yu Hai) – Kind eines Soldaten, Netizen, selbst­stilisierter Loser, geboren 1985 in der Provinz Hubei

Xiaoxiao (Liu Xiao) – Kleinunternehmerin, Träumerin, geboren 1985 in der Provinz Heilongjiang

Fred (anonym) – Tochter eines hohen Beamten, promoviert, Patriotin, geboren 1985 auf Hainan

Snail (Miao Lin) – Junge vom Lande, internetspielsüchtig, geboren 1987 in der Provinz Anhui

Lucifer (Li Yan) – Sänger, aufstrebender internationaler Rockstar, geboren 1989 in der Provinz Hebei

Mia (Kong Xiaorui) – Modefreak, geläuterter Skinhead, geboren 1990 in der Provinz Xinjiang

Dahai hatte sein Tagebuch vor mehr als zehn Jahren vergraben.

Das Buch mit Ledereinband ruhte in der trockenen Erde unter einer Kiefer, am Gipfel des Berges hinter dem Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hatte. Er war achtzehn gewesen, als er es dort in einer dunklen Teakholzkiste, in der normalerweise Teeblätter aufbewahrt wurden, zusammen mit einer Schachtel Zigaretten und einigen alten Fotos verscharrt hatte.

Geboren 1985, war er ein Kind des neuen China. Er gehörte zur ersten Generation derer, die keine eigenen Erinnerungen an das Tiananmen-Massaker hatten. Eine Generation von Einzelkindern, die in einem Land geboren worden waren, das sich so rasch veränderte wie sie selbst – Geschöpfe seiner hastenden Gegenwart, Erben seiner ungewissen Zukunft. In seinem Tagebuch schrieb er über Sorgen, Wünsche, zerbrechliche Träume … aber vor allem über ein Mädchen.

Er war fix und fertig, als er den Gipfel erreichte. Es war Mai und die brütende Hitze schier unerträglich. Aber welcher Baum war der richtige? Er klappte einen armeegrünen Spaten aus, den er im Rucksack mitgebracht hatte, und stieß ihn in den Boden; dabei horchte er auf ein hohles, hölzernes Geräusch. Bauarbeiter, die gleich neben ihm eine Pagode wiederaufbauten, machten mit ihren Handys Fotos; es amüsierte sie, als er das Gelände wie mit Pockennarben überzog.

Dahai schenkte ihnen keine Beachtung. Er war jetzt fast dreißig und grub nach seiner Jugend.

Xiaoxiao

Die Früchte kamen aus ganz China. Äpfel aus Xinjiang, Birnen aus Hebei, Mandarinen aus Zhejiang und Fujian. Sehr oft gab es auch Drachenfrüchte von der Insel Hainan im tiefen Süden, oder Büschel von Babybananen am Stamm: diese ganze Fülle, die die fruchtbare Erde dem Land schenkte. Sie wurden von dreizehn Meter langen Lkws zur Hintertür des Obstladens gebracht, den Xiaoxiaos Eltern im hohen Norden betrieben, wo keine Früchte gediehen.

Hier, nördlich der Mauer, zupfte der Winter die Haut von den Fingern. Die langgestreckte raue Ebene nördlich von Beijing, die vormalige »Mandschurei«, die heute auf Chinesisch nur noch schlicht »der Nordosten« genannt wird, bildet den Kopf des Hahns, den die Silhouette Chinas darstellt. Von dessen Kamm aus kann man das Nordlicht und die Mit­ternachtssonne sehen. Die Temperaturen sinken bis auf mi­nus 40 Grad Celsius, und der Schnee fällt oftmals hüfthoch. Man findet noch ein paar einsame Sibirische Tiger, die ohne ordnungsgemäße Visa von Russland aus über die Grenze streunen.

Die Provinz Heilongjian ist nach dem »Fluss des Schwarzen Drachen« benannt, der sich entlang der Grenze zu Russland schlängelt. Vier Zugstunden von der Provinzhauptstadt entfernt, versteckt zwischen der Inneren Mongolei im Westen und Sibirien im Norden, liegt Nehe. Reihen ein­förmiger Wohnblöcke befinden sich noch im Bau, als wäre die Stadt unvermittelt aus der tundraartigen Landschaft gesprossen. Wäre da nicht der gefrorene Fluss, über den man im Winter mit einem Lastwagen fahren kann, könnte es jede andere kleine chinesische Stadt mit einer halben Million Einwohner sein. Hier kam am 4. September 1985 Liu Xiao zur Welt.

Sie wurde zu Hause, im Bett ihrer Eltern, von einer Hebamme entbunden. In der ersten Stunde schrie Liu nicht, und alle waren ganz aufgewühlt vor Sorge. Da begann sie aus vollem Halse zu brüllen, und sie wünschten unter Tränen, sie möge aufhören. Im Alter von sieben Tagen wurden ihre Ohrläppchen, einem alten Brauch gemäß, mit einer Nadel und rotem Zwirn durchstochen, um dem Kind Glück und Gesundheit zu bringen. Sieben Tage brauchten auch ihre Eltern, um einen Namen für sie zu finden; auf der Suche nach einem Schriftzeichen, das ihnen gefiel, blätterten sie ein dickes Wörterbuch durch. Schließlich entschieden sie sich für xiao, was »Himmel« beziehungsweise »Wolken« bedeutet und Bestandteil einer Redewendung über ein lautes Geräusch ist, das im Himmel widerhallt – wie ihre ersten ohrenbetäubenden Schreie. In anderer Betonung bedeutet das Wort »klein«, und von Kindesbeinen an lautete ihr Kosename Xiaoxiao, kleine Xiao.

Da Xiaoxiao ein Mädchen war, würde, sollte sie später einmal heiraten, ihr eigenes Kind den Familiennamen Liu nicht weitertragen. Die Ein-Kind-Politik, die – bald nachdem Deng Xiaoping Chinas Reformära einleitete – von 1980 an konsequent umgesetzt wurde, um das hohe Bevölkerungswachstum zu bremsen, bedeutete, dass es Xiaoxiaos Eltern verboten wäre, ein zweites Kind zu bekommen. Aber viele Familien hatten sich noch immer nicht richtig mit der Idee angefreundet, vor allem außerhalb der städtischen Ballungszentren, und das Gesetz wurde keineswegs konsequent angewandt. Xiaoxiaos Eltern warteten vier Jahre, bis der Vater seine streng überwachte Arbeitseinheit verließ, bekamen dann trotzdem ein zweites Kind – einen Sohn – und kamen davon, ohne die dafür vorgesehene happige Geldstrafe zahlen zu müssen.

Diese »nach 1980 geborenen« Einzelkinder, die alle Hoffnungen und Wünsche auf ihren Schultern tragen, welche ihre Eltern in den Mao-Jahren selbst nicht verwirklichen konnten, werden in früher Kindheit auf geradezu groteske Weise verhätschelt. Jedes Mal, wenn sie hinfallen, hilft man ihnen auf die Beine, und sie werden in mehr Watte eingepackt als eine kostbare Porzellanvase vor dem Transport. Nimmt man die Aufmerksamkeiten zweier Großelternpaare hinzu, kennen Fürsorge und Verzärtelungen keine Grenzen mehr. In ihren ersten Wintermonaten kam Xiaoxiao nur gelegentlich unter den Schichten von Thermowäsche zum Vorschein, und ihre Wangen hatten den gleichen Farbton wie ihre purpurrote, gefütterte Jacke.

Bis zu ihrem siebten Lebensjahr lebte sie bei ihren Großeltern mütterlicherseits in einem Weiler auf dem Land, zwei Fahrstunden von Nehe entfernt. Ihr Haus mit umbautem Innenhof beherbergte Schweine, Gänse, Enten, Hühner und einen Hund, und es gab nur ein Bett – ein Podest aus gestampfter Erde über einem Kohleofen, ein sogenannter kang –, auf dem Großmutter, Großvater und Xiaoxiao in einem Bündel kuscheliger Wärme schliefen. Wände und Decke waren mit mehreren Schichten Zeitungspapier beklebt; Schlagzeilen über Deng Xiaopings Reise durch den Süden Chinas in den frühen neunziger Jahren fanden so noch ein­mal als billiges Isoliermaterial Verwendung. Die einzige Unterhaltung bestand darin, alten Volkserzählungen im Radio zu lauschen, während Xiaoxiao auf dem Schoß ihrer Großmutter saß.

