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Es war nicht so, als hätte Mike geplant, sein letztes Schuljahr fast nicht zu bestehen. Oder sich mit seinen Freunden zu überwerfen. Oder aus keinem ersichtlichen Grund vollkommen den Boden unter den Füßen zu verlieren, nur damit man ihm dann sagte, dass sein Leben schon seit geraumer Zeit vollkommen aus dem Ruder lief und er bisher nur gut genug im Verdrängen gewesen war, um das zu bemerken. Es war nicht so, als wäre das seine Vorstellung von Erwachsenwerden gewesen. Aber so war es nun einmal gekommen, und was ihn nicht umbrachte, machte ihn stärker. Oder? Es ist essenziell wichtig, um Hilfe zu fragen. Oder sie wenigstens anzunehmen, wenn sie ungefragt plötzlich trotzdem kommt.
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Seitenzahl: 339
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Für Nele, meinen kleinen, großen Elefanten <3
VOR DEM LESEN
Liebe lesende Person,
Ich freue mich, dass du dieses Buch ausgewählt hast! Bevor du anfängst zu lesen, habe ich aber einige freundliche Hinweise für dich. Dieses Buch erzählt eine Geschichte, in der sensible Themen rund um die Großthematik mentale Gesundheit und mentale Probleme behandelt werden. Wenn Themen wie Selbstzweifel, Anxiety, Depressionen und Suizid bei dir ungewollte Emotionen auslösen, solltest du dieses Buch mit Vorsicht und gegebenenfalls mit der Unterstützung vertrauter Personen genießen.
Deine seelische Gesundheit ist wichtig.
Ressourcen, die beim Umgang mit mentalen Problemen helfen können, findest du hier:
Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche:
116 111
Nummer gegen Kummer für Erziehende:
0800 111 0550
Sprich mit Menschen und frag‘ nach Hilfe! Du bist wichtig für die Welt <3
Alles Gute und viel Spaß beim Lesen,
deine Hannah.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Epilog
Der Regen hatte Mike schon vor einer Viertelstunde vollständig durchnässt und schien von Schritt zu Schritt nur schlimmer zu werden. Die Straßenlaternen sahen durch den Wasserschleier wie ein verschmiertes Aquarell aus. Die letzte Tageswärme war vollständig evaporiert und Mike fror in seinen durchweichten Kleidern. Billy und Lia beschleunigten ihre Schritte, als könnten sie so vor den Regentropfen weglaufen. Mike hatte Schwierigkeiten, sie klar zu sehen.
„Wartet!“, rief er und schloss zu seinen Freunden auf. Billy sah kurz über die Schulter und rief etwas, das Mike über das laute Prasseln hinweg nicht verstand. Halb blind ließ er sich von Billy mitziehen. Er hätte im Bett bleiben sollen. Wenig später fand er sich dicht an seine beiden Freunde gedrängt unter dem dürftigen Dach eines Bushäuschens wieder. Es war aus rostigem Wellblech, das wie ein Verstärker für den Regen fungierte.
„Da geht ja echt die Welt unter“, kommentierte Lia trocken und fuhr sich mit der Hand durch die nassen Haare. Sie standen wie Igelstacheln zu allen Seiten ab und ihr aufwändig gezogener Eyeliner war verschmiert. Bevor sie in ihr Auslandssemester aufgebrochen war, hatte Lia nie Eyeliner benutzt. Mike konnte sich nicht entscheiden, ob ihm der neue Look gefiel, oder ob er ihm zu fremd war.
Gerade schien Lia mit ihrer Make-Up Wahl auch nicht besonders glücklich zu sein. Unzufrieden betrachtete sie sich in ihrem Handydisplay. „Wozu muss es mitten im Sommer bitte so schütten?“, beschwerte sie sich. Keiner antwortete.
Mike blickte aus dem Häuschen heraus auf die Straße. Er konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt so starken Regen erlebt hatte. Wie kleine Steine ließen die Regentropfen das Wasser aufspritzen. Pfützen und Rinnsale vereinten sich zu regelrechten Bächen, die die abschüssige Straße hinunterliefen. Kurz fragte Mike sich, ob sie die gesamte Nacht hier verbringen würden. Der Gedanke war so absurd, dass er fast lachte.
Er hatte sich auf diesen Abend gefreut. Die Party bei Stacey vor Schuljahresbeginn war so etwas wie eine Tradition geworden und er hatte sie herbeigesehnt. Das vergangene Schuljahr war alles andere als ein Spaß gewesen und das kommende würde vermutlich noch schlimmer – immerhin standen die Abschlussprüfungen bevor. Die Party verschob den Wiedereintritt in die graue Realität um ein paar Stunden nach hinten. Den ganzen Tag über hatte Mike sich darauf gefreut, seine Freunde alle auf einmal zu sehen, zu reden, zu lachen und zu trinken. Doch jetzt, im zweifelhaften Schutz des Bushäuschens, während der Regen draußen keine Anstalten machte, nachzulassen, keimte ein überwältigender Fluchtinstinkt in ihm. Allein der Gedanke daran, gleich mit Tonys lauten Witzen und den endlosen Geschichten von Gemma und Stacey konfrontiert zu sein, erschöpfte ihn. Ihm war, als könne er das Klappern der Flaschen bereits hören, das Geräusch von Füßen und Kleidung auf dem Boden, das Stimmengewirr, die Lachsalven. Hinter Mikes Augenbrauen bahnten sich Kopfschmerzen an. In seinen Ohren wurde ein Fiepen laut. Geistesabwesend drückte er mit den Fingerkuppen gegen die Ohrmuscheln, um den Ton zu ersticken. Nach wenigen Sekunden war er fast vollständig abgeklungen und Mike gab sich Mühe, so unberührt wie möglich auszusehen, doch Billy musterte ihn trotzdem mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Immer noch der Tinnitus?“, wollte er wissen. Mike winkte ab. „Ist halb so wild.“ Er hatte wirklich gehofft, die Tinnitusattacken über Sommer abgelegt zu haben.
