Die Endlichkeit von Seifenblasen - Nele Friedenau - E-Book

Die Endlichkeit von Seifenblasen E-Book

Nele Friedenau

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Beschreibung

Als Mila Tom zum ersten Mal sieht, wird er gerade von ihrer Clique verprügelt. Monate später trifft sie ihn zufällig wieder und ist geschockt, weil er seitdem im Rollstuhl sitzt. Tom hat keine Erinnerung an den Vorfall – Mila hingegen schon, doch sie kann niemandem die Wahrheit sagen. Stattdessen versucht sie, das Geschehene wiedergutzumachen, indem sie Tom unter einem Vorwand im Alltag hilft. Der ist davon zunächst gar nicht begeistert, aber die Momente mit Mila tun ihm so gut, dass er das Mädchen mit den bunten Haaren und den Piercings plötzlich alles andere als nervig findet. Auch Milas Gefühle fahren Achterbahn, wenn sie mit Tom zusammen ist, obwohl viel zu viele Geheimnisse und Lügen zwischen ihnen stehen. Und nicht zuletzt Heiko, Milas Freund: Er wird sie niemals gehen lassen, denn sie weiß zu viel … Achtung: Dieses Buch thematisiert Gewalt unter Jugendlichen. Empfohlenes Lesealter: ab 16 Jahren.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 382

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Nele Friedenau

Die Endlichkeit von Seifenblasen

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Impressum neobooks

Kapitel 1

Tom

Dieser Blitz, immer wieder schießt dieser rote Blitz durch seinen Kopf. Dumpf dringen die Lacher bis in sein Gehirn vor, durch den dicken Nebel, der sich mehr und mehr in seinem Schädel ausbreitet. Wieder der Blitz, und dann ein messerscharfer Schmerz in seinem Bauch. Er krümmt sich, versucht, sich einzurollen, und spürt den blanken, kalten Beton unter seinen Fingern. Eine Frauenstimme kreischt, immer höher und lauter, Worte, die er nicht fassen kann. In seinen Ohren beginnt ein lautes Rauschen, wie ein Wasserfall. Er möchte, dass es aufhört, weil er wissen will, was die Frau ruft. Jetzt sind es wieder Lacher, die um ihn herumwabern, und dieser Schmerz, von allen Seiten. Er breitet sich in ihm aus, wie Gift, nagt von innen an seiner Haut. Er brennt und lodert, kommt und geht und bleibt plötzlich da, so stark, dass er nicht mehr atmen kann. Er versucht, die Augen zu öffnen, und kann die Lider kaum noch heben. Grelles Neonlicht blendet ihn und macht die Köpfe über ihm zu schwarzen Silhouetten. Für eine Sekunde sieht er zwei weit aufgerissene Augen, aber dann ist das Gesicht schon wieder weg und das Neonlicht bohrt sich in seine Netzhaut. Ein Ruck geht durch seinen Körper, dann noch einer. Der Schmerz flammt auf, zeitversetzt. Er fühlt seinen Mageninhalt viel zu weit oben und versucht, zu atmen. Wieder dieser rote Blitz in seinem Kopf. Und dann auf einmal nur noch Stille. Schwarze, unendliche Stille.

Mila

Weg hier, oh Gott, einfach weg hier. Wie in Trance renne ich hinter Heiko und den anderen her, doch ich muss unbedingt noch einen Blick über die Schulter werfen. Er liegt so seltsam da, so unnatürlich. Heiko greift nach meiner Hand und zieht mich weiter, die Treppen nach oben. Die kalte Nachtluft schmerzt in meinen Lungen. Ich keuche immer lauter und haste hinter den anderen her, ohne zu wissen, wohin. Ein lautes „Da lang!“ reißt mich aus meiner Starre. Heiko hat meine Hand losgelassen und rast den Gehweg hinunter. Ich sehe Berta und Felix, die Haken schlagend um die Leute herumrennen, dicht hinter Heiko, Didi und Anton. Atme, Mila, atme! Aber das Stechen in meiner Lunge wird immer stärker und meine Schritte langsamer. Dort vorne sind sie!

„Pass doch auf, du schusselige Kuh!“

Ich renne gegen einen Mann mit einem spießigen Hut auf dem Kopf und gerate ins Schlingern. Für einen kurzen Moment fliegen meine lila Haarsträhnen an mir vorbei, bevor ich den Boden unter den Füßen verliere und falle. Eine schwerelose Sekunde lang bin ich in der Luft und sehe dann den grauen Asphalt auf mich zuschießen. Die Arme nach vorne gereckt, bremse ich ab und spüre einen höllischen Schmerz an meinen Handflächen. Dann knallt mein Körper der Länge nach auf den Boden. Ich bleibe liegen, eine Sekunde, zwei.

„Alles in Ordnung?“

Nur langsam dringt die Frage zu mir durch. Als Antwort rapple ich mich auf, ziehe meine dicke Winterjacke nach unten und schaue mich panisch um. Wo sind sie?

Der Mann mit dem Hut blitzt mich wütend an und wischt sich unsichtbaren Staub von seinem Mantel. Ich drehe mich wortlos um und renne weiter, nach rechts, über die Straße und hinein in eine schmale Seitengasse. Meine Knie und Hände fangen an zu brennen, aber ich kann jetzt nicht nachschauen. Weiterrennen, einfach fort von dieser Stelle. Der seltsam verkrümmte Körper taucht wieder in meinem Kopf auf. Ob er tot ist? Ein Würgereiz zwingt mich zum Anhalten und ich übergebe mich in ein kahles Blumenbeet. Zum Glück sieht mich hier niemand, die Straße liegt dunkel und verlassen vor mir. Ich wische mit der Hand über meinen Mund und mache ein paar Schritte vorwärts, wanke den Gehweg entlang. Meine Hand bleibt an einem stacheligen Rosenzweig hängen, der über eine Mauer ragt und meine Haut aufkratzt. Der Schmerz verjagt den Nebel in meinem Kopf und ich renne halbherzig weiter.

Was um alles in der Welt kann ich tun? Soll ich zurückgehen? Oder mit meinem Handy einen Krankenwagen rufen? Unmöglich, wenn Heiko das mitbekommt, bin ich tot. Aber irgendetwas muss ich doch tun, ich kann ihn doch nicht einfach in dieser Unterführung sterben lassen!

Rechts von mir taucht ein hohes Backsteingebäude auf, das dunkel und imposant in den Nachthimmel ragt. Das Schiller-Gymnasium … Jetzt weiß ich endlich wieder, wo ich bin. Ich verlangsame meinen Schritt und laufe im Schatten der hohen Mauer weiter, vorbei am geschlossenen Schultor, Richtung Turnhalle. Auf einmal bin ich wie elektrisiert: das öffentliche Telefon! Dieses altmodische Ding mit dem pinkfarbenen Hörer, das vor dem Halleneingang steht, mit tausend Telefonnummern und blöden Sprüchen verziert. Gibt es das noch? Das soll doch schon ganz bald abgeschaltet und abgebaut werden. Ich sehe die graue Säule schon von Weitem und renne erleichtert darauf zu, hebe mit zitternden Fingern den Hörer ab und wähle den Notruf, für den zum Glück kein Geld nötig ist. Am anderen Ende klingelt es. Ich presse den Hörer fest an mein Ohr und blicke mich um, weil ich plötzlich das Gefühl habe, Heiko könnte direkt hinter mir stehen. Doch der dunkle Gehweg liegt leer und verlassen vor mir.