Es ist in China gang und gäbe, dass die Großeltern ein Kind aufziehen, während Mutter und Vater in der Stadt in winzigen Wohnungen hausen und so viele Überstunden wie möglich machen, um Geld auf die hohe Kante zu legen. Zigmillionen Angehörige der Nach-Achtziger-Generation sind so aufgewachsen. Jene Kinder auf dem Land, deren Eltern sich als Wanderarbeiter weit weg verdingen, nennt man »zurückgelassene Kinder«. So unterschiedlich die jeweiligen Umstände auch sein mögen, geht es doch an niemandem spurlos vorüber, von den Eltern getrennt zu sein. Xiaoxiaos Mutter erinnert sich schmerzlich daran, wie sie einmal ihre Tochter in Nehe besuchte, nachdem sie ein halbes Jahr fort gewesen war. Sie ging ins Haus, um ihr Kind zu umarmen, doch Xiaoxiao erkannte sie nicht wieder und lief weg, um sich hinter Großmutters Schürze zu verstecken.

Bald darauf kehrte Xiaoxiao wieder zu ihren Eltern zurück, in die Wohnung, in der sie zur Welt gekommen war. Ganz in der Nähe, am Rand der Stadt, befand sich der elterliche Früchtegroßhandel. Sie spielte gern in der Lagerhalle, in der es nach Äpfeln duftete. Pappkartons stapelten sich bis zur Decke und bildeten Fluchten, die mit jeder neuen Lieferung enger wurden. Anfangs glaubte sie, die vorfahrenden Lastwagen kämen aus der nahen Umgebung oder vielleicht aus dem Dorf der Großeltern. Dann zeigte ihr Vater ihr auf einer Karte Chinas, woher einige der Früchte stammten, und von da an betrachtete sie die Lastwagen mit anderen Augen.

Als Xiaoxiao in den ersten Schuljahren die Tausenden von Schriftzeichen erlernte, die man beherrschen muss, um Chinesisch lesen und schreiben zu können, ordnete sie die Ortsnamen auf den Obstkartons Orten auf der Landkarte zu. Sie fragte ihre Mutter über diese exotischen Orte aus, und die Mutter – die nie weiter als bis nach Beijing gekommen war – rasselte die gängigen Stereotype herunter. Süße Granatäpfel aus Xinjiang? Dort gibt es Datteln und eine Wüste. Pralle Äpfel aus Henan? Die Menschen in Henan sind Schwindler. Übel riechende Durian-Früchte aus Guangdong? Da unten essen sie alles, was sich bewegt.

Die weite Ferne erschien umso verlockender, als es in Nehe keinerlei Vergnügungen gab. In den neunziger Jahren war die Stadt noch kleiner, nur vereinzelt fuhren Autos auf den Straßen, und lediglich an der zentralen Kreuzung der Hauptstraße, die »Zentrale Straße« genannt wurde, gab es eine Ampelanlage. Ein bei Teenagern beliebtes Getränk zum Aufwärmen war aufgekochte Cola. Die etwas Älteren zogen starken baijiu-Schnaps vor, der aus Sorghumhirse und Reis gebrannt wurde, was ihnen jenen Ruf einbrachte, auf den die Menschen im Nordosten stolz sind: extrem trinkfest und von hitzigem Gemüt zu sein. In einem Heilongjiang-Winter sind Saufen und Raufen die einzige Abwechslung.

Xiaoxiao aß lieber Süßigkeiten. Der Laden gleich neben ihrer Grundschule hatte eine reichhaltige Auswahl: Erd­nussnougat, White-Rabbit-Konfekt, Pfennig-Bonbons in raschelnder Verpackung mit dem Bild eines strengen alten Mannes darauf, tiaotiaotang-Pulver, das süß wie Zucker auf ihrer Zunge knisterte. Sie hatte außerdem drei Plastikpuppen und stickte selbst die Kleider für sie – mit Pailletten besetz­te Tops, mit Perlen bestickte Hüte und Hochzeitskleider; sie hatte diese Fertigkeit von ihren zwei Tanten gelernt, die beide Schneiderinnen waren. Eine der Puppen hatte blondes Haar und blaue Augen, ein billiges Barbie-Imitat, das sie »Meerbaby« nannte. Die drei Puppen waren selbstverständlich beste Freundinnen und fuhren zusammen in Urlaub – in die Wüsten Xinjiangs, nach Henan, wo die Menschen Schwindler sind, und nach Guangdong, wo die Leute alles essen, was sich bewegt.

Die Zeit um das chinesische Neujahr, auch »Frühlingsfest« genannt, mochte Xiaoxiao am liebsten. Es waren zwei Wochen des Feierns und Schlemmens, die den ersten Monat des chinesischen Mondkalenders einläuteten und mit einem großen Familienessen am Silvesterabend begannen. An den folgenden Tagen verzehrte man die Reste und stattete immer entfernteren Verwandten einen Besuch ab. Zusammen mit den anderen Kindern erhielt Xiaoxiao verzierte rote Umschläge, die kleine »Glücksgeldscheine« enthielten. Im städtischen Park zündeten Menschen auf dem gefrorenen Teich Feuerwerkskörper und Böller, und sie schlitterten gerade noch rechtzeitig zur Seite, bevor es knallte oder zischte. Am letzten Abend der Feierlichkeiten, dem Laternenfest, liebte sie es, dabei zuzusehen, wie die Wunschlaternen aufstiegen.

Das Fernsehen spielte an diesen Feiertagen ebenfalls eine wichtige Rolle. Sie sah sich Kleiner Drachenclub und Polizeichef Schwarze Katze an, chinesische Zeichentrickfilme sowie das japanische Anime Doraemon (»Roboterkatze« auf Chinesisch) und außerdem Tom and Jerry. Ihre Lieblingssendung war Reise in den Westen, eine Serie nach dem gleichnamigen Roman aus der Zeit der Ming-Dynastie über die Abenteuer eines Mönchs, eines Sanddämons, eines Geistes in Schweinegestalt und des Affenkönigs auf der Suche nach dem Diamant-Sutra in Indien. Die Kostüme waren zwar lächerlich und die Special Effects kitschig – fliegende taoistische Meister mit bartlangen weißen Augenbrauen, animierte Zauberwaffen –, aber die Serie war trotzdem ein großer Erfolg. Nach wie vor wird sie jedes Jahr wiederholt.

Als Xiaoxiao auf die Mittelschule ging, änderte sich alles. Man nahm ihr die Puppen weg, Fernsehen war weitgehend tabu, und für den Obstlagerraum, in dem sie so gern gespielt hatte, galt nun: Zutritt verboten. Die Veränderung kam so plötzlich, dass Xiaoxiao glaubte, für ein ihr unbekanntes Vergehen bestraft zu werden, wie sie sich erinnert. Von heute auf morgen wich die Verhätschelung, die sie gewohnt war, dem wahren Erbe der Ein-Kind-Generation: einem mörderischen Erfolgsdruck. Die Kindheit ist eine behütete Zeit, aber die Märchenwelt nimmt ein jähes Ende, sobald man alt genug ist, zwölf Stunden am Tag zu pauken. »Wissen verändert das Schicksal«, pflegte die Mutter ihr beim Abendessen zu sagen – ein verbreiteter Spruch.

