Die eisigen Säulen des Pluto - Kim Stanley Robinson - E-Book

Die eisigen Säulen des Pluto E-Book

Kim Stanley Robinson

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Beschreibung

Ein Stonehenge aus Eis

Fünfhundert Jahre in der Zukunft sind die inneren Planeten unseres Sonnensystems besiedelt. Männer und Frauen leben Jahrhunderte lang, können sich aber nur an die jüngste Vergangenheit erinnern. Die äußeren Planeten und ihre Monde werden erforscht, und so dringt die erste Expedition bis zum fernen Pluto vor. Am Pol des kleinen Planeten erwartet sie ein gigantisches Monument: ein Ring monolithischer Eisblöcke, die im Licht der fernen Sonne funkeln. Dieses „Icehenge“ stellt die gesamte Menschheitsgeschichte infrage, denn schnell steht zweifelsfrei fest, dass es einst von Menschenhand errichtet worden ist …

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KIM STANLEY ROBINSON

 

 

 

DIE EISIGEN SÄULEN

DES PLUTO

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Fünfhundert Jahre in der Zukunft sind die inneren Planeten unseres Sonnensystems besiedelt. Männer und Frauen leben Jahrhunderte lang, können sich aber nur an die jüngste Vergangenheit erinnern. Die äußeren Planeten und ihre Monde werden erforscht, und so dringt die erste Expedition bis zum fernen Pluto vor. Am Pol des kleinen Planeten erwartet sie ein gigantisches Monument: ein Ring monolithischer Eisblöcke, die im Licht der fernen Sonne funkeln. Dieses »Icehenge« stellt die gesamte Menschheitsgeschichte infrage, denn schnell steht zweifelsfrei fest, dass es einst von Menschenhand errichtet worden ist …

 

 

 

 

Der Autor

Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien Roter Mars, der Auftakt der Mars-Trilogie, die ihn weltberühmte machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. Kim Stanley Robinson lebt mit seiner Familie in Kalifornien.

 

 

Von Kim Stanley Robinson sind im Heyne-Verlag folgende Romane lieferbar:

2312, Schamane, Roter Mars, Grüner Mars, Blauer Mars, Aurora, Das wilde Ufer, Goldküste, Pazifische Grenze, Die eisigen Säulen des Pluto, Sphärenklänge.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

ICEHENGE

Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

Überarbeitete Neuausgabe

© Copyright 1984 by Kim Stanley Robinson

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Thomas Menne

ISBN 978-3-641-20871-4V002

 

 

 

Für

Damon Knight

und

Kate Wilhelm

Teil eins

 

Emma Weil 2248 n. Chr.

 

Den ersten Hinweis auf die Meuterei bekam ich, als wir uns der inneren Grenze des ersten Asteroidengürtels näherten. Natürlich wusste ich damals noch nicht, was es zu bedeuten hatte; es war lediglich eine verriegelte Tür.

Den ersten Gürtel nennen wir den tauben Gürtel, denn seine Asteroiden bestehen aus Basalt, für den Bergbau praktisch wertlos. Doch schon bald würden wir inmitten der kohlehaltigen Gesteinsbrocken sein. Eines Tages ging ich hinunter zur Farm, um mich darauf vorzubereiten. Ich gab den Algen etwas mehr Licht, denn in den nächsten Wochen, wenn die Boote hinauseilten, um das Gestein aufzubrechen und abzubauen, würde es zu einem deutlich höheren Verbrauch an Sauerstoff kommen, und wir würden mehr Chlorella benötigen, um den Gasaustausch im Gleichgewicht zu halten. Ich knipste ein paar weitere Lampen an und begann, mit dem Lösungsmittel herumzuspielen. Biologische Lebenserhaltungssysteme sind nicht nur meine Arbeit, sondern auch mein Hobby (darin bin ich eine der Besten); weil ich Platz für mehr Chlorella schuf, weckte erneut das Problem der überschüssigen Biomasse mein Interesse. Ich wollte die Überproduktion der Algen drosseln, indem ich sie weniger dicht verteilte; also schlenderte ich zwischen langen Reihen Spinat und Kohlköpfen zur Tür eines der Lagerräume im hinteren Teil der Farm, um weitere Tanks zu holen. Ich drehte den Griff der Tür. Sie war verschlossen.

»Emma!«, rief eine Stimme. Ich blickte auf. Es war Al Nordhoff, einer meiner Assistenten.

»Hast du eine Ahnung, warum die Tür abgeschlossen ist?«, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf. »Ich habe mich gestern schon darüber gewundert. Ich glaube, da drin steht irgendwelche geheime Fracht. Man sagte mir, ich soll dort wegbleiben.«

»Das ist unser Lagerraum«, sagte ich irritiert.

Al hob die Schultern. »Frag Captain Swann.«

»Das werde ich auch.«

Eric Swann und ich waren alte Freunde, und es ärgerte mich, dass in meinem Bereich etwas vor sich ging, wovon er mir nichts erzählt hatte. Als ich auf der Brücke eintraf, kam ich daher sofort zur Sache.

»Eric, wie kommt es, dass ich aus einem meiner eigenen Lagerräume ausgesperrt werde? Was ist da drin?«

Sein Gesicht wurde augenblicklich rot, fast wie sein Haar, und er senkte den Kopf. Der Navigator und der Bordingenieur, die sich ebenfalls auf der Brücke aufhielten, starrten auf ihre Bedienungspulte.

»Ich darf nicht sagen, was sich dort drin befindet, Emma. Es ist geheim. Ich darf vorerst überhaupt nicht darüber sprechen.«

Ich starrte ihn an. Ich weiß, ich kann Leute einschüchtern, wenn ich sie nur intensiv genug anfunkle. Sein Gesicht wurde noch einen Ton dunkler, seine Sommersprossen verschwanden in dem roten Glühen, und seine blauen Augen starrten mich wässrig an. Aber er wollte nicht mit der Sprache heraus. Ich schürzte die Lippen und verließ die Brücke.

Das war das erste Anzeichen: eine verriegelte Tür, ein Geheimnis dahinter. Ich sagte mir, dass wir wahrscheinlich für das Komitee irgendetwas nach Ceres brachten. Zweifellos Waffen. Diese Art von Geheimniskrämerei war typisch für das Mars-Erschließungs-Komitee. Aber ich ließ mich nicht zu voreiligen Schlüssen hinreißen, sondern hielt wachsam die Augen auf.

Das zweite Anzeichen hätte ich wahrscheinlich niemals bemerkt, wenn mich das erste nicht aufmerksam gemacht hätte. Ich ging durch den Korridor zu den Speisesälen, vorbei an den Aufenthaltsräumen, als ich Stimmen hinter einer der Türen hörte und stehen blieb. Schon die Stimmen klangen seltsam: leise und hektisch. Ich erkannte John Dancers Organ:

»So etwas können wir vor dem Rendezvous nicht tun, das weißt du genau.«

»Niemand wird etwas bemerken«, erwiderte eine Frau, möglicherweise Ilene Breton.

»Das hoffst du«, antwortete Dancer. »Aber du kannst nicht ausschließen, dass Duggins oder Nordhoff durch Zufall darüber stolpern. Wir müssen mit allem bis nach dem Rendezvous warten, begreif das endlich.«

Dann hörte ich hinter mir auf dem Velcroteppichboden Schritte, zuckte zusammen und setzte mich wieder in Bewegung, vorbei an der Tür zum Aufenthaltsraum. Ich sah hinein; John und Ilene, wie ich vermutet hatte, sowie einige andere. Sie alle blickten auf, als ich in der Türöffnung erschien, und ihre Unterhaltung verstummte abrupt. Ich sah sie an, und sie sahen zurück, als hätte es ihnen die Sprache verschlagen. Ich ging weiter zu den Speisesälen.

Ein Rendezvous im Gürtel. Eine Gruppe von Leuten, nicht die leitenden Offiziere des Schiffs, hatte irgendetwas vor und machte ein Geheimnis daraus. Ein verriegelter Lagerraum … Für mich ergab das keinen Sinn.

Danach begann ich in allem etwas Verdächtiges zu sehen. Die Leute verstummten, wenn ich vorbeiging. In Schlafquartieren fanden nächtliche Zusammenkünfte statt. Einmal ging ich am Funkraum vorbei, und jemand schickte eine lange Botschaft durch die Codiermaschine. Einige andere Lagerräume hinter der Farm waren ebenfalls abgeschlossen, ebenso einige der Erzbunker.

Nach einigen Tagen voller verräterischer Anzeichen schüttelte ich den Kopf und fragte mich, ob ich mir das Ganze nicht nur einbildete. Für alles, was mir aufgefallen war, gab es logische Erklärungen. Das Leben an Bord eines Schiffes begünstigt die Cliquenbildung; auch wenn wir nur vierzig Leute waren, hatten sich nach einem Jahr Expeditionsflug Gruppen gebildet. Außerdem ging es auf dem Mars drunter und drüber. Die Vereinigung der zahlreichen Sektoren unter der zentralen Verwaltung des Komitees ließ allgemeine Unzufriedenheit laut werden. Der Separatismus war weit verbreitet, und man konnte davon ausgehen, dass überall subversive Interessengruppen am Werk waren. Diese Fakten reichten als Erklärung für die kleinen Gruppierungen aus, die ich nun auf der Rust Eagle bemerkte. Und dann ist die Paranoia eine für das Bordleben typische Störung … bestimmte Muster in einer so von Strukturen und Mustern bestimmten Umgebung zu sehen, ist naheliegend.

Daher verdrängte ich meine Beobachtungen. Wahrscheinlich brachten wir für das Komitee irgendetwas nach Ceres; doch das war nichts Außergewöhnliches.

