Die Enden der Welt - Roger Willemsen - E-Book
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Die Enden der Welt E-Book

Roger Willemsen

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Beschreibung

Auf fünf Erdteilen war Roger Willemsen unterwegs, um seine ganz persönlichen Enden der Welt zu finden. Manchmal waren es die großen geographischen: das Kap in Südafrika, Patagonien, der Himalaja, die Südsee, der Nordpol. Manchmal waren es aber auch ganz einzigartige, individuelle Endpunkte: ein Bordellflur in Bombay, ein Bett in Minsk, ein Fresko des Jüngsten Gerichts in Orvieto, eine Behörde im Kongo. Immer aber geht es in diesen grandiosen literarischen Reisebildern auch um ein Enden in anderem Sinn: um ein Ende der Liebe und des Begehrens, der Illusionen, der Ordnung und Verständigung. Um das Ende des Lebens – und um den Neubeginn. Die Eifel: Aufbruch – Der Himalaya: Highway im Nebel – Minsk: Der Fremde im Bett – Timbuktu: Der Junge und die Wüste – Borneo: Die Straße ins Nichts – Tonga: Tabu und Verhängnis – Chiang Mai: Opium – Kamtschatka: Asche und Magma – Mandalay: Ein Traum vom Meer – Bombay: Das Orakel – Patagonien: Der verbotene Ort – Kinshasa: Aus einem Krieg – Hongkong: Das leere Postfach – Indonesien: Unter Toten – Gibraltar: Das Nonplusultra – Senegal: Die Tür ohne Wiederkehr – Der Nordpol: Einkehr …

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Roger Willemsen

Die Enden der Welt

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Inhalt

MottoEinzigartige, individuelle EndpunkteDie EifelGibraltarDer HimalajaIsafjördurGod’s WindowMinskPatagonienTimbuktuBombayTangkilingKamtschatkaMandalayDer Fuciner SeeGoréeHongkongDer Amu-DarjaTongaTorajaKinshasaChiang MaiOrvietoDer NordpolEditorische Notiz und Danksagung

Vielleicht ist das der Grund für meine Rastlosigkeit: Ich habe noch nicht jedes Zuhause gesehen.

John Steinbeck

Einzigartige, individuelle Endpunkte

Die Eifel

Aufbruch

Ich kam in die Stadt und suchte die Glücklichen, jene, die wegstreben. Sie haben keinen Ort, dachte ich, oder sind an der Erde nicht richtig befestigt. Jedenfalls sind sie nie nur da, wo sie sind, und die Ferne liegt ihnen schon auf den Schultern, noch ehe sie aufgebrochen sind, »rastlose Menschen« werden sie von denen genannt, die es nicht sind. Dabei leben sie eher sesshaft im Aufbruch. Damals wohnte ich auf dem Dorf, und in der Stadt suchte ich beides: Heimweh und Fernweh.

Das waren die Jahre der Schwärmerei. Sie konnten nicht bleiben. Über die Sterne, die Meridiane, den Schienenstrang, die Zugvögel, die Kurzwelle, über die Wasserwege und das ferne Brausen der Welt verbunden, drängte sie sich auf, weil sie entrückt war, und wie sich Bewusstsein oft um das kristallisiert, was fehlt, wurde mir die entlegene Welt erst im Phantomschmerz bewusst, am Neujahrstag gegen Mittag.

Zwölf Stunden zuvor waren wir unter einem frostklirrenden Himmel, erwärmt von Erwartungen, aus einer Umarmung in die nächste geglitten und erstarrt, hatten uns mit dem ironischen Schmachten im Blick betrachtet, das den Anwesenden fixiert wie einen Abwesenden, und gesagt:

»Hab ein glückliches neues Jahr!«

»Und dir ein glückliches Leben!«

Die Schleifspuren der flüchtigen Küsse auf der Wange, waren wir in die Silvesternacht getreten, hatten unsere Gläser zum x-ten Mal in den Luftraum gehoben, ein paar Mal nachgefasst, ein paar Bekenntnisse formuliert, und das Liebespaar, erst seit wenigen Wochen getrennt, schwor, dass es sich gut bleiben wolle. Die allseits beliebte Heitere daneben schimpfte, weil ihr Freund exakt um null Uhr die Falsche geküsst hatte, darauf stürzte dieser ins Gebüsch, um sich zu übergeben. So war denn wieder einmal Silvester nicht im Dur verklungen. Stunden später hatte jeder irgendein Bett, eine Matte im Winkel, eine Sofalandschaft zum ersten Schlaf des Jahres gefunden.

Am nächsten Morgen, es hatte in der Nacht zu schneien begonnen, tappte ich im Pyjama ins Freie, wo der Freund beschäftigt war, mit der Spitzhacke auf das gefrorene Erbrochene einzuhacken, das in farbigen Eisschuppen in alle Richtungen sprang. Die anderen kamen nach und nach, manche schon mit Kaffeetassen in der Hand, und begutachteten seine Arbeit, die erste im neuen Jahr.

Wenig später treibt die ganze Gruppe irgendwo in der Landschaft der Voreifel einen verschneiten Weg hinunter, dem weiten Feld, dem fernen Wald entgegen. Wir gehen wortkarg, verteilt auf mehrere Grüppchen. Einige schlendern schlampig, andere stapfen bewusst wie zu Kinderzeiten, befeuert von der matten Euphorie des Lufthungers. Vom Weg sind wir abgegangen. So hoch mit verharschtem Schnee bedeckt ist das Feld, dass wir gehen wie auf Baiser. Die Landschaft ist steif gestreckt und einförmig: Hügel mit Büschen rechts, Hügel mit Mischwald links vor offenem Horizont. Wir gehen.

Es kommt ein beliebiger Punkt. Da halten alle an, und niemand tut mehr einen Schritt. Der Wind streicht über die leere Fläche, auf der wir stehen wie zusammengefegt. Einer sagt:

»Hier ist nichts. Drehen wir um.«

Und keiner tut jetzt auch nur einen einzigen Schritt über die imaginäre Linie hinaus. Als hörten sie das Echo der Grenze, haben jetzt alle den Kopf gehoben, lauschen und sacken in die Bewegung: Alles nickt. Alle wenden sich in ihren Fußspuren. Man stapft heimwärts.

»Schau mal, wie abgetragen meine Haut schon ist«, sagt eine mit Pagenkopf zu ihrem Freund, das Kinn zwischen zwei Fingern schlenkernd.

Der Wind trägt es über das unberührte Feld. Keiner blickt zurück, während ich mit einer Freundin noch da stehe und auf den ersten reinen Schnee sehe, in den sich kein Fuß mehr setzte. Was war es in dieser Landschaft, das sagte: Nicht weiter, geh, dreh um, verschwinde?

»Da liegt sie, die Nein sagende Landschaft. Die ist nicht für uns«, bemerkte ich, angezogen von dieser menschenabweisenden, glanzlosen, von Empfindungen unbearbeiteten Zone.

»Man hat das Gefühl, auf der Rückseite der Landschaft angekommen zu sein«, sagte die Freundin. »Warum glauben wir eigentlich, ausgerechnet hier auf die ursprüngliche zu treffen?«

»Vielleicht weil sich Menschen ursprünglich so empfinden? Weil auch sie innen ohne Schauseite sind?«

»So ließe sich zumindest der Schrecken erklären, den solche Landschaften auch auslösen, der Schrecken vor dem Erhabenen. Die Leute sehen dort, was sie nicht in sich selbst sehen wollen: die wüste, unbehauste, unwirtliche Landschaft?«

Dann überlegten wir, ob man Landschaften überhaupt anders als symbolisch betrachten könne, korrespondiert doch jeder Hügelzug, jeder schimmernde See, jede Lichtstimmung über dem Tal einer inneren Situation, sei sie lieblich oder fahl oder roh. Eigentlich nimmt man doch jede Landschaft musikalisch, als eine Manifestation von etwas Seelischem.

»Und daraus leitet der Reisende dann seine Lieblingsfloskel ab, die da sagt, man bereise eigentlich sich selbst«, folgerte ich.

»Und wenn man nun in einer solchen inneren Landschaft ankommt? Einer, die dich verneint?«, fragte die Freundin.

»Dann ist das keine Landschaft zum Kinderzeugen.«

»Gerade!«, lachte sie. »Komm, ich hab Hunger!«

Ich dachte damals auch, wenn man reise, bis man irgendwo einmal das Ende der Welt berührt zu haben glaubt, dann erreiche man vielleicht auch einen neuen, andersartigen Zustand des Ankommens. Man müsste wohl unwillkürlich denken, dass alle Reisen ein Ende haben könnten, so unabschließbar sie auch eigentlich sind. Es würde eine Kraft von diesen Orten ausgehen wie im Märchen, wo der Riese auch aus der Berührung der Erde seine Stärke bezieht.

Könnte es nicht sein, dass nicht die Reisenden sich bewegen, sondern dass vielmehr die Welt unter ihren Füßen Fahrt aufnimmt, und sie sich gleich bleiben? In Wirklichkeit gelangt man immer nur an einen weiteren treibenden Ort, um sich dann neuerlich abzustoßen und vielleicht endlich an jenem instabilen Ort einzutreffen, den ich nur deshalb »Zuhause« nenne, weil er mehr Rituale versammelt als andere, das Zuhause der Wiederholungen. Ich kann ja nicht einmal sagen, dass ich ihn besser kenne – im Gegenteil, Touristen besuchen mit Anhänglichkeit Sehenswürdigkeiten andernorts und haben die ihres Zuhauses nie gesehen. In der Musik einer Flughafen-Wartehalle in Timbuktu, einem Werbefoto, einem Fernsehbild, das einen Berliner Bären im Plüschkostüm tanzend zeigt, gesehen irgendwo auf der Welt, bin ich vielleicht mehr zu Hause als auf einem deutschen Bahnhof. Zumindest kenne ich die Plausibilität hinter der Musik oder dem Bild vielleicht besser, als es die heimischen Tuareg tun, die so gezwungen werden, die mediale Geschichte des Westens zu bewohnen.