„Notrufzentrale, wie kann ich Ihnen helfen?“

Die Stimme eines Mannes reißt mich aus meinen Gedanken.

„Ja, hallo, ich möchte einen Überfall melden, in der Unterführung beim alten Kino.“

„Ist jemand verletzt?“

Ich zögere und hole tief Luft.

„Ein Junge wurde zusammengeschlagen, er ist bewusstlos. Bitte helfen Sie ihm!“

Meine Stimme wackelt.

„Wie ist denn Ihr Name, kennen Sie den Verletzten?“

Ich muss schlucken und schaue wieder in die Dunkelheit hinter mich.

„Nein, ich kenne ihn nicht, ich habe ihn nur dort gesehen. Ich …“

„Wie ist denn Ihr Name?“

Stille. Ich höre mich atmen, dann wieder die ungeduldige Stimme aus dem Hörer.

„Hallo, sind Sie noch da?“

„Ja, ich … ich heiße Lisa. Lisa Müller. Bitte kommen Sie schnell, ich glaube, er ist schwer verletzt.“

Dann lege ich den pinkfarbenen Hörer auf und renne davon.

„Da bist du ja endlich!“

Als ich die Tür zu unserem Versteck in der stillgelegten Druckerei öffne, kommt Berta auf mich zugelaufen und umarmt mich fest. Sie riecht nach Lederjacke und Zigaretten. Über ihre Schulter sehe ich Heiko auf mich zuschlendern. Er hat die Augen zusammengekniffen und mustert mich misstrauisch.

„Wo warst du?“

Berta lässt mich los und tritt einen Schritt zur Seite. Hinter Heiko sind nun auch Felix, Didi und Anton aufgetaucht und schauen mich fragend an. Heikos Blick scannt mein Gesicht.

„Ich bin gestürzt und hab euch danach nicht mehr gesehen.“

Als Beweis strecke ich Heiko meine aufgeschürften Handflächen entgegen, die mit Blut und Staub überzogen sind. Heiko nimmt eine Hand und betrachtet sie eingehend, dann zieht er mich mit einem Ruck näher zu sich. Hinter ihm bilden die anderen einen Halbkreis. Alle bis auf Berta haben die Arme verschränkt und schauen mich feindselig an. Heikos Griff schmerzt. Ich versuche, ihm meine Hand zu entziehen, aber er packt nur noch fester zu.

„Und wo bist du dann so lange gewesen?“

Wieder zieht er mich ein Stückchen näher und starrt von oben auf mich herab. Sein Mund ist zu einer harten, dünnen Linie zusammengepresst.

Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und schaue ratlos zu den anderen. Anton hat die Augenbrauen fragend nach oben gezogen. Auch der Rest der Truppe scheint auf eine Antwort zu warten.

Plötzlich reißt Heiko wieder an meiner Hand und quetscht sie fest zusammen. Der Schmerz schießt durch meinen ganzen Körper.

„Au, du tust mir weh!“

Ein böses Lachen ist Heikos Antwort.

„Warst du noch mal dort? Hast du dem Bastard etwa geholfen? Oder die Polizei gerufen?“

„Nein, hab ich nicht!“

Meine Stimme klingt dünn und hallt trotzdem von den kahlen Betonwänden wider.

„Gib mir dein Handy“, knurrt Heiko.

Ich ziehe es mit der freien Hand aus der Jackentasche und er greift danach. Schnell hat er meinen Code eingegeben und drückt auf die Anrufliste. Mein Herz klopft wie wild und ich bin unglaublich froh, dass ich vorhin noch so weit denken konnte.

„Sie hat niemanden angerufen“, sagt Heiko und lässt mich plötzlich los.

Ich schwanke und kann mich gerade noch an einem Stapel alter Paletten festhalten. Berta steht jetzt wieder neben mir und legt den Arm um mich.

„Komm, ich schau mir mal deine Verletzungen an, vielleicht hab ich irgendwo auch noch ein paar Pflaster.“

Sie führt mich an Heiko vorbei zu dem durchgesessenen beigen Sofa, das wir in der Nacht vor der letzten Sperrmüllsammlung gemeinsam ins Versteck getragen haben. Anton, Didi und Felix lassen sich in der anderen Ecke auf die schmuddeligen Matratzen fallen. Heiko folgt uns zum Sofa und setzt sich neben mich, während Berta mit Wasser aus einer Flasche versucht, den Dreck aus meinen Wunden zu waschen. Es brennt höllisch. Ich schließe die Augen und halte unwillkürlich die Luft an.

Neben mir höre ich das Geräusch eines Feuerzeugs und rieche dann den beißenden Rauch einer Zigarette. Heiko legt seine Hand auf mein Knie und ich schreie vor Schmerz auf. Berta kniet vor mich und schiebt langsam die Beine meiner Jogginghose nach oben. Der Stoff ist abgeschabt, aber nicht aufgerissen. Trotzdem sind meine Knie wie meine Hände mit blutigen Schürfwunden verziert, übersät mit den schwarzen Fusseln meiner Hose. Erst jetzt wird mir der Schmerz so richtig bewusst.

„Scheiße, das sieht heftig aus!“ Berta blickt mich mitleidig an. „Ich hab nur noch ein Pflaster, damit kommen wir nicht weit.“

Heiko zieht an seiner Zigarette, lehnt sich zurück und legt einen Arm um meine Schulter. Langsam bläst er den Rauch in Kringeln aus.

„Besorgt Verbandszeug für mein Mädchen“, bellt er dann in Richtung der Matratzen, und die drei Jungs erheben sich sofort.

„Wo sollen wir denn was herkriegen, es ist schon nach Mitternacht“, fragt Anton ratlos, und Felix nickt eifrig dazu.

„Mensch, dann lasst euch was einfallen, knackt ein Auto und klaut den Verbandskasten oder so was“, knurrt Heiko zurück und zieht wieder an seiner Zigarette.

„Du gehst auch mit.“ Er bedeutet Berta mit einer Kopfbewegung, dass sie sich den anderen anschließen soll.

Schnell steht sie auf und läuft ebenfalls zu der schweren Stahltür, die sich quietschend öffnet und dann mit einem lauten Knall hinter der Gruppe zufällt.

„So, und jetzt zu dir.“

Erschrocken schaue ich Heiko an. Ich dachte, die Sache wäre ausgestanden, er hat doch schon mein Handy gecheckt. Was will er denn noch? Er drückt die Kippe auf dem staubigen Betonboden aus und lässt sie einfach dort liegen. Dann beugt er sich zu mir.

„Was hast du dir dabei gedacht?“

Langsam fährt er mit der Hand in meine Haare und lässt die langen violetten Strähnen durch seine Finger gleiten.

„W…was meinst du?“

Meine Stimme ist belegt, und ich räuspere mich vorsichtig. Im nächsten Moment schreie ich auf, denn Heiko zieht ruckartig an meinen Haaren. Der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen.

