Die Ente vor der Schranke - Renate Krohn - E-Book

Die Ente vor der Schranke E-Book

Renate Krohn

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Beschreibung

Wie sang Katja Ebstein 1974: Im Leben, im Leben da ist nicht alles eben … Wohl wahr. Und wenn der Stress mal wieder über uns zusammenschlägt, ist es erholsam, sich in eine wahrlich bunte Lektüre vertiefen zu können. Mal beschaulich, mal humorvoll, gleichwohl auch melancholisch. Jochen und Renate Krohn trugen Geschichten aus dem Leben zusammen, Vergangenes und Gegenwärtiges, ein bisschen Krimi – mit einem Schuss Ironie, Augenzwinkern, aber auch mit Tiefgang. Ein Lesevergnügen für geruhsame Stunden.

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Jochen Krohn *1938 in Dresden, verbrachte seine Kindheit in Potsdam. 1953 Übersiedlung nach Köln Seine Liebe fürs Schreiben entdeckte Jochen Krohn erst verhältnismäßig spät; wobei speziell kritische und romantische Gedichte, Erzählungen und Kurzgeschichten, in denen sich sowohl irreale als auch unabänderliche Gegebenheiten widerspiegeln, den Vorrang haben. Dabei wird sowohl offene als auch verdeckte Kritik an unserer Gesellschaft deutlich.

Renate Krohn *1948 in Hüls/Niederrhein geboren, übersiedelte 1968 nach Köln.

Renate Krohn liebt Deutsch, Geschichte und Geographie. Nach der Schule absolvierte sie zunächst eine kaufmännische Ausbildung. Auf dem zweiten Bildungsweg, Studium am Fernlehrinstitut in Hamburg, erlernte sie das, was sie heute gern in einer oftmals deutlichen Sprache umsetzt. Mit den Jahren entwickelte sie ein waches Auge, gepaart mit einer gehörigen Portion Ironie. Es war und ist ihr immer sehr wichtig, lebensnah und realistisch, aber keinesfalls negativ zu sein.

Inhaltsverzeichnis

Reime – das etwas andere Vorwort

Eine Karre Holz

Ein kleiner Held

Zwei feine Damen

Der weiße Auflieger

Karneval total

Das Rattennest

Die Ente vor der Schranke

Der Lohn der guten Tat

Im Kopf fängt es an

Helene und Vita

Zivilcourage

Über Zeit und Raum

King coco nuts

Jeder hat seinen Löwenzahn

Lied der Berge

Hallooo ist da jemand?

Poesie auf dem Schulhof

Das Monster – il Monstero

Das Geständnis

Aaah Busbahnhof

Fleischimport

Thomas der Chaot

Hast du auch das Fenster zu?

…und dann war da der Mann, der hat gestillt

Der unverhoffte Besuch

Die schlaue Maus

Die verpatzte Mahlzeit

Müllers Brot

März

Konsum und Diät

Basisch

Jägers Missgeschick

Abenteuer Krankheit

Dolchstoß

Das Boot

So ein Zufall

Die goldene Hochzeit

Der alte Brunnen

Mann über Bord

Ich wollte doch so gern ans Meer

Clemens Maximilian Leopold

Seele aus Glas

Louise

Eine neue Mutti

Beziehungskisten oder: Familie hat man…

Licht für Lunacittá

Leinenwechsel

Es „mai“-nachtet so sehr

Russische Weihnachten

Adeline die Eiskönigin

Modernes Gebet

Die ausgewählten Orte gibt es (fast alle) wirklich, doch die damit verbundenen Ereignisse und genannten Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Bewohnern sind absolut zufällig und von den Autoren keinesfalls beabsichtigt.

Jochen und Renate Krohn ©2018

Reime

Das etwas andere Vorwort

Jeder, der es mal probiert,

Ob Normalo oder studiert,

In Versen etwas auszusagen,

Weiß, man muss sich damit plagen.