Die Schultage begannen um 7 Uhr. Nach der Hälfte des morgendlichen Unterrichts gab es, wie für Schüler überall in China, das immer gleiche Ritual: Augenübungen in der Gruppe. Die dreißig oder mehr Kinder einer Klasse rieben alle gleichzeitig zwanzig Minuten lang mit den Daumenkuppen um die Augen herum, die Nasenseiten auf und ab sowie gegen den Schädel hinter den Ohren, um sie schließlich gegen die Schläfen zu pressen. Diese Übungen sollten angeblich verhindern, dass die Kinder vom vielen Lesen kurzsichtig wurden. Währenddessen dozierten Xiaoxiaos Lehrer, ohne irgendetwas anderes als schweigsame Aufmerksamkeit von ihr zu erwarten.

Geographie, Mathematik, Naturwissenschaften, Geschichte, Chinesisch, Musik, bildende Kunst. Die Topographie der 34 Provinzen, Städte, autonomen Regionen und Sonderverwaltungszonen Chinas (33, wenn man Taiwan nicht mitrechnet). Chinesische Erfindungen, ausländische Invasionen. Alte Geschichte und Legenden. Wissen verändert das Schicksal. In den nationalen Schulbüchern für den Englisch­unterricht erklären zwei Zeichentrickfiguren, der Junge Li Lei und das Mädchen Han Meimei, grammatische Grund­regeln in hölzernen Dialogen. Zusammen mit ihren ausländischen Freunden Lucy und Lily, einem Vogel namens Polly und einem Affen namens Monkey sind sie der Grund, weshalb ein chinesisches Kind auf die Frage »How are you?« wahrscheinlich wortwörtlich antworten wird: »I’m fine, thank you, and you?«

In der Pause setzte sich Xiaoxiao ein wenig abseits der anderen Kinder und gab sich Tagträumereien hin. Der Tag endete um 19 Uhr, wenn Schülergruppen turnusmäßig das ganze Schulgebäude sauberschrubben mussten, ehe sie nach Hause gehen durften. Während sie den Schmutz von den Fenstern des Klassenzimmers kratzte, spähte Xiaoxiao gern nach draußen in den dunklen Nordhimmel, und sie malte sich in ihrer Phantasie jene entlegenen Orte aus, von wo Mandarinen und Drachenfrüchte und Bananen kamen.

Dahai

In einem Vorort von Beijing spielte ein Junge mit Patronen. Dahais Vater war Soldat gewesen, wie vor ihm dessen Vater, der im Koreakrieg gekämpft hatte. Die Familie Yu kannte sich aus mit Waffen. Sie stammte ursprünglich aus Suizhou, im Norden der im Landesinnern gelegenen Provinz Hubei. Im Jahr 1986, als Dahai ein Jahr alt war, wurde sein Vater jedoch in die Hauptstadt abkommandiert.

Beijing ist auf drei Seiten von Gebirgszügen umschlossen; ihren gewölbten Rücken wendet die Stadt der Mongolei zu, während ihr offenes Gesicht nach Südosten blickt. Ende der neunziger Jahre war die Stadt schon längst über ihre Stadtmauern aus der Zeit der Ming-Dynastie hinausgewuchert; diese selbst waren während der Mao-Ära niedergerissen und durch eine Ringstraße ersetzt worden. Innerhalb dieser Ringstraße verstopften Millionen von Fahrrädern die Hutong-Gassen der Altstadt, die in rasantem Tempo dem Erdboden gleichgemacht wurden, um Platz für Hochhäuser zu schaffen. Weiter draußen, an den dünner besiedelten Rändern der sich ausbreitenden Stadt, ragten ganze Scharen massiver Baukräne wie Galgen für die Titanen in den Himmel.

Dahais Familie wohnte noch weiter draußen, auf einem Militärgelände im Kreis Miyun, zehn Kilometer nordöstlich der Stadtgrenzen, im Schatten der nördlichen Berge. Die Volksbefreiungsarmee ist über zwei Millionen Mann stark und ein autarker kleiner Staat im Staate. Sowohl die Kampfeinheiten als auch Arbeiter wie Dahais Vater – der für Bauprojekte der Armee verantwortlich war – sind in diesen geschlossenen militärischen Siedlungen untergebracht. Manche davon sind riesig, regelrechte Städte für sich, mit eigener Wasserversorgung, Feuerwehr und Polizei. In den Kantinen zahlt man oftmals mit Lebensmittelgutscheinen statt mit Geld. Alle werden streng bewacht, und Außenstehende dürfen das Gelände nicht ohne Begleitung betreten.

Für Dahai war diese militärische Siedlung die Welt. Sie lag am Ende einer unbenannten Straße am äußersten Rand von Miyun; eine steil abfallende Felswand bildete zu einer Seite hin eine natürliche Barriere. An der westlichen Pforte winkte ein gelangweilter Wachposten in einem Schilderhäuschen Bewohner durch. In einem Innenhof zwischen den Wohnblöcken waren sechs Tischtennistische mit Nägeln im Beton befestigt, als wäre dies genau die richtige Menge an gemeinschaftlichem Zeitvertreib. Eine weitläufige, niedrige Halle an einem Ende der Siedlung diente als Kantine, Kino und Tanzsaal zugleich. Am anderen Ende befanden sich ein zweites Kino sowie ein Badmintonplatz und ein Zierteich in einem Kreisverkehr. Zwei Industrieschornsteine ragten hinter allem empor und stießen Rauch aus der Fabrik aus, in der diese Armeeeinheit militärischen Kleinkram herstellte.

Dahai hatte jede Menge Spielkameraden – Kinder anderer Soldaten und Arbeiter –, und fast alle gingen sie auf dieselbe Schule gleich vor den Toren der Siedlung. Draußen war eine ganz andere Welt, eine voller Regeln und Vorschriften. Drinnen, auf dem militärischen Gelände, konnten sie sich paradoxerweise frei bewegen und wurden kaum überwacht. Sie spielten so etwas Ähnliches wie Pog mit Kronkorken: Wenn man seinen Korken auf den eines anderen schnippte, konnte man diesen für sich beanspruchen. Außerdem gab es Spielzeugpistolen, mechanische Springfrösche und farbige Kugeln, die einen lauten Knall erzeugten, wenn man sie aneinanderstieß – genau das Richtige, um Mädchen von hinten zu erschrecken.

Ein kurzes Gleis führte von der Fabrik zu einem höhlenartigen Lagerraum am Osttor. Schwere Kisten mit Munition und KFZ-Teilen wurden auf einer Lore dorthin gerollt und hoch aufgestapelt, bevor sie von Armeelastwagen abtransportiert wurden. Dahai und den anderen Kindern war der Zutritt zur Fabrik und ins Lager verboten, und so wurde es zu ihrer Lieblingsbeschäftigung, sich hineinzuschleichen. Sie spielten Verstecken und stibitzten klirrende, glänzende Patronen direkt vom Fließband – kurze, dicke, lange und konische für Gewehre. Sie legten sie auf die Schienen, so dass sie von der drüberrollenden Lore zu Speerspitzen plattgewalzt wurden. Diese befestigten sie anschließend mit Schnur an Stöcken, um damit Krieg zu spielen.

Dahai war ein hagerer Junge mit runder Drahtgestellbrille und verschmitztem Grinsen. Kaum dass er in die Pubertät kam, schoss er in die Höhe wie Bambus, und Aknepusteln sprossen auf seinem Gesicht. Er trug immer das verknotete rote Halstuch, das in China zur Grundschuluniform gehört und ein Kennzeichen der Jungen Pioniere ist. Sein Vorname, Hai, bedeutet »Meer«, aber Spitznamen sind in China üblich, wo der vollständige Name zu formell ist und ein einzelnes Schriftzeichen sich seltsam anhört, es sei denn, man doppelt es. Als der größte unter seinen Freunden wurde er so zu Dahai – »Großes Meer« –, sein kleiner Bruder dagegen zu Xiaoyang, »Kleiner Ozean«.