Der eisklare Neujahrstag in der Voreifel hatte einer Frostnacht Platz gemacht, als ich zur ersten Verabredung des Jahres aufbrach. Brigitta hatte den Jahreswechsel nicht mit uns feiern können. Sie war Krankenschwester und akzeptierte den Feiertagsdienst auf der Kinderstation, der besonderen Stimmung wegen, und weil sie gerne zugegen war, wenn die Kinder in ihr neues Jahr schauten, wie sie sagte.

Als ich ins Schwesternzimmer trat, trug sie noch ihren weißen Kittel, sogar das Häubchen und das Namensschild am Revers. Ich war Student im ersten Semester und nannte Brigitta damals meine »Romanze«. Ihre Gutherzigkeit war einschüchternd, die runden Augen in dem sommersprossigen Gesicht mit den etwas trotzigen Lippen waren es nicht minder. Aber erst, wenn sie Kittel und Häubchen ablegte und der braune Wollpullover über den massigen Brüsten erschien, hatte sie plötzlich einen Körper.

Wenn ich sie dann ein wenig zu lange im Arm hielt oder der Begrüßungskuss verbindlich wurde, begann sie schwerer zu atmen, und ich war ihr wieder nicht gewachsen. Für sie lag der Körper als Gegenstand der Medizin auf einer Achse mit dem Körper als Gegenstand der Lust. Für mich existierten die beiden nicht einmal im selben Milieu. Manchmal schenkte mir Brigitta Zeichnungen, auf denen Mädchen groß und rundlich standen, eine Sonnenblume hielten und die Haare zum Dutt hochgesteckt hatten. Ich sah diese Zeichnungen, ihre Unschuld und Körperlichkeit, als Inbegriff einer mir unzugänglichen schönen Welt.

An diesem Abend also trat ich ins Schwesternzimmer und fand Brigitta allein. Vom Etikettieren einer kleinen Sammlung Plastikdöschen blickte sie zwar auf, ließ sich auch auf die Wange küssen, doch abwesend, mit stillgelegter Sinnlichkeit. Fast hätten wir das neue Jahr vergessen. Aber dann lagen wir uns doch kurz im Arm, und bedrückt von der Gegenwart wünschten wir uns etwas diffuses Gutes für die Zukunft. Sie sagte »unsere Zukunft«.

Wir würden also einen stillen Abend haben. Ich setzte mich an den quadratischen Resopaltisch, an dem sie inzwischen mit dem Aufziehen einer Spritze beschäftigt war, und legte meine Hand auf die ihre. Sie fing sofort an zu weinen.

Es ging um den Jungen Tom, einen achtjährigen Kerl, so brütend wie sie selbst. Als ihren Schutzbefohlenen hatte sie ihn angenommen, seit man ihn unlängst mit einem Hirntumor eingeliefert hatte. In wolkigen Begriffen war ihm zuerst erklärt worden, dass er krank, sehr krank sei. Damit konnte er nicht viel anfangen, fühlte er doch weder Schmerzen noch andere Einschränkungen. Aber in der kurzen Zeit, die folgte, hatte er die Krankheit als inneren Adel angenommen, schritt nun mürrisch über die Flure und verlangte schleunigst seine Entlassung.

Am Tag meines Besuchs war Brigitta die Aufgabe zugefallen, dem Jungen die Wahrheit über seine Krankheit zu sagen. Sie hatte die Tür geschlossen, sich auf seine Bettkante gesetzt und das Wort »Krebs« in den Raum gestellt. Als Tom weiter ungerührt in ihr Gesicht stierte, hatte sie »unheilbar« gesagt, und als er sie immer noch ansah, als suche er in ihren Zügen eine Wegbeschreibung, als ihr also klar wurde, dass er mit ihrer Rührung so wenig wie mit allen Worten anfangen konnte, gab sie auch noch die letzte Information preis, die ihr die Ärzte mit auf den Weg gegeben hatten: Noch drei Monate würde er leben, mehr könne ihm kein Mensch versprechen.

Tom war ans Fenster gegangen und hatte die Fabrikate zweier Autos genannt, die inzwischen neu auf dem Parkplatz erschienen waren, und Brigitta verließ den Raum. Als sie an dieser Stelle der Erzählung angekommen war und sich gerade die Tränen mit den Knöcheln aus den Augen wischte, öffnete sich die Tür, der Junge erschien in seinem Pyjama und stellte verstockt und vorwurfsvoll fest:

»Mir ist langweilig!«

Kein Satz hätte in diesem Moment tiefer fallen können, und so fühlte ich mich augenblicklich für den Jungen verantwortlich. Ich dachte an die unbetretene Schneefläche, vor der wir am Mittag umgedreht waren, nahm Tom bei der Schulter, führte ihn in sein Zimmer und legte mich neben ihn auf sein Bett. Solidarisch blickten wir zur Zimmerdecke hinauf. Wie viel ungenutzte Wirklichkeit – die Landschaften, die Schwimmbäder, die Klamotten, die Jahrmarktgeräte, die Theater –, was stand nicht alles zur Verfügung und würde bis an sein Lebensende vergeblich existieren, da er das alles doch niemals kennenlernen sollte. Wir lagen auf seinem Totenbett, und ich wusste nicht: Wäre es besser, ihn in der engen Welt seiner Wirklichkeit zu lassen, oder sollte ich versuchen, ihm Fenster aufzustoßen und die Welt weit zu machen? Sollte ich sagen, dass er nichts verpassen werde, oder sollte ich ihm ersetzen wollen, was immer fehlen würde?

Sein Leben – von einer Lebensreise konnte man ja kaum sprechen – ging zu Ende, und ich fragte mich: Wohin wäre er gereist? Wo angekommen? Was hätte ihn getrieben? Was hätte er allein erfahren? Wo wäre ihm zugestoßen, was man eine »Selbstbegegnung« nennt? In einem Raum voll feuchtwarmer Luft vielleicht, unterlegt mit den Geräuschen von Autohupen, kalt blasenden Klimaanlagen, kleinen Rum-Räuschen? Welche Bilder hätte die Erinnerung versammelt: lange bunte Fingernägel, die Neigung eines Kopfes, der sich auf einem Arm ablegt? Vielleicht wäre er aus dem Warten hinausgereist, dem Schweigen, der freien Bewegung, dem geborgten Selbstverlust, einem anderen Zeitgefühl entgegen.

So lagen wir nebeneinander auf dem Krankenhausbett und blickten diese kalkweiße Decke an, das monotone und vermutlich letzte Bild, das sein Bewusstsein erreichen würde.

»Komm, wir reisen«, sagte ich.

»Wohin?«

»Wohin du willst.«

»Wirklich?«

»So wirklich, wie es geht.«

Diese Einschränkung musste sein, denn plötzlich fand ich mich an der Stelle aller von Phobien, Idiosynkrasien, Zwangsvorstellungen und Marotten geplagten Stubenhocker und stellte mir deren Grundfrage: Wie ist unter der Voraussetzung des Reisens ein Zuhausebleiben möglich? Also erzählte ich Tom von dem Dänen Sören Kierkegaard, der mit dem Vater im Wohnzimmer die Sonntagsmittagsspaziergänge nachstellte, die sie in der Stadt hätten wirklich machen können. Sie grüßten die Bürger rechts und links, dachten sich kleine Konversationen aus, staunten vor einem neuen Gebäude.

Ich erzählte Tom von Xavier de Maistre, einem französischen General, der 1790 wegen eines Duells zum Stubenarrest verurteilt worden war, weshalb er nicht mehr wie früher schon einmal mit der Montgolfière entkommen konnte.

»Was ist eine Montgolfière?«

»In Freiheit hätte er einen Ballon bestiegen und wäre auf und davon gewesen. So ist er stattdessen durch sein Zimmer gereist und hat die Abenteuer, die er da erlebte, aufgeschrieben, die Überquerung des Teppichs, die Besteigung des Sofas. Und nach ihm haben sich dann immer mehr Leute auf Reisen begeben durch ihr Zimmer, ihre Handtasche, ihr Haus oder ihr Zelt.«

»Das ist gut«, sagte Tom. »Ich möchte auch reisen.«

»Und das wäre dann wohin?«

»Ans Ende der Welt!«

»Das Ende der Welt ist eine Erfindung«, sagte ich. »Sie hat kein Ende.«

»Das will ich nicht.«

»Du kannst ja immer noch für dich allein entscheiden, wo deine Welt endet, also, wo sie dir so vorkommt.«

Ich malte ihm Landschaften ohne Schauseite aus, solche, in denen nichts beginnt und die sich vom Betrachter regelrecht abwenden, so dass man wie auf der Rückseite einer Stickerei die Fäden heraushängen sieht. Ich malte ihm Situationen aus, in denen man sogar immer tiefer in solche Gegenden vordringt, tiefer in die Fremde, die nicht fremder wird, nur ferner. Eigentlich meinte ich Landschaften, die wie die Zimmerdecke waren, Toms Ende der Welt. Doch kein Wort darüber. Stattdessen erzählte ich ihm von den Spuren im Schnee, der Stelle, wo alle Schritte innehalten und man auf die unberührte, von keinem Fuß getretene Erde sieht, abgestoßen vom … Aber da war er schon eingeschlafen.

Als Brigitta kam, um nach uns zu sehen, legte ich den Finger auf die Lippen. Doch so unbeeindruckt Tom von seinem Sterben wirkte, so gelähmt war ich selbst von der bewusstlosen Gegenwart des Todes in diesem eigensinnig in sich verschlossenen Jungen. Im Gedanken an die Welt, die er nicht sehen würde, fielen mir auch Bilder von Schauplätzen ein, in die der Tod eingegriffen hatte, leere, aufgegebene Landstriche, Sterbeorte, Szenerien des Abschieds, lauter Plätze, an denen die Welt eben nicht rund ist, sondern endlich. Es sind Gegenden, in die man eintritt und weiß, dass hier etwas abgeschlossen ist, und diesem Ende wohnt kein Anfang inne. Nicht du, nicht hier, nicht jetzt, sagen diese Landschaften, und: Du bist der Falsche. Du kannst mir nicht in die Augen sehen.