Wenn er dann Gefallen findet,

Wie man Worte so verbindet,

Und schmunzelt man sogar beim Lesen,

So ist das doch ganz nett gewesen.

Auch könnt es im Prinzip nicht schaden,

Würd’ man über Dichters Zeilen lachen,

Denn, wie man sagt, ist das gesund,

Und macht das Wohlbefinden rund

Der Clou des Ganzen wäre wohl,

Man sich die Zeilen mehrmals holt,

Um sie gern noch mal zu lesen,

Ja dann – dann sind sie gut gewesen.

Hat man viele solcher Zeilen gefunden,

Sie zu einem Buch gebunden,

Und Leser es dann haben wollen,

Kann man dem Autor Beifall zollen.

Alles kann man nicht in Verse kleiden,

denn die Gedanken wandern weiter,

so schrieben wir Geschichten auf

mal ernst und mit ’nem lust’gen Hauch.

Ohne Krimi geht die Mimi …

Eine Karre Holz

Er wartete, bis kein Kunde mehr am Büdchen stand; die letzten Meter ging er mit seinem Fahrrad von der rechten Seite auf den Kiosk zu. Stellte es vor sich, nahm eine Tageszeitung und legte diese auf die Theke. Dann verlangte er eine Packung Kaugummi und ein Päckchen Zigaretten.

„Macht zusammen sieben Euro achtzig“, sagte Erich Soller zu seinem Kunden. Der griff langsam in die Innentasche seines Anoraks und hatte, statt der Geldbörse, plötzlich eine Pistole in der Hand. Er legte eine Plastiktüte von Aldi hin und sagte in scharfem Ton: „Mach deine Kasse leer, Opa, oder es knallt.“

Erich Soller schaute nach rechts und links – kein weiterer Kunde war zu sehen. Sonst will alle fünf Minuten jemand was von dir und jetzt…? Fehlanzeige.

Seine Kunde fuchtelte nervös mit der Waffe herum, als Soller langsam seine Kasse öffnete und den gesamten Inhalt schweren Herzens in die Tüte schob.

Mit einer schnellen Bewegung schnappte sich der Mann die Tüte, setzte sich auf sein Rad und trat fest in die Pedalen.

Erich Soller war blitzschnell aus seinem Kiosk heraus und rief, lauthals: „Haltet den Dieb – da! Da vorne auf dem roten Fahrrad.“

Der Räuber war schon nicht mehr zu sehen, als Soller per Handy die Polizei informierte.

Fünf Minuten später waren zwei Streifenbeamte vor Ort, befragten Soller nach dem Aussehen des Täters, Alter und welche Farbe das Fahrrad gehabt habe.

„Mittelgroß, glattes Gesicht, rötliche Haare und ein leuchtend rotes Rad. Und“ zeigte er mit dem Arm in die Richtung, in die der Räuber verschwunden war, „dorthin ist er gefahren…“

Die beiden Beamten hatten sich Notizen gemacht und nach dem Schaden gefragt, dann machten sie sich auf den Weg in die angegebene Richtung.

„Viel Hoffnung haben wir nicht“, ließen sie den Kioskbetreiber noch wissen.

Die zwei Streifenpolizisten Hans Ebers und Lothar Helle fuhren kreuz und quer durch die Straßen; kein rotes Rad, kein Mann mit einer Aldi-Tüte. Lediglich an einem alten Mann mit seiner Karre, auf dem er Abfallholz transportierte, fuhren sie vorbei. Zurück auf dem Revier schrieben sie ihren Bericht und legten ihn in die Mappe der unerledigten Fälle.

*

Zwei Tage später meldete sich ein Rudolf Schwab telefonisch auf dem Polizeirevier und zeigte Folgendes an: An seinem Vorgartenzaun stünde seit zwei Tagen ein knallrotes Fahrrad; zwar abgeschlossen, aber keiner kümmere sich darum.