Billy holte Luft, um zu widersprechen, doch Mike hatte keine Energie für die zwangsläufig folgende Diskussion. Er drehte sich demonstrativ weg und Billy ließ es bleiben. Lia hielt die Stille, die daraufhin anschwoll, nicht lange aus. Sie holte eine Papiertüte aus der roten Ledertasche, die sie über ihre Schulter geworfen hatte. Die Tüte war feucht, aber nicht vollständig ruiniert. Lia fischte ein Gebäckstück heraus. Mike zog die Augenbrauen zusammen. Nach ein paar Sekunden schien Lia Billys und seine Anwesenheit wieder einzufallen und sie hielt ihnen die Tüte auffordernd hin. „Ist genug für alle da.“
Mike beäugte die Brownies misstrauisch. Er merkte, dass er hungrig war, doch beim Gedanken daran, etwas zu essen, wurde ihm schlecht. „Lass mal gut sein“, wehrte er ab. Auch Billy winkte sofort ab. „Ich glaube nicht, dass wir schon auf dem Weg zur Party mit dem Drogenkonsum anfangen müssen“, sagte er abschätzig. Doch wenn Lia etwas von seiner Missgunst merkte, dann schien es ihr egal zu sein. „Das ist das gute Zeug aus Amsterdam“, erklärte sie wie eine Händlerin, die ihre Ware anpries. „Ich sage es euch, da verkaufen die den Kram an jeder Ecke! Die hier habe ich von einer Frau gekauft, die war sicher so alt wie meine Oma. Und es sind mit Abstand die besten, die ich dort bekommen habe. Ich habe sie extra für heute aufgehoben, zu Feier des Tages. Jetzt habt euch doch nicht so!“
Sie leckte sich die Krümel von den Fingern und hielt erneut die Tüte in ihre Richtung. Mike hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen. Er wollte diese Brownies nicht essen. Er wollte auch nicht, dass Lia sie aß. Er sollte es machen, wie Billy. Doch als Lia ihn ansah, Schokolade im Mundwinkel, mit einem Blick, der ihn geradewegs zu durchdringen schien, bröckelte sein Widerstand. Als hätte sie seine Gedanken gelesen, schob Lia hinterher: „Nur zum Lockerwerden. Damit wir alle den Abend voll genießen können!“
Es würde laut werden; laut und voll. Stacey hatte viele Freunde, die wiederum Bekannte hatten, die jemanden kannten, den sie mitbrachten. Sicherlich war Staceys Bruder mit ihr Alkohol kaufen gegangen. Er brannte schon jetzt in Mikes Hals. Hatte er heute schon etwas getrunken? Ihm war schwindlig. Ein Brownie würde ihn nicht umbringen. Es wäre nicht fair, wenn er aufgrund seiner schlechten Stimmung den anderen die Party versauen würde. Bevor er es sich anders überlegen konnte, hatte Mike sich einen Brownie genommen. Er zwang sich, zu schlucken und sah Billy an. Er spürte das Urteil, dass er sich gerade bildete. Fast wünschte er sich, dass sein bester Freund jetzt doch auch nach dem Gebäck greifen würde, doch er sah betont desinteressiert in die andere Richtung. „Ich habe schon zu Abend gegessen“, kommentierte er spitz und Mike bereute den Bissen, den er genommen hatte bereits. Er wollte den Brownie so schnell wie möglich loswerden. Binnen weniger Sekunden hatte er ihn aufgegessen. Er wollte sämtliche Krümel von seinen Händen und aus seinem Mund spülen. Gleichzeitig wollte er nun, da er einmal angefangen hatte, gleich weitermachen. Sein Mund fühlte sich leer an, und staubtrocken. Er hätte wirklich etwas trinken sollen. Lia kramte in der Tüte, als sei es selbstverständlich. Vielleicht war es das. Wahrscheinlich war Billy viel zu verklemmt. Noch niemand war von Edibles gestorben. Soweit er wusste.
Mike griff nach einem weiteren Brownie, als Billy plötzlich nach seinem Handgelenk griff. „Mach mal langsam, oder?“, meinte er mit gesenkter Stimme. Etwas in seinem Tonfall veranlasste Mike dazu, jetzt erst recht zuzugreifen. „Ich kann schon auf mich aufpassen“, fauchte er. Billy nahm wortlos seine Hand weg und zuckte mit den Schultern.
„Schaut, der Regen wird weniger“, meinte er wenig später und sah auf die Uhr. „Wenn wir uns beeilen, haben wir doch noch etwas von dem Abend.“ Er zog sich seine Kapuze über und trat als erster hinaus in den abgeflauten Sommerregen.
Staceys Haus lag nur noch wenige Querstraßen von der Bushaltestelle entfernt; etwa sieben Minuten Fußweg. Mike lagen die beiden Brownies schwer im Magen; seit dem Mittagessen war einiges an Zeit vergangen und vielleicht hätte er vorher lieber etwas Sättigendes essen sollen. Trotzdem sehnte er sich nach dem erleichternden Gefühl, das ihn wohl etwa erreichen sollte, wenn sie bei Stacey ankamen. Es war nicht das erste Mal, dass er Rauschmittel konsumierte – Tony rauchte Gras und an Abenden wie diesen machten eigentlich alle bis auf Billy mit. In Gebäckform hatte Mike es noch nie zu sich genommen, aber die Wirkung konnte kaum drastisch anders sein.