„Du weißt genau, was ich meine.“ Seine Stimme ist gefährlich leise. „Wie kannst du es wagen, mir in den Rücken zu fallen, wenn ich so ein Arschloch verprügle? Du hast versucht, mich wegzuziehen und mich angebrüllt, ich soll aufhören, vor den anderen!“

Wütend blitzt er mich an, greift mit seiner Hand um meinen Nacken und drückt zu. Wieder spüre ich Tränen in meine Augen schießen.

„Ich … ich weiß nicht, ich hab mir gar nichts dabei gedacht. Ich hatte nur Angst, dass du Ärger bekommst“, stammele ich und versuche, den Schmerz an meinem Hals zu ignorieren.

„Das lass mal meine Sorge sein.“ Sein Griff lockert sich etwas, aber er hat die Augen immer noch zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und mustert mich.

„Der Typ hatte es verdient. So rotzfrech, wie der war, als ich mich über die kalte Pizza beschwert habe. Du hättest ihn hören sollen!“

Heikos Daumen streichelt langsam meine Halsseite.

„Dabei hätte es ihm egal sein können, er ist doch in diesem Laden nur angestellt. Hätte mir einfach ’ne neue Pizza geben sollen, der Idiot. Aber nein, er wollte Ärger. Und den hat er bekommen.“

Sein Lachen füllt den Raum und prallt an den Wänden ab. Ich muss schlucken und schaue auf meine zerschundenen Handflächen.

Heiko lässt mich plötzlich los und beugt sich über die Sofalehne nach hinten. „Schau mal!“

Einen Moment später baumelt eine Kamera vor meiner Nase.

„Hab ich dem Spacken abgenommen. Ist sicher was wert, ist ’ne digitale Spiegelreflex.“

Müde nicke ich und schließe dann die Augen. Ich muss wegschauen, sonst kann ich das hier nicht mehr ertragen. Ich will den ganzen Wahnsinn ausblenden. Im nächsten Moment fühle ich Heikos Lippen direkt vor meinen.

„Baby, versprich mir, dass du so etwas nie wieder machst, hörst du? Sonst bekommst du richtig Zoff!“ Er küsst mich hart und zieht mich gleichzeitig fest an sich.

Meine Knie und Hände schmerzen, aber ich halte still, um ihn nicht noch mehr zu verärgern. Ich fühle seine Zunge in meinem Mund und seine Hand zwischen meinen Beinen. Meine Verletzungen scheint er völlig vergessen zu haben.

„Liebst du mich, Baby?“ Seine heisere Stimme ist direkt an meinem Ohr.

Ich spüre seine Zungenspitze in meiner Ohrmuschel und murmle eine Antwort.

„Lauter.“

„Ja, ich liebe dich.“

Er gibt ein leises, zufriedenes Knurren von sich und widmet sich wieder meinem Mund und dem Bund meiner Jogginghose.

„Dann lass uns die sturmfreie Bude ausnutzen, Mila-Baby. Zeig mir, dass du mein Mädchen bist.“

Ich schlinge meine Arme um seinen Hals und lasse es geschehen, während ich vor meinem inneren Auge immer noch den seltsam verkrümmten, reglosen Körper auf dem kalten harten Boden der Unterführung liegen sehe.

Kapitel 2

Vier Monate später

Mila

Langsam schleiche ich die Treppe hinunter, in einer Hand meine Schuhe, in der anderen meinen Sportbeutel. Ich habe keine Lust auf Diskussionen. In zehn Minuten fährt der nächste Bus in die Stadt, und wenn ich leise genug bin, schaffe ich den gerade noch. Auf dem Weg durch die Eingangshalle komme ich an dem schmalen Sideboard mit den drei gleichen Topfpflanzen vorbei, die wie die Soldaten strammstehen, ihre quadratischen, dunkelgrauen Töpfe exakt parallel zur Tischkante. Wie jedes Mal verdrehe ich sie im Vorbeilaufen und lasse das Chaos mit einem Grinsen hinter mir. Als ich gerade die Hand auf die Klinke legen will, klingelt im Sportbeutel mein Handy und verpasst mir den Todesstoß: Die Tür zum Wohnzimmer fliegt auf, und meine Mutter steht mir mit weit aufgerissenen Augen gegenüber.

„Was hast du vor? Willst du weg?“

Ich verdrehe die Augen und nicke. Mein Handy klingelt noch immer. Der Melodie nach ist es Heiko, doch das muss jetzt warten.

„Aber heute Abend kommt dein Vater wieder nach Hause. Es war abgemacht, dass wir zusammen essen, zur Feier des Tages. Hast du das vergessen?“

Sie klingt weinerlich, beinahe wie ein Kind, dem man ein Spielzeug weggenommen hat. Passt ja auch irgendwie. Nur, dass sie ihr Spielzeug teilen muss.

„War er etwa schon wieder in ‚Hamburg‘?“

Sie hört die großen Anführungszeichen und zuckt zusammen. Schnell schaut sie auf ihre perfekt manikürten Fingernägel. Ihr hellblonder Pagenkopf fällt nach vorne und verdeckt ihre großen, blauen Augen mit dem verletzten Blick.

„Er hat viel zu tun, das weißt du.“

Sie strafft die Schultern und hebt den Kopf wieder. Ein paar Sekunden lang duellieren sich unsere Blicke.

„Ich gehe trotzdem. Weiß nicht, wann ich zurück bin.“

„Wohin?“

„In die Stadt.“

„Mit wem?“

„Mit Freunden.“

Sie seufzt und reibt sich mit den Fingern die Stirn. Dann fällt ihr Blick auf das Sideboard. Wie ein Reflex schnellt ihre Hand nach vorne und dreht die Töpfe wieder in Reih und Glied. Perfekt.

Ich lasse meine Schuhe auf den Boden fallen, damit ich hineinschlüpfen kann. Dann greife ich nach meiner Lederjacke, die an der Garderobe hängt.

Meine Mutter sieht aus, als ob sie noch was sagen möchte, aber schließlich hebt sie resignierend die Hände.

„Komm nicht so spät. Und pass auf dich auf, ja?“

Ich nicke. Irgendwie tut sie mir leid. Jeder um sie herum macht, was er möchte, und sie sitzt zu Hause und feilt an der perfekten Fassade. Ein bunter Blumenstrauß hier, ein paar neue Kissen da, und fertig ist die heile Welt. Wenn sie wenigstens mal ausrasten würde, schreien, weinen, irgendwas. Wenn sie sich wehren würde gegen „Hamburg“ oder gegen all das andere, was sie einfach weglächelt. Aber sie bleibt stumm und treibt mich damit zur Weißglut.

„Bis dann, Mama.“

Ich hebe die Hand zu einem kurzen Winken und öffne die Haustür. Ein Blick auf meine Armbanduhr zeigt mir, dass ich den Bus vergessen kann. Seufzend trete ich nach draußen in den warmen Mai-Nachmittag, lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen und krame in meinem Sportbeutel nach dem Schlüsselbund, um den Fahrradschuppen aufzuschließen. Verdammt, jetzt komme ich viel zu spät!

Tom

Wenigstens ist der Gehweg hier asphaltiert. Er rollt zwischen den Menschen hindurch und hofft, dass keiner einen Schritt zur Seite macht. Nur noch einen Block, dann hat er es geschafft. Wieder mal. Es ist immer noch so anstrengend, dass er jeden Abend Muskelkater in den Armen hat. Super-Training für Super-Muckis, sagt Nick immer und brät ihm ein Spiegelei mehr, damit er genügend Eiweiß zu sich nimmt.