„Ich schicke jemanden vorbei. Sagen Sie mir nur noch eben Ihre Adresse und bleiben Sie dann bitte am Ort.“

Der Beamte hatte gerade den Hörer aufgelegt, als es an die Bürotür klopfte. „Ja bitte…“ Die Tür ging auf und ein schmächtiger Junge betrat die Revierstube. „Was wünschst du?“ fragte Wachtmeister Kürbis den Kleinen.

„Ich möchte eine Anzeige machen“, erwiderte er und legte gleichzeitig ein Papier auf die Barriere.

Kürbis, öfter missgelaunt, weil er mit seinem Namen nicht unbedingt glücklich war, erhob sich von seinem Stuhl und schaute das Papier an.

„Man hat mir vor zwei Tagen mein neues Rad geklaut – das war ein Geburtstagsgeschenk…“

„Na, so ein Zufall“, meinte der Wachtmeister und sah den Jungen an.

Das Papier war ein Fahrradpass und sogar mit einer, von der Polizei registrierten Nummer. Thomas Singer, so hieß der Kleine, schaute den Polizisten an und verstand gar nichts. „Ja, dann wollen wir mal!“ Sprachs und ging zum Telefon. Wenige Minuten später kamen zwei Beamte ins Büro und fragten ihren Kollegen, was anstünde.

„Ihr fahrt doch diese Woche den Kastenwagen?“, fragte Kürbis.

„Ja – und?“

Er drückte den beiden die Notiz mit Rudolf Schwabs Adresse in die Hand. „Fahrt doch bitte da mal hin und nehmt den Jungen gleich mit.“

Thomas wurde blass um die Nase. „Ich habe doch gar nichts Unrechtes getan! Ich wollte doch nur melden, dass mein Fahrrad gestohlen wurde!“

„Nun hab’ mal keine Angst. Du fährst jetzt im Polizeiauto mit den beiden netten Polizisten mit. Gerade, bevor du hier rein kamst, hatte ich nämlich einen Anruf. Da meldete ein Bürger, dass bei ihm seit zwei Tagen ein herrenloses, rotes Fahrrad am Gartenzaun abgestellt sei. Vielleicht ist es ja sogar deines? Dann werden wir es nach Fingerabdrücken untersuchen und dir anschließend gleich zurückgeben.“

Anhand des Fahrradpasses konnten die Beamten das Rad einwandfrei identifizieren; es war tatsächlich Thomas Singers Rad.

„Wir nehmen das Fahrrad jetzt mit, damit unser Spurensucher etwas Arbeit bekommt. Sollen wir dich noch schnell nach Hause bringen?“

„Nein danke… ich bin mit dem Rad meines Vaters zum Revier gekommen und das muss ich erst abholen.“

„Okay, dann rufen wir dich morgen an. Wenn die Kollegen mit der Untersuchung fertig sind, kannst du es wieder zurück haben.“

*

Hans Ebers arbeitete in dieser Woche mit einer Kollegin zusammen; sie kamen im Verlauf ihrer Spätschicht gerade von einer Runde zurück. Evi Herz war neu im Revier, deshalb hatte man ihr einen erfahrenen Kollegen zur Seite gestellt. Sie hatten sich gerade einen Becher Kaffee am Automaten geholt als das Funkgerät piepte. „Ja – hier Wachtmeister Ebers beim Pause machen…“

„Pause sofort abbrechen!“ kam es vom anderen Ende. „In der Gartenstraße wurde soeben mal wieder ein Büdchen überfallen; dafür bist du doch Spezialist! Macht Euch auf den Weg, bevor es ganz dunkel wird.“

„Hast du irgendwelche Anhaltspunkte? Was hat der Besitzer gesagt?“

„Nicht viel; der ist total nervös. …nur soviel: ein etwa vierzigjähriger Mann mit einem qietschgelben Rad soll es gewesen sein.“

Ebers und Herz machten sich auf den Weg. Während er mit dem Streifenwagen vom Hof fuhr, bemerkte er zu Evi: „Achte mal darauf, ob eventuell irgendwo ein gelbes Rad abgestellt ist. Beim letzten Überfall war es ein rotes. Der Dieb hatte es vorher gestohlen und dann einfach irgendwo hingestellt, bevor er verschwand.