Irgendwann ging ich zurück ins Schwesternzimmer, um mit Brigitta in den ersten Abend des Jahres hinein aufzubrechen. Sie saß immer noch da in ihrem Schwestern-Habit und blickte geradeaus in eine wartende Partie Patiencen.

Gibraltar

Das Nonplusultra

Das Hotel, in dessen 20. Stock ich hinter der Gardine sitze, um die Stadt Tokio zu belauern, heißt »Jahrhundert«. Alles ist epochal hier, das Frühstück heißt »Jahrhundert-Frühstück«, der Pool »Jahrhundert-Pool«, und einen »Jahrhundert-Andenkenshop« gibt es auch, falls ich dies Jahrhundert je wieder vergessen sollte.

Die Hochbauten gegenüber stecken im Boden wie von innen beleuchtete Chitinpanzer ausgestorbener Insekten. In den auf und nieder rasenden Fahrstühlen gibt es Schnittblumen, und Julio Iglesias wird ewig schmachten »Amor, Amor, Amor«. Auch hier. Die Liebe ist unausweichlich.

Das ist schön und schrecklich, denn während von der Liebe geschnulzt wird, wirken die Paare lieblos, und die Masseurinnen, die noch lange nach Mitternacht gebucht werden, können auch ein Lied singen von der Liebe, aber ein anderes. Einer begegne ich im Fahrstuhl. Sie prustet, reibt sich die Arme und schüttelt den Kopf. Das bezieht sich auf einen Kunden.

Nach Mitternacht auf dem großen, leeren Platz vor dem Neuen Rathaus, mitten auf der muschelförmigen Piazza mit ihrem römischen Mussolini-Prunk, steht ganz allein ein Mädchen und fotografiert mit ihrem Mobiltelefon den Vollmond. Für wen? Gibt es jemanden unter den dreißig Millionen im Großraum von Tokio, der heute nicht zum Nachthimmel hinaufblicken kann? Einen Kranken? Gefangenen? Unterirdisch Arbeitenden? Einen U-Bahn-Kontrolleur, eine Hostess, einen Bräutigam im Bankettsaal einer der großen Hotelkeller? Oder wird der Mond gleich vom Display über die Landesgrenzen geschickt, vielleicht sogar über den Ozean bis nach Europa, wo er noch nicht aufgegangen ist, aber jetzt acht Stunden zu früh auf einem anderen Display eintreffen wird?

Diese junge Frau könnte ihn ihrem Liebsten schicken und schreiben: Hier, meine Freude, schicke ich dir schon mal den Mond, unter dem du in ein paar Stunden schlafen wirst. Amor, Amor, Amor … Das Mädchen kichert, dass es von den Marmorwänden perlt. Als ich näher komme, geht sie schnell davon, den Mond fest eingepackt. Der Ort könnte nicht einsamer sein.

Ich kenne keine Stadt, über der das Licht so grau aufgeht wie über Tokio, der einzigen Stadt, die aus dem Anthrazit kommt und auf den Betonflächen langsam, langsam aufklart, heller wird, mausgrau, staubgrau, flanellgrau, fahl, dann licht. Graue Mauern werfen das graue Licht grau zurück, mehr Schattierungen seift der Frühnebel hinein. Auch der Dampf aus den Klimaanlagen mischt mit. Jetzt treten die Werbe-Laufschriften heraus, jetzt die in die Fassaden gesäbelten Schriftzeichen, jetzt Billboards und Transparente.

Drei Tage später darf ich sagen: Der Himmel war immer schön. Keine Wolke blieb, und Sorgen gab es nur im Traum. In den Fenstern der Büros standen um vier Uhr nachmittags die Angestellten zu Fitnessübungen. In den Fenstern der großen Hotels brannten um drei Uhr früh nur noch die Lichter der Jet-Lag-Patienten. Bis vier Uhr früh sind sie allein es, die wachen. Um sechs ging ich zum Frühstücken und aß Spaghetti, danach »Arme Ritter« zu »Jahrhundert-Instant Kaffee«.

Und auf den Straßen? Randvoll sind Gassen, Brücken, Bahnen, Läden, Bürgersteige, Toreingänge, Verkehrswege aller Art mit sechzehnjährigen Mädchen, alle gleich hoch, alle gleich blass, alle gleich alt. Als sei eines Tages eine gigantische Golden Shower über der Stadt niedergegangen, eine kosmische Befruchtung, die im nämlichen Augenblick Millionen Frauen schwängerte, die alle im selben Augenblick kleine Mädchen hervorbrachten, in die gleichen Röckchen, Schühchen, Blüschen hineinwachsend.

Ihre Stimmen plärren, wenn diese Novizinnen im Hof der gleichaltrigen Freundinnen, ihrer Millionen Freundinnen, daherkommen. Eine trägt eine Baskenmütze, eine andere eine Baseballkappe aus Sandpapier. Dämchen in Matrosenanzügen sind dabei, Uniformierte im Dienst großer Kaufhäuser. Gemeinsam verschwinden sie in einem westlichen Dekor, »Das Brot-Restaurant« überschrieben, wo man sich an der Theke aus fünfzehn Brotkörben bedient, Sesambrot, Kürbisbrot, Zwiebelbrot, Tangbrot, Algenbrot, Brotbrot.

Andere verteilen Papiertaschentücher mit Werbeaufdrucken auf der Straße oder wieseln mit indischem Curry zwischen gekachelten Wänden herum, in Schwarzwald-Kostümen, mit gestärkten Schürzen und weißen Schleifen im Kreuz. Und so weiter.

Die Ordnung auf der Straße hat etwas Kultisches. Selbst die Elenden mit der Sozialfunktion »Bettler« liegen in Kartons brav nebeneinander. Mal steht »Made in the Phillippines« darauf, mal einfach »Enjoy« oder »Bananas«. Im Innern sieht man die Bettler auf dem Rücken liegen und gegen die Kartondecke stieren. Die ist unbeschriftet. Auch die Ordnung macht traurig, auch sie isoliert.

Nach vier Tagen habe ich kaum vier Sätze gesprochen. Einem Fremden in die Augen zu sehen gilt als unhöflich. Man könnte unsichtbar sein und würde es kaum merken. Julio Iglesias singt immer noch im Aufzug, allmählich singt er mich knieweich. Bei Einbruch der Dunkelheit sammeln sich die Mädchen und die Jungen, die Liebenden, die Sehnenden und Schmachtenden, am Hachikō, dem Denkmal des treuen kaiserlichen Hundes. Treu? Nicht einmal fünf Prozent aller Tiere sind monogam. Aber ich sitze hier richtig, mit gutem Blick auf die erfüllten und die vereitelten Liebenden, und hätte gerne auch so etwas.

Also zurück in den 20. Stock des Hotels, wo ich an der Fensterfront des Zimmers klebe wie ein Herbstblatt. Die Nacht kommt nieder mit ihren Versprechen, mir fallen gerade nur unerfüllte ein, unerfüllbare. Erst fehlen Menschen, dann Stimmungen, Atmosphären, Flüchtiges, Beiläufiges. Der in der Wagentür eingeklemmte Mantelzipfel fehlt, der neben den Mund geführte Löffel.

Am nächsten Abend wird die Angst vor der Einsamkeit physisch. Sie fühlt sich wie Platzangst an. Man gibt dem Kopf Befehle. Sie lassen ihn das Gegenteil tun. Man sagt sich: Du bist unter Menschen. Aber im Gefühl kommt nur das Selbstbild des einsamen, wunderlich werdenden Fremdlings an, der nur unter einem Blick so fremd werden kann, dem eigenen.

Am dritten Abend nahm ich den Hörer in die Hand und rief in Hamburg an.

»Christa«, sagte die Stimme, klang aber wie »basta«.

»Christa, ich bin’s«, sagte ich so gelassen wie möglich.

Ihre Stimme nahm meinen Tonfall auf: »Ach du!«

Erwartet hatte sie einen Vielversprechenderen. Doch immerhin hatte ich vor gut zwei Wochen auf dem Fußboden ihrer kleinen Wohnung in Altona gesessen, hatte ihr und ihren Terry-Caillier-Platten zugehört, und sie hatte sich, während die Musik die Liebe als große Schnulze instrumentierte, über die unvorhersehbaren Schwierigkeiten bei der Produktion eines Dokumentarfilms ausgelassen. Die Erzählung dazu war so verästelt, dass ich alle Zeit hatte, ihr Gesicht zu studieren, dieses großzügige, sommersprossige Gesicht mit der breiten Stirn, dem zu großen Mund, dem Ich-kann-dir-Dinge-zeigen-Blick. Meines Schweigens wegen hatte sie mich am Ende des Abends einen guten Zuhörer genannt – der ich nicht gewesen war.

Ihr Dokumentarfilm behandelte die »Doomsters«, Menschen, die den Weltuntergang voraussehen und mal panisch, mal esoterisch, mal verschwörerisch, mal sachkundig und rational reagieren. Christa hatte an diesem Abend ein ärmelloses Leibchen getragen, so dass ich zum ersten Mal ihre breiten Schultern betrachten konnte. Ihr Rock lag drei Handbreit über den Muskelkissen ihrer Oberschenkel, ihre Füße hatten in diesem Sommer wohl noch keinen Schuh von innen gesehen.

Sie redete und redete, und ihr Filial-Ich, das berufliche, fiel dabei dauernd in den Berufsjargon. Immerzu klingelte es von »man macht und tut …«, »und … und … und …«, »ich sach: so siehstu aus«, »das war ohne Worte, abolutes No Go!«

So war sie nicht immer, nur in der Nähe der Arbeitswelt. Ich fragte:

»Glaubst du noch an deinen Film?«

»Nicht tausendprozentig.«

Sie stellte sich ans Fenster und blickte schweigend in die Nacht, die in diesem Augenblick von keinem nahen Licht erleuchtet wurde.