Dennoch war die Atmosphäre im Schiff irgendwie aufgeladen. Mehr Leute als sonst reagierten nervös und unnatürlich. Rätselhafte Blicke wurden ausgetauscht … über allem lag etwas Geheimnisvolles. Aber wahrscheinlich sehe ich in der Rückschau Dinge, die ich damals nicht erkannte. Jetzt will ich mich nur an die Fakten halten. Diese Aufzeichnungen sollen mir helfen, mich auch noch in vielen Jahren, Jahrhunderten vielleicht, an die Ereignisse zu erinnern, daher muss ich mich jetzt einzig und allein nach den Tatsachen richten und meine Erinnerungen von störenden Einflüssen frei halten.

Auf jeden Fall war das dritte Anzeichen unmissverständlich. Die Sonne stand damals fast genau zwischen uns und dem Mars, und ich suchte den Funkraum auf, um einen letzten Brief an meinen Vater abzuschicken, diesen Narren, der wegen seiner großen Klappe vorübergehend im Gefängnis saß. Danach ging ich zur Sprungröhre und wollte mich gerade zu den Wohnquartieren hinabfallen lassen, als ich durch die Röhre mithören konnte, was auf der Brücke gesprochen wurde. War da nicht mein Name gefallen? Ich zog mich am Geländer bis zur Treppe hoch, die zur Brücke führte, und verharrte dort lauschend. Eine meiner Angewohnheiten. Wieder einmal führte John Dancer das Wort.

»Emma Weil ist voll und ganz auf Seiten des Komitees«, sagte er, als wäre dieser Punkt strittig gewesen.

»Und wenn schon«, sagte ein anderer Mann, und zwei Stimmen wurden laut, sodass ich nicht verstehen konnte, was er sagte.

»Nein«, entgegnete Dancer und brachte die anderen Stimmen zum Verstummen. »Die Weil ist wahrscheinlich die wichtigste Person an Bord. Wir dürfen mit ihr erst dann über die ganze Angelegenheit reden, wenn Swann sein Okay gegeben hat, und das wird erst nach dem Rendezvous sein. Das könnt ihr also erst mal vergessen.«

Das reichte. Als alles darauf hinwies, dass die Unterhaltung beendet war, hüpfte ich zur Sprungröhre zurück und ließ mich hineinfallen. Dabei beschleunigte ich meinen Sturz, indem ich mich kräftig am Geländer weiterzog. In Gedanken ging ich alle Orte durch, an denen Swann sich um diese Zeit aufhalten könnte. Ich musste ein ernstes Wort mit ihm reden. Es ist nicht besonders angenehm, unter dem Eindruck zu leben, der Mittelpunkt einer schiffsweiten Verschwörung zu sein.

 

Ich kannte Eric Swann schon sehr lange.

Vor der Jahrhundertwende veranstaltete jeder Sektor seine eigenen Bergbauexpeditionen. Royal Dutch suchte nach Kohlenstoff; Mobil hatte es auf die Basaltbrocken im tauben Gürtel abgesehen, und Texas interessierte sich für Silizium. Chevron war damit beschäftigt, einen der Amors in einen Orbit um den Mars zu schleppen, um so einen neuen Mond zu schaffen. (Daraus wurde der Mond Amor, der zu einer Strafanstalt ausgebaut wurde. Mein Vater lebte dort.) So hatte jeder Sektor seine eigene Asteroidenmannschaft, und ich lernte die Bergleute von Royal Dutch ziemlich gut kennen. Swann war einer der technischen Offiziere und ein guter Freund meines Mannes Charlie, der im gleichen Metier tätig war. Während der zahlreichen Ausflüge in den Gürtel unterhielt ich mich oft mit Swann, und auch später, als Charlie und ich geschieden wurden, blieben wir in Verbindung.

Aber als das Komitee im Jahre 2213 den Erzbergbau übernahm, wurden alle Trupps, sogar die Sowjets, zusammengeworfen, und ich sah meine Freunde von Royal Dutch sehr viel seltener.

Meine seltenen gemeinsamen Unternehmungen mit Swann waren immer ein Grund zum Feiern gewesen, und ich hatte geglaubt, dass der gegenwärtige Auftrag, mit ihm als Kapitän, eine richtige Vergnügungsreise würde.

Nun, während ich mich durch das Schiff zog, in dem ich die wichtigste Person war, konnte ich mir dessen nicht mehr sicher sein. Aber ich dachte, Swann würde mir schon erzählen, was vor sich ging. Und falls er darüber nicht Bescheid wusste, dann sollte man ihm lieber mitteilen, dass irgendetwas Komisches im Gange ist.

Ich fand ihn in einer der kleinen Aussichtskabinen, wo er vor einer dicken Plastikscheibe saß, die ihn vom Vakuum trennte. Er hatte die langen Beine in der Yogahaltung übereinandergeschlagen und summte leise vor sich hin: er meditierte, und sein Geist war ein dahinsegelnder Spiegel des sich dauernd verändernden Sternausblicks.

»Heh, Eric«, sagte ich nicht gerade sanft.

»Emma«, antwortete er verträumt und reckte seine Arme wie eine Katze. »Setz dich.« Er zeigte mir einen Felsbrocken, der in seinem Schoß lag. »Sieh dir diesen Chantonnay an.« Das ist ein Meteor, der als Einschluss in härteren Gesteinsarten vorkommt. »Hübsch, nicht wahr?«

Ich setzte mich. »Ja«, meinte ich. »Was geht auf dieser Fahrt eigentlich vor sich?«

Er errötete. Das konnte Swann schneller als jeder andere. »Nicht viel. Mehr kann ich nicht sagen.«

»Ich weiß, du darfst nicht. Aber hier, unter vier Augen, hier kannst du reden.«

Er schüttelte den Kopf. »Ich werde dir alles erklären, aber das dauert noch ein Weilchen.« Er sah mich direkt an. »Reg dich nicht auf, Emma.«

»Aber die anderen Leute wissen, was los ist! Jedenfalls ziemlich viele von ihnen. Und sie reden über mich!« Ich erzählte ihm, was ich gesehen und gehört hatte. »Warum bin ich angeblich die wichtigste Person auf dem Schiff? Das ist absurd! Und warum wissen sie über alles Bescheid, ich aber nicht?«

Swann verzog sorgenvoll das Gesicht. »Nicht alle wissen davon … sieh mal, deine Hilfe wird sehr wichtig sein, wahrscheinlich sogar entscheidend …« Er brach ab, als hätte er bereits zu viel gesagt. Sein sommersprossiges Gesicht verzerrte sich, während seine Lippen sich stumm bewegten. Schließlich schüttelte er heftig den Kopf. »Du musst noch ein paar Tage Geduld haben, Emma. Vertrau mir, ja? Vertrau mir und warte ab.«

Das war keine erschöpfende Auskunft, aber was sollte ich tun? Er wusste etwas, aber er wollte es mir nicht verraten. Mit zusammengepressten Lippen nickte ich ihm zu und ging.

 

Zur Meuterei kam es, Ironie des Schicksals, an meinem achtzigsten Geburtstag, wenige Tage nach meinem Gespräch mit Swann. Es war der 5. August 2248.

Ich wachte auf und dachte: Jetzt gehörst du zu den Achtzigern. Ich kletterte aus dem Bett (der Verzögerungsdruck war nahezu verschwunden, und wir waren fast schwerelos, während wir dahintrieben), wusch mir das Gesicht mit dem Schwamm und sah in den Spiegel. Es ist eine seltsame Erfahrung, sich in die eigene Netzhaut zu blicken; tief da drin ist derjenige, der denkt, dort, in dem anderen Gesicht … es scheint, als betrachte man alles im rechten Licht, als könnte man sich selbst beobachten.

Ich packte die Handgriffe meines Trainers und begann mit meinen Übungen, wobei ich über Geburtstage nachdachte. Alle Geburtstage in diesem neuen Leben. Eine meiner frühesten Erinnerungen war die an meinen zehnten Geburtstag. Meine Mutter ging mit mir zur Sanitätsstation, wo ich ein widerlich schmeckendes Zeug trinken musste und wo man irgendwelche Tests mit mir machte und mir Spritzen gab – es war nur ein nadelspitzer Luftstoß auf meine Haut, aber ich hatte Angst. »Später wirst du dafür dankbar sein«, sagte meine Mom und machte dabei so ein seltsames Gesicht. »Du wirst nicht krank und schwach im Alter. Dein Immunsystem wird stets in voller Stärke erhalten bleiben. Du wirst so lange leben, Emma, weine nicht.«

Ja, ja. Sie hatte offensichtlich recht, dachte ich und blickte wieder in den Spiegel, wo mein Ebenbild unter dem künstlichen Licht in kräftigen Farben zu pulsieren schien. Sehr lange leben, mit achtzig noch jung: ein Sieg der Gerontologie. Wie stets zu diesem Anlass fragte ich mich, was ich mit all diesen Extrajahren anfangen sollte – mit diesen Extraleben. Würde ich es erleben, frei und unbeschwert auf dem Marsboden zu stehen und Marsluft zu atmen?

Mit diesen Gedanken verließ ich mein Quartier und wollte frühstücken gehen. Die Aufenthaltsräume hinter den Schlafquartieren waren leer, was ungewöhnlich war. Ich betrat den letzten Raum vor der Korridorbiegung, um aus dem kleinen Fenster zu schauen, das einen Ausblick auf die Brücke erlaubte.

Und dort waren sie: zwei silberne Rechtecke: Raumschiffe!