Kurz bevor sie in die Gartenstraße einbiegen mussten, kam ihnen in einem Affenzahn ein Radfahrer entgegen. „He…! War das nicht ein gelbes Fahrrad?“

„Halt dich fest!“, rief Ebers, „ich drehe!“

Fast hätte er auf der anderen Seite noch die Laterne mitgenommen. Doch so scharf sie ihre Augen auch wandern ließen – der Fahrradfahrer war weg. „Ein Stück weiter vor geht es in einen Waldweg, da kannst du wieder drehen“, wies Evi ihren Kollegen an.

Ebers fuhr in den Weg hinein und wollte gerade den Rückwärtsgang einlegen, als er stutzte. „Sieh mal da vorne… Da schiebt jemand eine Karre mit Holz. Da stimmt doch was nicht! Solch eine Karre war beim letzten Bruch in ein Büdchen auch in der Nähe. Das gucken wir uns mal näher an“, und fuhr weiter. Sie überholten den Mann, setzten ihren Wagen quer vor ihn und stiegen aus. Der Mann war so um die Sechzig und hatte schon keine Haare mehr auf dem Kopf. Er war sehr erstaunt, als die Polizei ihn anhielt und Einsicht in seine Papiere verlangte. Die Polizistin ging mit den Dokumenten zum Wagen, während Ebers den Mann anwies, sein Holz abzuladen. Evi Herz kam zurück als die beiden Männer vor dem nun leeren Wägelchen standen. Sie schaute ihren Kollegen an und schüttelte den Kopf. Ebers ließ den Mann das Holz wieder aufladen; außer eben diesen Kloben war nichts anderes auf dem Wagen zu finden.

Sie verabschiedeten sich mit den Worten: „Nichts für ungut…“ Dass die beiden da so eine Idee hatten, erzählten sie dem Mann nicht.

Der Waldweg war zu schmal zum Drehen, deshalb fuhr Ebers das ganze Stück rückwärts wieder hinaus. „Der Büdchenbesitzer wird sicher schon denken, dass die Polizei sich entweder mal wieder viel Zeit lässt oder gleich gar nicht erst kommt.“ Damit gab er Gas.

Vor Ort stellte sich dann heraus, dass es wohl wirklich wieder der gleiche Räuber gewesen sein musste. Es passte alles. Die Beschreibung: rötliches Haar, glattes Gesicht und ein auffallend lackiertes Fahrrad.

Eines kam diesmal jedoch hinzu. Der Verkäufer hatte an der linken Hand des Mannes etwas bemerkt. Obwohl dieser Handschuhe trug, konnte man feststellen, dass ganz offensichtlich der kleine Finger fehlte.

Evi und Hans baten den Büdchenbesitzer für den nächsten Tag zum Revier, um das Protokoll zu unterschreiben. Dann verabschiedeten sie sich und stiegen in ihr Auto. Während der Fahrt geisterte Hans Ebers immer noch der alte Mann mit dem Holz durch den Kopf. Er sagte aber nichts.

*

Sie fuhren wieder gemeinsam Streife. Wachtmeister Ebers und Helle. Heute hatte man ihnen das Revier am Stadtpark und um den Sportplatz zugewiesen. Sie kannten sich hier aus; gingen doch beide schon mal zusammen auf den Fußballplatz, wenn ihr Heimatverein kickte und sie nicht gerade Dienst schoben. Als ob das Auto programmiert sei, bogen sie links in die Stichstraße ein. Dort wollten sie sich am Kiosk eine Currywurst genehmigen. Von Kalli, wie ihn hier alle nannten, wurden sie mit den Worten begrüßt: „Hallo – wie immer?“

„Ja“, kam es wie aus einem Mund.