Als sie alt genug waren, um von ihren Eltern auf Ausflüge mitgenommen zu werden, entdeckte Dahai, dass es auch ein Leben jenseits der Militärsiedlung gab. Jedes Jahr besuchten sie den Stausee, für den Miyun berühmt ist, ein beliebtes Ziel für Touristen, mit grünen Hügeln und einst klarem Wasser. Sie unternahmen Wochenendausflüge zur Großen Mauer und zu den Gräbern der Ming-Kaiser. Ein etwas abenteuerlicherer Familienurlaub führte sie in einen Freizeitpark namens »Minsker Welt« in der südchinesischen Stadt Shenzhen, wo ein ausgemusterter sowjetischer Flugzeugträger, die »Minsk«, als Touristenattraktion vor Anker lag. Seine Mutter machte Fotos von Dahai, wie er vor dem Flugzeugträger sowie vor einem sowjetischen Raketenwerfer und einem ausgemusterten Panzer posierte, und klebte sie in ein Album, um sie vielleicht einmal irgendwelchen Mädchen zu zeigen, die er Jahre später mit nach Hause bringen mochte.

Im Teenageralter war Dahai dem Spielen mit Kronkorken und Patronen entwachsen, und er war alt genug, sich den Gangs anzuschließen. Es gab zwei, jede mit fünfzig bis hundert Schülern: die Bettler-Gang und die Roter-Stern-Gang. Dahai schloss sich den Bettlern an, die so genannt wurden, weil sie bei örtlichen Läden um Leckereien bettelten. So lenkten sie die Ladeninhaber ab, während Komplizen heimlich Süßigkeiten und Zigaretten aus den Regalen klauten. Wenn sie nicht in der Schule waren, radelten Gangmitglieder in großen Gruppen über das Gelände und hielten Ausschau nach dem Feind. Schlägereien waren an der Tagesordnung, und die Bettler und die Roten Sterne trafen sich regelmäßig zu abgesprochenen Kämpfen, bei denen nicht nur Fäuste, sondern auch Stöcke, Stangen und Steine zum Einsatz kamen. Die Anführer der Gangs wurden laoda, »alter Großer«, genannt, das chinesische Wort für Mafia-Boss.

Bevor er auf die Oberschule ging, durfte Dahai mit echten Waffen spielen. Seit 1985 können alle chinesischen Schüler und Studenten eine militärische Grundausbildung (junxun) absolvieren, und nach den Tiananmen-Protesten von 1989 wurde die Teilnahme daran verpflichtend, mit dem klaren Ziel, Schülern und Studenten die Tugend der Fügsamkeit einzubläuen. Die Ausbildung findet sowohl vor der Oberschule als auch vor dem Studium statt, manchmal auch zu Beginn der Mittelschule – und sie dauert jeweils zwischen einer und zwei Wochen. Tausende von Teenagern in vollem Tarnanzug marschieren und exerzieren gemeinsam, und wenn sie gerade nicht auf den Beinen sind, nehmen sie an hurrapatriotischen Vorträgen teil. Die Jungen dürfen kein langes oder gefärbtes Haar tragen, und den Mädchen sind Accessoires verboten.

Dahai, der ein militärisches Umfeld und das ganze Drumherum aus seiner Kindheit gewohnt war, kam schnell klar. Im Übrigen setzten sich die Schüler sowieso über die meisten der strengen Vorschriften hinweg. Bei einer Schießübung durften sie scharfe Munition abfeuern, aber ansonsten dreh­te sich fast alles um Disziplin: Die Ausbilder sagten ihnen, wie sie stehen, gehen und gemeinsam schreien sollten, da­mit sie sich wie eine Stimme anhörten. Der Tag begann früh­morgens mit einem Dauerlauf um 5 Uhr, noch vor dem Frühstück. Das Kantinenessen bestand aus einer matschigen Pampe. Aber das Militärcamp hatte auch seine Vorzüge. Man konnte hier nämlich mit Klassenkameraden im selben Schlafsaal sehr schnell Einigkeit darüber erzielen, wie sehr man all dies hasste, und außerdem war es eine gute Gelegenheit, um mit Mädchen zu flirten.

Die Oberschule war genauso streng reglementiert. Die Miyun Oberschule Nr. 1 hat die Größe eines Gefängnisses und könnte nach dem gleichen Plan gebaut worden sein. Wie die meisten Schulen in China hat sie ein imposantes Eingangstor mit einer Verkehrsschranke. Um das gesamte Gelände zieht sich ein mit Stacheldraht bewehrter Zaun, an dem rote Banner mit Parolen hängen. »Tugendhaft werden, die Jugend bilden«. »Glücklich und gesund aufwachsen«. Oben auf jedem Unterrichts- oder Wohngebäude waren Schriftzeichen mit jeweils anderen Botschaften angebracht. »Fleißig lernen, den Ruf der Schule verbessern«. Dahai nahm kaum Notiz davon – sie gehörten zum Hintergrund, wie die nichtssagenden Inhalte, die sie zum Ausdruck brachten. »Folge dem Kern des Sozialismus«. »Liebe das Vaterland heiß und innig«.

Jeden Morgen stellten sich die Schüler, die weit geschnittene blaue und rote Trainingsanzüge anhatten, zu Morgenappell und Gymnastik in schnurgeraden, gestaffelten Reihen auf dem Innenhof auf. Unabhängig von ihrem Geschlecht tragen alle Schülerinnen und Schüler in China verschiedene Varianten dieser Schuluniformen. Dabei geht es auch darum, jeglichen Hinweis auf die aufkeimende Sexualität junger Mädchen zu verbergen. In den Klassenzimmern hingen Poster mit Bildern, die inspirierende Persönlichkeiten zeigten – etwa den Schriftsteller Lu Xun oder Lei Feng, den Vorzeige­arbeiter aus der Mao-Ära –, als Vorbilder für die Schüler, gleich neben laminierten 30-Punkte-Anweisungen für die täglichen Augenübungen. Das Herzstück des Campus war ein asphaltierter Innenhof mit zwanzig Basketballkörben.

Trotz seiner Körpergröße war Dahai kein guter Sportler. Und auch der Lerndrill tat ihm nicht gut, er wurde von einer Klasse in die andere abgeschoben, förmlich eingepfercht von den Erwartungen der Lehrer. Am meisten hasste er die Kultur des Gehorsams, in der das Wort des Lehrers die reine Wahrheit war. Wie im militärischen Ausbildungslager wurde ihm auch hier gesagt, er solle das, was man ihm beibrachte, unreflektiert hinnehmen. Falls er widerspräche, bekäme er vielleicht einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Noch schlimmer waren die Aufsichtsschüler – im Allgemeinen diejenigen mit den besten Noten oder Familienbeziehungen –, die sich für etwas Besseres hielten, sobald sie auch nur ein bisschen Macht besaßen.

Dahai war mittlerweile zu alt für die Bettler-Gang und nutzte seine Freizeit, um auch Bücher zu lesen, die nicht auf dem Lehrplan standen. Japanische Comics und Romane von Murakami waren seine Lieblingslektüre, doch er entdeckte außerdem zwei Autoren, deren Werke ihn besonders stark ansprachen. Der erste war Wang Shuo, der wie Dahai auf einem Militärgelände in Beijing geboren wurde und als Vater der chinesischen »Hooligan-Literatur« gilt. Der Roman, der ihm zum Durchbruch verhalf, Wilde Tiere, handelte von einer Gang von Halbstarken aus der Militärsiedlung, die sich während der Kulturrevolution hemmungslos austoben. Der zweite war Han Han, ein Mittelschulabbrecher und literarisches Ausnahmetalent, der in seinem ersten Roman Die dreifache Tür, den er im Alter von 18 Jahren veröffentlichte, Chinas starres Bildungssystem verspottete. Chinesische Schulen, so eine seiner prägnanten Metaphern, würden Schüler wie Essstäbchen produzieren, die alle genau die gleiche Länge hätten.