Es waren Asteroidenschürfer der PR-Klasse, wie unseres auch. Ich starrte sie reglos an, mein Herz dröhnte wie eine Trommel, ich dachte nur: Rendezvous. Die Schiffe wuchsen allmählich, wurden groß wie Kartenspiele. Sie hatten auch die Form eines Kartenspiels. Die Schürfkräne und Abraumbagger waren vorne zusammengefaltet, Brückenwölbungen erhoben sich aus den Seitenwänden, winzige Halbmonde aus Licht, Raketendüsen ragten aus dem Heck, kleinere Düsen zogen sich wie die Perlen einer Kette rund um die Seiten und den Bug. Strahlende Lichtpunkte funkelten aus den Fenstern ähnlich den Leuchtorganen an den Tiefseefischen der Erde. Vor der Todesschwärze des Weltraums und neben einem unregelmäßig geformten blaugrauen Asteroiden wirkten sie klein.

Ich verließ zögernd den Salon. Ich wandte mich um und ging den Korridor hinab …

Im Speisesaal herrschte das Chaos.

Ich blieb stehen und betrachtete das Durcheinander. Von den dreiundvierzig Mannschaftsmitgliedern waren mindestens fünfundzwanzig im Speisesaal. Sie brüllten und lachten, sechs oder sieben von ihnen schmetterten Beethovens »Ode an die Freude«, andere stellten Tische auf (Ilene balancierte die bauchige Kaffeekanne durch das Gewimmel), John und Steven und Lanya umarmten einander schluchzend, Tränen glitzerten in ihren Augen. Und auf dem Videoschirm leuchtete eine Frontalaufnahme der beiden Schiffe, Silberpunkte vor einem blaugrauen Asteroiden, sodass sie aussahen wie Würfel, die durch das Vakuum geschleudert worden waren.

Sie alle hatten es gewusst. Jeder Einzelne im Saal. Ich ertappte mich dabei, wie ich vor Scham und Wut heftig blinzelte. Warum hatte man mir nichts gesagt? Ich verschwand aus der Türöffnung, ehe jemand mich bemerkte.

Andrew Duggins flog vorbei, indem er sich am Korridorgeländer entlangzog. Sein grobschlächtiges Gesicht blickte finster. »Emma!«, rief er. »Komm mit!« Und er zog sich weiter. Ich starrte ihn nur an, und er hielt inne. »Das ist eine Meuterei!«, rief er und drehte den Kopf in Richtung Speisesaal. »Sie übernehmen das Schiff und auch die beiden dort draußen. Wir müssen versuchen, eine Botschaft nach Ceres abzusetzen – wir müssen uns wehren!« Er bewegte sich zum Funkraum.

Meuterei. All die seltsamen Vorkommnisse ergaben ein Muster. Sie hatten das Schiff übernehmen wollen. Hatte Swann diese Möglichkeit zu beängstigend gefunden, um darüber auch nur zu reden?

Doch jetzt war nicht der Zeitpunkt für eine tiefschürfende Analyse. Ich sprang vom Fußboden hoch und folgte Duggins mit raschen Bewegungen.

Vor dem Funkraum war ein verbissener Kampf im Gange. Ich sah, wie Al Nordhoff einem Angehörigen der Schiffspolizei ins Gesicht schlug, wie Amy Van Danke sich heftig im Griff zweier Männer wand und versuchte, einem von ihnen in den Hals zu beißen. Andere prügelten sich im Eingang. Rufe und Amys Schreie schwirrten durch die Luft. Der Kampf hatte jene unbeholfene, gefährliche Qualität, die allen Streitigkeiten in der Schwerelosigkeit zu eigen ist. Ein Hieb, der traf (zum Beispiel einer von Als brutalen Tritten gegen den Kopf eines Polizisten), ließ beide Parteien durch den Raum wirbeln …

»Meuterei!«, brüllte Duggins, warf sich ins Getümmel und krachte in die Gruppe am Eingang. Sein Schwung riss einige Leute in den Funkraum mit, und eine Öffnung war geschaffen. Ich stieß mich von der Wand ab und knallte mit dem Kopf gegen den Türpfosten, als ich hindurchglitt.

Die folgenden Ereignisse erlebte ich etwas verschwommen, doch ich war wütend – wütend, dass ich hintergangen worden war, dass Swann und die allgemeine Ordnung bedroht waren, dass meine Freunde geschlagen wurden –, und ich schlug blindlings um mich. Ich erwischte einen der Polizisten mit der Faust an der Nase, und sein Kopf knallte mit einem dumpfen Laut gegen die Wand. In dem Raum herrschte dichtes Gedränge, Arme und Beine wirbelten herum. Auf der Funkkonsole herrschte ein Gewimmel von Körpern. Duggins brüllte noch immer und riss Körper aus dem Gewühl auf den Funkkontrollen und schleuderte sie beiseite. Jemand nahm mich von hinten in einen Würgegriff. Ich rammte eine Ferse in einen Unterleib und stellte fest, dass es eine Frau war – ich bohrte ihr einen Ellenbogen in den Bauch und wand mich halberstickt unter ihrem Arm hinweg. Duggins hatte die Funkanlage freigeräumt und drehte verzweifelt an den Reglern. Einem Mann, der ihn wegziehen wollte, setzte ich einen unkontrollierten Schlag aufs Ohr. Schreie und Blutstropfen erfüllten die Luft …

Verstärkung erschien. Eric Swann schlüpfte durch die Türöffnung, seine roten Haare zerzaust, eine Betäubungspistole in der Faust. Andere folgten ihm. Nadeln zischten durch die Luft und sirrten wie Pfeile. »Meuterei!«, kreischte ich. »Eric! Meuterei! Meuterei!«

Er sah mich, richtete die Pistole auf mich und schoss. Ich starrte die Nadel an, die in meinem Unterarm steckte.

Das Nächste, was ich bewusst erlebte, war, dass mich jemand durch die Sprungröhre geleitete. Wir stiegen in meinem Stockwerk aus. Ich sah Swanns Gesicht über mir schweben. »Meuterei«, sagte ich.

»Das stimmt«, erwiderte Eric. »Wir werden dich für ein paar Stunden unter Arrest halten müssen.« Sein Sommersprossengesicht zeigte ein schwachsinniges Grinsen.

»Arschloch«, murmelte ich. Ich wollte weglaufen. Ich würde mich von keinem einholen lassen. »Ich dachte, du wärest mein Freund.«

»Ich bin dein Freund, Emma. Es war zu gefährlich, dir alles zu erklären. Davydov wird dir alles erklären.«

Davydov. Davydov? »Aber er ist doch verschollen«, brachte ich mühsam hervor und kämpfte gegen den Schlaf und meine Verwirrung an. »Er ist tot.«

Dann lag ich in meinem Bett und war sicher angeschnallt. »Schlaf jetzt«, sagte Swann. »Ich komme in ein paar Stunden zurück.« Ich musterte ihn mit einem Blick, der ihn zu Stein hätte verwandeln müssen, doch er grinste nur, und ich schlief mit einem letzten Gedanken ein: Meuterei …

 

Als ich erwachte, war Swann wieder an meinem Bett. In der Schwerelosigkeit schwebte er über mir, sodass sein Kopf genau vor meinen Augen zu hängen schien. »Wie fühlst du dich?«

»Schlecht.« Ich schob ihn weg, und er schwebte vom Bett fort in die Luft. Ich rieb mir die Augen. »Was ist passiert, Swann?«

»Eine Meuterei, du hast es selbst gesagt.« Er lächelte.

»Und das stimmt?«

Er nickte.

»Aber warum? Wer bist du?«

»Hast du schon mal von der Mars-Sternenschiff-Vereinigung gehört?«

Ich überlegte. »Ist das schon lange her? Es ist wohl eine dieser geheimen Anti-Komitee-Gruppierungen.«

»Wir sind nicht gegen das Komitee«, widersprach er. »Wir waren lediglich ein Club. Eine Interessengruppe. Wir wollten, dass das Komitee auch die Forschung zur Durchführung einer interstellaren Expedition unterstützt.«

»Ach ja?«

»Das Komitee wollte aber nicht. Sie machten uns zu einem Teil der Anti-Komitee-Bewegung; sie haben uns in die Illegalität gedrängt. Sie steckten die Anführer ins Gefängnis und transportierten die Mitglieder in verschiedene Sektoren. Sie haben uns zu Feinden des Komitees gemacht.«

»Ist das alles nicht schon vor langer Zeit passiert?«, fragte ich und fand mich noch immer nicht richtig zurecht. »Was hat das denn mit dem zu tun, was jetzt passiert?«

»Wir haben uns wieder vereinigt«, erklärte er. »Heimlich. In den ganzen Jahren arbeiteten wir im Untergrund. Heute ist sozusagen unser großer Auftritt, könnte man sagen.«

»Aber warum? Was nützt es dir, ein paar Asteroidenschürfer zu kapern? Du hast doch wohl nicht vor, sie als Sternenschiffe zu verwenden, oder?« Ich lachte unwillkürlich bei dieser Vorstellung.

Er starrte wortlos zurück, und plötzlich wusste ich, dass ich richtig geraten hatte.

Ich blickte ihn nun wachsam an. Mir war kalt, und ich fühlte mich leicht benommen. »Du machst Witze.«

»Keineswegs. Wir werden die Lermontov und die Hidalgo miteinander verbinden und ihre Lebenserhaltungssysteme zusammenschalten.«

»Unmöglich«, hauchte ich und war alleine von der Idee wie betäubt.

»Nicht unmöglich«, widersprach er geduldig. »Daran hat die MSV während der letzten vierzig Jahre gearbeitet …«

»Eines dieser Schiffe ist die Hidalgo?«, unterbrach ich ihn. Die Nachwirkungen des Betäubungspfeils behinderten mein Gehirn immer noch.