Als der Gehweg eine Kurve macht, geht der Asphalt wieder in Betonplatten über. Tom flucht leise und weicht auf den leeren Radweg aus. Vielleicht sollte er seine Ernährung tatsächlich noch mehr umstellen … behindertengerecht.

Behindert. Dieses Wort löst bei Tom immer noch einen Würgereiz aus. Die Folgen dieses blöden Überfalls hindern ihn nach wie vor daran, einfach so durch die Gegend zu laufen wie früher. Aber er hat schnell gelernt, mit dem Rollstuhl umzugehen. Jammern hilft nicht weiter, das hat er schon früh kapiert: Als sein Vater vor acht Jahren gegen einen Baum gerast ist, als seine Mutter ihre Angst vor der Einsamkeit und der Verantwortung, ihn alleine großzuziehen, zuerst mit billigem Wein und dann mit Schnaps bekämpft hat, als sie irgendwann ihren Job verloren hat und als sie letztes Jahr kurz vor Weihnachten nach einer Alkoholvergiftung direkt vom Krankenhaus in eine Entzugsklinik geschickt wurde. Tom kann sich nur auf sich selbst verlassen, das hat er inzwischen kapiert. Und auf Nick. Der hat ihm den Kopf gewaschen, weil er sich anfangs geweigert hat, den Rolli auch nur anzuschauen. „Deine Beine sind von jetzt an rund, na und?“, hat er damals zu ihm gesagt und blöd gegrinst. Klar, er hat leicht reden, er muss nicht in diesem Ding sitzen. Aber er hat Tom daran erinnert, dass es in seinem Leben bisher noch immer irgendwie weitergegangen ist. Wenn auch etwas holprig …

Ein lautes Quietschen reißt ihn aus seinen Gedanken. Er sieht etwas Grünes auf sich zurasen, hört krachendes Metall und fühlt im nächsten Moment den freien Fall Richtung Boden.

Benommen bleibt er mit dem Gesicht nach unten liegen und lässt die Augen geschlossen. Sein Ellbogen schmerzt, aber der Kopf hat dieses Mal zum Glück nichts abbekommen.

„Es tut mir so leid, ist dir was passiert?“

Eine schrille Stimme ertönt neben ihm. Vorsichtig dreht er sich ein Stück zur Seite. Ein Mädchen mit knallgrün gefärbten, langen Haaren hockt auf dem Boden und beugt sich in seine Richtung. Hinter ihr liegt ein Fahrrad auf dem Boden, dessen Räder sich noch langsam drehen und dann zum Stillstand kommen.

„Geht es dir gut? Sag doch was!“

„Ich denke, ich kann nicht mehr laufen, aber sonst ist alles okay.“

Der Witz geht ihm viel zu leicht über die Lippen, begleitet von einem schiefen Grinsen.

Das Mädchen grinst im ersten Moment zurück, zuckt dann aber plötzlich erschrocken zusammen. Schnell steht sie auf und schaut sich um. Auch Tom setzt sich jetzt aufrecht hin und sondiert die Umgebung. Sein Rollstuhl liegt etwa zwei Meter von ihm entfernt. Der Blick des Mädchens schnellt zwischen dem Gefährt und Tom hin und her und hat jetzt beinahe etwas Panisches. Dann läuft sie zum Rollstuhl, richtet ihn auf und schiebt ihn nah an Tom heran.

„Wie kommst du da wieder rein? Kann ich dir irgendwie helfen?“

Sie ist hübsch, zumindest wäre sie es, wenn ihre schwarz angemalten Augen mit dem dicken Lidstrich nicht so düster wirken würden. An ihrem Nasenflügel blitzt ein Piercing-Ring. Toms Blick fällt auf ihre engen Jeans mit den vielen Löchern. Ihre Knie sind aufgeschürft.

„Du blutest ja!“

Sie schaut an sich herab.

„Ist halb so wild, und die Hose war ja schon vorher kaputt!“

Ein kleines Lächeln.

„Meine Beine waren auch schon vorher kaputt. Dann sind wir ja quitt.“

Tom grinst zurück.

Doch in diesem Moment wird das Lächeln im Gesicht des Mädchens wieder schlagartig ausgeknipst. Hektisch schaut sie sich um.

„Wir brauchen Hilfe, ich kriege dich allein nicht zurück in den Rollstuhl. Warum fährst du auch auf dem Radweg!“

„Weil der asphaltiert ist und der Gehweg nicht.“

Tom greift nach seinem Gefährt.

„Halt ihn einfach fest.“

Er sitzt nun seitlich vor dem Rollstuhl und stützt sich mit einer Hand auf der Sitzfläche und mit der anderen auf dem Boden ab. Dann drückt er sich mit Schwung hoch und dreht sich so, dass er auf der Sitzfläche landet.

„Wow!“ Das grüne Mädchen schaut ihn beeindruckt an. „Wirst du öfter über den Haufen gefahren?“

Tom schüttelt den Kopf. „Nein, du bist die Erste, die das geschafft hat.“

„Sitzt … sitzt du schon lange im Rollstuhl?“

„Nein, erst seit ein paar Monaten.“

Sie bleibt stumm. Mit gerunzelter Stirn wischt sie sich etwas Staub von ihrer Lederjacke. Als sie ihre dunkel umrandeten Augen wieder auf ihn richtet, hat er für einen kurzen Moment das Gefühl, sie schon mal irgendwo gesehen zu haben.

„Wohnst du hier in der Gegend?“

„Hier? Nein!“

Sie klingt fast entsetzt, als sie das sagt. Als ob es peinlich wäre, hier zu wohnen, in einem der alten Mietsblöcke aus den 1960er-Jahren.

Tom nickt langsam. „Verstehe.“

„Was verstehst du?“

„Dass du nicht hier wohnst. Zum Glück.“

Sie schaut betroffen und macht einen Schritt nach hinten.

„Nein, so hab ich das nicht gemeint, ich … ich bin viel in dieser Gegend, mein Freund wohnt hier …“

Ihre Stimme verliert sich und sie schaut auf ihre Uhr.

„Oh verdammt, ich muss weiter!“

Sie greift nach ihrem Fahrradlenker. Ihr Sportbeutel ist vom Gepäckträger gerutscht und liegt noch auf dem Boden. Schnell rollt Tom näher, greift nach dem Beutel und reicht ihn ihr.

„Danke.“ Ein kurzes Lächeln streift ihn. „Wie heißt du eigentlich?“

„Ich heiße Tom.“

„Ich bin Mila.“

„Tut mir leid, dass ich dir ins Fahrrad gerollt bin, Mila.“

„Mir tut es auch leid, dass ich dich über den Haufen gefahren habe, Tom.“

Sie fährt sich mit der Hand durch ihre grün gefärbten Haare und lässt ihren Blick die Straße entlangwandern. Dann schaut sie Tom fragend an.

„Wo musst du denn hin?“

„Da lang, Richtung Schiller-Gymnasium.“

„Um diese Zeit?“

Tom nickt.