Billy trieb Lia und Mike zur Eile an. Die Wolken hingen so tief, dass Mike sie mit den Fingerspitzen berühren könnte, wenn er sich hoch genug streckte. Verschwommen nahm er wahr, wie schnell sein Herz schlug. Er musste fast laufen, um mit Billy Schritt halten zu können. Wind schlug ihm den feinen Nieselregen ins Gesicht und Mike erzitterte in den durchnässten Kleidern. Gleichzeitig überkam ihm das Verlangen, seinen Hoodie auszuziehen. Er spürte, dass sich Schweißtropfen an seinem Haaransatz bildeten. Genervt wischte er sie weg. Warum hatte Billy es so eilig? Wohin musste er so schnell? Nervosität kribbelte in Mikes Fingerspitzen. Als sie an einer Kreuzung an der roten Fußgängerampel stehenbleiben mussten, kroch kaltfingrige Unruhe seinen Rücken hinauf. Mangels besserer Lösung begann Mike, am Straßenrand auf und abzugehen. Die Welt war auffallend still geworden, obwohl Autos in kurzen Abständen an ihnen vorbeifuhren. Das Regenwasser spritzte hoch. Die Luft war plötzlich dünner geworden; egal, wie tief Mike einatmete, er bekam nicht genug. Er stützte die Hände auf die Knie, wie nach einem Ausdauerlauf in der Schule. Versuchte, seine Lunge zu weiten. Plötzlich aufflammender Kopfschmerz zwang ihn, die Augen zu schließen. Vielleicht sollte er etwas sagen. Mike versuchte es, aber seine Zunge lag wie ein Fremdkörper in seinem Mund. Das Stechen in seinem Kopf wanderte in seine Brust. Jemand berührte ihn an der Schulter und er fuhr so heftig zusammen, als hätte man ihm einen Stromschlag verpasst. Mikes riss die Augen auf; sein Blick rutschte von seiner Umgebung ab, bis er an Billys besorgtem Gesicht hängenblieb. Billy sagte etwas, doch Mike verstand es nicht. Seine Ohren waren wie mit Wasser gefüllt, der Schall erreichte sie verzögert, verzerrt, doch das war es nicht, was ihn aus dem Konzept brachte. Es war der Blick, mit dem Billy ihn bedachte – als wisse er nicht, was mit Mike anzufangen sei. Das Fiepen in seinen Ohren war zurück, und diesmal half Drücken nicht, um es zum Verstummen zu bringen, es schwoll zu einem Kreischen an und Mike hielt sich die Ohren zu. „Hör auf!“, rief er, nicht sicher, ob er das Fiepen meinte, oder Billy, der noch immer seine Schulter festhielt.
Mike sah auf, die Ampel war endlich grün, die LEDs schienen sich in seine Augen zu brennen und seine Netzhaut zu versengen. Er kniff die Augen wieder zu. Die Welt kippte aus den Angeln. Er hörte eine verwirrte Stimme, weiblich, vertraut, doch er verstand keine Worte und allmählich bekam er Angst. Er würde sterben, ganz sicher; etwas in seinem Gehirn war angeknackst, das waren die letzten Halluzinationen vor dem Exitus. Er sagte endlich etwas, doch seine Zunge brachte die Worte nicht sauber über die Lippen.
Wieder Lias Stimme, dann Billy, wieder Lia, jetzt lauter. Billys Hand ließ ihn los, er hörte ihn schreien. Es ging um ihn, ganz sicher, jetzt war er auch noch schuld daran, dass seine Freunde sich zerstritten. Mikes Beine entschlossen sich, ihn nicht länger zu tragen, er spürte Nässe an den Knien, als seine Jeans sich mit Regenwasser vollsog. Er umklammerte den Oberkörper mit seinen Armen, sein Herz hämmerte gegen seinen stechenden Brustkorb und fast hoffte er auf die Stille, die nun ja jeden Moment kommen musste.
Aber sie kam nicht. Stattdessen wieder eine Hand, diesmal auf seinem Rücken, so fest, so bestimmt, dass sie sich nicht abschütteln lassen würde. Und Billys Stimme, ganz dicht an seinem Ohr: „Komm, wir gehen nach Hause.“
Mike hatte das Gefühl, von einer Glasscheibe von der Welt abgeschottet zu sein. Es dauerte unverhältnismäßig lange, bis Billys Worte sein Gehirn erreicht hatten. Zuhause klang gut, aber Mike lag trotzdem Protest auf den Lippen. Langsam löste sich der Knoten in seinem Kopf auf. Wenn er einatmete, erreichte die Luft seine Lunge. Mike schluckte ein paarmal. Sein Mund war eine Wüste. Billy griff nach seiner Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. Mike merkte, dass er zitterte. Sein Herzschlag hämmerte in seinem Kopf und er gab seltsam abgehackte Geräusche von sich, während er vorsichtig wieder lernte, zu atmen. Hätte Billy ihn nicht festgehalten, wäre er kaum zwei Schritte weit gekommen.
„Schon okay“, murmelte Billy und schob ihn vor sich her. „Wir gehen jetzt nach Hause.“ Nach ein paar Schritten nahm Mikes Umgebung wieder Form an. Die Welt war nicht mehr so grell und das Fiepen in seinem Kopf flachte langsam wieder ab. Er war in der Lage, wieder einigermaßen klare Gedanken zu fassen. „Lia?“, fragte er, als er merkte, dass sie nur zu zweit waren. Billy blickte starr geradeaus und zog die Geschwindigkeit etwas an. Der Regen war wieder stärker geworden. „Die geht zu Stacey“, informierte er Mike. „Sagt den Anderen, dass wir es nicht schaffen.“
Mike spürte das Schuldbewusstsein wie einen Stachel, der sein Gift langsam in seinem Körper ausbreitete. Er wollte sich entschuldigen, dass er Billy den Abend versaut hatte, doch Billy schob ihn nur energischer vor sich her. „Ich war sowieso nicht scharf drauf“, sagte er, als habe er Mikes Gedanken gelesen. „Die besaufen sich doch nur. Dann komme ich morgen wenigstens nicht mit Kater in die Schule.“
Der Gedanke an den morgigen Schultag sorgte sofort dafür, dass Mikes Puls wieder beschleunigte. Er zwang sich, zu atmen. Die nächtliche Dunkelheit fühlte sich an wie eine Zwangsjacke und als er vor seinem Wohnblock stand, kostete es Mikes ganze Überwindung, nicht umzudrehen und wegzugehen. Er sah Billy hilflos an. Er musste sich erklären, sagen, was passiert war, aber er wusste es nicht. Billy sah zurück, genauso hilflos, genauso verwirrt. Er seufzte tief. „Geh‘ schlafen, Mike. Iss was. Und lass um Himmels Willen deine Finger von Lias Schwachsinn. Ich hoffe wirklich, dass sie es heute Abend nicht übertreibt.“ Er hatte bereits erneut Luft geholt, Worte sammelten sich schon in seinem Mund, doch er warf einen Blick in Mikes Gesicht und überlegte es sich anders. Kopfschüttelnd klopfte er Mike kurz auf den Rücken. „Pass auf dich auf, bitte.“ Mike starrte ihm hinterher und wünschte, Billy hätte ihm eine verständlichere Anweisung gegeben.