Da legte ich meine Hand auf die nächste Flasche Soave und fragte: »Sollen wir sündigen?«

Sie drehte sich zu mir um, in ihrem Gesicht halbwarmes Interesse. Dann mit Blick auf die Flasche:

»Wieso soll Alkohol Sünde sein? Sind Trauben Sünde?«

»Leg sie ein paar Jahre hin, trink sie, schon sind sie Sünde, oder?«

Noch vor Mitternacht war ich aufgebrochen, entlassen aus dem Gespinst der Bilder, die sie von sich entwarf – Bilder der gleichzeitigen Selbstüberschätzung und -unterschätzung, professionelle und rührende Bilder, bürgerliche Stereotypen und lose Enden, wie die Vorstellungen, die dem Wort »sündigen« hinterherflatterten. Aber immerhin, es blieben die Enden. Außerdem hatte ihre Stimme etwas so Ruhiges, Nächtliches, und ihr Blick ruhte manchmal so lange gedankenlos in dem meinen, bis sie aufschreckte und sich daraus löste.

Genau so war jetzt ihre Stimme.

»Warum rufst du an? Ist was Besonderes?«

»Nichts Besonderes«, sagte ich. »Ich hab nur an dich gedacht.«

»Einfach so?«

»Ich hab einen Satz für dich gefunden. Hör mal: Wer jetzt noch eine Welt hat, mit dem muss sie untergehen.«

Pause.

»Und da hast du an mich gedacht?«

»Schon.«

»Wegen des Films?«

»Auch.«

»Sagt mir jetzt erst mal nichts.«

Wir redeten besser und ruhiger als damals in ihrer Wohnung. Es gab mehr lose Enden, freie Wertigkeiten, spontane Konjunktionen, und mancher Satz war nichts weniger als eine Berührung. Eigentlich redeten wir zum ersten Mal.

Nach zwanzig Minuten musste Christa das Haus verlassen.

»Wie schade«, sagte ich.

»Ebenso. Wo bist du?«

»In Tokio.«

Sie zögerte keine Sekunde:

»Magst du morgen noch mal anrufen?«

Ich versprach es. Am nächsten Morgen begann ich, den Werktag wegzuräumen, der zwischen mir und

ihrer Stimme lag. Schon in Folge meiner Erwartung hätte das Telefonat schiefgehen müssen, aber sie meldete sich mit:

»Ich bin ganz bei dir.«

»Christa!«

»Bist du noch in Tokio?«

»Genau da, und es ist fremd.«

»Schön fremd?«

»Fremd fremd.«

Sie brauchte keinen Anlauf, kein Warmwerden. Gleich war sie mitten in unserer Sphäre.

»Was siehst du von deinem Fenster aus?«

Ich stellte mich über die Stadt: Da lösten sich die Autos in Schüben von den grünen Ampeln, da schlief jemand auf der Fußgängerbrücke, da trug ein Geschäftsmann zur Aktentasche einen Helium-Ballon. Einzelne Bürofenster waren nicht nur erleuchtet, man sah auch Menschen dahinter, gekrümmt in ihre Arbeit, andere in Rumpfbeugen.

»Weiter, gehen wir auf die Straße!«

Ich führte sie nach Shinjuku, wir gingen essen, durchquerten einen Park mit Terrakotta-Büsten in Rot, besuchten eine Pachinko-Halle.

»Zeig mir einen besonderen Ort!«

Ich führte sie zum Hachikō-Denkmal.

»Was für Leute kommen dort hin?«, wollte sie wissen.

»Die Liebenden«, sagte ich. »Hier treffen sich die Liebenden.«

»Die glücklichen?«

»Glückliche und unglückliche.«

»Ich glaube, ich habe Japan über seine Pornographie kennengelernt«, bemerkte sie.

»Als Frau!«

»Ich hab einen Film drüber gedreht.«

»Warum?«

»Mich interessiert die heimliche Welt, die Welt des Heimlichen. Die USA und Japan sind die perversesten Länder. Die einen sind so prüde, dass es ihnen heimlich nicht dreckig genug sein kann, die anderen sind so verdorben, dass sie es heimlich so kindlich wie möglich mögen. Nein? Diese Faszination von Brillenträgerinnen, Krankenschwestern, Schulmädchen, Unschuldslämmern. Sie sind doch besessen von der Unschuld in Japan, oder?«

»Ich glaube schon, aber auch vom Ritual, von der Inszenierung: Sie lieben Rollenspiele, inszenierte Vergewaltigungen, die Drohung des Erwischtwerdens. Sie machen es auf öffentlichen Plätzen und in Limousinen, aber vor allem soll es aussehen wie eine Leidensgeschichte.«

»Schamhaft schamlos.«

»Was hast du an?«, fragte ich.

Die Fenster reichten bis zum Boden, ich stand im dunklen Zimmer über der Straßenschlucht. Aber eigentlich horchten wir von zwei Seiten der Erde in den Raum hinein, der zwischen uns lag, unseren Kokon. Ich sah sie vor mir, ihr gutes Gesicht, die breiten Schultern, die dunkelblonde Mähne, die großen Hände, die selbstvergessen an etwas herumspielten.

»Es ist schön, mit dir zu telefonieren«, sagte ich.

»Ja, es tut gut«, erwiderte sie, und wir ließen das Schweigen im Raum hängen.

»Es fühlt sich an wie zwischen zwei Unbekannten, die zufällig in einem Zugabteil sitzen und ins Gespräch kommen.«

»Genau.«

»So sollten wir mal reisen, tagelang in einem Zug, bloß im Zug, einander gegenüber, im Abteilwagen«, sagte ich.

Am Ende hatten wir eineinhalb Stunden telefoniert und waren verabredet. An einem Abend in zehn Tagen würde ich im Hamburger Dammtorbahnhof stehen, um mit dem Zug auf und davon zu fahren, mit Christa, wenn sie käme, ohne Christa, wenn sie inzwischen anders entschieden hätte. Sollten wir aber zusammen reisen, das stand fest, würde es nicht darum gehen, irgendwo anzukommen, sondern darum, die Zugfahrt miteinander zu teilen.

»Aber du musst mir verraten, was ich einpacken soll«, sagte sie.

Dann überließen wir uns beide der stummen Betrachtung unserer Möglichkeiten und verabredeten, bis zu unserer Abreise nicht mehr zu telefonieren.

Von diesem Moment an kam ich mit Tokio gut zurecht. Am Sonntagnachmittag schlenderte ich durch Roppongi und fand das Gewünschte: die erkalteten Reste der Nacht, übernächtigte Frauen an der Seite desinteressierter Männer. Der amerikanische Swing der letzten Jahre lag in der Luft, Lounge Music plauderte hinein, von Zeit zu Zeit sirrten die Saiten rund um chinesische Dim-Sum-Lokale und jagten die pentatonische Tonleiter auf und ab. Brasserien atmeten den Geruch des Putzwassers aus.

An einer Straßenkreuzung zwischen den Nüsse-Verkäufern und den Zeitschriftenhändlern stand isoliert eine Zwanzigjährige mit kastanienrot gefärbten Haaren im Bob-Schnitt. Vor ihrem Bauch hielt sie ein Schild mit japanischen Schriftzeichen, darunter die Übersetzung auf Englisch: »Slave«. Eine Künstlerin? Eine Prostituierte? Unter ihrem Arm klemmte ein Bildband über Audrey Hepburn. Schamhaft schamlos. Es war Sommer, und meine Vorfreude auf Christa unterlegte alle Wahrnehmungen mit Wohlwollen.

An einem Abend gut eine Woche später stand ich mit Tickets, leichtem Gepäck und einer Flasche Champagner in einer Plastiktüte am Ferngleis des Hamburger Dammtorbahnhofs. Eine Viertelstunde vor der Abfahrt war keine Christa im Bahnhof und zehn Minuten davor auch nicht. Aber fünf Minuten ehe der Zug einlief erschien sie mit einer großen Reisetasche am oberen Treppenabsatz und hastete in meine Umarmung.

Im Schlafwagenabteil nach Paris tranken wir den Champagner. Wir küssten uns ein bisschen, damit die Verhältnisse klar seien, und später noch einmal, als Christa in der Nasszelle ihren blassblauen Pyjama angelegt und anschließend das obere Bett gewählt hatte, so dass ich sie im Stehen so küssen konnte, dass ihr Kopf im Kissen versank. Dann konnte ich, auf dem Rücken liegend und in das Blaulicht der Nachtbeleuchtung starrend, vor meinem inneren Auge sehen, wie sie ebenso auf dem Rücken lag und in das Blau der Nacht starrte, während wir von dem Schaukeln und Rattern eingeschläfert wurden. Am Morgen schlug der Schlafwagenschaffner mit einem Vierkantschlüssel an die Tür, und Augenblicke später baumelten schon Christas braune Füße vor meinen Augen. Bei ihrem Anblick war das Feriengefühl grenzenlos.

In Paris verließen wir den Gare du Nord für ein Frühstück an der Place Napoléon III., bestellten Speisen aus der Vitrine, Kaffee, Citron pressé und blinzelten gleichermaßen in die Sonne und den Verkehr. Christa zog ihren Pullover über den Kopf, cremte sich die Arme ein, schenkte ihr Croissant einem Bettler, nannte Paris die »Stadt der Liebe« und sah mich kühn an.

Der nächste Zug verließ den Bahnhof in südlicher Richtung. Wieder saßen wir einander gegenüber auf den Fensterplätzen, bereit, ganz Frankreich zu durchqueren.

»Der Weg ist das Ziel«, floskelte sie.

»Aber wir sind ziellos.«

Wir sahen uns in die Augen oder sahen in die Landschaft oder sahen in der Reflexion der Scheibe durch die Augen in die Landschaft oder durch die Landschaft in die Augen. Reden mussten wir nicht viel. Es reichte die Überzeugung, diese Reise aus den gleichen guten Gründen zu tun.