Während die Wurst brutzelte, unterhielten sie sich über dies und das. Kalli fragte, ob sie denn schon etwas von dem Büdchenräuber gehört hätten. „Leider noch nicht“, bekam er zur Antwort. „Pass bloß auf, dass der nicht auch noch bei dir auftaucht“, witzelte Lothar.

„Das soll er mal probieren!“ Kalli griff neben die Kasse und zeigte den beiden einen dicken Knüppel. „So schnell kann der Bursche gar nicht gucken, wie der einen auf der Rübe hat!“

„Ja“, grinste Hans, „und dann müssen wir dich wegen Totschlags einbuchten…“

„Von wegen! Das ist Notwehr – ich lasse mich doch nicht erschießen!“

Inzwischen war die Currywurst vertilgt; sie bezahlten und verabschiedeten sich, nicht ohne mit Kalli das Ergebnis des nächsten Spiels zu tippen.

Das Funkgerät blieb ruhig und sie setzten ihre Runde fort. Jetzt fuhr Lothar; sie wechselten sich immer ab; so wurden die Aufgaben während der Schicht gleichmäßig verteilt. Gerade waren sie an der Umzäunung des Stadtparks angelangt, als Hans rief: „Mensch Lothar – sieh mal da vorne… Halt mal an!“

„Was ist los?“

„Da guck – siehst du die Karre mit dem Holz?“

„Ja und?“

„Erinnerst du dich nicht? Unser erster Überfall alter Mann mit Holz; zweiter Überfall: alter Mann mit Holz. Das ist bestimmt kein Zufall, das sage ich dir.“

Sie hielten neben der Karre und stiegen aus. „Ganz normales Holz“ bemerkte Lothar.

Hans hatte bereits die ersten Stücke in der Hand und begann, das Holz abzuladen. Er hatte es fast geschafft, als er seinem Kollegen ein Stück entgegen hielt. „Und was soll ich damit?“, fragte der.

„Nun nimm es schon in die Hand“, moserte Hans.

Lothar streckte die Hände aus und übernahm das Stück. „Das ist aber leichtes Holz, fast wie Bambus. Hatte ich mal in meinem Urlaub in der Hand; das ist nämlich innen hohl.“

„Hohl…! Mensch Hans, ich glaube ich spinne. Das sieht nur aus wie Holz, angemalt wie Baumrinde. Ein Kunststoffrohr von beiden Seiten mit einer Astscheibe verschlossen.“

„Das ist ja ein Ding! Und jetzt?“

Hans hatte eine Idee. „Das Holz laden wir wieder auf; das Rohr nehmen wir mit. Ich rede gleich mal mit dem Boss. Der soll eine Zivilstreife hier in der Nähe parken lassen; mir schwant, es steckt nichts Gutes dahinter.“

Als die Kollegen in Zivil ankamen, stand die Karre Holz wieder da wie zuvor. Beide informierten die Kollegen, um was es ging und verschwanden mit ihrem Polizeiauto um die nächste Ecke. In einer schlecht einsehbaren Toreinfahrt machten sie sich unsichtbar und warteten. Sie mussten eine Menge Geduld aufbringen; doch nach ungefähr einundeinhalb Stunden knarrte ihr Funkgerät. Ebers nahm ab. „Ja bitte“.