Dahai wollte ein Essstäbchen anderer Länge sein. Er notierte alles in seinem Tagebuch: seine Hoffnungen, seine Enttäuschungen, das Mädchen, in das er verknallt war. Und eines Morgens im Mai 2004, zwei Wochen bevor er die College-Aufnahmeprüfung machte, vergrub er es am Gipfel des Berges nördlich des Militärgeländes. Er deponierte die Kiste in einem Loch unter den Wurzeln eines Baums und scharrte die Erde mit bloßen Händen darüber, bis sie ganz bedeckt war. Es war seine Zeitkapsel; die Erde war ihr Leser. In zehn Jahren, so sagte er sich, würde er sie ausgraben.

Fred

Banyan-Bäume mochte sie am liebsten. Sie waren nicht so weitverbreitet wie Kokosnussbäume, aber hübscher anzusehen mit ihren gewundenen Stämmen und den Schleiern von Zöpfen, die bis zu den Wurzeln reichten. Auf der tropischen Insel Hainan, im tiefen Süden Chinas, gediehen sie so zahlreich, dass es eine helle Freude war. Die Provinz am untersten Rand der Landkarte schwebt wie ein großer Tropfen, der gerade aus dem Leib Chinas ins Meer gefallen ist, unterhalb einer Halbinsel westlich von Hongkong und der Megalopolis des Perlflussdeltas. Lässt man eine Schar strittiger Felsen im Südchinesischen Meer außen vor, ist es die südlichste Region der Volksrepublik – politisch, nicht aber geographisch Teil des Festlands.

Im Süden Chinas kann man den Eindruck bekommen, in einem gänzlich anderen Land zu sein als im Norden. Felder, auf denen Weizen angebaut wird, weichen in Berghänge geschnittenen Reisfeldern, und trockenes gelbes Land geht in sattes Grün über. Die Menschen hier sind oft von kleinerer Statur und sprechen Kantonesisch oder eine Vielzahl von Dialekten, die für Chinesen aus dem Norden unverständlich sind, wo man überwiegend Mandarin spricht. In ihren jeweiligen Küchen spiegeln sich die Unterschiede ihrer Wesensart wider: Chinesen aus dem Norden braten ihr Fleisch kurz und sprechen unverblümt, mit einer Schärfe, die mitunter allerdings nur oberflächlich ist; die aus dem Süden schmoren, kochen und dünsten, doch hinter einem milden Äußeren verbergen sich mitunter subtile und scharfe Geschmacksnuancen.

Hainan selbst liegt auf derselben Breite wie die Karibik. Mitte Dezember beträgt die Durchschnittstemperatur 20 Grad, und die Sommer können bis zu 40 Grad heiß werden. Es gibt Sandstrände, Palmen, Litschibäume und Ba­nanenstauden, Mangos und Passions- sowie Mangostanfrüchte. In dem Badeort Sany kann man schnorcheln, surfen, mit Bananenbooten und Jet-Skis fahren, während Touristen aus ganz China (insbesondere aus dem frostigen Nordosten) in Strandpyjamas und Facekinis aus Kunststoff im Meer plantschen. Mit etwas Glück bekommt man in dem sattgrünen Zentralgebirge einen Hainan-Schopfgibbon zu Gesicht. Wenn man Pech hat, fällt eine Schlange von einem Baum auf einen herunter.

Eine Fährfahrt vom Kontinent entfernt liegt die Inselhauptstadt Haikou, die sich dicht an die Nordküste schmiegt. Der Name bedeutet wörtlich »Mund des Meeres«, aber im Volksmund wird sie auch »Kokosnussstadt« genannt. Man kann in jedem Laden an der Ecke eine Kokosnuss erstehen, sie aufhacken lassen und die Milch mit einem Strohhalm trinken. Die spindeldürren Bäume säumen die Straßen, und nur hin und wieder wird jemand durch eine herabfallende Nuss getötet. In einer bewachten Wohnanlage im Osten der Stadt ragt ein solcher Baum in einem Winkel von 45 Grad über der Straße auf wie ein angehobener Schlagbaum. Weiter drinnen befindet sich ein Steingarten mit einem Miniaturwasserfall und einem sandigen Park. Die Gebäude haben säulenverzierte Balkone im europäischen Stil, ein architektonischer Import, der sich einstigen Auswanderern verdankt, die aus ehemaligen britischen Kolonien in Malaysia zurückgekehrt sind.

Dem Mädchen, das in diesem luxuriösen Umfeld aufwuchs, fehlte es an nichts. Ein Dienstmädchen, das mit im Haus lebte, wusch ihre Kleidung und kochte für sie. Wenn sie in der Stadt herumgefahren oder zur Schule gebracht werden musste, übernahm das der Chauffeur der Familie im Mitsu­bishi. Da sie ein Einzelkind war, scheute man keine Ausgaben für ihren Komfort und ihre Bildung, und gerade das Beste war gut genug für sie. Es gibt einen Namen für diese Söhne und Töchter begüterter Chinesen, die ein Leben wie in einem goldenen Käfig führen: fu’erdai, die »reiche zweite Generation«. Sie selbst gehörte einer nahe verwandten Sippe an: guan’erdai, den Sprösslingen hoher Parteifunktionäre.

Es gibt Zigmillionen Funktionäre der Kommunistischen Partei in China, in unterschiedlichsten Rängen, darunter jene, aus denen sich die gigantische Verwaltung des Landes zusammensetzt. Der Vater des Mädchens war seit Jahrzehnten Teil des Apparats, zunächst in einer Personalabteilung und später in höheren Positionen (seine Amtsbezeichnung und sein Familienname werden hier nicht offengelegt, um seine Identität zu schützen). Sein Gehalt war wie das aller Beamten nominell niedrig, aber die Stellung war mit einer Wohnung, einem Auto und weiteren Vergünstigungen verbunden. Ihre Mutter, die ebenfalls der Kommunistischen Partei angehörte, war Professorin an einer der Partei-Hochschulen, an denen angehenden Kadern das Einmaleins der kommunistischen Ideologie und Regierungsführung beigebracht wurde.

Als sie neun war, reiste ihr Vater nach Guangzhou, der nächstgelegenen Metropole, um ihr einen in China hergestellten Konzertflügel zu kaufen. Sie übte täglich eine Stunde. Zusätzlich zu ihren Hausaufgaben, dem Lektürepensum und den Schachübungen war es eine weitere Routine in einer Kindheit, die von ehrgeizigen Eltern mit Pflichtterminen überfrachtet wurde. (Es mag auf Hainan keine Tiger geben, aber dafür gibt es »Tiger-Mütter«.) Am liebsten spielte sie Klavier – insbesondere Stücke von Frédéric Chopin und Franz Schubert. Aus deren beiden Vornamen flocht sie sich ihren eigenen Namen – Frederanz –, den sie zu »Fred« verkürzte.

Auch als Schülerin ragte Fred heraus: Sie war Klassenbeste, wusste stets als Erste die Antwort und schrieb in säuberlichen kleinen Schriftzeichen vollkommene Aufsätze. In ihrer Freizeit las sie Stolz und Vorurteil, Jane Eyre und Eine Geschichte aus zwei Städten in Übersetzung sowie die vier klassischen Romane Chinas. Der Traum der Roten Kammer gefiel ihr dabei am besten, insbesondere die Beschreibungen von Intrige und Verrat in einer Adelsfamilie. Unterdessen war die Bibliothek zu Hause mit stumpfsinnigerer Kost bestückt: Zitate von Mao Zedong in dicken roten Wälzern neben den Biographien von Revolutionären, aber auch fremdländische politische Philosophie in Übersetzung aus der Sammlung ihrer Mutter, unter anderem Adam Smith und John Stuart Mill.