Warum nämlich? Um einzutauchen in jenen Zwischenraum, der dem Luftraum entsprach, in dem wir uns telefonisch getroffen hatten. Es ging nicht um Orte oder um Ortswechsel. Es ging um die Reise in ihrer unfassbaren Flüchtigkeit. Die Schauplätze zogen vorbei, alte Poststationen, ein Bahnhofbuffet, ein Vorplatz, ein Denkmal, ein Brunnen für die Wartenden der Anschlusszüge. Hinter den Bahnhöfen öffneten sich die Siedlungen, hinter den Siedlungen Zwischenlandschaften, die immer nur gestreift wurden, doch voller Menschen in Durchgangsstationen waren, kommende Gehende, noch in den Bewegungslinien Verfangene.

»Was ist das nur?«, fragte Christa, indem sie die Augen nicht von der Landschaft löste. »Warum werden die Menschen so sehr vom Lieblosen angezogen? Von liebloser Architektur, gedankenlosen Konventionen?«

»Lass sie doch. Erfahrungsleere ist so erholsam.«

»Nicht immer alles so schwer, so bedeutungsvoll, so gemeint? Vielleicht.«

»Lass sie doch einfach ein wenig pointillistischer leben.«

Ihr Blick inventarisierte die Landschaft. Bis in den Nachmittag waren ihre Themen vor allem: Was sehe ich, was höre ich, was bewegt sich? In der Dämmerung fragte sie eher: Was bewegt mich, was fehlt mir, was ist fern, was unwiederbringlich?

Sie war eine Weitsichtige: Was noch fern war oder schon wieder verabschiedet, das sah sie scharf. Was aber nah war, was sie unmittelbar umgab, das konnte sie nicht genau erkennen und hüllte es deshalb in Stereotype. Ihre Rhetorik war leidenschaftlich in der Erwartung und im Abschied, also bei den Dingen, die noch nicht sind, und bei jenen, die nicht mehr waren. Was tun mit uns? Zunächst reisten wir aufeinander zu, um die Nähe, die wir in der Ferne empfunden hatten, mit körperlicher Gegenwart zu beleben, aber allmählich wuchs der Verdacht, dass wir am Ende einen Platz leer finden würden. Ja, wir reisten voller Verlangen, doch verlegen, weil jetzt ein Körper saß, wo ein Phantom gewesen war.

In der ersten Nacht wählten wir ein Zimmer im Gasthof schon an den Ausläufern der Pyrenäen – mit dem gekachelten Boden einer Mönchszelle, kalt und sauber, ohne warmes Wasser, mit durchhängenden Matratzen und filzigen Kunstwolldecken auf dem Bett, darin Brandlöcher und Mottenpulverreste.

Abends traten wir in den Gastraum durch einen Flattervorhang aus bunten Plastikstreifen. Dahinter saßen die Männer schon beim Kartenspielen wie hinbestellt: stehengebliebene Bilder, in denen sich die Zeit weigerte, weiterzuziehen, und auch die Fremden, die hier eintraten, machten das immergleiche Gesicht.

Am nächsten Morgen lösten wir Fahrkarten bis Tanger, Marokko. Auf unseren Plätzen, einander gegenüber, waren wir immer weit mehr bei der Landschaft als bei einander. Das sollte so sein. Statt uns zu viel von uns zuzumuten, verloren sich die Blicke lieber stumm zwischen Mischwäldern, leerstehenden Bahnwärterhäuschen, rostenden Streckenfahrzeugen, blühenden Agaven und Spiräen. Wartesäle der zweiten Klasse trieben vorbei, Silos, Garagen, Baumschulen, und manchmal sah ich in Christas versonnenes Gesicht und fand, dass es durchlässig sei und anziehend.

Schleichend hatte sie sich auch in diesen Landstrichen vollzogen: die Ghettoisierung der Provinz. Da schlossen sich die Wagenburgen des sozialen Wohnungsbaus, der Fremdarbeiter-Siedlungen, in denen man von den Schaufenstern ferner Fußgängerzonen träumte, mit ihren Export-Import-Läden, den Gemüsegroßhändlern und Baustoffmärkten. Dazwischen tauchten sie auf und ab wie in einem Mobile, die Gesichter der Verzweifelten, der Schwervermittelbaren, der Bratwurstwender. Ihre Gesichter sahen aus wie leere Kinderwagen, und manchmal erschien dazwischen jemand, der sich durch den Anschluss an die internationale Sonnenbrillenmode Individualität zu geben versuchte.

Einmal hob Christa den Kopf von der Lektüre der »Traumpfade« Bruce Chatwins, und ich holte Atem:

»Jetzt würde ich dir gerne etwas Liebevolles sagen.«

Ihr Blick flog, noch befangen von der Lektüre, über die Landschaft: »Sag’s mir später.«

Später, das heißt fünfzig Kilometer weiter südlich, nahm sie den Walkman kurz ab, schüttelte den Kopf, sah mich mit zusammengezogenen lotrechten Falten über der Nasenwurzel an und meinte kritisch: »Mozart ist mir manchmal ein bisschen zu ornamental!«

Danach senkte sie die Augen wieder auf das Papier.

»So wie die Traumpfade?«, fragte ich.

Ihr Blick blieb auf dem Papier, als sie sagte:

»Du redest ein Blech!«

In der nächsten Nacht schliefen wir in einer spanischen Spelunke gleich bei einem Dorf im Nirgendwo. Die Fenster gingen über den Bahndamm hinaus, und man blickte in das mit Blau und Dunkelblau, mit Blauschwarz und Schattenblau verhängte Firmament, konturiert von der hügeligen Horizontlinie. An unserem kleinen Zimmer-Waschbecken wusch sich Christa mit einem Frotteefäustling die Scham, indem sie unter dem Nachthemd zwischen den Beinen herumfuhrwerkte.

Draußen gingen die Lichter an, Schwalben surften bis zuletzt zwischen den Häusern, und eine einzelne Mücke schwang sich ins offene Fenster. In der Ferne kamen Autolichter schlängelnd eine Bergstraße herab, als kehrten sie heim von außerhalb, aus einer Welt, die nur das Stadtpflaster kennt. Gegenüber fegte eine Frau ihren Balkon und schlug eine Fußmatte aus, nahebei stieg ein Mädchen, das gerade gebadet hatte, in seine Hose und schüttelte die Haare vor dem Spiegel. Dann rief es heftig nach dem draußen bellenden Hund. Der ferne Autolärm rauschte nur noch.

Wir drehten das Schild an der Tür auf »Do not disturb«. Gleich war uns privater zumute. Das war es auch, als wir in unsere Betten stiegen, in das Aroma frischer, mit fremdem Waschmittel bearbeiteter Bauernwäsche. Ich griff mir Christas Rechte und bekam sie, legte meine Lippen auf ihre Schulter, und sie blieb so. Von außen waren wir ein Paar, von innen ein Arrangement. Am nächsten Tag nannte ich dies eine »Liebelei«.

»Die Liebe muss schön sein mit dir«, sagte ich sinnlos.

»Du hast die Liebe gern«, erwiderte sie. »Das glaube ich dir. Aber noch lieber hättest du sie, wenn sie nicht aus Gefühl bestehen müsste.«

Originell, aber zu kompliziert für den Augenblick.

»Warum können wir nicht wenigstens pointillistischer lieben?«, wiederholte ich. Aber da strafte sie mich mit einem verdunkelten Blick. Es war der falsche Zeitpunkt für solche Debatten, zumal wir gerade zum Bahnhof spazierten, um dort zu erfahren, dass es keinen Zug geben werde vor dem Nachmittag. Also schlenderten wir durch den Ort. Ich erinnere mich an einen großen Markt und ein kleines schwarz-bronzenes Denkmal für einen lokalen Helden. Die spanischen Bäuerinnen riefen uns manchmal vor die Pyramiden mit ihren Honiggläsern, und wir bewunderten sie theatralisch wie das große Geschäft von Kleinkindern. Da sagten uns die Marktfrauen, auch Don Quichotte sei schon durch diesen Ort gezogen.

Anschließend spielten wir in einem muffigen Verhau hinter dem Bahnhof zwei Stunden lang Flipper. Neben uns stand ein Mann an seinem persönlichen Glücksspielautomaten und schaute den blinkenden Kasten an, als erwarte er einen Liebesbeweis. Die Maschine soll bekennen, dass sie es gut mit mir meint, sagte sein Gesicht und wollte nicht wahrhaben, dass sie ihn in ihrer Ablehnung nur beflirtete, dass sie ihn neckte. Doch er dachte, am Ende wird sie sich ihm hingeben und alles ausspucken, sich nur dem hingeben, auf den sie gewartet hat. Unser Flipper-Gerät wiederholte unterdessen:

»See the clown perform his amazing tricks«, und wir jagten die Kugel durch das »Spinning Wheel«, bis die Fanfare für den Extraball ertönte.

Aus Ratlosigkeit spazierten wir über die Grenzen des kleinen Orts hinaus in die Felderlandschaft, die der meiner Voreifel-Heimat nicht unähnlich war. Man reist ja nicht nur an einen anderen Ort, sondern auch unter einen anderen Himmel. Allmählich verblasst das Zuhause. Man reist jahrelang, doch nie verblasst es ganz. Das Reisen beweist die Unzerstörbarkeit der Heimat, allerdings der verlorenen.