»Stimmt.«

»Demnach lebt Davydov …«

»Das tut er ganz bestimmt. Du kanntest ihn doch, nicht wahr?«

»Ja.« Davydov war der Kapitän der Hidalgo gewesen, als sie vor drei Jahren in der Achilles-Gruppe verschwand. Ich hatte geglaubt, er sei tot.

»Ich werde auf keinen Fall mitmachen«, erklärte ich nach einer Pause. »Du kannst mich nicht kidnappen und mich auf irgendein verrücktes interstellares Abenteuer mitschleppen …«

»Nein! Nein, wir schicken mit der Rust Eagle alle Leute zurück, die nicht der MSV angehören.«

Ich seufzte erleichtert auf. Allerdings bekam ich auch Angst, als mir der Schlamassel bewusst wurde, in dem ich steckte. Ich dachte an die Fanatiker, die jetzt mein Leben in der Hand hatten, und ich brach in Tränen aus. »Eric, du wusstest, was mit mir passieren würde. Warum hast du nicht dafür gesorgt, dass ich an dem Flug nicht teilzunehmen brauchte?«

Er wagte nicht, mich anzuschauen, und stieß sich nach unten ab. Mit puterrotem Gesicht stotterte er: »Ich hab genau das Gegenteil getan, Emma.«

»Du hast was?«

»Im Büro, in dem die Expeditionen zusammengestellt werden, sitzen MSV-Leute, und …«, er starrte noch immer zu Boden, »ich bat sie, dafür zu sorgen, dass du diesmal der Rust Eagle zugeteilt wirst.«

»Aber, Swann!« Ich rang nach Worten. »Warum? Warum tust du mir das an?«

»Nun … weil, Emma, du bist einer der besten Konstrukteure für Lebenserhaltungssysteme. Jedermann weiß das, auch du weißt das. Obwohl unsere Konstrukteure für das Sternenschiff einige Verbesserungen geschaffen haben, müssen sie immer noch in den beiden Schiffen installiert und in Gang gesetzt werden. Und das müssen wir schaffen, ehe die Komitee-Polizei uns findet. Deine Mithilfe könnte dabei entscheidend sein, Emma.«

»Oh, Swann.«

»Ich meine das ernst! Sieh mal, ich weiß, dass ich dich gegen deinen Willen zu etwas gedrängt habe, aber ich dachte mir, wenn wir es schaffen würden, dich hierher zu bringen, ohne dass du von unseren Plänen weißt, könnte man dich für nichts zur Verantwortung ziehen. Wenn du wieder zum Mars zurückkehrst, kannst du ihnen sagen, du wüsstest über die MSW nichts und dass wir dich gezwungen hätten, uns zu helfen. Deshalb habe ich dir bisher nichts erzählt, verstehst du? Zudem weiß ich, dass du nicht gerade eine der glühendsten Anhängerinnen des Komitees bist, oder? Das ist doch nur eine Bande von Halsabschneidern. Wenn dich nun ein alter Freund um Hilfe bittet, die nur du leisten kannst, niemand dir aber eine Schuld nachweisen kann, dann würdest du doch helfen, oder? Auch wenn es illegal wäre?« Er sah mich an, seine blauen Augen blickten ernst.

»Du verlangst von mir etwas Unmögliches«, erwiderte ich. »Deine MSV hat jeden Sinn für die Realität verloren. Du redest von einer Reise über eine Entfernung von Lichtjahren, mein Gott, und dafür hast du Systeme zur Verfügung, die nur fünf Jahre lang funktionieren können.«

»Das könnte man ändern«, beharrte Swann. »Davydov wird dir das ganze Projekt erklären. Er möchte mit dir reden, sobald du bereit bist, ihn zu empfangen.«

»Davydov«, murmelte ich düster. »Der steckt also hinter diesem Irrsinn.«

»Wir stecken alle dahinter, Emma. Und es ist kein Irrsinn.«

Ich schüttelte den Kopf. »Lass mich allein, ich muss nachdenken.«

»Klar«, meinte er. »Es ist ein bisschen viel auf einmal. Sag mir nur wegen Davydov Bescheid. Er ist drüben auf der Hidalgo.«

»Ich melde mich«, versprach ich und starrte die Wand an, bis er gegangen war.

 

Ich sollte erst von Oleg Davydov erzählen, denn wir liebten uns einmal, und für mich ist die Erinnerung an ihn von Schmerz und Wut und von einem Gefühl des Verlustes überschattet – ein Verlust, der bis an mein Lebensende nicht wiedergutzumachen ist oder vergessen werden kann.

Ich hatte gerade die Mars-Universität hinter mir und arbeitete im Hellasbecken in einer neuen Siedlung am westlichen Rand des Beckens, wo man unterirdische Wasservorräte und wasserführende Schichten entdeckt hatte. Die Menge war ausreichend, aber die Verwendung von Wasser verursachte ökologische Probleme. Diese Probleme sollten ich und einige andere Fachleute lösen, und es stellte sich sehr bald heraus, dass ich der beste System-Spezialist war. Mein Verständnis für das Hellas-Projekt erschien mir ganz natürlich, doch die anderen staunten darüber. Zudem war ich eine recht gute Mittelstreckenläuferin, sodass ich mit der selbstsicheren Unbekümmertheit der Jugend auftrat, vielleicht sogar etwas arrogant wirkte.

In meinem zweiten Jahr lernte ich Oleg Davydov kennen. Er hielt sich in Burroughs auf, dem großen Regierungszentrum im Norden, wo er für das sowjetische Minen-Kartell tätig war. Vorgestellt wurden wir einander in einem Restaurant durch einen gemeinsamen Bekannten.

Er war hochgewachsen und kräftig, ein gutaussehender Mann. Einer von den schwarzen Sowjets, wie sie sie nennen. Ich glaube, einige ihrer Vorfahren kamen aus den afrikanischen Vasallenländern der UdSSR. Die Farbe war im Laufe der Generationen ziemlich verwässert worden, und Davydov hatten nur noch eine milchkaffeefarbene Haut. Seine Haare waren schwarz und wollig; er hatte wulstige Lippen unter einer schmalen Adlernase; dazu einen dichten Bart, der die untere Hälfte seines Gesichts verhüllte, und seine Augen waren eisblau. Sie schienen geradezu aus seinem Gesicht herauszuspringen. So stellte er eine ziemlich gelungene Rassenmischung dar. Doch auf dem Mars, wo neunzig Prozent der Bevölkerung fischbauchweiß sind, wie man sagt, ist auch eine noch so leichte Hautfärbung von besonderem Reiz. Man sah damit so … gesund und vital aus. Dieser Davydov sah unverschämt gut aus, eine Augenweide. Ich betrachtete ihn, als wir im Restaurant saßen, uns unterhielten, tranken, flirteten, so intensiv, dass ich mich sogar an die Topfpalme und die weiße Wand hinter ihm erinnern kann. Worüber wir redeten, weiß ich allerdings nicht mehr. Es war eine jener verzauberten Nächte, wenn beide Partner sich ihrer gegenseitigen Anziehung bewusst sind.

Wir verbrachten die Nacht gemeinsam und die folgenden Nächte ebenfalls. Wir besuchten die erste Kolonie in der Gegend, The Can, und bewunderten die dort im Museum ausgestellten Exponate. Wir trieben uns am Fuß der Fluted Cliffs in Helespontus Montes herum und übernachteten in einem Zelt. Beim Wettlauf schlug ich ihn und gewann danach für ihn einen 1500-Meter-Lauf auf einer Bahn in Burroughs. Wir waren in jeder freien Stunde zusammen, und ich verliebte mich in ihn. Oleg war jung, witzig, arrogant. Er wusste um seine vielfältigen Fähigkeiten; er war als Russe ein Exot, gefühlvoll, sinnlich. Wir verbrachten eine Menge Zeit im Bett. Im Dunkeln konnte ich, wenn er grinste, kaum mehr als seine Zähne erkennen und seine Augen, die hellgrau schimmerten. Wenn wir uns liebten, konnte ich alles andere vergessen … Ich erinnere mich noch an verträumte Ausflüge in die Rostwüsten zwischen Burroughs und Hellas, an das herrliche Panorama vor dem roten Horizont … Nun, so etwas erlebt man nur einmal im Leben.

Die Auseinandersetzungen begannen schon bald nach jenen ersten Wochen. Wir waren ein arrogantes Pärchen. Lange Zeit wurde mir nicht klar, dass unsere Meinungsverschiedenheiten sehr ernst waren, da ich mir nicht vorstellen konnte, dass jemand mir lange widersprechen könnte. Aber Oleg Davydov konnte es. An vieles, worüber wir uns stritten, kann ich mich nicht mehr erinnern – diese Phase unserer Bekanntschaft ist anders als die Anfangswochen nur noch sehr verschwommen in meiner Erinnerung vorhanden. An einen Vorfall kann ich mich jedoch noch gut erinnern: Wir waren mit einem Nachtzug nach Burroughs gekommen und aßen in einem griechischen Restaurant hinter dem Bahnhof. Ich war müde, machte mir Sorgen wegen unserer Beziehung, und Hellas kotzte mich an. In der Hoffnung, ihm eine Freude zu machen, machte ich eine Bemerkung, wie viel abwechslungsreicher es doch wäre, ebenso wie er im Asteroidenbergbau tätig zu sein.

»Wir machen dort draußen im Grunde gar nichts«, erwiderte er. »Wir scheffeln nur Geld für die Gesellschaften. Ein paar Leute auf der Erde werden reich, während alles auseinanderbricht.«

»Nun, zumindest kannst du dich dort draußen als Forscher betätigen«, sagte ich.