Am schlimmsten war der Staatskunde-Unterricht. Patriotische Erziehung – eine Kampagne, die 1991 als Reaktion auf die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens lanciert wurde – ist für alle chinesischen Schüler verpflichtend. Von der Mittelschule bis zum Abschluss an der Universität kommt jeder Schüler beziehungsweise Student auf fast tausend Stunden in diesem Fach. Fred ließ zwei Wochenstunden über sich ergehen, deren jeweils fünfzig Minuten sich schier endlos hinzogen. Zu den Unterrichtseinheiten gehörten »Das politische Denken Mao Zedongs«, »Deng Xiaopings Wirtschaftstheorie« und »Jiang Zemins Lehre vom Dreifachen Vertreten«. Das vorherrschende historische Narrativ lautete, dass die Kommunisten nach einem Jahrhundert der Demütigung durch fremdländische Mächte China befreiten. Ob der ganze Drill dazu dienen soll, das politische Bewusstsein zu vertiefen oder den Schülern selbiges gänzlich auszutreiben, ist unklar. Fred sah lieber aus dem Fenster im fünften Stock auf die Kokosnüsse, die draußen baumelten.

Sie ging auf die beste Schule in Haikou, mit Fluren, die mit Marmor ausgelegt waren, und hoch aufragenden Gebäuden. In der Eingangspforte steht eine Konfuzius-Statue, aber die Partei ist ansonsten allgegenwärtig. Auf Sockeln überall auf dem Gelände sind lackierte Steinbüsten von Marx, Engels und Lenin zu sehen. Zur Verärgerung des Schulleiters zogen Fred und ihre Freunde den Büsten aus Spaß Pullis und Schals an. Fred wurde aufgefordert, als Klassenwächterin ihre Mitschüler zu beaufsichtigen, aber es kam ihr als bloßes Theater vor, und so entzog sie sich schon nach einer Woche dieser Verantwortung, um sich besser aufs Lernen konzentrieren zu können. Als sie einmal bei einer Klassenarbeit in Staatskunde 77 von 100 Punkten erreichte, war ihre Mutter außer sich.

Ihre eigentliche politische Erziehung fand zu Hause statt, wo Fred intime Einblicke in das Innenleben der Kommunistischen Partei erhielt. Als ihr Vater in der Personalabteilung arbeitete, hatte er mitbekommen, wie die Ämtervergabe auf kommunaler Ebene ablief. Bei Tisch beklagte er immer wieder, dass Spitzenbeamte ihre Position nur dank Beziehungen und nicht aufgrund ihrer Leistung erhielten. Netzwerke der Vetternwirtschaft und Klüngelei, die durch wechselseitige Geschenke und Kontaktpflege unter Männern bei Festessen zementiert wurden, gehörten einfach dazu. Wer keine Leber aus Stahl hatte, die all die mit Hochprozentigem ausgebrachten Toasts verkraftete, war hier fehl am Platz.

Er selbst lernte, das Spiel zu spielen, je höher er aufstieg; er bewirtete andere Amtsträger in Nobelrestaurants und wurde seinerseits bewirtet. Sie aßen Schwalbennestersuppe, Seegurke und andere Delikatessen und lernten, das Spesenkonto zu schätzen. Fred war zu diesen Schlemmereien nicht eingeladen, begleitete ihre Eltern jedoch oft zu Hausbesuchen. Dort sah sie große Schnitzereien aus Jade und marmorne Interieurs. Eine Golduhr hier, Designerbrillen da. Die Erwähnung eines Kindes, das an einer renommierten ausländischen Hochschule studierte. All dies waren Hinweise auf einen Lebensstil, der nicht so recht zu dem offiziellen Gehalt passte.

Geschäftsleute bemühten sich unablässig um die Gunst ihres Vaters. Fred erinnert sich, dass ein örtlicher Bauträger, der sich um ein Projekt bewarb, einmal einen Obstkorb bei ihnen zu Hause abgab und dann gleich wieder ging. Später fand ihr Vater, am Korbboden verborgen, ein großes Armband aus der kostbarsten Jade-Varietät, das einige Zehn­tausend Yuan wert war. Er ließ den Unternehmer zu sich kommen und gab ihm das Armband zurück. Beim Frühlings­fest waren Freds rote Umschläge immer prall gefüllt mit zusätzlichem Glücksgeld, manchmal waren in jedem über 1000 Yuan.

Eine der Aufgaben ihres Vaters nach seiner Beförderung waren Besuche in Dörfern, in denen eine Wahl anstand. In den achtziger Jahren hatte die chinesische Regierung Kommunalwahlen zunächst im kleinen Rahmen eingeführt, seit der Jahrtausendwende waren sie dann aber landesweit üblich. Gewählt wurde der Dorfvorsteher, ein Amt, das getrennt war von dem des örtlichen Parteichefs (und wohl auch weniger einflussreich als dieses), welches in einem weniger partizipatorischen Verfahren besetzt wurde. Wahlen verliehen dem Dorfvorsteher Legitimation und behoben so ein heikles Problem der ländlichen Verwaltung, doch zugleich waren sie ein vorsichtiger Versuch in Demokratie auf einer Ebene, auf der am wenigsten auf dem Spiel stand.

In vielerlei Hinsicht muss das Experiment als gescheitert gelten. Dorfbewohner hatten ein niedriges Bildungsniveau, und Wahlen wurden oftmals zu tribalen Angelegenheiten, bei denen Gruppen für den Kandidaten stimmten, der den gleichen Familiennamen trug wie sie. Genauso häufig war der direkte Stimmenkauf. Einige erwarteten vom örtlichen Parteichef, dass er ihnen bedeutete, für wen sie stimmen sollten, dann wieder kandidierte der örtliche Parteichef selbst für das Amt des Dorfvorstehers. Das Ergebnis wurde regelmäßig angefochten, manchmal kam es sogar zu Ausschreitungen. Wenn sich der erste Wirbel gelegt hatte, begab sich Freds Vater immer in Begleitung zweier Polizisten vor Ort, und seine Aufgabe war es, dem Gewinner den offiziellen Segen der Kommunistischen Partei zu erteilen – manche würden allerdings behaupten, dass dadurch das genaue Gegenteil dessen erreicht wurde, was ursprünglich beabsichtigt worden war.

Fred hatte in der Schule alles über Demokratie gelernt. Es war kein Schimpfwort: Die obersten Staatslenker Chinas sprachen in ihren Reden ständig von »Demokratie« und stellten sie sogar als einen nationalen Wert hin. Aber es war immer Demokratie mit einem kleingeschriebenen »d«. Ein vages Bewusstsein für ein Handeln im Interesse des Volkes, den »Dienst am Volk«, aber nichts so Konkretes oder Verpöntes wie landesweite Wahlen in einem Mehrparteiensystem. Das Wort selbst ist im Chinesischen kaum älter als hundert Jahre: minzhu, die Schriftzeichen für »Volk« und »Herrschaft«, die ursprünglich im Japanischen zusammengefügt und später nach China importiert wurden. Die wörtliche Übersetzung lautet »Herrschaft des Volkes«, aber im offiziellen Sprachgebrauch hört es sich eher wie »Herrschaft für das Volk« an. In die Wahlpraxis umgesetzt, hielt die »Demokratie« jedenfalls nicht, was sie versprach, wie Fred von ihrem Vater hörte.

Geschichte war ein weiteres Thema ihrer Tischgespräche. Freds Eltern wollten unbedingt, dass sie die wahre Geschichte Chinas erfuhr, nicht die zensierte Fassung, die man ihr in der Schule beibrachte. Durch ihren offiziellen Status abgesichert, erzählten sie ihr von Hungersnot und ideologischem Irrsinn während des Großen Sprungs nach vorn und der Kulturrevolution. Tiananmen beschönigten sie zwar, und trotzdem waren ihre Einlassungen dazu bemerkenswert. Die meisten Nach-Achtziger erfahren von ihren Eltern nichts über Chinas jüngste Vergangenheit: Warum sein Kind mit diesem Wissen belasten, wenn es womöglich dadurch in Gefahr gerät?