Lia fing Mike ab, bevor er das Schultor erreichte. Sie sah aus, als hätte sie die gesamte Nacht nicht geschlafen. Staceys Party musste schon in vollem Gange gewesen sein, als sie angekommen war, und Lia war sicherlich bis zum Ende geblieben. Trotzdem schaffte sie es, ihm ein Lächeln entgegenzubringen.
„Guten Morgen, Superstar“, grüßte sie und hakte sich bei ihm unter. „Wir haben die ersten Stunden zusammen.“ Mike blickte auf den Screenshot, den er von seinem Stundenplan gemacht hatte. „Auch Literatur?“, versicherte er sich. Lia nickte und verzog das Gesicht. „Hast du die Lektüre über Sommer gelesen? Ach, mit wem spreche ich hier – natürlich hast du sie gelesen, wahrscheinlich hast du sie auch schon fertig analysiert.“ Sie zwinkerte, um anzudeuten, dass sie nur Spaß machte. Mike antwortete nicht und hoffte, dass Lia ihm die plötzliche Panik nicht anmerkte. Er hatte die ganze Zeit über das Gefühl gehabt, etwas vergessen zu haben. Die Lektüre hatte er nicht einmal gekauft. „Ganz ehrlich, ich habe sowas von keine Lust auf das Schuljahr“, fuhr Lia fort und rieb sich mit beiden Händen über das Gesicht. „Du bist der einzige Grund, warum es sich überhaupt lohnt, noch in die Schule zu kommen. Und auch der einzige Grund, warum ich nach dem Auslandssemester nicht einfach in Amsterdam geblieben bin.“
Mike ahnte, dass das der Part der Konversation war, zu dem er vermutlich etwas beitragen sollte. Verkrampft suchte er nach Worten, die nach etwas klangen, was ein guter, alter Freund sagen würde. „Ich bin froh, dass du zurückgekommen bist“, sagte er schließlich. Am liebsten hätte er die Worte zurückgenommen, kaum, dass er sie gesagt hatte, so pathetisch klangen sie.
Aber Lia sah zufrieden aus und griff nach seiner Hand, um ihn hinter sich her ins Schulgebäude zu ziehen. Plötzlich schienen Mikes Füße in Zement gegossen zu sein. Er starrte die Haupteingangstür an und ihm war, als könne er bereits die abgestandene Luft riechen, das Quietschen von Gummisohlen auf dem Linoleumboden hören. Vor seinem inneren Auge schoben sich Schließfachwände von rechts und links auf ihn zu und zerquetschten ihn. „Ich will nicht“, flüsterte er. Lia bemerkte die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme nicht und schnaubte bloß.
„Ja, wer will schon?“, fragte sie humorlos. „Dabei hast du gestern Abend nicht mal gesoffen. Bist du über die Ferien am Ende doch vernünftig geworden und hast verstanden, was Schule für ein Höllenloch ist?“ Mike schluckte trocken und war drauf und dran, ihr zu erzählen, dass er keinen Spaß machte, als sie ihn mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete.
„Das wird jetzt aber nicht so ein Aussetzer wie gestern Abend, oder? Das war nämlich echt gruselig.“ Sofort verflog Mikes Mitteilungsdrang. Er war ihr dankbar gewesen, dass sie das Thema bisher unberührt gelassen hatte, jetzt fühlte er sich augenblicklich wie von unzähligen Scheinwerfern angestrahlt. „Quatsch“, sagte er heiser und zwang seine Beine, sich zu bewegen. Ignorierte sein Herz, das nachdrücklich schlug, als sei er kurz davor, einen schrecklichen Fehler zu begehen, und folgte Lia ins Schulgebäude.
Während er den ersten Flur entlangging, entspannte sich der Druck in Mikes Brust etwas. Solange er in Bewegung bleiben konnte, konnte er sich in den vertrauten Gängen fast zuhause fühlen. Es war kaum vorstellbar, dass er in einem Jahr bereits keinen Fuß mehr in dieses Gebäude setzen würde. Er würde lügen, würde er sagen, dass er sich nicht auf das Ende der Schulzeit freute. Gleichzeitig fühlte er sich seltsam schuldig – es sollte ihm nicht leichtfallen, sich so leichtfertig von den letzten acht Jahren seines Lebens zu trennen. Er forschte nach Melancholie in seinem Inneren und stellte fest, dass er keine fand – alles, was er fühlte, war der dumpfe Wunsch, das Jahr so schnell wie möglich zu beenden.
Mikes Gedanken wurden von einer blechernen Lautsprecherdurchsage unterbrochen, die ihn ins Direktorat zitierte. Lia sah ihn von der Seite her an.
„Wie viel Mist kannst du denn jetzt schon gebaut haben?“ Sie lachte über die Absurdität ihrer eigenen Aussage. „Sorry, hab kurz vergessen, wer du bist. Wahrscheinlich will sie dir ein Stipendium oder so anbieten. Vielleicht darfst du das letzte Schuljahr überspringen und direkt an die Uni gehen.“ Mike gab etwas von sich, das wie ein Lachen interpretiert werden konnte, während er sich auf dem Absatz umdrehte, um zum Verwaltungstrakt zu laufen. Es hatte seine Gründe gehabt, dass er sein letztes Zeugnis weder Lia noch Billy noch seiner Mutter gezeigt hatte, und wenn es nach ihm ging, blieben diese Gründe weiterhin ganz seine eigenen. „Wir sehen uns gleich“, rief er über die Schulter, inständig hoffend, dass er weder alarmiert noch schuldbewusst klang.
Monica Pierce war eine Frau, die vielleicht Gedanken lesen konnte, wenn sie einem nur lange genug in die Augen sah. Sie war groß, größer als ihre meisten männlichen Kollegen, und in seinen ersten Wochen hatte Mike unfassbare Angst vor ihr gehabt. Ihr schottischer Akzent ließ nie zweifelsfrei sagen, ob sie gut gesonnen oder bitterernst eingestellt war, und wer einmal mitbekommen hatte, wie sie einen Unruhestifter zur Ordnung rief, wollte inständig niemals in derselben Situation sein. Über die Jahre hinweg war Mike allerdings mit ihr warm geworden, sodass er sich nicht übermäßig davor fürchten würde, allein in ihr Büro beordert zu werden – wenn er nicht eine Ahnung hätte, worum es gehen könnte.