Er verzog verärgert das Gesicht, ein Ausdruck, an den ich mich allmählich gewöhnte. »Aber das tun wir ja gar nicht; ich versuche dir das die ganze Zeit klarzumachen. Mit unseren Mitteln könnten wir das gesamte Sonnensystem erforschen. Wir könnten Stützpunkte auf den Jupitermonden errichten, rund um den Saturn, auf dem Weg zum Pluto. Wir brauchen ein Sonnenobservatorium auf Pluto.«

»Dessen war ich mir gar nicht bewusst«, sagte ich sarkastisch.

Seine blassblauen Augen fixierten mich. »Natürlich nicht. Du hältst es für vollkommen richtig, bis in alle Ewigkeit diese dämlichen Asteroiden auszubeuten und Geld zu scheffeln, und das am Ende des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts.«

»Na und?« Jetzt ärgerte ich mich über mich selbst. »Wir alle leben doch mindestens noch tausend Jahre, warum hast du es dann so eilig? Irgendwann wird für deine Projekte schon der richtige Zeitpunkt kommen. Im Augenblick brauchen wir die Asteroiden.«

»Die Gesellschaften brauchen sie. Und das Komitee.«

»Das Komitee organisiert unsere Bemühungen zu unserem Besten«, hielt ich ihm entgegen.

»Sie sorgen dafür, dass der Fahrplan stimmt, was?« Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Drink.

»Ja«, sagte ich und begriff nicht, was er meinte. »Ja, das tun sie.«

Er schüttelte unwillig den Kopf. »Du bist eine typische Amerikanerin. Alles ist oh-kay. Die Politik überlassen wir lieber den anderen.«

»Und du bist ein echter Sowjet«, schoss ich zurück und ging auf Distanz. »Für dich ist immer die Regierung schuld …«

Und wir diskutierten weiter, sinnlos und nur aus verletztem Stolz. Ich erinnere mich noch an eine seiner wütenden Prophezeiungen: »Die bauen hier oben den schönsten amerikanischen Kreml, und dir ist es egal, solange du nur deinen Job behältst.« Doch das meiste von dem, was wir sagten, war noch weniger logisch als das.

 

Eine lange, traurige Woche später reiste er ab. Die sowjetischen Bergbauleute brauchten ihn wieder im Raum, und er verschwand einfach, ohne sich zu verabschieden, obgleich ich in jenen Tagen wiederholt versucht hatte, ihn in seinem Schlafquartier anzurufen. Und dann wusste ich – ich erfuhr es bei langen, nachdenklichen Spaziergängen durch das weitläufige Becken und die felsige Ebene –, dass auch ich zurückgewiesen werden konnte. Es war eine bittere Lektion.

Ein paar Jahre später war ich ebenfalls inmitten der Asteroiden unterwegs und arbeitete für Royal Dutch. Ich hörte, dass Davydov mit der sowjetischen Bergbauleitung Schwierigkeiten hatte, schenkte diesen Geschichten aber kaum Beachtung. Es war eine Frage des Stolzes, alles zu ignorieren, was ich über ihn hörte. Daher erfuhr ich niemals genau, in was er verwickelt gewesen war.

Dann, viele Jahre später – genauer: drei Jahre vor dieser Meuterei – verschwand die Hidalgo draußen in den Trojanern, nachdem der Funkkontakt mit den berühmten letzten Worten abbrach: »Wartet mal einen Augenblick.«

Ein Wrack wurde niemals gefunden, und die Angelegenheit wurde von den Zensoren des Komitees vertuscht. Eine Erklärung gab es nicht. Als ich die Mannschaftsliste durchging, fand ich seinen Namen an erster Stelle – Oleg Davydov – und der Schmerz war wieder da, schlimmer als je zuvor. Es war einer der schlimmsten Momente meines Lebens. Wir waren im Streit auseinandergegangen, er hatte mich ohne ein Lebewohl verlassen, und nun, ganz gleich, wie viele Jahre mir die Gerontologen gestatteten, würde ich daran nichts mehr ändern können, denn er war tot. Es war sehr traurig.

… Als Eric Swann mich zur Hidalgo hinüberbrachte, wo ich Davydov treffen sollte, war ich mir über meine Gefühle nicht im Klaren. Mein Herz schlug heftig. Wie würde er aussehen? Was würde ich zu ihm sagen, oder er zu mir?

Nun, er sah fast genauso aus wie vor sechzig Jahren. Vielleicht etwas fülliger. Mit seinen dunklen Haaren, seinen breiten Schultern erinnerte er immer noch an einen gutmütigen Bären. Seine eisblauen Augen musterten mich ohne einen sichtbaren Ausdruck des Erkennens.

Wir standen auf der leeren Brücke der Hidalgo. Eric war durch die Sprungröhre verschwunden. Ich schlenderte auf der Brücke umher, wobei meine Velcroslipper über den Boden scharrten. Mein Puls raste. Und ich hatte das Gefühl, dass er mich mit der Nachricht von seinem Tod persönlich betrogen hatte. Oder vielleicht war es auch die Meuterei …

»Du hast dich nicht verändert«, sagte er. Der Klang seiner Stimme weckte Hunderte von Erinnerungen. Ich sah ihn stumm an. Er lächelte. »Hat Eric sich dafür entschuldigt, dass wir dich gekidnappt haben?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid. Wie ich hörte, hast du dich heftig gegen die Übernahme gewehrt. Sicherlich hat Eric dir erklärt, dass wir dich zu deinem eigenen Schutz nicht aufgeklärt haben.«

Er beobachtete mich und versuchte, meine Stimmung zu ergründen.

»Im Grunde geht es darum«, fuhr er fort, »im Sternenschiff ein komplettes Lebenserhaltungssystem zu schaffen, damit die jahrelangen Bemühungen der MSV nicht sinnlos waren. Ich glaube, dass unsere Wissenschaftler damit zurechtkämen, aber Swann und unsere Wissenschaftler sind sich wiederum darin einig, dass du auf dem Gebiet der Biologischen Lebenserhaltungssysteme die beste bist. Sie meinen, wir brauchten deine Hilfe.«

Verließ er sich etwa auf meine Eitelkeit? »Die werdet ihr …« Ich räusperte mich. »Die werdet ihr nicht bekommen.«

Er starrte mich an, ruhig und verwirrt. »Du unterstützt noch immer das Komitee? Obgleich sie deinen Vater nach Amor geschickt haben, ist das denn die Möglichkeit?«

»Ja«, antwortete ich. »Aber das Komitee hat damit nichts zu tun.«

»Das ist genauso, als würdest du sagen, dass du noch immer auf ihrer Seite stehst. Aber genug davon. Wir brauchen deine Hilfe. Warum willst du uns nicht helfen?«

Nachdem ich keine Antwort geben wollte, begann er auf und ab zu gehen. »Weißt du«, meinte er mit unstetem Blick, »was zwischen uns passiert ist, liegt schon lange zurück. Wir waren damals noch Kinder …«

»Wir waren keine Kinder«, unterbrach ich ihn. »Wir waren Erwachsene mit freiem Willen. Wir waren damals genau wie jetzt für all unsere Handlungen verantwortlich.«

»Na schön«, gab er nach und strich sich mit der Hand durch die Haare. »Du hast recht. Wir waren keine Kinder.« Dies alles schien sich schwieriger zu entwickeln, als er erwartet hatte. »Aber das liegt weit zurück.«

»Dies hier hat mit damals nichts zu tun.«

Er blinzelte ratlos. »Warum weigerst du dich dann?«

»Weil du etwas Unmögliches versuchen willst«, rief ich. »Das alles entsprang deiner monströsen Phantasie. Du ignorierst die harten, kalten Fakten des Tiefraums und willst die Leute in einen furchtbaren Tod führen, weil du wie ein kleiner Junge vom großen Abenteuer träumst und nicht mehr zwischen Phantasie und Wirklichkeit unterscheiden kannst!« Ich verstummte, überrascht von meiner Heftigkeit. Davydov starrte mich mit großen Augen an.

»Das ist nicht allein meine Idee«, sagte er schwach. »Jeder Angehörige der MSV hält es für möglich.«

»Sicherlich hat es schon schlimmere Massenhysterien gegeben«, sagte ich sarkastisch. »Und immer sind die Leute dabei einem Fanatiker gefolgt.«

Seine Augen glitzerten wütend. »Ich bin kein Fanatiker. Wir haben als Gruppe ohne Führer begonnen. Das Komitee hat mich dann zum Führer gemacht, als sie versuchten, uns zu zerschlagen – sie brauchten einen Einzelnen, den sie für alles verantwortlich machen konnten. Genau wie du. Als wir uns dann reorganisierten, war ich derjenige, den alle kannten. Aber es gibt andere Führer …«

»Du hast doch den Neuaufbau organisiert, nicht wahr?« Irgendwie wusste ich, dass das zutraf. »Hast deinen kleinen Geheimbund gegründet, hast dir ein geheimes Erkennungszeichen ausgedacht …«

»Dass wir im Geheimen aktiv sein mussten«, sagte er laut und senkte dann die Stimme, »ist ein Zufall. Eine politische Realität, typisch für unsere Zeit und unsere Welt. Es musste viel getan werden, was das Komitee lieber verhindert hätte. Sie wollten uns nicht unterstützen, aber damit ist das ganze Projekt doch keine schlechte Sache! Wir haben keine politischen Motive, wir praktizieren aktiv die Idee der Kooperation zwischen Sowjets und Amerikanern – wir versuchen, der Menschheit zu einer Heimstatt außerhalb des Sonnensystems zu verhelfen, solange wir dazu noch in der Lage sind.«