„Eine Person auf einem gelben Fahrrad nähert sich und hält an dem Holzkarren an. Jetzt greift er zu und wirft alles auf den Boden. Zieht sich eine Maske vom Kopf, schaut sich nach allen Seiten um, stopft dieses Teil in eine Tüte und die steckt er nun in den Abfallcontainer. Jetzt setzt er sich aufs Rad und kommt in Eure Richtung. Ende!“

„Danke, stellt bitte die Maske und die Tüte sicher. Ende!“

Die beiden Beamten wären besser mit einem Fahrrad ausgestattet gewesen statt in ihrem Streifenwagen zu warten; doch hinterher ist man immer klüger. Hans und Lothar kamen gerade aus der Einfahrt auf die Straße, als auf der Querstraße ein gelbes Fahrrad vorbei flitzte. Als sie an der Ecke ankamen, blicken sie sich rechts und links um – doch es war nichts mehr zu sehen. „So ein Mist…! So nah dran! Hätten wir doch die Kollegen gleich zugreifen lassen. Wäre es der Falsche gewesen, hätten wir uns halt entschuldigt, aber nun?“

Sie fuhren noch mal die Umgebung ab, doch der Radler blieb verschwunden.

*

Das war nun schon der dritte Überfall in den letzten sechs Wochen. Trotz einer Anzeige in der Zeitung, besondere Vorsicht walten zu lassen, passierte es wieder. Der Mann musste sich gut auskennen in der Stadt; vielleicht wohnte er sogar irgendwo in der Nähe. Hauptkommissar Fritz Habicht ließ sich noch mal die Berichte bringen und verzog sich damit in eine Ecke der Cafeteria. Im zweiten Bericht fiel ihm etwas auf. Ebers und Herz kontrollierten auf einem Waldweg einen älteren Mann, der Holz auf einer Karre geladen hatte. Der muss doch…? Na klar! Der muss einen Schein vom zuständigen Förster gehabt haben. Mit dem Finger ging er Zeile für Zeile durch. Da stand doch was! Genehmigung zum Sammeln von drei Kubikmeter gefallenem Holz. Name, Anschrift sowie Stempel, Unterschrift und Gebühr bezahlt.

Hauptkommissar Habicht schnappte sich die Unterlagen und ging wieder an seinen Schreibtisch. Dann griff er zum Telefon und rief seine beiden Profis – Hans Ebers und Lothar Helle – zu sich. In Erwartung eines Anpfiffs klopften sie zaghaft an die Bürotür ihres Chefs. „Kommen Sie rein!“

Als beide vor dem Schreibtisch standen, schob Habicht ihnen den Bericht hin und fragte: „Fällt Ihnen da etwas auf?“

Beide lasen ihn nochmals Zeile für Zeile, obwohl sie genau wussten, was sie zu Protokoll gegeben hatten. Am Ende des Berichtes schüttelten sie den Kopf.

„Na, dann will ich Ihnen mal auf die Sprünge helfen. Was halten Sie davon, die Försterei zu besuchen, die dem Herrn… – wie hieß der doch gleich… Kaskowsky, den Holzschein ausgestellt hat. Vielleicht hat der Mann dort ja sein richtiges Gesicht gezeigt. Erst zum Förster und dann zu dem Wohnort dieses zweifelhaften Subjektes. Und… danach bringt Ihr den Mann am besten gleich mit!“

Beide bekamen rote Ohren, daran hatte keiner gedacht.

Als die Beamten an der Forststelle vorfuhren, stand der Förster vor seinem Auto und wollte gerade einsteigen. „Nanu? was verschafft mir das Vergnügen eines Polizeibesuches am frühen Vormittag?“

Hans Ebers trug dem Forstmann ihr Anliegen vor und wartete gespannt auf dessen Antwort.

„Ja, ich erinnere mich. Der ältere Mann kommt jedes Jahr; hat so eine alte Kate am Stadtrand. Wasser und Strom hat er wohl, aber keine Heizung; außer einem gusseisernen Ofen, wie er mir sagte. Was ist mit dem Mann?“

Lothar Helle schaltete sich ein. „Wir haben da einen Verdacht. Gestern wurde so ein zweirädriger Karren, mit Holz beladen, aufgefunden.