„Ja, klar. Ich hab Foto-AG, die ist immer erst spät nachmittags.“

„Ach so. Sorry, dass ich so neugierig bin.“

Mila zuckt verlegen mit den Schultern, steigt auf ihr Rad und hebt die Hand zu einem kurzen Winken.

„Ciao. Fahr vorsichtig. Und nicht auf dem Radweg!“

Tom grinst. „Zumindest nicht, wenn du in der Nähe bist!“

Dann greift er nach den großen Rädern, dreht sein Gefährt in die andere Richtung und rollt davon.

Mila

Mein Herz rast. Ich trete wie wild in die Pedale, sause vorbei an den Wohnblöcken, dem kleinen Supermarkt und dem Sonnenstudio, bis der hohe, rostige Maschendrahtzaun anfängt, der die stillgelegte Druckerei umgibt. Hinter dem alten Pförtnerhäuschen biege ich ab und rolle langsam zwischen den wild wachsenden Sträuchern hindurch, die sich die rissige Asphaltfläche zurückerobert haben. Ganz hinten in der Ecke steige ich ab, verstecke mein Rad unter einem Haselnussstrauch und schleiche am Zaun entlang, bis ich an die Stelle komme, wo Heiko und die anderen den Draht aufgeschnitten haben. Ich biege das Stück zur Seite, schlüpfe hindurch und schließe die Öffnung wieder, damit sie nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Rasch laufe ich zur Rückseite des Hauptgebäudes. Über eine kleine Mauer erreiche ich das schmutzige, mit Spinnweben überzogene Fenster, das direkt in einen ehemaligen Umkleideraum führt.

Im Gebäude ist es wie immer kühl und dunkel. Ein Labyrinth aus düsteren Gängen liegt vor mir, aber inzwischen kenne ich den Weg ins Versteck gut. Mit vergilbten Katalogen gefüllte, alte Container stehen herum, Fässer mit seltsamen Chemikalien und große Rollen aus Metall. Ein muffiger Geruch liegt in der Luft, die sich bestimmt nicht mehr vom Fleck gerührt hat, seit die Druckerei geschlossen wurde. Ich biege noch zweimal ab, lasse ein großes Tor aus Plexiglas hinter mir und stehe dann vor der rostigen Stahltür mit der großen Schramme, die aussieht, als ob irgendwann mal ein Gabelstapler dagegen gefahren wäre. Ich atme kurz durch und schließe die Augen. Dann klopfe ich laut gegen die Tür – zweimal kurz, einmal lang, dreimal kurz – und warte, bis sie aufschwingt. Berta lässt mich herein. Ich stürme in den großen, fensterlosen Raum, der nur von einer einzelnen Glühbirne erhellt wird, die nackt und einsam von der Decke baumelt. Heiko hockt mit Felix auf dem Sofa, sonst ist keiner da.

„Er sitzt im Rollstuhl!“

Die beiden Jungs unterbrechen ihre Unterhaltung und schauen mich verblüfft an.

„Wer sitzt im Rollstuhl?“ Auch Berta kommt näher und blickt mich fragend an.

„Der Junge, den Heiko damals in der Unterführung verprügelt hat. Er sitzt seitdem im Rollstuhl!“

Meine Stimme überschlägt sich, weil ich beinahe keine Luft mehr bekomme.

Langsam steht Heiko auf und kommt auf mich zu. Er verschränkt die Arme vor der Brust und mustert mich aus schmalen Augenschlitzen.

„Na, dann wird ihm das wohl eine Lehre sein. Woher weißt du das überhaupt?“

„Ich hab ihn getroffen. Er ist mir mit dem Rollstuhl ins Rad gefahren und ich hab ihn umgeworfen. Zum Glück ist nichts passiert. Aber als ich ihn erkannt habe, bin ich fast durchgedreht!“

Ein tiefer Schluchzer kommt aus meiner Brust. Verdammt, im Rollstuhl! Dann war er damals wirklich schlimm verletzt.

„Du hast doch jetzt wohl kein Mitleid mit diesem Idioten, oder?“

Heikos Stimme klingt beinahe wie ein giftiges Bellen. Die Schlagader an seiner Halsseite pocht und lässt das schwarze Totenkopf-Tattoo vibrieren. Felix und Berta haben sich links und rechts von ihm aufgebaut und schauen mich ebenfalls feindselig an.

„Weiß er etwa, dass du ihn erkannt hast?“ Berta kommt einen Schritt auf mich zu.

Ich weiche erschrocken zurück und schüttle entgeistert den Kopf.

„Nein, natürlich nicht. Was denkt ihr denn?“

Heikos Blick scannt mich von oben bis unten und wieder zurück, dann bohrt er sich in meine Augen.

„Mila-Baby, er hat es verdient, also lass das Mitleid. Ich will so etwas nie wieder hören, ist das klar? Wenn du hier dazugehören willst, musst du bei allem zu uns halten, das hab ich dir von Anfang an gesagt.“ Seine Stimme klirrt vor Kälte.

Felix und Berta nicken synchron dazu und blicken zwischen Heiko und mir hin und her. Es hatte damals, als ich Heiko kennengelernt hatte, heiße Diskussionen mit den anderen gegeben, ob sie mich in ihre Clique aufnehmen. Aber da Heiko der Anführer war, hat er sich letztlich durchgesetzt. Umso schlechter wäre es für ihn daher, wenn ich jetzt aus der Reihe tanzen würde.

Für einen kurzen Moment habe ich Tom vor Augen, wie er auf dem Asphalt liegt, bewegungslos, der Rollstuhl neben ihm. Und dann springen meine Gedanken zu dem Abend in der Unterführung, wie Heiko gegen seinen blutenden Kopf tritt und Tom versucht, sich mit den Händen zu schützen. Es ist komisch, plötzlich seinen Namen zu kennen. Die Bilder werden dadurch umso brutaler.

Aber vor mir stehen meine Freunde, die auf eine Antwort warten. Auf eine Entscheidung, um genau zu sein. Ich hole tief Luft und verjage die Bilder mit einem halbherzigen Lächeln.

„Ist klar. Ich bin nur erschrocken, weil er mir ins Fahrrad gerollt ist. Sonst nichts. Juckt mich doch nicht, ob er im Rollstuhl sitzt.“

Ich zucke mit den Schultern und drehe mich dann weg, um meinen Sportbeutel auf den Tisch zu stellen.

„Hier, mein Alter hat wieder mal Geschenke von Patienten bekommen. Keine Ahnung, warum die ihn alle für einen Alki halten.“

Ich kichere böse und ziehe zwei Flaschen Whisky aus der Tasche.

„Und Zigaretten von seinem letzten Flug nach New York zum Ärztekongress hab ich auch noch gefunden.“

Ich lege eine ganze Stange zu den Flaschen und schaue die anderen triumphierend an. Sie nicken anerkennend und ich atme innerlich auf. Damit kann ich sie hoffentlich wieder eine Weile ruhigstellen, denn ich habe mich in den ganzen Monaten nie dazu durchringen können, bei ihren Diebestouren mitzumachen. Dazu fehlt mir einfach der Mut.

„Braves Mädchen.“

Heiko fasst mich um die Taille und küsst mich.