Er holte tief Luft und sah mich mit hochgezogenen Brauen an. »Und du«, er zeigte mit dem Finger auf mich, »bist für all das völlig blind und schimpfst mich einen Fanatiker. Der einen Haufen von Narren in eine Phantasiewelt führen will.« Er wandte sich ab und blickte aus dem großen Brückenfenster. »Dass du so reagieren würdest, hätte ich Swann vorher sagen können.«

Mein Gesicht glühte. Wir waren genau dort, wo wir vor sechzig Jahren aufgehört hatten. Ich schäumte vor Wut. »Du entführst mich, setzt meine Zukunft aufs Spiel und nennst mich dann eine Närrin, nur weil ich mich nicht für deine phantastischen Ideen begeistere. Damit du klar siehst, Oleg Davydov, meine Unterstützung bekommt ihr nicht, du und dein Geheimbund.« Ich ging zur Sprungröhre. »Sag mir Bescheid, wann wir mit der Rust Eagle zum Mars zurückkehren können. Bis dahin bin ich in meinem Quartier.«

Auf dem Rückweg zur Rust Eagle sagte Swann kein Wort. Ich suchte sofort meine Kabine auf, knallte mit dem Knie gegen den Schreibtisch und stieß mir an der Decke den Schädel an. Verdammte Schwerelosigkeit! In der Zentrifuge lief ich ein paar Runden, wobei ich mein lädiertes Knie ignorierte. Anschließend hockte ich brütend in meiner Kabine und dachte mir für Davydov die tollsten Erwiderungen aus. Warum kommen einem die besten Ideen immer erst dann, wenn der Streit vorüber ist? Ich hätte ihm sagen sollen … ich weiß, ich weiß. Aber warum kämpfte ich überhaupt gegen ihn, wo er mich doch um meine Hilfe bat?

 

Später teilte Andrew Duggins mir mit, dass alle Leute, die nicht der MSV angehörten, sich im Salon am Ende des Korridors treffen würden. Wir waren insgesamt vierzehn Personen, darunter Ethel Jurgenson, Amy Van Danke, Al Nordhoff, Sandra Starr, Yuri Kopanev und Olga Dzindzhik. Die Gesichter der anderen kannte ich zwar, jedoch nicht ihre Namen. Wir tauschten unsere Erlebnisse während des Rendezvous aus; alle waren unter Arrest gestellt und vor wenigen Stunden wieder freigelassen worden. Danach besprachen wir mögliche weitere Maßnahmen.

Ich berichtete, was ich erfahren hatte, verschwieg aber, dass ich um Unterstützung gebeten worden war.

Die Diskussion ging weiter.

»Wir müssen wissen, ob es auf der Lermontov Gefangene gab.«

»Oder auf der Hidalgo.« Ein Gedanke ging mir durch den Kopf: Gefangene seit drei Jahren.

»Wir müssen etwas unternehmen«, sagte Duggins. »Wir könnten versuchen, in den Funkraum zu gelangen und eine Meldung an Mars oder Ceres abzusetzen.«

»Wir könnten uns aus dem Schiff schleichen«, schlug Al vor, »ein Funkgerät an die Hochleistungsantenne anschließen …«

»Wahrscheinlich belauschen sie uns schon«, warnte Yuri, und Olga nickte. Im sowjetischen Sektor waren solche Praktiken üblich.

Die Unterhaltung brach ab. Wir sahen uns gegenseitig an, Gefangene unserer Schiffskameraden in unserem eigenen Schiff. »Mir ist es gleich, wenn sie das Komitee bestehlen«, sagte Yuri, »und ich würde keinen Finger rühren, um sie davon abzuhalten.«

»Was schlägst du vor, was wir tun sollen, Weil?«, fragte Andrew.

»Ich finde, wir sollten uns ruhig verhalten, die Rust Eagle zum Mars zurückbringen, wenn sie uns lassen, und dann den Behörden berichten, was wir wissen. Zu versuchen, sie jetzt und hier aufzuhalten, wäre zu gefährlich.«

Das gefiel aber Andrew nicht. »Wir sollten kämpfen! Wenn wir überhaupt nichts tun, helfen wir ihnen, und das wird dem Komitee nicht verborgen bleiben.« Er musterte mich argwöhnisch. »Du bist doch mit Swann recht gut befreundet. Hat er dir niemals angedeutet, was im Gange ist?«

»Nein.« Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie ich rot wurde. Alle beobachteten mich.

»Er hat dich mit keinem Wort gewarnt?«, fragte Duggins ungläubig.

»Genau«, erwiderte ich knapp. »Du hast mich doch im Funkraum gesehen, Duggins. Ich wurde von der Meuterei genauso überrascht wie alle anderen.«

Doch Duggins war nicht überzeugt, und auch die anderen blickten skeptisch. Sie alle kannten Swann als fairen Partner. Er hätte niemals einen Freund so hintergangen. Duggins erhob sich. »Wir reden ein anderes Mal darüber«, sagte er und verließ den Salon. Ich folgte ihm. Als ich mich umwandte und die verwirrten Leute im Kreis dort hocken sah, umgeben von ihren schwebenden bunten Trinkkugeln, dachte ich: Sie haben Angst.

Als ich in meine Kabine zurückkehrte, waren zwei Leute gerade dabei, dort einzuziehen. Eine Nadezhda Malkiv und eine Marie-Anne Kotovskaya – beide BLSS-Ingenieurinnen und Angehörige des russischen Flügels der MSV. Die beiden anderen Schiffe würden leergeräumt, sodass man dort ungehindert arbeiten könne, erklärten sie mir. Nadezhda war 124 Jahre alt, eine Spezialistin für den Gasaustausch; Marie-Anne war 108, eine Biologin, die sich mit den Algen und Bakterien im Abfall-Recycling-System beschäftigte. Sie kamen beide von der Lermontov, die fast vier Monate im Asteroidengürtel unterwegs gewesen war, ehe die MSV das Schiff übernommen, den Funkkontakt mit dem Mars abgebrochen und sich zum Rendezvous hinter der Sonne eingefunden hatte.

Bestürzt über diese neue Entwicklung, suchte ich den kleinen Salon gleich um die Ecke unweit meines Quartiers auf. Dort traf ich den Anführer der Nicht-MSV-Leute der Lermontov, einen mürrischen Mann namens Ivan Valenski. Bis zur Meuterei war er der Chef der Komitee-Polizei an Bord gewesen. Ich mochte ihn nicht – er war der typische Sowjetbürokrat, ein gutaussehender Mann, der es gewöhnt war, Befehle zu geben und Gehorsam zu sehen. Er schien von mir ebenso wenig beeindruckt zu sein wie ich von ihm. Duggins wäre sicherlich mehr nach seinem Geschmack. Sie hatten sich beide an eine übergeordnete Autorität gewöhnt, sodass sie alles taten, um ihren Erhalt zu sichern – wahrscheinlich um ihr Leben zu rechtfertigen. Aber inwieweit unterschied ich mich von ihnen?

Ich kehrte in mein Quartier zurück. Meine neuen Zimmergenossinnen hatten mir das obere Bett gelassen; das untere war von Nadezhda besetzt. Marie-Anne wollte in der Ecke schlafen, wo die Wände mit der Decke zusammenstießen. Ich unterhielt mich mit ihnen eine Weile auf Englisch und versuchte mein Glück auch mit ein paar Brocken Russisch. Sie waren recht nett, und ich fand ihre Anwesenheit angenehm.

Am Abend tauchte Swann auf und bat mich, mit ihm essen zu gehen. Nach kurzer Überlegung willigte ich ein.

»Ich bin froh, dass du mir nicht mehr böse bist«, plapperte er, treuherzig wie eh und je. Dabei musste ich daran denken, dass er, seit ich ihn kannte, einen hohen Rang innerhalb der MSV innehatte. Wie gut kannte ich ihn wirklich?

»Sei still und lass uns lieber essen gehen«, sagte ich. Fast unterwürfig ging er voraus durch die dunklen Korridore zu den Speisesälen.

Dort schaute ich mich um und stellte mir das Ganze als Speisesaal eines Sternenschiffs vor. Leute in einfarbigen Overalls gingen zur Essensausgabe; dort drückten sie auf den Knopf für das gewünschte Gericht, wobei die meisten nicht einmal die Speisekarte lasen. Zu den auf dem Schiff erzeugten Lebensmitteln – Salate, Gemüsesäfte, Fisch oder Muscheln oder Huhn oder Kaninchen, Ziegenkäse, Milch, Yoghurt – kamen Beilagen, bei denen eine Wiederaufbereitung nicht möglich war: Kaffee, Tee, Brot, Rindfleisch … Dies alles würde ihnen schon bald ausgehen. Danach gab es nur noch Zeug, das innerhalb des Schiffs erzeugt wurde, auf rundum geschlossenen Tellern, dazu Getränke in Kugeln. Ich betrachtete meine Umgebung. Es herrschte eine Atmosphäre wie bei einer japanischen Teezeremonie.

»Ihr müsst permanent beschleunigen«, sagte ich. »Ihr dürft nicht zu lange schwerelos sein, das bringt euch auf die Dauer um.«

Er lächelte. »Wir verfügen über zweiundvierzig Cäsium-Tanks.« Ich starrte ihn an. »Stimmt schon. Der größte Diebstahl der Geschichte, Emma. Zumindest kann man es so betrachten.«

»Das ist er bestimmt.«

»Wir haben vor, einen konstanten Beschleunigungs-Verzögerungs-Plan einzuhalten und die meiste Zeit halbe Mars-Schwerkraft zu erzeugen.« Wir gingen zur Essensausgabe und gaben unsere Bestellungen ein. Unsere Tabletts glitten aus dem Schlitz.