Miss Pierce saß hinter ihrem Schreibtisch und arbeitete konzentriert an ihrem Laptop, als Mike nach kurzem Klopfen und Warten eintrat. Er fragte sich, was es am ersten Schultag schon zu arbeiten gab, allerdings hielt er es für klüger, nicht nachzufragen.
„Guten Morgen, Miss Pierce“, grüßte er. Zufrieden stellte er fest, dass seine Stimme beinahe entspannt klang. Die Rektorin sah auf. „Ah, Michael.“ Sie nickte zufrieden. Mike biss sich auf die Lippe, um sie nicht wie automatisiert zu korrigieren und setzte sich, als sie in Richtung des Stuhls vor ihrem Schreibtisch gestikulierte. „Schön, dass du es geschafft hast.“ Sie klickte ein letztes Mal auf ihren Bildschirm, dann klappte sie das Notebook zu und wandte sich mit aufmerksamen Augen Mike zu. „Hast du die E-Mail erhalten, die ich in der vergangenen Woche an dich geschickt habe?“
Sofort beschleunigte sich Mikes Herzschlag. Seine Hand schnellte zu seiner Hosentasche, um sein Handy hervorzuziehen. Wann hatte er zuletzt seine Mails gecheckt? In den Ferien sicherlich nicht. Ein kurzer Blick auf den Nachrichten-Counter reichte, damit ihm schlecht wurde. Mike wollte gar nicht wissen, wie viele wichtige Nachrichten er über die Ferien schlichtweg vergessen hatte. Mit belegter Stimme verneinte er. Angespannt beobachtete er Miss Pierces Reaktion, aber sie sah nicht übermäßig verärgert aus.
„In Ordnung. Das habe ich mir fast gedacht, als du nicht geantwortet hast. Aber dann unterbreite ich dir das Angebot einfach jetzt hier direkt.“
Bevor Mike nachfragen konnte, griff sie nach einem Blatt Papier und schob es über die Tischplatte, sodass Mike es lesen konnte. Er beugte sich vor und sah wenige Worte, in wenigen Zeilen am Kopf des Blattest abgedruckt:
David Jones
Diplompsychologe, Kinder- und Jugendpsychologe
Schulpsychologe
Darunter eine Telefonnummer und eine Mailadresse. Fragend blickte Mike auf und wunderte sich, ob er den Namen kennen sollte. Etwas in seinem Hinterkopf klingelte, aber er konnte es nicht greifen. Miss Pierce lächelte ihn überraschend sanft an. „Ich würde dich gerne mit Mr Jones bekannt machen, Michael.“ Er blickte erneut auf den Zettel, dann zurück in ihr Gesicht. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er die gedankliche Brücke schlug. Dann riss er die Augen auf. Sein Gesichtsausdruck musste seine Fassungslosigkeit nach außen tragen.
„Mich haben einige besorgte Kommentare erreicht“, erklärte die Schulleiterin, sich in ihrem Stuhl zurücklehnend. Mike hatte fast gehofft, dass dieses Gespräch doch nicht aus dem Grund stattfand, den er gefürchtet hatte, jetzt war er wieder in voller Alarmbereitschaft. Er rutschte auf die äußerste Stuhlkante vor. Er hatte den gesamten Sommer über die Nachfragen seiner Mutter abgewehrt und war bereit, mit der Schulleiterin ähnlich zu verfahren. Sie zog einen weiteren Zettel aus einem Papierstapel und Mike wurde übel, als er sein eigenes Zeugnis erkannte. Miss Pierce seufzte.
„Es geht nicht nur um deine schulischen Leistungen“, sagte sie. „Obwohl die Veränderung auch da sicherlich nicht abzutun ist. Aber einige Kollegen haben sich ernstlich besorgt gezeigt – du hättest dich charakterlich sehr verändert in den letzten Monaten. Kannst du mir etwas dazu sagen?“ Mike starrte sie an, als spräche sie eine fremde Sprache. Seit wann war es üblich, dass Lehrer sich fröhlich mit ihren Kollegen über die Persönlichkeit ihrer Schüler unterhielten? Was konnte er Schlimmes getan haben, das jemanden dazu bewog, mit der Schulleitung zu sprechen? Fieberhaft suchte Mike nach einer Rechtfertigung, die ihm den Besuch beim Schulpsychologen ersparen würde.
„Es war eben stressig. Wegen dem Abschluss und allem.“ Das klang in seinen eigenen Ohren überzeugend; Schulabschlüsse waren stressig und alle Lehrer hatten ihnen versichert, dass ein Leistungsabfall in den letzten Jahren ganz normal war. Er fühlte sich verraten, weil sie dennoch deswegen zu Miss Pierce gegangen waren – er war eben ein bisschen abgelenkt gewesen, aber das würde sich wieder einpendeln, sobald er eine neue Routine gefunden hatte. Das wollte er der Schulleiterin gern sagen, doch die Worte hatten ihn verlassen. Stumm starrte er sie an und hoffte, dass sie auch wortlos verstand. Natürlich tat sie das nicht.
Miss Pierce richtete sich auf, sie sah jetzt geschäftig aus. „Das glaube ich gern. Und darum wäre ich sehr glücklich darüber, dir ein bisschen Unterstützung an die Seite zu stellen, für dieses letzte Schuljahr. Du warst immer einer unserer besten Schüler – es wäre doch jammerschade, wenn du jetzt nicht den Abschluss bekommen könntest, der dir zusteht!“ Sie lächelte, und Mike war sich sicher, dass sie es aufrichtig gut mit ihm meinte, doch alles, was er hörte, war eine Wand aus Erwartungen, die sie vor ihm aufbaute. Wenn er zustimmen sollte, diesen Psychologen zu treffen, mussten seine Leistungen sich schlagartig wieder normalisieren.