Als dann die beiden wieder im Auto saßen, fragte Lothar seinen Kollegen: „Wo ist das eigentlich am Stadtrand?“

Ebers kramte schon den Stadtplan aus dem Handschuhfach. Nach einer Weile sagte er zu dem am Steuer sitzenden Lothar: „Fahr mal Richtung Bahnhof; ich meine den Güterbahnhof; da muss das irgendwo sein.“

Ganz am Ende der Gleisanlagen wurden sie fündig. In einem verwilderten Garten stand wirklich ein Minihaus. „Das kann doch bloß ein Zimmer haben, so klein ist das“ sagte Hans zu Lothar, der schon im Begriff war, auszusteigen. „Aber eine Klingel hat er – hoffentlich tut sie’s auch.“

Der schrille Ton bestätigte dies; danach öffnete sich das kleine vergitterte Guckfenster in der Tür und eine Kinderstimme sagte:

„Mein Opa ist nicht zu Hause. Er hat einen Auftrag bekommen, der muss Geld verdienen.“

Die beiden Polizisten guckten sich vielsagend an. „Wann kommt denn dein Opa wieder? Können wir warten?“

„Ich darf keinem die Tür aufmachen“, antwortete der Steppke, „und sagen soll ich, wenn jemand fragt, er soll noch mal wiederkommen. Sonst nix.“ Dann schloss er die Klappe und verschwand.

Kollege Helle ging schon zum Auto als Ebers noch eine Runde ums Haus drehte. Als sie dann beide im Wagen saßen, fragte Lothar seinen Partner: „Was hast du gesucht?“

„Mir ist aufgefallen, dass weder die Karre, noch irgendwo Holz gestapelt ist. Komisch.“

„Sehr komisch.“

Nach einer kurzen Frage im Revier, wie sie sich weiter verhalten sollten, wurden sie zurück beordert und mit einem Durchsuchungsbeschluss ausgestattet.

*

Das Kollegenpaar Müller und Meier, bei allen MM genannt, wurde wieder mit der Beobachtung des Hauses beauftragt. Als sie an dem Objekt ankamen, suchten sie sich ein Plätzchen, an dem sie nicht gleich gesehen wurden und warteten. Es ging auf achtzehn Uhr zu als ein älterer Mann mit einem, scheinbar schweren, Rucksack angetrottet kam. Sie warteten noch, bis er am Haus angekommen war und sich die Tür öffnete, dann stiegen sie aus. Sie gingen die wenigen Schritte zu Fuß und klingelten. Das Fensterchen ging wieder auf und die Kinderstimme fragte, was sie denn wünschten. „Wir möchten zu Herrn Lukas Kaskowsky.

Ist er zu Hause?“, frage Müller.

Das Gesicht verschwand und sie hörten: „Opa, Opa – da sind zwei Männer, die wollen zu dir.“

„Moment bitte; ich bin auf der Toilette“, rief eine tiefe Stimme zurück.

Wenige Minuten später stand er in der Tür und fragte die beiden Besucher nach ihrem Begehr. Diese wiesen sich aus und zeigten ihm das Schreiben, das ihnen den Zutritt zur Wohnung erlaubte. Gar nicht erstaunt öffnete Lukas Kaskowsky die Tür und bat die Beamten herein.

Die wiederum waren überrascht, ein ordentliches Zimmer vorzufinden.

Eine kleine Ecke war als Kochnische abgeteilt, in einer anderen Ecke ging eine schmale Stiege nach oben. Meier ging in diese Richtung und setzte gerade den Fuß auf erste Stufe, als ein lautes Halt ertönte. Meier zuckte richtig zusammen und blieb stehen. „Stoßen Sie sich nicht den Kopf; diese Stiege ist nur für kleine Menschen gemacht“ grinste Kaskowsky.

Oben angekommen sah Meier sich im Schlafraum um. Wo unten die Toilette, war hier oben der Duschraum montiert.