Es standen zwei Trecker am Wegrand, der Schornstein der Ziegelei qualmte, zwei Hühner flohen mit gereckten Hälsen, ich streckte den meinen Christa entgegen, aber die sagte:

»In so einer Landschaft küss ich dich nicht.«

Als wir nachmittags ein eigenes Abteil belegt hatten, zog sie gleich wieder die Kopfhörer über die Ohren und versenkte sich in ihr Buch. Nach einer Stunde blickte sie auf, sah eine Weile aus dem Fenster und äußerte dann versonnen:

»In diesem Land muss es unglaublich viele Nussbäume geben!«

Ich kriegte einen Lachanfall, und sie befand:

»Du wirst von Tag zu Tag unausstehlicher!«

Manchmal kehrte ich gedanklich zum Ausgangspunkt der Reise in Tokio zurück, als alles Versprechen gewesen war und die Eisenbahngeräusche, das Hereinbrausen der vom Blütenduft schwangeren Sommerluft, das Verschwinden der Lichter am Abend aromatische Wirbel gewesen waren. Jetzt fühlte ich mich eher wie der Reisende, der nicht reisen, sondern erstarren will. Es geht ihm nur um Bodenberührung, um ein Verhältnis zum fremden Raum. Er will sich um sich selbst drehen und fühlen, was ihn umfängt: spezifische Fremde, Ferne, die Unmöglichkeit, sogleich im Heimischen zu sein. Dies wäre also der Reisende, der sich bewegt, um ruhen zu können. Er berührt dauernd Umstände, die ihm das Leben schwermachen. In dürftigen Hotels starrt er an die Decke, vom Straßenlärm, von der Musik aus dem Nebenzimmer eingeschränkt. Sein Reisen verschiebt die Demarkationslinie zum Unerträglichen.

Ich sah Christa an, ihre schönen Beine in einem hellblauen Sommerrock und ihre passend hellblauen, strengen Augen, die den meinen auswichen und in denen ich immer deutlicher die Enttäuschung entdeckte, nicht nur von mir.

Gerne erzählt sie mir, was sie in der letzten Nacht oder in einer früheren Nacht ihres Lebens geträumt hat. Sie tut das ausführlich, mit einer pedantischen Liebe zum Detail, ja, sie korrigiert sich sogar. Dabei sind die meisten ihrer Träume eher phantasielos, bis auf diesen einen, in dem eine Kobra (»nein, entschuldige, es war eine Python!«) sie erdrückt hatte, und der Helmut Blüm (»der hieß wirklich so!«) hatte es einfach geschehen lassen:

»Was sagst du dazu?«

Mitten auf der iberischen Halbinsel stiegen wir aus, weil die Zugeinfahrt in eine Ortschaft aus rotem Ziegel so vielversprechend schien. Die Straßen aber schwiegen, und die Menschen schleppten sich als Träger langer Schatten durch gepflasterte Gassen. So besuchten wir die örtliche Kirche und staunten hinein in die orchideenartig aufgefaltete Blutwunde des Herre Christ, die die Gläubigen in ihre Meditation einbeziehen. Die Wunde schimmerte tief, und die Achatschichten des Blutrots färbten sich nach innen dunkel, ähnlich wie im Horrorfilm.

Auf den Plätzen sahen wir der Ausbreitung der Volkslust zu, die sich über die Spielplätze, das Fußballfeld und ein kleines Areal mit Jahrmarktsgeräten gleichmäßig verteilte. Christa nahm den verbreiteten Frohsinn duldend zur Kenntnis und formulierte einen dieser Sätze, die mit »Spanien ist …« beginnen.

Später wählten wir mutwillig das beste Restaurant im Ort und ließen noch vor der Karte Schaumwein kommen.

»Hier wird vermutlich das Datum zum Preis addiert«, flüsterte sie und spazierte mit den Augen auf Zehenspitzen durch die Speisenfolge. Sie wird vorsichtig bestellen. Sie mag dieses Gefühl nicht, dieses unbehagliche Gefühl, sie hätte es billiger haben können. Deshalb nennt sie teure Vergnügen gern »nicht nötig«. Das sind sie in der Tat nicht, wären sie sonst Vergnügen?

Im Augenblick denkt Christa von Gericht zu Gericht nach, ob ein Essen mit diesem Namen ihre Aufmerksamkeit wert sei. Doch, entscheidet sie dann, so ein Essen will sie haben, und sei es auch nur, um es gehabt zu haben. Doch der Kellner bedauert:

»Das ist heute nicht da.«

In ihren Zügen macht sich eine Begeisterungsflaute breit. Plötzlich ist ihr das Gericht kostbar. Sie blickt nicht einmal auf, hat ihre Züge im Griff, muss aber lange nachdenken.

»Und das?«

Sie zeigt darauf.

»Es tut mir so leid, Madame.«

»Also, was haben Sie denn?«

»Sonst, bis auf die Ente …«

Ihr Lachen soll amüsiert tolerant wirken, es soll klingen nach »Wir sind ja nicht so«, doch hört es sich höhnisch an. Der Kellner sagt es nicht nur, er zeigt sich auch untröstlich.

»Macht nichts«, sagt sie. »No problem.«

Die Dienstleistungssphäre in ihr ist verletzt. Sie ist eine gute Verbraucherin und kennt ihre Privilegien. Sie akzeptiert das vorgeschlagene Gericht, als handele es sich um ein unerwünschtes Kind.

Neben dem Sorbet-Haufen liegt die halbe Ananas aus dekorativen Gründen ungeschält.

»Hier stehen so viele untätige Kellner rum«, sagt Christa auf Deutsch, mit bis zum Anschlag hochgezogenen Brauen. »Könnte nicht mal einer die Ananas schneiden?«

Zurück auf dem Zimmer, zieht sie als Erstes die Vorhänge zu. Geizig- und Privat-sein-Wollen hängen manchmal zusammen. Aus ihrem Walkman, den sie jetzt selbst im Bett trägt, plärrt mich ihre Musik an, beglückend traurig.

Manchmal verlassen wir den Zug nur für Stunden und flanieren durch einen dieser Übergangsorte, ein Schwellen-Städtchen. Dort stehen noch die Unsinnigen und Verrutschten als Losverkäufer auf den Plätzen, oder sie diskutieren die Politik. Dies sind die eigentlichen Räume spezifischen lokalen Lebens, aber bevölkert werden sie auch hier nur noch von den Querulanten, den Redseligen, Gestörten und Rechthabern.

Zwischen den Häusern zappelt sehr hoch die an einem Seilzug befestigte Trockenwäsche und dirigiert die Schatten auf dem Boden. Der Wind verwirbelt in den Silberbirken, blaue, grüne, rote Fensterfassungen protzen, der Geruch von Winter schweift durch den Hochsommer, als schliefe der Schnee schon in den Sommerwolken. Aus den altmodischen Wiesen duftet das Gras geschnitten, ohne geschnitten zu sein. Der Wald steht als ein großer steifer Gaffer. Die Wolken haben eine Schmiere wie Spermaflecken am Himmel hinterlassen, und die Farbe blättert in taumelnden Flocken von der Veranda. Es ist schön.

Einmal blieb ich vor einer Madonnenstatue stehen, die in einer Nische an der Fassade stand wie eine Wartende an der Bushaltestelle. Ihre Brüste waren die der jungen Mutter, und der Beckenschwung unter dem Kleid gab sich ausladend und suggestiv. Ich bezeichnete die bäurische Heilige auf ihrem Sockel als »fraulich«. Christa nannte mich dafür »sexistisch«, was ich lange nicht gehört hatte, was sie wiederum trotzdem zutreffend fand, was ich deshalb noch lange nicht zutreffend fand und sie aber trotzdem, das sei nun mal ihr persönlicher Standpunkt. Ich sagte, ihr ach-so-persönlicher-Standpunkt, entsprungen einer Familie, in der die Mutter Bob Dylan mit in die Ehe brachte? Sie schwieg überlegen.

Der Motor des vorbeifahrenden Lastwagens dröhnte breit wie Bläserklang. Der Himmel trug Wühltischmode, die Luft hatte jetzt die Kühle von Grundwasser. Der nächste Zug lief ein, und noch einmal hatten wir das Abteil für uns.

»Je länger man dich kennt, desto schwieriger wirst du«, sagte Christa.

Ich entgegnete mit einer Wendung vom Schulhof: »Danke für das Kompliment, kommt ungebraucht zurück …«

Das brachte sie noch mehr in Rage. Aus Protest las ich von der ersten bis zur letzten Zeile einen Zeitungsartikel über eintausendeinhundertdreißig Frauen, denen in den USA der Weltrekord im Simultan-Stillen gelungen war.

»Mir schleierhaft, wie du es einen ganzen Tag lang mit dir selbst aushältst …«, bemerkte sie.

Das erste Surrogat für Individualität ist die Anmaßung. Wird man länger mit ihr konfrontiert, wird es einem schnell klaustrophobisch unter den stereotypen Assoziationen und Gedankenverbindungen, den unverrückbaren Geschmacksurteilen. Die Reaktionen kommen dann im Affekt.

»… und dir gelingt es nicht, hundert Meter zu reisen, ohne insgeheim mit jeder Sehenswürdigkeit am Straßenrand zu konkurrieren«, sagte ich.

Manchmal, wenn ich einsam bin oder den Arm einer nicht mehr jungen, aber vertrauten Frau um mich wünsche, dann sehe ich so ein Ehepaar, das vielleicht seit zehn oder zwanzig Jahren zusammen ist, und ihre Blicke sind nicht mal bloß kalt oder ernüchtert, sondern interesselos. Aber dann stößt mich das nicht ab, sondern ich möchte auch so eine Frau, die mich auf diese herrische, unverbesserliche Weise ansieht, ich wünsche mir dann auch diese klimatisierte Hölle der Ehe, diese jahrelang pedantisch zusammengeschraubte Selbstschussanlage, statt meiner Einzelhaft.

»Wenn du es genau wissen willst, der Mann, der sich morgens meine Träume anhört, mit dem man ein Haus teilen, einen Garten anlegen, eine Aussicht genießen kann: Das ist meine Wirklichkeit. Von der hast du keine Ahnung.«

Sie referierte ihr Leben wie die Posten auf einem Einkaufszettel: nicht vergessen.

»Ich kenne die Wirklichkeit der wenigsten Menschen«, sagte ich matt.

Um mich zu strafen, las sie ausführlich die Menükarte für den Speisewagen. Ich nahm mir eine alte französische Zeitung, las »Schönes Wetter über der Sahara« und unter der Überschrift »Ein flaches Grab« einen Artikel über einen Diktator, der auf den Eintrag ins »Who is Who« verzichtet hatte.