Ich schließe die Augen und versuche, Tom aus meinem Gedächtnis zu löschen. Aber sein Gesicht bleibt wie eingraviert, die strahlend blauen Augen und die dunkelbraune Surferfrisur. Und dann sehe ich ihn in seinem Rollstuhl vor mir, mit dünnen, leblosen Beinen und kräftigen Muskeln an den Oberarmen. Ich ziehe Heiko fest an mich und küsse ihn leidenschaftlich zurück, um meine Augen vom Weinen abzulenken und den dicken Kloß im Hals loszuwerden. Aber insgeheim weiß ich, dass diese Begegnung heute alles geändert hat.

Kapitel 3

Tom

Er rollt über den Schulhof und hebt kurz die Hand zum Gruß, als er seinen Mathelehrer aus dem Gebäude laufen sieht. Der winkt zurück und Tom gibt wieder mit beiden Händen Schwung. Zum Glück ist das alte Schulgebäude vor ein paar Jahren renoviert und auf den neuesten Stand gebracht worden, mit Aufzug, Rampen und Behindertentoilette, alles barrierefrei. Sonst hätte er nach Tag X noch die Schule wechseln müssen, kurz vor dem letzten Schuljahr. Wenigstens das ist ihm erspart geblieben.

Langsam rollt Tom durch das große Tor nach draußen auf den Gehweg. Er widersteht der Versuchung, auf dem glatten Radweg weiterzufahren, und bleibt stattdessen brav auf der Seite, die Fußgängern und Krüppeln wie ihm vorbehalten ist. Die Begegnung mit Mila ein paar Wochen zuvor sitzt noch immer tief, denn er hat keine Lust, sich auch noch die Arme zu brechen und gar nicht mehr aus dem Haus zu kommen.

Die Juni-Sonne schickt ihre Strahlen durch das dichte Blätterdach über ihm und verwandelt den Gehweg und die Straße in ein großes Puzzle aus hellen und dunklen Flecken. Tom liebt diese Tageszeit, wenn das Licht am Nachmittag weicher wird und die Schatten länger. Früher hätte er seine Kamera geschnappt und wäre mit dem Fahrrad durch die Stadt gefahren, bis Sonnenuntergang. Doch die Kamera gibt es nicht mehr, und das ärgert ihn fast genauso sehr wie seine lahmen Beine.

Wütend beißt er die Zähne zusammen und verpasst den Reifen extra viel Schwung. Schnell nach Hause, um die ganzen entgangenen Motive nicht sehen zu müssen. Natürlich könnte Tom sein Handy aus der Tasche ziehen und drauflosknipsen, aber das Ergebnis wäre einfach nicht das gleiche. Und für seine Zwecke definitiv nicht gut genug. Der Traum ist ausgeträumt …

„Hallo, Tom.“

Beinahe hätte er sie übersehen, so sehr hat sie sich bemüht, neben dem dicken Baumstamm nicht aufzufallen, an den sie sich lehnt. Ein Sonnenstrahl landet genau auf ihrer Nase, als sie sich langsam abstößt und auf ihn zugeht. Fast sieht es aus, als habe sie auf ihn gewartet.

„Was tust du denn hier?“

Ihre grünen Haare sind jetzt mit hellen Sonnenflecken übersät. Er würde das Bild so gerne einfangen.

„Ich möchte dich was fragen.“

Sie ist tatsächlich seinetwegen hier.

„Woher weißt du …“

„Es war auch ein Donnerstag, als du auf dem Weg zu deiner Foto-AG warst, und ich hab einfach ausgerechnet, wann die ungefähr endet.“

Sie lächelt verlegen und zwirbelt eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Ihre andere Hand vergräbt sie tief in der Tasche ihrer Lederjacke. Sie trägt eine enge schwarze Jeans und rote Stoffturnschuhe, die schon bessere Tage gesehen haben. Aber am auffälligsten sind wieder ihre dunklen, schwarz umrandeten Augen, die Tom aufmerksam beobachten.

„Okay, das hört sich echt schräg an. Und was möchtest du mich fragen?“

Mila senkt den Blick und schiebt mit ihrer Schuhspitze einen kleinen Stein auf dem Asphalt hin und her.

„Ich … also, in meiner Schule gibt es so ein Projekt. Jeder soll vier Wochen lang einen ehrenamtlichen Job annehmen und irgendwo helfen. Wir müssen einen Bericht darüber schreiben und unser Projekt am Ende in einem Referat vorstellen. Und als ich dich kürzlich getroffen habe, da hatte ich die Idee … vielleicht …“

Ihre Stimme wird immer atemloser und schneller, während ihre Augen nach wie vor auf den Boden gerichtet sind.

„Ja?“

Toms Stirnrunzeln ist tatsächlich hörbar, in diesem einen Wort. Was, verdammt noch mal, will sie ihm gerade vorschlagen?

Mila schaut endlich auf und ihr Blick landet direkt in seinen Augen. Für einen Moment hält Tom die Luft an. Wieder schleicht sich der Gedanke in seinen Kopf, dass er sie schon mal irgendwo gesehen hat, aber dann schüttelt er ihn ab. Er würde sich garantiert an sie erinnern, dazu ist sie einfach zu speziell. Und zu hübsch. Aber das ändert nichts daran, dass das Gespräch gerade in eine ganz blöde Richtung geht.

Mila gibt sich einen Ruck.

„Ich … ich würde dir gern helfen, für mein Schulprojekt. Als kleine Entschädigung, weil ich dich über den Haufen gefahren habe.“

Nervös blinzelt sie und versucht tapfer, Toms Blick standzuhalten. Der schüttelt ungläubig den Kopf.

„Wie kommst du darauf, dass ich Hilfe brauche?“

Mila wird rot.

„Ich … äh … ich hab einfach angenommen, dass du …“

Ihr Mund klappt wieder zu.

Erneut schüttelt Tom den Kopf.

„Ich komme sehr gut alleine zurecht, danke.“ Es klingt mürrischer, als er eigentlich beabsichtigt.

„Aber ich könnte dich zum Beispiel schieben, wenn dir auf dem normalen Gehweg irgendwann wieder die Arme wehtun, oder dir beim Einkaufen helfen oder dich zu Terminen begleiten …“

Mila spricht hastig und unterstreicht jeden Vorschlag mit einer ausholenden Handbewegung. Tom versteht ihren Eifer nicht.

„Aber du kannst doch sicher auch jemand anderem helfen, das muss doch nicht ich sein.“

Am liebsten würde er sich umdrehen und davonfahren. Ihr mitleidiger Blick ist nur schwer zu ertragen.

„Mir fällt aber nix anderes ein. Und außerdem hast du was gut bei mir. Wenn ich nicht so schnell gefahren wäre, hätte ich rechtzeitig bremsen können und dir wäre nichts passiert.“

„Mir ist ja auch so nichts passiert. Lass also stecken …“

Mila macht einen Schritt auf Tom zu. Ihr Gesichtsausdruck sieht jetzt fast verzweifelt aus.

„Ich hab dich umgeworfen, und das ist keine Lappalie, das weißt du genau.“

Sie hält ihm bittend beide Hände entgegen. In der Sonne blitzt ein grüner Glitzerstein auf, den sie heute als Nasen-Piercing trägt. Wieder ein schönes Motiv, zusammen mit den gefärbten Haaren.