Er schüttelte den Kopf, um die lästigen Gedanken zu vertreiben. „Danke“, presste er hervor, „aber ich denke, ich komme zurecht.“
Miss Pierce sah ihn nachsichtig an. Mike wurde klar, dass das Angebot nie ein Angebot gewesen war, sondern ein gut getarnter Befehl. Er sackte in sich zusammen. Hätte er die Energie, würde er beleidigt aus dem Büro stürmen. So blieb er sitzen, wartete darauf, was sie als Begründung vorbringen würde. „Ich bin mir sicher, dass du gut in der Lage bist, dein Leben zu führen“, sagte sie geduldig und Mike wollte schreien ob der pädagogischen Ruhe, mit der sie ihn zu täuschen versuchte. „Aber wir haben als Schule eine Verantwortung unseren Schülern gegenüber. Und du bereitest uns momentan Sorgen. Darum wirst du David am kommenden Montag zu einem Erstgespräch treffen. Er hat die notwendige Ausbildung, und wenn er dich anders einschätzt als wir, steht es dir immer noch frei, die Beratung abzubrechen. Es ist auch kostenlos“, fügte sie hinzu. Jetzt hätte Mike tatsächlich fast gelacht. Stattdessen stand er auf und hob den Rucksack auf, der plötzlich eine Tonne zu wiegen schien. „Okay“, sagte er tonlos und wartete nicht länger darauf, entlassen zu werden. Miss Pierce ließ ihn damit davonkommen. „Kopf hoch, Michael!“, rief sie ihm hinterher. Er schloss die Tür etwas heftiger, als notwendig gewesen wäre.
„Auf gar keinen Fall.“ David hörte das verzweifelte Seufzen durch das Telefon und rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken. Er hatte seit heute Früh Kopfschmerzen, und das unerwartete Telefonat machte es nicht besser. „Monica!“, flehte er nachdrücklich, versuchte, ihr klarzumachen, was sie von ihm verlangte. Er hörte sie Luft holen, doch er fuhr fort, bevor sie ihn unterbrechen konnte. „Ich habe es dir damals gesagt, ich sage es dir erneut: Ich komme nicht zurück. Ich schaffe das nicht. Noch nicht.“ Die Worte schmeckten bitter und das schlechte Gewissen meldete sich in seiner Magengegend. Du machst es dir auch leicht flüsterte es. David schloss die Augen. Ihm war schlecht. Seine Hand suchte nach dem Weinglas, das er nachlässig auf dem Wohnzimmertisch abgestellt hatte.
Monicas Stimme klang hilflos, als sie es erneut versuchte: „Ich habe versucht, einen anderen Schulpsychologen anzufordern, aber der Personalengpass ist extrem. Und ich mache mir wirklich Sorgen um den Jungen. Wenn er so weitermacht, dann bekommt er seinen Abschluss nicht, und wahrscheinlich braucht er nur mal jemanden zum Reden… findest du nicht, dass er diese Chance verdient hat?“
David lachte müde auf. „Natürlich hat er das – wer hat das nicht? Aber die muss ihm jemand anderes geben. Tut mir leid.“ Er legte auf, bevor Monica etwas erwidern konnte und warf das Telefon erschöpft neben sich auf das Sofa.
„War das Monica Pierce?“
David fuhr herum und legte sich aufatmend eine Hand übers Herz, als er seine Frau entdeckt. „Hast du mich erschreckt!“, rief er und hauchte ein Lachen. Nancy stand im Türrahmen und sah ihn abwartend an. David seufzte und fragte sich, ob Lügen eine Option wäre. „Ja. Das war Monica.“ Er wich ihrem Blick aus, aber sie hatte die Antwort auf ihre ungestellte Frage bereits in seinem Gesicht abgelesen. „Du hast ihr abgesagt.“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und in Nancys Stimme schwang müde Resignation mit. David drehte sich um und fixierte seine Knie. „Ich bin noch nicht so weit, Nancy.“
Nancy löste sich aus dem Türrahmen, setzte sich aber nicht neben David auf das Sofa. Stattdessen lehnte sie sich gegen den Sessel, der auf der anderen Seite des Wohnzimmers stand, und schloss die Augen. „Du hast es versprochen“, flüsterte sie. David rieb sich die Augen. „Nancy…“, setzte er an, doch seine Frau hob eine Hand und er verstummte. „Ich kann das nicht mehr, David. Das sage ich dir seit einem halben Jahr – ich schaffe es einfach nicht mehr! Du musst das endlich in den Griff kriegen.“
David nickte, stützte die Hände neben sich auf die Sofakissen. „Ich weiß. Ich weiß! Und ich arbeite daran, das tue ich wirklich!“ Als Nancy die Augen öffnete, war die Resignation Frust gewichen. „Wo denn?“, wollte sie wissen. „Ich bin die letzte, die dir deine Probleme absprechen will, aber ich sehe einfach nicht, dass du dich um sie kümmerst! So kann das doch nicht weitergehen! Ich war lange bereit, darüber hinwegzusehen, aber ich schaffe es einfach nicht mehr. Das ist kein Leben – nicht für dich, nicht für mich, und schon gar nicht für unsere Tochter. Sie wird nicht in so einem Umfeld aufwachsen.“ Sie gestikulierte in einer ausholenden Bewegung durch das Wohnzimmer; die halbleere Weinflasche, die Ansammlung der Gläser, der Teller mit einem halb gegessenen Sandwich.
David blickte seine Frau ausdruckslos an, als hätte sie nicht gerade in wenigen Sätzen seine größten Ängste und Albträume zusammengefasst. „Was willst du mir sagen?“ Nancy holte tief Luft. David war sich sicher, dass sie diese Ansprache sorgfältig zurechtgelegt hatte. „Wenn du dein Leben nicht in absehbarer Zeit in den Griff bekommst, ziehe ich mit Hailey aus“, flüsterte sie.
David fühlte, wie die Welt um ihn herum wegbrach und zerbröckelte. Das Sofa in freiem Fall. Gleich würde er auf dem Boden aufschlagen. Er klammerte sich an die Kissen. „Nancy…“ Sie verbarg das Gesicht in den Händen. „Ich will das doch auch nicht!“, rief sie erstickt. „Ich liebe dich, David! Aber – ich kann nicht mehr! Du tust mir weh!“ Als sie aufsah, hatte sie Tränen in den Augen. David erhob sich vom Sofa. Sein Kopf schmerzte und er merkte, dass er angetrunken war, doch er watete dennoch durch den tobenden Sturm auf seine Frau zu. Zögerte, dann griff er nach ihren Händen. Sie zuckte, zog sie aber nicht weg. David schluckte.