Eine Familiengeschichte, die einen nachhaltigen Eindruck auf Fred machte, drehte sich um ihren Großvater, der in den sechziger Jahren im Bildungsministerium tätig gewesen war. Als sich der politische Wind drehte, fiel der Großvater jäh in Ungnade und musste zum Zweck der Umerziehung sechs Jahre lang Zwangsarbeit an einem Damm in den Bergen Hainans verrichten. Jahre später wurde er rehabilitiert, nachdem er Demütigungen wie den »Yinyang-Kopf«, den zur Hälfte kahl rasierten Schädel, über sich ergehen lassen musste, während Teenager der Roten Garde seinen Sohn, Freds Vater, mit Steinen bewarfen. Fred konnte diese Geschichte nicht mit dem gebeugten, aber lächelnden Mann, den sie als Großvater kannte, in Einklang bringen, ebenso wenig Berichte über Menschen, die damals Baumrinde essen mussten, um zu überleben, mit dem Überfluss um sie herum, oder das Engagement ihres Vaters für die Kommunistische Partei mit der Tatsache, dass er als Junge von Mitgliedern der KP-Nachwuchsorganisation mit Steinen beworfen worden war. Es hörte sich mehr nach einem Märchen als nach historischer Wahrheit an.

Diese Zeiten waren vorüber, und Freds Eltern interessierten sich jetzt vor allem für die Frage, wie man der nächsten Generation ein Leben in Wohlstand ermöglichen konnte. In dieser Hinsicht war das Beamtentum die kluge Option: die sprichwörtliche »eiserne Reisschüssel«, die sinnbildlich für ein gesichertes, auskömmliches Leben steht, mit der Besonderheit, dass diese Schüssel vergoldet war. Ungeachtet aller Verbrechen, die sich die Partei in der Vergangenheit zuschulden kommen ließ, hielt sie China noch immer zusammen. Man konnte gut mit dieser kognitiven Dissonanz leben, da sich das Machtzentrum im 2000 Kilometer entfernten Beijing befand. »Die Berge sind hoch, und der Kaiser ist weit weg«, lautete das alte Sprichwort – und das bergreiche Hainan war sogar so weit vom Machtzentrum weg, wie man es in China nur irgend sein konnte.

Glücklich, wer diesen lieblichen Landstrich seine Heimat nennen konnte. Inselbewohner wie Freds Familie, die ethnische Han waren, sich aber bereits vor Generationen auf Hainan angesiedelt hatten, rühmten sich einer entspannten Einstellung zum Leben. Die langen Nachmittage waren mit Teetrinken, Mah-Jongg-Marathons und Dim-Sum-Gerichten oder dem Verzehr frischer Meeresfrüchte ausgefüllt, während man in der sanften Seebrise gemütlich miteinander plauderte. Der Bau neuer Golfplätze ist in China seit Anfang der Nullerjahre – als kapitalistischer Exzess – verboten; dennoch hat Hainan über zwanzig davon (Bauunternehmer nannten die Plätze »naturnahe Erholungsgebiete«).

Am Wochenende und in den Ferien fuhren Freds Eltern mit ihr in die Berge im Innern der Insel, wo sie ein Zweithaus besaßen. Sie las, angelte in den Bächen und spielte mit Kindern der indigenen Minderheit. Aber sie war immer rechtzeitig zurück, um zusammen mit den Eltern um 19 Uhr die Abendnachrichten des Staatsfernsehens zu schauen, ein todlangweiliges, staatlich kontrolliertes Programm, das gleichzeitig in ganz China zu empfangen war – ein Familienritual. Fred wusste, dass sie früher oder später Hainan verlassen würde. Eine ganze Nation lag nördlich von ihr. Aber hier in der abgeschiedenen Geborgenheit dieser Inselberge wollte sie einstweilen noch nichts davon wissen.

Snail

Früher war der Teich hinter dem Dorf klar und sauber gewesen. Als Kind spielte Miao Lin darin, mit einem Zweig stocherte er nach Gehäuse- und Nacktschnecken sowie winzigen Krabben. Er planschte im seichten Uferbereich herum und schöpfte Wasser mit hohlen Händen, um vorbeikommende Kinder damit zu bespritzen. Da der einzige Weg ins Dorf an dem Weiher vorbeiführte, wurde früher oder später jeder nass.

Die ausgedehnten Anbaugebiete im Norden der Provinz Anhui, westlich von Shanghai, sind eine historische Landschaft nahe der Wiege der chinesischen Zivilisation. Der taoistische Weise Laozi soll ganz in der Nähe geboren worden sein, ebenso der General Cao Cao, der in den Chroniken der drei Reiche verewigt wurde. Pearl S. Buck ließ ihren klassischen Roman Die gute Erde hier spielen, die Lebensgeschichte eines Kleinbauern, der es vorübergehend zu unverhofftem Reichtum brachte und der die gleichen Felder bestellte, die man noch heute hier überall sehen kann. Der Norden der Provinz Anhui ist eine der ärmsten Regionen Chinas, und in den neunziger Jahren begannen die Männer und Frauen von dort, ihr Glück in den Städten zu suchen – im Zuge der größten Landflucht in der Menschheitsgeschichte.

Miao Lins Familie hatte dieses Land seit Jahrhunderten bearbeitet, aber sein Vater schloss sich dem Exodus an, als der 1987 geborene Miao Lin sechs Jahre alt war. Er ging als Bauarbeiter nach Jiangsu und von dort nach Henan und Hebei und wieder zurück; er wechselte seine Stellen wie Kleidungsstücke und schickte jeden Monat Geld nach Hause. Miao Lins Mutter und Großeltern väterlicherseits kümmerten sich während seiner Abwesenheit um die Feldfrüchte. Im Herbst pflanzten sie Weizen, im Sommer Sojabohnen und Zuckermais sowie Weißkohl, Chilischoten und Pak Choi (Senfkohl) in Kleingärten rings um ihr Haus. Kein Zoll Land blieb ungenutzt.

Selbst als ein quasi halb verwaistes Kind war Miao Lin nicht allein. Chinas Ein-Kind-Generation mangelt es nie an Gesellschaft, da jedes Kind ständig von Gleichaltrigen umgeben ist. Die drei Cousins Miao Lins waren wie seine Brüder, und sie alle hatten ungefähr das gleiche Alter. Der Familienname Miao – den die meisten Bewohner des Dorfes teilten – verknüpft zwei Ideogramme, »Gras« über »Feld«. Sein Vorname Lin bedeutet »Wald«, und das Schriftzeichen besteht aus zwei Ideogrammen für »Baum« nebeneinander. Seine Cousins Miao Sen, Miao Guodong und Miao Mei teilen alle das gleiche Baum-Ideogramm in ihren Vornamen – ein Insiderwitz ihrer jeweiligen Väter, weil Bäume auf grasbewachsenen Feldern wachsen.

Zusammen mit den anderen Kindern des Dorfes spielten die vier eine Version von Räuber und Gendarm mit nur einer Spritzpistole (wer sie hatte, wurde »König der Kinder« genannt). Wenn sie auf einer Lichtung im Röhricht ein Vogelnest fanden, spähten sie hinein und stibitzten manchmal die Eier. Verstecken war ein weiteres Lieblingsspiel, und es gab jede Menge guter Verstecke: Spalten und kleine Höhlen in den Ziegel- und Lehmhäusern, Schweinepferche und Kuhställe, Bäche und Gehölze. Das ausgefuchsteste Versteck Miao Lins waren die Außentoiletten hinter jedem Haus, Plumpsklos aus Ton und Erde mit einem Loch über einer Grube, in dem fruchtbaren Boden gleich daneben gedieh das Gemüse.

Das Dorf, Tangzhangcun im Landkreis Sixian, war eine zweistündige Busfahrt von der nächsten größeren Stadt entfernt. Es zählte über hundert Haushalte, und Miao Lins einstöckiges Haus lag am westlichen Ende des Dorfes, am nächsten zur Stadt Sixian. Die Lebensverhältnisse waren sehr einfach. Draußen stand eine Brunnenpumpe, und eine Außenmauer umschloss zwei staubige Innenhöfe. Im ersten Hof bewachte ihr Hund »Kleiner Gelber« Hühner, Enten und Gänse. Im zweiten Hof kauerten drei Schweine und eine Kuh an einem Trog. Im Haus gab es einen Raum zum Essen und einen zum Schlafen. Die Küche war ein abgetrennter, äußerer Verschlag an einer Seite des ersten Innenhofs, wenig mehr als ein riesiger Wok über einem strohbefeuerten Herd. Ein anderer Nebenraum diente zum Einlagern der Ernte; ein gigantischer Bottich fasste bis zu zehn Tonnen frisch geschnittenen Mais.