Wir nahmen an einer Wand Platz, die von der Spiegelwand weit genug entfernt war; ich esse ungern mit meinem Spiegelbild. Die anderen drei Wände des Saales waren in hellen Gelb-, Rot-, Orange- und Gelbgrüntönen gehalten. Es war Herbst auf der Rust Eagle.

»Wir bleiben auch bei dem jahreszeitlichen Farbwechsel an Bord des Sternenschiffs«, meinte Swann, während wir aßen. »Im Winter kürzen wir die Tageslichtperiode, senken die Temperatur, verwenden als Farben Silber, Weiß und Schwarz … den Winter mag ich am liebsten. Die Sonnenwendfeier und all das.«

»Wohin wollt ihr denn?«

Er kaute nachdenklich. »Es gibt um Barnards Stern ein Planetensystem. Bis dort hin sind es neun Lichtjahre. Wir überprüfen es und versorgen uns dort zumindest mit Wasser und Deuterium, vielleicht noch mit anderem.«

Wir setzten unsere Mahlzeit schweigend fort. Am nächsten Tisch hockten drei Leute und diskutierten die Fähigkeit einer gewissen Hydrogenomonas eutropha, Wasserstoff zu binden. Einen Tisch weiter fing eine junge Frau ein Stück Hühnerfleisch aus der Luft, das davonsegeln wollte.

»Wie lange?«, fragte ich.

Swann runzelte die Stirn und begann zu rechnen, während er kaute. »Hundert Jahre, vielleicht zweihundert …«

»Um Gottes willen, Eric!«

»Es ist doch nur ein Viertel unserer voraussichtlichen Lebenserwartung. Wir haben eine Vergangenheit auf dem Mars und eine Zukunft auf irgendeiner Welt, die der Erde ähnlicher ist als der Mars! Du tust gerade so, als würden wir ein völlig natürliches Leben auf dem Mars zurücklassen. Der Mars ist im Grunde das große Sternenschiff, das dir vorschwebt, Emma.«

»Das ist er nicht! Er ist ein Planet. Du kannst hinausgehen und auf festem Boden stehen. Du kannst herumlaufen.«

Swann schob sein Tablett beiseite und saugte an seiner Trinkkugel. »Dein Fünfhundert-Jahre-Projekt ist die Terraformung des Mars«, sagte er. »Unseres ist die Kolonisierung eines Planeten in einem anderen System. Wo ist denn da ein großer Unterschied?«

»Der Unterschied ist zehn oder zwanzig Lichtjahre groß.«

Wir leerten schweigend unsere Trinkkugeln. Swann brachte unsere Tabletts zur Theke und kam mit Kaffeekugeln zurück.

»War … ist Charlie einer von euch?«

»Charlie?« Er blickte mich seltsam an. »Nein. Er arbeitet für die Geheimpolizei des Komitees, wusstest du das nicht? Bei der Inneren Sicherheit.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Deshalb trifft man ihn auch nicht mehr auf Abraumschiffen.«

»Aha.« Wen kannte ich schon richtig, dachte ich.

Sein Blick schweifte in die Ferne. »Ich erinnere mich … es war 2020 oder 2021 … Charlie tauchte mit einem seiner Polizeifreunde in einem unserer Labors in Argyre auf. Wir hatten die sowjetischen Raumforschungslabors völlig infiltriert und hatten dieses eine für ein paar Tests übernommen – es ging um die Konservierung von Reaktormasse. Ich sollte irgendein Versorgungsproblem lösen. Sie hatten zu wenig Cäsium. Und dann tauchte Charlie auf und diese Frau. ›Hallo, sagte er, wie geht's, Eric, wollte nur mal sehen, was du so treibst …‹ Und ich konnte nicht sagen, ob die Frau seine Freundin war und ob er mir wirklich nur hallo sagen oder ob sie das Labor im Rahmen ihrer Polizeiarbeit überprüfen wollten. Ich führte sie herum und erzählte ihnen, wir wären für das Sowjetische Arco-Mobil-Konsortium tätig, was durch die Aufzeichnungen natürlich bestätigt wurde. Wir redeten über die alten Zeiten, und ich fragte mich dauernd, ob wir beide schauspielerten oder nur ich. Und dann hatte ich Angst, dass unsere Tarnung aufgeflogen war und dass dies das erste Anzeichen dafür war …« Er schüttelte den Kopf, lachte kurz. »Aber dann übernahmen wieder die Computer das Regiment. Sie wussten kaum etwas und waren sich ihrer Lücken überhaupt nicht bewusst. Computer-Bürokratie – kein Wunder, dass die Erde langsam auseinanderfällt. Ich zweifle nicht daran, dass all diese Regierungen von vorne bis hinten beklaut werden.«

»Wahrscheinlich gibt es eine Terranische Sternenschiff-Vereinigung, von der du keine Ahnung hast«, sagte ich, als ich an die Vergangenheit dachte.

Er lachte. »Daran zweifle ich nicht.« Er setzte seine Trinkkugel ab. »Obgleich wir über die anderen Untergrundorganisationen auf dem Mars ganz gut Bescheid wissen. Wir haben diesen Zeitpunkt zum Bau des Sternenschiffes gewählt, weil wir glauben, dass die Komitee-Polizei im Augenblick auf dem Mars mit der Suche nach uns vollauf beschäftigt ist.«

»Wie das denn?«

»Eine Gruppe, die sich die Washington-Lenin-Allianz nennt, plant für Mitte August, wenn der Mars der Erde am fernsten ist, eine Revolte. Andere Gruppen beteiligen sich daran. Wie groß die Sache wird, wissen wir nicht, aber es gibt genug Aufregung, um die Polizei von uns abzulenken.«

»Prima.« O nein, dachte ich. Nicht auch noch der Mars. Bitte.

Swann machte eine fahrige Geste. Ich nahm einen Schluck Kaffee.

»Du wirst uns also nicht helfen?«, fragte er plötzlich.

Ich schüttelte den Kopf. »Nein.«

Er presste die Lippen aufeinander und starrte auf den Tisch.

»Bedeutet dies das Ende deiner Sternenschiff-Pläne?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »Die werden schon realisiert. Es ist nur … auf einer so langen Reise bedeutet eine auch nur winzige Verbesserung der Verhältnisse im Schiff eine ganze Menge. Das weißt du selbst. Und wenn du mitmachen würdest, dann käme am Ende ein leistungsfähigeres System heraus.«

»Hör mal, Eric«, sagte ich und holte tief Luft. »Eines verstehe ich nicht. Seit Jahren arbeitet ihr an diesem Projekt, und seit Jahren sind wir befreundet, und du hast die ganze Zeit gewusst, dass ich über Lebenserhaltungssysteme recht gut Bescheid weiß. Warum hast du nicht schon früher mit mir darüber gesprochen?«

Er errötete, kaute auf seiner Unterlippe. »Oh … es gibt keinen besonderen Grund dafür …«

»Warum, Eric? Warum?«

»Nun, da war zum einen Charlie. Er war dein Mann und …«

»Hör auf, Eric. Wir waren nur ein paar Jahre verheiratet. Wir beide, du und ich, sind länger befreundet. Oder war es genauso wie mit Charlie im Labor damals: alles nur Schau?«

»Nein, nein«, protestierte er heftig. »Überhaupt nicht. Ich wollte mit dir sprechen, glaub mir.« Er sah mich an. »Ich war mir deiner nur nicht ganz sicher, Emma. Ich wusste nicht, ob du uns nicht an das Komitee verraten würdest. Du hast dich immer lobend über das Komitee und seine Politik geäußert, wann immer das Thema aufkam.«

»Das habe ich nicht!«

Er starrte mich an. »Doch, das hast du. Du hast dich zwar darüber beklagt, hin und her geschickt zu werden und zu viel arbeiten zu müssen, doch am Ende warst du immer froh, dass die Sektoren zentral verwaltet wurden und jeglicher Streit zwischen ihnen aufgehört hatte. Und dann schien dir das Leben, das das Komitee für dich arrangiert hatte, gut zu gefallen. Zumindest hast du es immer so ausgedrückt, Emma.« Er strich sich über das Kinn, während ich den Kopf schüttelte. »Als man dann deinen Vater ins Gefängnis steckte, dachte ich, du würdest deine Meinung ändern …«

»Mein Vater hat das Gesetz gebrochen«, hielt ich ihm entgegen und dachte an all die Dinge, die ich im Laufe der Jahre gesagt hatte.

»Das tun wir auch! Siehst du? Wenn ich dir von unseren Plänen erzählt hätte, hättest du wahrscheinlich genauso reagiert. Dieses Risiko konnte und wollte ich nicht eingehen. Davydov war dagegen, und ich durfte nicht eigenmächtig handeln, obwohl ich liebend gerne den Mund aufgemacht hätte …«

»Verdammter Kerl«, schimpfte ich. »Verdammter Oleg Davydov.«

»Wie hätten wir etwas anderes annehmen können?«, fragte er und hielt meinem wütendem Blick stand. »Es tut mir leid, aber du hast mich nach dem Warum gefragt. Wir nahmen an, du stündest voll und ganz auf Seiten des Komitees. Ich war der Einzige, der das anders beurteilte, und auch bei mir war es mehr Hoffnung als Wissen. Wir durften das Risiko nicht eingehen. Es war einfach zu wichtig, und wir versuchten, etwas Großes zu vollbringen …«

»Ihr verfolgt einen Wahnsinnsplan, bei dem sechzig Menschen sinnlos ihr Leben lassen werden«, sagte ich scharf und erhob mich dabei. »Ein dämlicher Plan, der dich weit hinaus in den Raum führt, wo ihr keinen Planeten kolonisieren werdet, auch wenn ihr einen geeigneten finden solltet …« Ich stieß meinen Stuhl nach hinten und entfernte mich eilig. Tränen verschleierten meinen Blick. Leute starrten mich an; die letzten Worte hatte ich geschrien.