„Ich komme aber trotzdem gut allein zurecht. Ich will dein Mitleid nicht.“

Mila schnaubt. „Aha, darum geht es dir also. Du willst nicht bemitleidet werden. Soll ich dir was sagen? Ich bemitleide dich nicht, ich bewundere dich eher.“

Verblüfft schaut Tom zu ihr auf. „Bewundern?“

„Ja, bewundern, weil du dich offensichtlich schnell an den Rollstuhl gewöhnt hast und so gut damit zurechtkommst. Das schafft nicht jeder!“

Toms Ego lächelt innerlich ein bisschen bei dieser Streicheleinheit, aber sein borstiges Ich gewinnt wieder schnell die Oberhand.

„Trotzdem brauche ich keine Hilfe. Ich bin kein totaler Krüppel. Nur ein bisschen gehandicapt. Oder ‚ge-beini-capt‘, um genau zu sein. Der Rest funktioniert ganz gut!“

Für einen Moment breitet sich ein unangenehmes Schweigen zwischen ihnen aus. Mila kaut nachdenklich an ihrem rechten Daumennagel und blickt Tom unverwandt an. Der fühlt sich immer unbehaglicher. Was soll das hier werden? Er möchte sich jetzt einfach verabschieden und nach Hause rollen. Sie würde ihr Projekt schon anderweitig hinkriegen, da ist er sich sicher. Er hat jedenfalls keine Lust darauf, ihr gegenüber alle seine Probleme und Schwächen einzugestehen. Denn darauf würde es hinauslaufen, wenn er zulassen würde, dass sie ihm hilft. Dass sie alles sehen würde, was er NICHT kann. Und dann würde die angebliche Bewunderung ganz schnell weichen und tatsächlich in Mitleid umschlagen. Und das könnte er nicht ertragen.

„Lass es uns doch einfach probieren, eine Woche lang. Okay? Und dann entscheidest du, ob es dir hilft oder nicht.“

Hartnäckig ist sie ja, das muss Tom ihr lassen. Es ist ihr offensichtlich wirklich wichtig. Er seufzt laut.

„Meinetwegen.“

Seine Zunge ist schneller als sein Gehirn. Jetzt gibt es kein Zurück mehr, jedenfalls nicht in den nächsten sieben Tagen.

Ein Strahlen geht über Milas Gesicht und macht es viel weicher und noch ein bisschen hübscher.

„Oh wow, ich hab die Hoffnung schon fast aufgegeben. Danke, du wirst es nicht bereuen!“

Aus der hinteren Hosentasche fischt sie ihr Handy.

„Gib mir deine Nummer, damit wir was ausmachen können.“

Mist, was hat er sich da nur eingebrockt! Wie ferngesteuert diktiert Tom ihr seine Telefonnummer, die sie anschließend wählt. In seiner Jackentasche fängt es an zu vibrieren.

„So, jetzt hast du auch meine.“

Mila schaut zufrieden zu ihm herunter und packt ihr Handy wieder weg.

„Musst du morgen irgendwo hin?“

Tom nickt und ist immer noch zu perplex, um richtig denken zu können.

„Ja, morgen muss ich zum Physiotherapeuten am Rathausplatz.“

„In der Fußgängerzone, die mit dem vielen Kopfsteinpflaster?“

Tom zieht eine Grimasse und nickt.

„Genau da. Tödlich für so Rolli-Krüppel wie mich.“

„Wann musst du dort sein?“

„Um drei Uhr, aber …“

„Und wo wohnst du?“

Tom seufzt und gibt sich dann endgültig geschlagen.

„Okay, okay. Du bist echt hartnäckig, hat dir das schon mal jemand gesagt?“

Er kann ein kleines Grinsen nicht unterdrücken.

„Du kannst mich nach Hause begleiten, wenn du unbedingt willst. Sind drei Blocks von hier die Straße hoch.“

Mila strahlt ihn an und legt die Hände auf die Griffe des Rollstuhls.

„Okay, dann starte ich mal mit meinem Hilfsprojekt. Festhalten!“

Und dann schiebt sie ihn den Gehweg entlang, mitten durch die hellen Lichtpunkte hindurch, die am Boden tanzen.

Mila

Puh, das war schwerer als gedacht. Ich hatte vorher keine Sekunde damit gerechnet, dass er Nein sagen könnte, dass er gar keine Hilfe brauchen oder wollen würde. Irgendwie bin ich davon ausgegangen, dass er mir vor Dankbarkeit um den Hals fällt. Vielleicht etwas naiv, aber das Ganze ist mir einfach zu wichtig.

„So, da wären wir. Hier wohne ich.“

Wir bleiben vor einem alten Mehrfamilienhaus stehen. Sechzehn Klingelschilder hängen neben der Tür, direkt über derselben Anzahl an Briefkastenschlitzen. Ein Riss zieht sich quer über die Glasscheibe der Eingangstür.

„Alles klar, dann weiß ich das jetzt und kann dich morgen abholen.“

Tom blickt lange und nachdenklich zu mir hoch. Sein Blick mustert mich so genau, dass ich anfange, mich unwohl zu fühlen. Dann zieht er die Augenbrauen nach oben.

„Dir ist es also wirklich ernst damit?“

Ich nicke.

„Also gut, dann sehen wir uns morgen Nachmittag. Nick wird sich freuen, wenn er mal nicht gebraucht wird.“

„Nick?“

„Mein Onkel. Ich wohne bei ihm.“

Mein Blick scannt die Klingelschilder neben uns.

„Du wohnst bei deinem Onkel?“

„Jap.“

Seine knappe Antwort zeigt deutlich, dass er keine Erklärung dazu abgeben will, also schweige ich einfach und warte.

„Also morgen um halb drei?“

Ich nicke. „Ja, das passt. Wo soll ich klingeln?“

Er deutet auf das Schild oben links. „Keller“ steht darauf, und klein mit Kugelschreiber ergänzt „Benke“.

„Ihr wohnt ganz oben?“

Ich muss an die vielen Treppenstufen denken und schaue verwundert seinen Rollstuhl an.

„Keine Angst, das Haus hat einen Aufzug, auch wenn es nicht danach aussieht.“

Er dreht sich um und kramt den Schlüssel aus seinem Rucksack, der hinten am Rollstuhl hängt. Mir fallen wieder seine durchtrainierten Oberarme auf, die sich so viel leichter betrachten lassen als die dünnen, stillen Beine, die aus den grauen Shorts herausschauen.

Neben mir schließt Tom die Tür auf, drückt sie nach innen und rollt ins Treppenhaus. Dort dreht er sich um 180 Grad und schaut noch mal in meine Richtung.

„Also dann …“ Er lächelt etwas unsicher und hebt kurz die Hand.

Für einen Moment wirkt er nicht mehr ganz so lässig und entspannt in seinem Zwangs-Gefährt. Wie er sich wohl wirklich damit fühlt? Ob er oft an den Abend in der Unterführung denkt, an die Leute, die ihm das angetan haben? An uns?

Mein Magen wird immer enger und fühlt sich an, als ob ich Steine gegessen hätte. Viele Steine.