„Ich verspreche es dir“, flüsterte er heiser. „Ich verspreche dir – ich tue alles. Alles.“ Er sah sie so lange an, bis sie ihm in die Augen sah. „Ich weiß nicht, ob das noch reicht“, erwiderte sie und David nickte. „Es tut mir leid. Es tut mir so leid! Ich… Ich mache es wieder gut. Versprochen! Ich liebe dich, Nancy!“ Nancy drückte seine Hände und biss sich auf die Lippe, um die Tränen zurückzuhalten. „Beweise es mir. Zeig es mir! Bitte.“ Ihr flehentlicher Tonfall zerbrach Davids Herz in hundert scharfkantige Stücke. Er hätte ihr die Welt versprochen, hätte ihr sein Herz auf einem Silbertablett geschenkt, wenn sie ihn darum gebeten hätte, doch er sah seine Wohnung, die im Chaos versank, schmeckte den billigen Wein in seinem trockenen Mund. Er konnte ihr nicht einmal das Minimum des Erwarteten bieten. Sein Leben fuhr mit Vollgas vor die Wand und er saß am Steuer und tat rein gar nichts dagegen.
„Mum?“
Nancy und David fuhren erschrocken zusammen. David ließ Nancys Hände los und Nancy trocknete rasch ihre Augen. „Ja, mein Schatz?“ Sie drehte sich zu ihrer Tochter im Türrahmen um. „Ich kann nicht einschlafen.“ Sie sah ihre Eltern mit großen, hilflosen Augen an. Es war kaum zu glauben, dass sie bereits in die Schule gekommen war – als wäre sie nicht gestern erst noch hilflos ihre ersten Schritte gegangen. Jetzt lief sie auf sicheren Beinen auf David zu und klammerte sich an sein Bein. „Verscheuchst du die Monster in meinem Zimmer?“ Sie sah zu ihm hoch.
In Davids Brustkorb schien etwas einzurasten. Zum ersten Mal seit langem atmete er tief ein, zum ersten Mal seit langem formte sich ein Plan in seinem Kopf, der nicht völlig wirr und abwegig war. Er lächelte seiner Tochter zu. „Was, die unter deinem Bett? Na klar, lass mich mal ein erstes Wort mit ihnen reden.“ Er nahm Hailey bei der Hand, kniete sich vor ihr Bett und nahm den Monstern das Versprechen ab, sie in Ruhe schlafen zu lassen. Hailey sah ihn vom Bett aus zufrieden an. „Die Monster hören nur auf dich“, erklärte sie ihm. „Mum sagt, dass das dein Beruf ist. Verscheuchst du die Monster bei allen Kindern?“ David schmunzelte und schaltete das Nachtlicht ein. „So ähnlich, vermutlich“, überlegte er laut.
Im Wohnzimmer starrte David das Telefon an wie eine scharfe Zeitbombe. Alles in ihm sträubte sich gegen den Entschluss, den er sich zu treffen zwang. Nancy hatte eine Netflix-Serie eingeschaltet, die David nicht kannte. Er holte tief Luft, griff nach dem Telefon und drückte die Wahlwiederholung.
Nach zwei Freizeichen meldete sich Monicas müde Stimme. David befahl den Stimmen in seinem Kopf Stille. „Ich mache es. Gib mir das Datum und die Uhrzeit.“
***
Der Probenraum roch genau wie immer und Mike merkte, dass er zum ersten Mal in dieser Woche richtig einatmete. Sehnsüchtig öffnete er den Instrumentenkoffer, den er vor den Ferien sorgfältig in der Ecke platziert hatte, und hielt die Luft an. Er atmete auf, als er den Bass unversehrt vor sich sah. Seine Finger umschlossen den schlanken Hals des Instruments, er befestigte den Gurt und zupfte probend die Saiten an. Der Bass war schrecklich verstimmt, aber zum ersten Mal seit Tagen war Mikes Kopf völlig still. Er lächelte den anderen kurz zu, die ebenso zufrieden den Bandraum wieder in Beschlag nahmen. Billy hatte seine Gitarre von daheim mitgebracht und machte sich bereits am Verstärker zu schaffen, während Stacey nach einem funktionierenden Mikrofon suchte. Gemma kletterte hinter das Drumset und Tony manövrierte das Keyboard aus der Ecke, wo es für die Ferien platzsparend verstaut worden war.
Es dauerte einen Moment, bis alle eingerichtet waren. Die erste Probe nach den Ferien war immer chaotisch und Mike merkte, dass er unruhig wurde. Er wollte anfangen – wozu musste Tony gerade jetzt anfangen, von seinem Städtetrip zu erzählen? Mike trommelte mit den Fingern auf seinen Bass und warf immer wieder Blicke zur Uhr. Sie durften den Raum zwar nutzen, hatten aber nicht ewig Zeit, weil die Schule zugesperrt werden musste. Wenn sie noch etwas trödelten, konnten sie die Instrumente wieder wegpacken, ehe sie auch nur einen Ton gespielt hatten.
Endlich waren alle so weit, Billy mit der Einstellung des Mischpults zufrieden und eine Entscheidung bezüglich des ersten Songs gefallen. Doch die Stille in Mikes Kopf war wieder verflogen. Seine Kopfschmerzen verdoppelten sich im verzweifelten Versuch, seine Konzentration im Hier und Jetzt zu halten, doch es war wie Wasser in der Hand zu tragen – je mehr er sich zu konzentrieren versuchte, desto schneller eilten seine Gedanken davon. Die Metallsaiten des Basses schnitten in seine Fingerkuppen und er verfluchte es, dass er kein eigenes Instrument hatte, um in den Ferien zu üben. Er war völlig aus dem Rhythmus und den anderen musste das auffallen. Gemma warf genervt ihre Drumsticks auf den Boden, als Mike zum wiederholten Male den Einsatz verpasste und sie an derselben Stelle stoppen mussten. „Verdammt noch mal, Mike, was ist denn los mit dir? Wir hatten doch gerade erst Ferien! Konzentrier dich gefälligst!“ Mike hob entschuldigend die Hand und spielte das Riff erneut, bis er es endlich fehlerfrei hinbekam. Sein Kiefer schmerzte, weil er die Zähne so fest zusammenbiss.