Sie besaßen zwanzig mu Ackerland (ein mu entspricht 666 Quadratmetern) – eine ausreichende Fläche –, die über die westlichen Felder verstreut waren, ein Erbe der Kollektivierung der Landwirtschaft in den fünfziger Jahren. Große Erdhügel ragten etwa alle hundert Meter auf, vier oder fünf je Feld. Es waren die Gräber ihrer Vorfahren, die in der Erde ruhten, von der sie gelebt hatten. Im Mondlicht erinnerten sie an die Silhouetten von Raubtieren, die sich sprungbereit niederkauerten. Bei dem Gedanken, die Gebeine eines entfernten Großvaters lägen noch immer in dem Hügel, der ihrem Haus am nächsten war, lief es Miao Lin kalt den Rücken hinunter.

Seine Familie war seit Jahrhunderten hier ansässig. Während des Bürgerkriegs zwischen Kommunisten und Nationalisten hatte ganz in der Nähe, in Huaihaizhanying, eine große Schlacht stattgefunden. In der Familie erzählte man sich immer wieder, Miao Lins Urgroßvater habe seinen Sohn, Miao Lins Großvater, in einem Strohhaufen versteckt, als Soldaten aufgekreuzt seien, die junge Männer zwangsrekrutieren wollten – auch wenn sich niemand daran erinnert, welcher der beiden Armeen sie angehörten. Ein anderer Onkel verhungerte während des Großen Sprungs nach vorn. In der Zeit der Kulturrevolution hatten sie als Kleinbauern den »richtigen« Hintergrund, um mehr oder minder ungeschoren davonzukommen. Seither aber hatten sich die Zeiten erneut grundlegend gewandelt, und sie waren wieder am Fuß der sozialen Pyramide angelangt.

Ehe es hell wurde, lief Miao Lin dreißig Minuten durch die Felder bis zu seiner Grundschule an der Kreuzung auf dem Weg in die Stadt. Eines Tages sagte sein Lehrer im Unterricht, jedes Kind solle für sich einen englischen Namen auswählen, und er schrieb eine Liste populärer, wenn auch altmodischer Namen aus einem Buch an die Tafel. Miao Lins Cousin entschied sich für Gordon – das passte. Andere Kinder wurden kreativ und wählten zufällige Wörter, weil sie cool (Dragon, Sky, Rain), ehrgeizig (Lucky, Clever) oder auch einfach nur beschreibend waren (Fatty). Miao Lin dachte an den Teich, an dem er gern spielte, und an das Tier, das sein Heim überallhin mit sich führte, wie er es tun würde, wenn er Anhui verließe. Er schlug das Wort in seinem Wörterbuch nach: Snail.

***

Es gab eine unausgesprochene Abmachung zwischen Snail und seinen Eltern, wonach er, was immer er in diesem Leben machen würde, jedenfalls kein Landwirt werden würde. Zunächst einmal wollte er unbedingt in eine Stadt ziehen, um sich dort dauerhaft niederzulassen und nicht, wie sein Vater, nur als Wanderarbeiter. Auf dem Land hatte seine Familie zeitweise in bescheidenem Wohlstand gelebt, häufiger jedoch Entbehrungen gelitten – jetzt aber gab es für sie dort nur noch Stigmatisierung und Armut, während sich der Rest der Nation in eine urbane Gesellschaft verwandelte. Wenn ihr Sohn nicht herauskäme, würde er hier versauern.

Snail war ein fleißiger Schüler, und seine Eltern wandten ihre ganze Energie und ihre gesamten Ersparnisse dafür auf, ihn zu unterstützen. Als er an einer der besten Oberschulen der Gegend angenommen wurde, in Sixian, waren sie außer sich vor Freude. Weniger als die Hälfte der Kinder in den ländlichen Gebieten Chinas besucht eine Oberschule (der Schulbesuch ist nur bis zum Abschluss der Mittelschule, mit fünfzehn Jahren, verpflichtend), außerdem sind die ländlichen Oberschulen oftmals qualitativ schlechter, da die besten Lehrer von städtischen Schulen abgeworben werden, die mit höheren Gehältern locken. Diejenigen, die nach der Mittelschule abgehen, finden Arbeit in Fabriken und auf Baustellen oder als Wachleute, Köche, Fahrer und Frisöre. Diejenigen, die einen Hochschulabschluss erreichen, haben eine Chance auf ein besseres Leben. Wissen verändert das Schicksal.

Genauer gesagt, wendet Gaokao das Schicksal, wie Snail erkannte. Die Hochschulaufnahmeprüfungen dauern in China gerade mal zwei Tage, aber der dabei erreichte Punktwert (maximal 700) entscheidet darüber, auf welche Universität ein Student geht und folglich, welche beruflichen Türen sich ihm später einmal öffnen. Vom ersten Tag auf der Mittelschule an wird Schülern eingebläut, dass die Vorbereitung auf diese beiden Tage sechs Juni später fortan das Ziel ist, dem sie alles andere unterordnen müssen. Die Tradition, anhand eines einzigen Prüfungsergebnisses die Spreu vom Weizen zu trennen, geht auf das 7. Jahrhundert und die damals eingeführte Prüfung für die Aufnahme in den kaiserlichen Beamtenstand zurück. Man könnte meinen, es hätte sich wenig geändert. Wenn das Tempo an der Oberschule anzieht, büffeln Schüler vierzehn Stunden am Tag, und die besten Absolventen werden in der nationalen Presse gefeiert.

»Kontrolle durch wissenschaftliche Einstellung«, steht an der Fassade von Snails Oberschule in erhabenen Goldlettern geschrieben. »Beschreite den Pfad der innerenEntwicklung«. Im ersten Innenhof zeigt eine Statue im Stil des sowjetischen Realismus einen Schüler, der in der einen Hand einen Fußball und in der anderen eine Rakete hält. Die silberne Kuppel eines Planetariums, ein Kennzeichen besserer chinesischer Oberschulen, kauert wie ein Todesstern auf einem Gebäude. Auf der Rückseite befindet sich ein Fußballfeld mit Zuschauertribünen. Doch trotz all des Glanz und Glorias auf dem Schulgelände sind die Klassenzimmer recht heruntergekommen – Betonfußböden, eine Wandtafel und geschätzte vierzig eng stehende Stühle mit Klapptischen. Die Schüler mussten in Etagenbetten schlafen – je zwölf in einem Zimmer.

Die Alleen, die das Schulgelände durchzogen, sind jeweils nach einer chinesischen Topuniversität benannt, und die Straßenschilder boten einen kurzen historischen Abriss. Snail stand um 6 Uhr früh auf und ging entlang der Tsinghua-Universität-Straße (»gegründet 1911, Ausbildungsstätte der besten Studenten der Naturwissenschaften und Technologie Chinas«) zum Hauptgebäude, wo um 7 Uhr die erste Unterrichtsstunde stattfand. Um die Mittagszeit nahm er die Renmin-Universität-Straße (»gegründet 1937, zur Förderung außerordentlicher chinesischer Talente«) zur Mensa, wo er Schweinefleisch süßsauer oder mit Fischsauce gewürzte Aubergine mit einer Schüssel Reis hinunterschlang. Nach Unterrichtsende joggte er die Fudan-Universität-Straße hinauf (»gegründet 1905, Shanghais führende Stätte der Gelehrsamkeit«) zur Sportanlage, um dort, vor dem Abendessen, sein Fußballtraining zu absolvieren. Dann standen noch Hausaufgaben an, bis um 22 Uhr die Lichter ausgingen.