Am Abend dieses Tages haben wir in einer spanischen Familienpension lautlos miteinander geschlafen. Duldsam, versöhnlich, etwas anderes meinend. In der Liebe wandelte sich ihr Gesicht vom Antlitz zur Visage und wieder zurück, und ihre flügelschlagenden Beine wollten nicht stillhalten vor Aufregung. Ich fand dies bewundernswert. Wir waren beide in die Fremdheit ihres Lebens eingetreten, um das zu bleiben: fremd, und alles, was wir miteinander tun konnten, würde die Fremdheit vergrößern, nicht die Zuneigung.

Beim Frühstück sagte Christa:

»Tanger! Das Nonplusultra!«

Non plus ultra, »Nicht darüber hinaus«, lautet die Inschrift, die sich auf den Säulen des Herakles finden soll, von ihm selbst dort angebracht. Die eine der beiden Säulen steht der Legende zufolge auf dem Felsen von Gibraltar, die andere auf dem Berg Dschebel Musa in Marokko. Andere Quellen nennen den Monte Hacho bei der spanischen Exklave Ceuta in Nordafrika als Standort der zweiten Säule. Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist: Die Griechen hielten diese Meerenge für ein von Herakles durch zwei Säulen markiertes Ende der Welt.

Die beiden Säulen tragen vermeintlich den Himmel. Aber was heißt das schon? »Wenn jemand meinte, die Bäume seien dazu da, um den Himmel zu stützen«, steht bei Grillparzer, »dann müssten sie ihm alle zu kurz vorkommen.«

Die Säulen des Herakles finden auch in einer Pindar-Ode Erwähnung, und im Buch Hiob, wo Gott dem Meer seine Grenzen auferlegt, heißt es:

»Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter/hier sollen sich legen deine stolzen Wellen.«

Christa kannte sich nach allen Recherchen zu den Weltuntergangspropheten gut mit den Mythen von den Grenzen der Welt aus.

»Platon siedelt sein Atlantis jenseits der Säulen an«, sagte sie, »vielleicht, um so ihren mythischen Charakter zu unterstreichen.«

»Es gab aber auch Autoren, die die Säulen in Friesland, sogar auf Helgoland vermuteten. Im Wappen Spaniens tauchen sie auf, und selbst die beiden Vertikal-Striche im Dollarzeichen – ursprünglich ein spanisches Goldgewichtszeichen – sollen auf die Säulen des Herakles zurückgehen.«

»Aber wenn man sagt: Bis hierher und nicht weiter«, wandte Christa ein, »hat man zwar eine Grenze gesetzt, doch zugleich alle Aufmerksamkeit auf das konzentriert, was hinter dieser Grenze liegen könnte. Eigentlich hat man damit ihre Überschreitung vorstellbar gemacht, oder?«

»Man hat die Phantasie sogar magisch auf diesen Akt der Überschreitung verpflichtet. Nacheinander wurde Sokrates, Tertullian und Epikur die Maxime zugeschrieben: ›Quae supra nos, nihil ad nos: Was über unser Erkenntnisvermögen hinausgeht, hat keine Bedeutung für uns.‹«

»Damit wäre die geographische Grenze der erkennbaren Welt zugleich eine Grenze des Erkennens.«

»Eine Grenze der Neugier«, sage ich.

Wir hatten es nicht mehr weit bis Gibraltar und dann bis zur Überfahrt nach Tanger, in die vielstimmige, vielgesichtige Vielvölkerstadt. Doch der Abend kam so rosa über die südspanische Provinz, dass wir uns nicht lassen konnten und noch einmal ausstiegen. Das war am fünften Tag. Das Hotel, ein alter Postgasthof mit Fachwerk auf der Fassade und schweren dunklen Balken im Zimmer, lag an der Stirnseite des Marktplatzes. Ich lehnte mich aus dem Fenster. Eine Frau auf dem Platz fiel mir auf. Erst wusste ich nicht, warum, dann wusste ich es plötzlich: Sie war die Einzige, die flanierte.

Am nächsten Mittag stehen wir auf dem Felsen von Gibraltar, in Sichtweite des afrikanischen Kontinents. Der kleine Ort hier, der einmal von Fischern, Einzellern und Paarhufern besessen wurde, gehört heute der Schicksalsgemeinschaft internationaler Tagestouristen und besteht aus Andenken mit Meerblick. Das Andenken ist ein billiger Bodendecker und hat die Kuppe des Hügels inzwischen so vollkommen überzogen, dass zwischen lackiertem Plastik, buntem Blech und geflochtenem Folklore-Geflügel nur ganz selten der frühere Kalksteinboden aufblitzt. Der zu bestaunen wäre. Aber schon das Meer, das gegen die Andenken brandet, trägt wieder die trübe Farbe einer Sofastickerei.

Nach Gibraltar reisen Menschen aus aller Welt, um auf der Ostseite gegen Eintrittsgeld ein Naturschutzgebiet zu betreten und auf der Westseite Souvenirs abzubauen. Anschließend überlassen sie sich gern der immergleichen menschlichen Materialermüdung, die sich auf einem Stuhl vor dem Meer manifestieren kann. Und während der apokalyptische Reiter der Langeweile am wolkenlosen Himmel heraufzieht und in den Großküchen die Magen-Darm-Verstimmung zu tausendfachem Leben erweckt wird, schleicht sich der Tourist hinaus, um sich ein Souvenir zuzulegen, das ihn an nichts erinnern wird als an den Kauf dieses einen Souvenirs, ein Schiffchen mit dem Namenszug des Käufers, eine Flickenpuppe in Nationaltracht, ein plüschgeborenes Berberäffchen oder ein aufziehbarer Torero, der sich über den Boden bewegt wie die wandelnde Darmträgheit. Ja, Gibraltar ist ein Ort, an dem die Souvenirs an sich selbst erinnern oder an die missglückten Versuche zu verschwinden.

Im strahlenden Mittagslicht stehen wir also wirklich auf dem legendären Felsen, blicken auf den bloß ein paar Kilometer entfernten Streifen Afrika, in das Jenseits des Nonplusultra, und empfinden unsere Freiheit. Der antike Mensch durfte sich hier nicht weiterwagen. Eine Grenze wurde gezogen, ein Verbot aufgerichtet vor dem fast sündhaften Begehren, das Unbetretene zu betreten. Mehr noch, eine Warnung wurde ausgesprochen vor dem kühnen Ehrgeiz, das begleitende Risiko schultern zu wollen. Immerhin konnten ja jenseits dieser Grenze ungeahnte Kategorien des Gefährlichen liegen.

In diesem Augenblick fühlte es sich an, als käme meine Reise, die in Tokio ihren Ausgang genommen hatte, an ihr Ziel. Doch dieses hatte sich gewandelt, nicht unähnlich jener Veränderung, die auch das historische Reisen erfahren hat: Ehemals wurde die Neugierde charakterisiert durch den zwecklosen Erkenntniswillen, den Drang, einer Witterung zu folgen, ohne recht zu wissen, wovon er geleitet wird. Es war die souveräne Bewegung des Fragenden. Souverän war sie, erlaubte sie doch selbst das In-die-Irre-Gehen dieses Fragenden. Gerade an dieser Grenze zur verbotenen, zur unbekannten Welt muss sich also die Wissbegierde stimuliert haben. Der Reisende muss neben allen anderen Gefahren auch die Skepsis gegenüber der Anhäufung des Nutzlosen überwinden. Die Neugier findet ja immer auch dies. Vom eigenen Ich muss sie sich ab-, der Welt muss sie sich zuwenden und weiß nicht einmal, was sie finden wird. Trotzdem kann es geschehen, dass sie schließlich den Horizont erweitert, so wie Seefahrt und Astronomie es vorgemacht haben.

Ich erinnerte mich, auf dem Titelblatt einer Schrift von Francis Bacon das Schiff des Odysseus hinter den Säulen des Herakles gesehen zu haben. Odysseus, der bei Dante auf der untersten Stufe des Infernos zu finden ist und als Einziger nicht bereut, kreuzt als Symbolfigur der Neugier jenseits der Grenzen der bekannten Welt.

»Faszinierend, oder?«

»Aber damit ist die Grenze des Nonplusultra doch schon überwunden«, widersprach Christa.

»Genau, und deshalb lautete die Devise von Karl V. auch Plus ultra! Und das, seit klar war, dass das Nonplusultra eben nicht das Ende der geographischen Welt bedeutete. Also: Plus ultra!«, rief ich noch und schnalzte mit der Zunge.

»Dann ist dies jetzt der richtige Augenblick, dir zu sagen, dass ich hier umkehren werde«, antwortete sie und betrachtete mein verblüfftes Gesicht wie ein Exponat.

»Hat sich deine Neugier erschöpft?«

»Du hast sie erschöpft. Aber nimm’s nicht persönlich.«

Stunden später nahm sie den Zug nach Madrid, wo sie bei Freunden übernachten konnte. Ich brachte sie zum Gleis, wo wir uns zum Abschied tapfer auf den Mund küssten, um nicht zu gutmütig zu enden. Am nächsten Tag ließ ich die Säulen des Herakles hinter mir, erreichte Tanger und betrat ganz allein die jenseitige Welt. Aber erst, als im Aufzug des Hotels Julio Iglesias zu singen anfing, spürte ich eine Traurigkeit aufsteigen. Es gibt kein Nonplusultra. Man kann die bekannte Welt nicht verlassen.

Der Himalaja

Im Nebel des Prithvi Highway

Heute waren die Wolken eine Sehenswürdigkeit, nicht geringer als die Berge. Von ihrem Anblick ruhte ich mich im Hotel aus, bis ich hungrig wurde. Da war es vier Uhr früh, alles schlief, und ich tappte durch die Gänge. Um halb sieben fiel mir eine Frau aus dem Aufzug entgegen, betäubt von Insektenspray. Ich hielt sie kurz im Arm. Glücklich fühlten wir uns in diesem Augenblick offenbar nur, weil das Insektenspray so stark war.