„Lasst es uns einfach nochmal probieren“, schlug Billy ruhig vor. Mike sah, dass er ihm einen besorgten Seitenblick zuwarf. Es sollte ihn nicht wütend machen, doch er musste sich auf die Lippe beißen, um keinen unfreundlichen Kommentar zu machen. Stattdessen sah er bewusst in eine andere Richtung. Billy sagte erneut: „Einfach nochmal von vorne, okay?“ Keiner legte Widerspruch ein und sie begannen den Song von vorn. Mike bemühte sich ehrlich, so fehlerfrei und entspannt wie möglich zu spielen, doch er konnte nicht verhindern, dass seine Finger sich verkrampften und die Akkorde abgespielt und platt klangen. Die schallisolierten Wände des Probenraums wuchsen bedrohlich hoch über ihm auf. Vielleicht könnte er sich in einer Ecke zusammenkauern und die Augen schließen, bis die Welt vergessen hatte, dass es ihn gab. Der Schultergurt drückte hart in seinen Nacken und er merkte verschwommen, wie schnell sein Herz schlug. Die Luft war in den letzten Minuten so dünn geworden wie auf einem Achttausender. Die Musik wurde zu sinnlosen Geräuschen in Mikes Ohren – warum waren alle so wütend? Warum machten sie so einen unfassbaren Lärm? Er verhedderte sich fast im Gurt, als er den Bass ablegen wollte. Er musste hier raus.
Das laute Fiepen kam überraschend und ließ Mike zusammenzucken. „Verdammt, Stacey, die Rückkopplung! Nicht so nah an den Verstärker!“, fluchte er. Ihm war schwindlig. Es dauerte einige Sekunden und verwirrte Blicke von seinen Freunden, bis er merkte, dass das Fiepen nicht vom Verstärker kam. Mikes Gesicht wurde warm und er wandte sich ab. „Sorry! Sorry. Mein Fehler. Ich glaube, ich gehe kurz an die frische Luft. Macht ohne mich weiter.“ Er war sich sicher, dass jemand etwas gesagt hatte, doch die Worte formten sich nicht in seinem Gehirn. Seine Füße fühlten sich klobig an, als er vorbei an Taschen und Jacken aus dem Raum stolperte. Erst auf dem Schulhof schien er wieder richtig atmen zu können.
Mike ging zwischen den Bänken auf dem Hof auf und ab, bis das wattige Gefühl in seinem Kopf verschwand. Der Ton in seinem Ohr klang ab und er drückte die Finger gegen die Trommelfelle. Die feucht-kühle Luft ließ ihn erzittern und er merkte, dass ein dünner Schweißfilm seine Haut bedeckte.
„Das kann doch so nicht weitergehen, Mike.“ Mike zuckte zusammen und schloss die Augen. Er spürte, dass Billy einige Schritte hinter ihm stehen blieb, aber er drehte sich nicht um. „Es geht schon wieder“, sagte er in Richtung des Schultores, das er verbissen anstarrte. Billy seufzte hörbar. „Hör mal, vor den Sommerferien habe ich dir ja noch abgekauft, dass du einfach überarbeitet bis und Ferien brauchst. Aber jetzt? Die erste Schulwoche ist noch nicht einmal um! Was ist denn los, um Himmels Willen?“ Er klang wirklich verzweifelt und Mike wollte am liebsten schreien. Wie um ihn emotional zu erpressen, setzte Billy jetzt auch noch hinzu: „Ich will mir nicht dauernd Sorgen um dich machen!“
Mike fuhr auf dem Absatz herum und starrte ihn an. „Zwingt dich doch auch keiner dazu, oder?“ Es kam deutlich wütender heraus, als er es gemeint hatte, und binnen Sekunden schmolz die Fürsorge auf Billys Gesicht und wich milder Überraschung und etwas anderem. Mike konnte nicht sagen, was es war, aber es machte ihm Angst, es in Billys Augen zu sehen. Langsam ging Billy zwei Schritte rückwärts. „Okay“, sagte er, seine Stimme viel zu ruhig. „Alles klar. Habe es verstanden. Entschuldige, dass ich nachgefragt habe.“ Er hob die Stimme nicht, er versuchte nicht, zurückzuschlagen. Stattdessen drehte er sich um und ging gemäßigten Schrittes zurück ins Schulgebäude. Mike hätte ihm leicht nachlaufen können, doch seine Füße waren mit dem Schulhof verwachsen. Sein Atem ging flach. Als die Tür hinter Billy ins Schloss fiel, schien der Boden unter ihm zu schwanken.
„Scheiße“, flüsterte er. Seine Hände zitterten, als er sie hob, um sich die Haare aus der Stirn zu streichen. Nicht nur seine Hände – sein ganzer Körper. Frust ballte sich in seiner Brust zusammen und suchte einen Weg nach draußen. Er wollte Billy hinterherlaufen, ihm sagen, dass er es nicht so gemeint hatte. Aber er schaffte es nicht.
Seine Tasche lag noch im Bandraum, sein Handy, sein Geldbeutel, doch er konnte sich nicht dazu bringen, den Raum erneut zu betreten; der Gedanke daran sorge dafür, dass das Herzrasen zurückkam. Er wollte nicht in ihre Gesichter sehen, fragend, besorgt, wütend. Er wollte sich nicht vor ihnen rechtfertigen. Er wollte nicht nach Worten suchen für etwas, das er ohnehin nicht beschreiben konnte. Er konnte nicht zurück.
Stattdessen machte Mike sich mit tauben Gliedmaßen auf den Weg nach Hause. Zu Fuß. Auf halbem Weg fing es an zu regnen, doch Mike zog sich keine Kapuze über. Die Jacke lag neben seiner Tasche im Bandraum.
„Du siehst ja beschissen aus“, begrüßte Mikes Bruder Jonathan ihn, noch bevor er die Wohnungstür hinter sich