„Also dann … bis morgen.“

Wie ist das wohl, wenn man Mädchen nicht mehr Auge in Auge gegenüberstehen und sie ansprechen kann? Hat er früher überhaupt Mädchen angequatscht? Oder war er schon immer eher schüchtern und zurückhaltend? Dazu hätte er sicher keinen Grund gehabt, denn er sieht wirklich gut aus, mit seinen dunkelbraunen Haaren und den hellblauen Augen. Eine interessante Kombination … Ob er wohl eine Freundin hatte, als das alles passiert ist, und ob sie ihn wohl verlassen hat, nachdem …

Mein Mund wird trocken. Ich schlucke und balle kurz beide Hände zu Fäusten. Schnell schiebe ich sie in meine Hosentaschen, in der Hoffnung, dass es ihm nicht aufgefallen ist.

„Ja, bis morgen!“ Tom macht kehrt, lässt die Tür los und fährt den Hausflur entlang Richtung Aufzug.

Langsam schließt sich der Einblick ins Innere des Hauses, bis die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fällt. Für ein paar Sekunden starre ich noch auf den Riss in der Glasscheibe und versuche, meine Gedanken zu ordnen. Dann blinzle ich kurz, reiße mich los und fange an, Richtung Straßenbahn zu laufen.

Was habe ich da nur getan? Am Anfang schien mir die Idee noch richtig gut zu sein, geradezu genial. Aber jetzt, bei Licht betrachtet, tritt der ganze Wahnsinn zu Tage. Habe ich mir tatsächlich eingebildet, dass ich das, was geschehen ist, auch nur einen Hauch wiedergutmachen kann, indem ich ihm helfe? Zumal er meine Hilfe eigentlich gar nicht möchte.

Langsam gehe ich an den grauen, fleckigen Häuserfronten vorbei, die alle ähnlich aussehen wie das Haus, in dem Tom wohnt. Von der Straße ertönt lautes Hupen, weil ein Transporter in zweiter Reihe stehen geblieben ist und seelenruhig seine Getränkekisten ablädt. Ich wechsle direkt hinter ihm die Straßenseite und biege Richtung Haltestelle ab. Meine Schritte fühlen sich schwer wie Blei an.

Mist, was habe ich mir da nur eingebrockt. Heiko und die anderen steinigen mich, wenn sie herausfinden, dass ich mich mit Tom treffe.

Quietschend kommt die Straßenbahn neben mir und ein paar anderen Leuten zum Stehen. Wir steigen ein, bevor sie sich wieder ruckelnd in Gang setzt und meine Gedanken durcheinanderschüttelt. Schnell greife ich nach einer Haltestange und starre aus dem fleckigen Fenster. Ich muss höllisch aufpassen, wenn ich in dieser Gegend unterwegs bin, so viel ist klar. Und Tom … auch er darf zwei Dinge niemals herausfinden: zum einen, dass ich damals dabei war, und zum anderen, dass es dieses Hilfsprojekt überhaupt nicht gibt.

Kapitel 4

Tom

Es klingelt. Tom rollt auf die Sprechanlage zu und nimmt den grauen Hörer ans Ohr.

„Ja?“

„Mila. Tom, bist du es?“

„Ja, ich bin gleich unten.“

Er hängt den Hörer wieder ein und atmet tief durch. Die halbe Nacht hatte er wachgelegen und gegrübelt, weshalb er sich auf diese Sache eingelassen hat. Aber das Ergebnis ist auch bei Tageslicht wenig logisch: Er tut es Mila zuliebe. Es ist ihr aus irgendeinem Grund sehr wichtig, und das hat er vom ersten Moment an gespürt. Er hat es nicht übers Herz gebracht, Nein zu sagen, und jetzt muss er die Suppe auslöffeln, die er sich eingebrockt hat.

Seufzend hängt er seinen Rucksack an die Rückseite des Rollstuhls, schnappt sich Handy und Schlüssel von der Kommode und rollt aus der Wohnung.

Als er die Aufzugtür im Erdgeschoss öffnet, steht Mila direkt gegenüber an die Wand gelehnt und macht in genau diesem Moment eine riesige Kaugummiblase. Mit einem lauten „Plopp“ zerplatzt sie und gibt den Weg frei für ein breites Grinsen.

„Hallo! Ich dachte schon, du hättest es dir anders überlegt. Hat so lange gedauert.“

Tom hebt entschuldigend die Hände und deutet auf den Fahrstuhl hinter sich.

„Das Ding ist mächtig langsam. Ist nicht mehr das neueste Modell. Aber wenigstens bin ich dieses Mal sofort unten angekommen.“

Mila mustert die Metalltür mit dem kleinen Fenster misstrauisch, dann zuckt sie mit den Schultern.

„Na ja, egal, Hauptsache, du bist hier. Ich war mir da ehrlich gesagt nicht so sicher. Irgendwie hab ich dich gestern mit dieser Sache ziemlich überrumpelt, oder?“

Nervös wendet sie den Blick ab und zupft am Ärmelsaum ihrer Jeansjacke. Eine teure Marke, wie Tom beiläufig registriert, die so gar nicht zum Rest von Milas Kleidung passen will. Wieder trägt sie ihre abgelaufenen Stoffturnschuhe, eine löchrige Jeans und ein knittriges T-Shirt. Gewollt wild, schießt es Tom durch den Kopf. Wie eine Verkleidung, samt den gefärbten Haaren und den Piercings. Was sie wohl damit verbergen möchte?

„Ich bin mir auch jetzt noch nicht sicher, ob das eine gute Idee ist, aber ich hab dir eine Woche Probezeit versprochen. Und ich halte mein Wort!“

Zögernd blickt Mila wieder auf. Ein erleichtertes Lächeln macht ihr trauriges Gesicht mit den schwarz umrandeten Augen etwas weicher.

„Das ist es!“, denkt Tom. Sie wirkt unheimlich traurig oder bedrückt. Deshalb hat er es nicht übers Herz gebracht, ihr eine Abfuhr zu erteilen. Er legt den Kopf schief und mustert sie für einen Moment. Obwohl eigentlich sie ihm helfen möchte, hat er auf einmal das Gefühl, ihr einen Gefallen zu tun.

„Komm, lass uns gehen. Oder besser: rollen“, korrigiert er sich und setzt sich in Bewegung.

Mila folgt ihm stumm den Flur entlang und aus dem Haus. Draußen will sie wie selbstverständlich die Handgriffe des Rollstuhls umfassen, doch Tom bremst sie.

„Du musst mich nicht wie einen alten Opa die ganze Zeit schieben. Auf Asphalt krieg ich das ganz gut alleine hin.“

Sie lässt ihre Hände wieder sinken und schluckt.

„Sorry, ich wollte nicht …“ Sie räuspert sich. „Ich dachte, du brauchst …“ Wieder verstummt sie.

„Keine Angst, es gibt schon ein paar Situationen, in denen ich ein bisschen Hilfe brauchen kann.“ Tom lächelt sie aufmunternd an.

„Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel auf diesem fiesen Kopfsteinpflaster beim Rathaus. Oder wenn der Aufzug am Bahnhof mal wieder kaputt ist. Oder wenn beim Einkaufen alles Wichtige in den obersten Regalfächern steht.“

Mila betrachtet nachdenklich seinen rollenden Untersatz.

„Okay, dann warte ich geduldig auf meinen Einsatz.“ Sie zwinkert Tom zu und läuft los, Richtung Straßenbahn.

„Puh, das wird bestimmt noch ein Eiertanz“, denkt Tom und rollt dann schnell hinter ihr her.

Mila