Dann die kleine Betriebsamkeit des frühen Morgens: das Plätschern des Wassers, der Strich des Reisigbesens auf dem Pflaster, das Ratschen der Rabenvögel, das Geräusch schlurfender Flipflops auf dem Stein. Der Alte, der vor sich hin monologisiert, die Sangeslust der Vögel in den Hecken. Der Hotelier tritt in den Garten und mustert seinen Besitz. Er sieht den Gast im Hof seinen Kaffee trinken. Vor die Wahl gestellt, zu schweigen oder einen sinnlosen kleinen Morgendialog zu eröffnen, entscheidet er sich, einen sinnlosen kleinen Morgendialog zu eröffnen:

»How are you today?«

Die Wahrheit ist: Der Klimakasten pustete einen feucht-schwülen Hauch über das Bett, und das mit einem Vibrationslärm, als wolle sich die Verkleidung lösen. Das Licht funzelte. Das Bett war mit einem zweimal gebrochenen Brett unterlegt, der Bettbezug mit einer Lumpensammlung gefüllt. Ungewaschen wie es war, zog allein das synthetische Laken Mücken in Schwärmen an. An Schlaf war nicht zu denken gewesen.

»Thank you, fine.«

Kathmandu wartet im Rücken des Himalaja. Diese Stadt empfängt ihre Aura nicht primär aus dem eigenen Innern, sondern aus der Präsenz der Berge ringsum. Sie ist Stadt im Schatten, eine Versammlung von der Natur geduldeter Behausungen, so provisorisch wie kultisch, allzeit in die Gegenwart eines Höheren blickend: provisorisch, denn was ist ihre Architektur gegen die der Felsmassive, kultisch, ist die Macht der Natur doch omnipräsent als sinnliche wie als religiöse Größe. Die Ziegelbauten sind von Bambusgerüsten umgeben, mit Treppen vor den Außenfassaden. Alles ist schichtig, doppelbödig, hat einen Raum hinter dem Raum, staffelt sich ins Verborgene, Heimliche. Hinter den Gittern Blicke. In den Blicken Fragen, brütend über der in Staub gehüllten Straße.

Die Fassaden schwitzen diesen Staub aus wie das Exsudat des überhitzten Erdkörpers. Die Menschen strömen aus den Dörfern in diese Mauern. Vertreter von fünfzig zum Teil aussterbenden Ethnien kommen hierher, um zu leben. Sie führen Affen mit sich und auf dem Handkarren Stoffballen. Sie bieten Schmalzgebäck und verschimmelte Getränke an, lauter Spezialitäten ihrer Heimatregionen, und lehnen an den rostigen Gerüststangen, die Frauen mit olivfarbenem Teint, schwarzen Muttermalen, farbsatten Saris. Auf Krücken feilscht die Bettlerin um mehr Geld. Hinter den Gittern der Fenster tauchen Gesichter auf und ab, stumme Zeugen überall.

Das Herz der Stadt ist eine Tempelanlage, die sich durch das gesamte Zentrum zieht. Der muffige Geruch aus dem Flügelschlagen der Tauben ist in der Luft, es riecht wie staubiger Pelz. Manchmal klingt ein Schellenschlagen, ein Glöckchen durch den Dunst wie zum memento mori. Dann das Schlurfen der Frauen in Flipflops, das Psalmodieren und Murmeln.

Die Dachstützen ragen bleich über die Straße, die geschnitzten Knochen der Häuser. Dies könnte ein Musterdorf, ein Film-Set, ein Freilichtmuseum sein, ist aber Lebensraum: Man wohnt in den Tempeln und breitet zwischen ihnen Märkte aus. Die Wahrsager sitzen hier, die Bettler. In der Eimerkette am schwankenden Bambusgerüst werfen Arbeiter Knödel aus einem Lehm-Elefantendung-Gemisch aufwärts, wo sie dazu dienen, die Schindeln zu verkleben. Ein Mann sitzt am Fuß des Gerüsts und bläst auf einer Flöte, ein anderer sieht von hinter dem vergitterten Fenster unbewegt zu, der Liebende im Grillenkäfig. Überall Häuser im Werden, überladen und verwinkelt, als sei Neuschwanstein gemeint mit diesen Spitzendeckchen aus Giebeln, Säulen, Erkern, Friesen, Gittern, Lünetten und Verzierungen.

Der Charakter eines Landes ist auch darstellbar am Verhältnis zum Heimlichen: im Prunk, im Kult, im Architektonischen wie im Verhältnis unter den Menschen. Auch in die dunklen Blicke der Frauen, der goldgeschmückten, tauche ich nur Zentimeter tief. Dahinter verdunkelt sich alles. Nein, ich verstehe nicht einmal die Anhaftung dieser Menschen hier an die Erde und ebenso wenig ihren Blick in den Himmel. Die schönen Greisinnen in ihren Überwürfen rotzen den roten Saft der Betelnüsse auf den Boden – bloß eine Farbe mehr –, und die Bettler klappern mit ihren leeren Blechnäpfen wie zum Existenzbeweis des Hungers.

Gleich beim Tempel für den weißen Regengott wurden schon Hunderte von bunten Plastikkanistern aufgestellt: So bald erwartet man ihn bereits, den Monsun, den lange ausgebliebenen. Schon einmal hat vor ein paar Wochen die Regenzeit eingesetzt. Die Bauern kauften schleunigst Saatgut zu saftigen Preisen, so groß war die Nachfrage, sie bestellten die Felder und mussten dann zusehen, wie alles verdorrte, als sich der Monsun launisch abwandte. Nun fehlt nicht wenigen Bauern das Geld für die zweite Aussaat.

Die Schwüle fängt sich zwischen den Mauern. Die Frauen schwanken wie Lampions an den Fenstern, ein Mann transportiert drei geblümte Kopfkissen auf seinen Schultern, geschminkte Kinder fassen mit bemalten Händen in den milchigen Teint der Frauen. Wo alles bizarr ist, gibt es auch die Unscheinbarkeit des Bizarren.

Das hinduistische Heiligtum Pashupatinath ist mit seinen Tempelanlagen, den Treppen, Brücken, Kanälen, Feuerstellen und verschachtelten Pagoden ein kultischer, ein geweihter Ort. Der Rauch, der von der Verbrennung der Toten aufsteigt, verweht über der Anlage, färbt und schwängert die Luft. Was auf der Zunge schmeckt, ist süßlich geräucherter, toter Körper.

Wir sind zu sechst, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und einheimische Begleiter, und als uns bewusst wird, was wir da inhalieren, wir also augenblicklich Tücher vor die Münder halten, feixen uns die Sadhus aus den Pagoden entgegen, ihrer fotogenen Attraktivität gewiss, dabei dekadent und verdorben wie die Äffchen, die auch dauernd mit sich selbst beschäftigt durch den verschachtelten Tempelbezirk streifen.

In leuchtendem Orange sitzt auch Hanuman Baba. Er ist nun hundertdrei, der älteste unter den hiesigen Asketen. Doch was ihm die Touristen für ein Foto zustecken, nehmen ihm die jüngeren, weltlicheren Sadhus meist wieder weg.

»Das macht nichts, ich brauche es nicht«, wird er sagen und es sogar meinen, der einzig Selbstlose unter Profiteuren.

Während wir reden, steigen von den Leichenverbrennungen im Hintergrund manchmal hellblaue, manchmal dunklere Wolken auf, dann spielen die Flammen mit dem Fett oder haben sich an einem Knochen festgefressen. Hanuman Baba sitzt hier lange genug, um jedes neue Sfumato auf seinem Weg in den Himmel lesen zu können. Seit 55 Jahren lebt er so, seit sechzehn Jahren auf den vier Quadratmetern seines Tabernakels, und kifft und betet, denn nirgends, sagt er, finde er solchen inneren Frieden wie hier.

»Welche Wirkung hat Ihr Beten?«

»Im Gebet sehe ich alles. Manches ist schwer zu erkennen, und manchmal sehe ich Dinge, die lange vergangen sind. Das Beste, was ich im Leben erlebt habe, habe ich im Gebet erlebt.«

»Sie waren immer so?«

»Ich war ganz anders. Aber mit fünfzehn Jahren sah ich einen toten Jungen. Da war mir klar: Auch Kinder sind etwas von Menschen Gemachtes, Materielles. Die Seele ist etwas anderes. Also wollte ich ausbrechen aus diesem Leben der Körper.«

Der wunderliche Visionär: Am Kind erkennt er, dass es menschengemacht ist, aus dem Fleisch ins Fleisch geboren. Dort stößt sein Blick nur auf Materie. Und die Schönheit, die Grazie, die Harmonie? Dort aber, wo das Auge nichts sieht, an der Seele, dort erkennt er Göttliches, er erkennt es im Atem, im Hauch, ein Neuplatoniker eben.

»Hatten Sie eine Erleuchtung?«

»Ein Gespräch. Im indischen Assam habe ich das Gespräch mit Gott gehabt.«

»Was hat er gesagt?«

»Die Leute hatten mich gewarnt: Geh nicht an jenen Ort. Da wohnt ein Geist. Doch gibt es ja gute und böse Geister, also sagte ich: Warum soll ich nicht hingehen, vielleicht ist es ja ein guter? Ich ging also hin und betete. Da gab es ein Geräusch, und eine Stimme sagte: Dein Gebet ist zu Ende, du bist erhört worden. Ich machte die Augen auf, aber da war nichts, nichts im Gebüsch. Nur mit geschlossenen Augen sah ich Gott. Da begriff ich: Ich muss für Gott da sein. Das ist das Wichtigste. Seit jenem Tag lebe ich so.«

Jetzt kneift er die Augen zusammen, als erblickten sie etwas Infames, etwas jenseits der Erscheinungen. Man weiß nicht, auf welchen Schichten der Phänomene dieser Blick ruht.

»Sehen Sie auch Böses?«

»Wenn ich das Gebet durchmache, befinde ich mich in einem Kraftgürtel. Die bösen Dinge können