Ich zog mich am Geländer durch die Korridore zu den Wohnquartieren und verfluchte Swann und Davydov und die gesamte MSV. Ich stürzte in meine Kabine und war froh, dass ich alleine war. Warum hatte er es nicht gewusst? Warum hatte er nicht mit mir geredet?

Ich gewahrte mein Bild in dem Spiegel über dem Waschbecken. Ich war so verstört, dass ich meine Augen zukneifen musste, ehe ich mich im Spiegel wieder ansehen konnte. Und dabei erlebte ich etwas Beängstigendes: Es kam mir so vor, als befände die echte, dreidimensionale Welt sich jenseits der Glasscheibe und als schaute ich durch ein Fenster in diese Welt hinein. Die Person, die auf der anderen Seite schwebte, sah nach draußen. Sie schien wegen irgendetwas völlig außer Fassung zu sein …

Und in diesem seltsamen Augenblick hatte ich eine Erleuchtung, in diesem Moment, in dem ich die Fremde dort sah, begriff ich, dass ich eine Person war wie jeder andere auch. Dass ich nach meinen Taten und Worten beurteilt wurde und dass mein inneres Universum dem prüfenden Blick anderer entzogen war.

Sie hatten keine Ahnung.

Sie wussten es nicht, weil ich es ihnen niemals gesagt hatte. Ich hatte ihnen nicht verraten, dass ich das Mars-Erschließungs-Komitee hasste, dass ich diese profitgierigen Tyrannen mehr hasste als alles andere. Ich hasste sie, weil sie meinen närrischen Vater so behandelten. Ich hasste ihre Lügen: dass sie die Macht nur an sich rissen, um auf einem fremden Planeten bessere Lebensmöglichkeiten zu schaffen usw., usw. … Jedermann wusste, dass das eine Lüge war. Sie wollten nur die Macht für sich selbst. Aber wir hielten den Mund; wer zu viel redete, konnte nach Texas versetzt werden. Oder auf Amor. Die Angehörigen der MSV hatten den irrwitzigen Plan geschmiedet, heimlich zu den Sternen zu fliehen – aber sie leisteten Widerstand, sie stahlen, sie untergruben, sie zweifelten, sie wehrten sich! Und ich? Ich hatte nicht den Mumm, meinen Freunden zu gestehen, was ich empfand. Für mich war Feigheit die Norm gewesen. Für mich war Widerstand etwas Sinnloses und Gefährliches. Und ich war davon ausgegangen, dass alle anderen genauso dachten.

Ich betrachtete die Fremde im Spiegel. Dort war Emma Weil. Man konnte ihre Gedanken nicht lesen. Sie sah unauffällig und wütend aus, hager, dienstbeflissen und humorlos. Was dachte sie? Niemand wusste es. Sie klang ziemlich selbstzufrieden. Aber wie es wirklich in ihr aussah, wusste niemand. Man konnte ihr stundenlang in die Augen starren, man sah nichts als leere, schwarze Schächte …

 

Zwei Tage lang hockte ich in meiner Kabine und tat gar nichts. Dann, eines Morgens, als Nadezhda und Marie-Anne sich auf den Weg zu ihrem Arbeitsplatz auf dem Sternenschiff machen wollten, sagte ich: »Nehmt mich mit.«

Sie sahen sich an. »Wenn du willst«, meinte Nadezhda.

Die beiden Schiffe lagen nebeneinander. Wir landeten unser Boot im Hangar der Hidalgo. Ich folgte meinen Hausgenossinnen zur Farm und übersah dabei geflissentlich die Blicke der anderen Arbeiter im Korridor.

Sie hatten bereits zusätzlich zu der üblichen Farmeinrichtung weitere Reihen von Pflanzkästen installiert. Das grelle Licht der vielen Lampen blendete mich. Ich schlenderte hinter den beiden Frauen her und lauschte ihren Gesprächen mit anderen Technikern. Dann waren wir allein zwischen den großen grün und braun gefleckten Hängeflaschen im Algensaal. Das grelle Lampenlicht zwang uns, dunkelblaue Sonnenbrillen aufzusetzen.

»Wenn Chlorella pyrenoidosa Nitrat als Stickstoffquelle benutzt, dann entzieht sie dem Nährmedium zehnmal weniger Eisen, als wenn Harnstoff als Stickstoffquelle dient, siehst du?«, erklärte Nadezhda.

»Aber irgendwo müssen wir den Harnstoff einsetzen«, wandte Marie-Anne ein.

»Sicher. Aber ich befürchte, dass wir dann zu viel Biomasse erhalten.«

»Können wir die nicht an die Ziegen verfüttern?«

»Und wenn das Nährmedium erschöpft ist? Im Vakuum finden wir kein Eisen …«

Sie hatten ein Problem. Zwischen dem Photosynthese-Koeffizienten der Algen und dem Atmungs-Koeffizienten der Menschen und Tiere musste ein ausgewogenes Verhältnis herrschen; anderenfalls entstünde zu viel CO2 oder zu viel Sauerstoff, je nachdem. Man kann unterschiedliche Algensektoren mit unterschiedlichen Stickstoffquellen versorgen und so den Photosynthese-Koeffizienten beeinflussen. Aber die Algen verbrauchen ihren Mineralnachschub unterschiedlich schnell, und zwar abhängig von der Stickstoffversorgung. Auf lange Sicht könnte das einschneidende Folgen haben; einen ausbalancierten Gasaustausch zu erhalten, könnte mehr Mineralien verbrauchen, als die übrige Biogeozönose produzieren kann.

»Könnt ihr denn nicht ausschließlich Harnstoff und Ammoniak einsetzen«, fragte ich, »und die Mengen an pyrenoidosa und vulgaris ändern, um so den Austausch auszugleichen? Ihr würdet so mehr Harnstoff verbrauchen und mit dem Nitrat keine Probleme bekommen.«

Sie sahen sich an.

»Nun, nein«, sagte Nadezhda. »Sieh mal, diese verdammten Algen wachsen mit Harnstoff so schnell, wir erhalten zu viel Biomasse, die wir in dieser Menge nicht verbrauchen können.«

»Und wenn ihr das Licht drosselt?«

»Dann gibt es Schwierigkeiten mit der vulgaris«, erklärte Marie-Anne. »Verrücktes Zeug, entweder es geht ein oder es wuchert wie wild.«

Natürlich hatte ich die nächstliegende Lösung angeboten. Doch Nadezhda und Marie-Anne beschäftigen sich schon seit Jahren mit diesen Pflanzen und waren mir um einiges voraus. Sie besprachen Modifikationen, von denen ich noch nie gehört hatte. Aber ich hatte noch niemanden kennengelernt, der in diesem Bereich ein solches Gespür hatte wie ich. Als ich Marie-Anne zuhörte, die mir darlegte, warum mein Lösungsvorschlag nicht funktionieren würde, schien irgendetwas in mir zu zerbrechen, und ich erkannte, warum ich letztendlich mitgekommen war.

»Na schön«, sagte ich voller Schärfe, »ihr solltet mir lieber alles erzählen, alle Einzelheiten, alle Verbesserungen, die Swann mir gegenüber erwähnt hat. Wenn ihr wollt, dass ich euch helfe.«

Die beiden Frauen nickten, als wäre dies die selbstverständlichste Bitte der Welt, und wir stürzten uns in die Materie.

Und so half ich ihnen, ja, tatsächlich. Und mehr als je zuvor war das Ich, das dachte und fühlte, von dem Ich getrennt, das sich mit diesem speziellen BLSS-Problem herumschlug. Danach würden wir beide einen Schritt zurücktreten, unsere Arbeit begutachten, nach Hause gehen und das Ganze vergessen. In diesem Gemütszustand war ich besonders kreativ, und ich konnte einiges erreichen.

Es kam schließlich so weit, dass ich nach dem Abendessen zum Sternenschiff zurückkehrte, alleine durch die Farmen schlenderte und einige Programme entwarf, um die Ergebnisse zu überprüfen. Denn es gab ein ernstes Problem, wie es mir noch nie untergekommen war. Die beiden Schiffe waren Deimos-PRs, etwa vierzig Jahre alt, von der äußeren Form Kartenspielen ähnlich, knapp über einen Kilometer lang. Angetrieben wurden sie von Raketentriebwerken, die mit Cäsium und Deuterium betrieben wurden. Die Mannschaft, vierzig bis fünfundvierzig Leute, wohnte im vorderen oder oberen Teil des Schiffs hinter den Brücken. Darunter befanden sich die Freizeiteinrichtungen, die verschiedenen Farmsektoren und die Recycling-Anlagen, noch weiter unten kamen dann die riesigen Raketensysteme und der Schutzschild, der die Mannschaft abschirmte. Die Schiffe waren Biogeozönosen, in sich geschlossene ökologische Systeme, bei denen biologische und technologische Methoden zur Anwendung kamen, um geschlossene Wirkungskreise zu schaffen. Völlige Geschlossenheit war natürlich nicht möglich; sie betrug bestenfalls achtzig Prozent für eine Drei-Jahres-Periode, um danach rapide abzunehmen. Demnach waren es gute Asteroidenschürfer. Doch es gab gewisse Mängel, die niemals richtig behoben worden waren, und obgleich dies die besten geschlossenen biologischen Lebenserhaltungs-Systeme waren, die je gebaut wurden, so waren es doch keine Sternenschiffe.

Ich verfolgte den Gang der verschiedenen Prozesse auf der Farm der Hidalgo