Inzwischen hatte sich Müller unten umgesehen und fragte gerade, ob er denn mal einen Blick in den Rucksack werfen dürfe. „Aber bitteschön, bedienen Sie sich.“

Die Überraschung war perfekt; der ganze Rucksack voll geschnittener Holzscheite!

Bis auf seinen Enkel sagte bei der ganzen Aktion niemand ein Wort. Dieser fragte: „Opa, was suchen die beiden Fremden eigentlich bei dir?“

„Weißt du Uli, ich glaube, die sind auf der falschen Fährte. Die suchen vermutlich meinen Zwillingsbruder – den alten Gauner.“

Kommissar Müller drehte sich ruckartig um. „Was sagten sie gerade?“

„Ich sprach von meinem Bruder, der sieht fast genauso aus wie ich. Wir sind eineiige Zwillinge. Als der vor langer Zeit auf die schiefe Bahn kam und sich nicht helfen lassen wollte, habe ich den Namen meiner, leider verstorbenen, Frau angenommen. Mein Bruder heißt Emanuel Krüger.

Wo der wohnt, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Was hat der denn wieder angestellt?“

Müller ging auf diese Frage nicht ein, fragte aber seinerseits: „Was arbeiten Sie eigentlich?“

„Ich bin seit zwei Monaten Rentner und da ich von Beruf Gärtner bin, arbeite ich noch etwas nebenbei. Schneide Hecken bei Bekannten, das angefallene Holz lagern die Leute und ich hole es mir bei Bedarf ab… Wie Sie an meinem Rucksack gesehen haben.“

Nun berichtete Meier, der vorsichtig von oben herunter gekommen war, was sich in den letzten Wochen ereignet hatte. „Ihr Bruder muss wissen, dass Sie weiter in Ihrem Beruf arbeiten und das anfallende Holz verwerten. Er hat sich wahrscheinlich ihrer beider Ähnlichkeit zunutze gemacht und unter Ihrem Namen einen Holzschein beim Förster besorgt.“

„Was?! Das ist ja die Höhe“, erzürnte sich Lukas.

„Dann hat er vor seinen Raubzügen in der Nähe seines auserkorenen Objektes eine Karre mit Holz deponiert. Zweitens ein Rad gestohlen; seine Tat begangen, mit dem Rad zu der Holzkarre gefahren und damit dann seelenruhig weitergegangen. Das Rad blieb zurück. Erst als ein paar Kollegen am Straßenrand die herrenlose Karre stehen sahen und sie näher unter…“ Weiter kam er nicht; sein Funkgerät krächzte. Er drückte auf die Sprechtaste, „Ja bitte?“

„Aktion abbrechen. Täter gefasst. Ende!“

Die beiden Beamten entschuldigten sich wortreich bei Lukas Kaskowsky, baten ihn aber, dennoch am nächsten Tag zum Revier zu kommen.

Auch Uli gaben sie die Hand und lobten ihn für sein vorbildliches Verhalten, keinen Fremden in die Wohnung zu lassen. Der wird das sicherlich sofort seinen Eltern erzählen, wenn diese von ihrer Reise zurückkommen, dachte er.

*

Dieses Mal hatte der Räuber schlechte Karten. Else Liebig betrieb ihre Trinkhalle an einer belebten Straßenkreuzung. Fünfhundert Meter weiter war auch eine Grundschule angesiedelt; so hatte sie täglich viele Kunden und gute Einnahmen. Auch Else hatte von den Überfällen auf die Büdchen gehört und zusätzliche Vorbereitungen getroffen. Ihr sollte nicht passieren, dass ihr jemand die Einnahmen stahl.

Als ein Mann mit einem Fahrrad an ihrer Verkaufsstelle erschien, wurde sie ganz wachsam. Sie beugte sich etwas zurück und betätigte einen Hebel. Der Mann verlangte die Tageszeitung und ein Päckchen Zigaretten sowie einen Flachmann. (Für Uneingeweihte: das ist eine Taschenflasche Schnaps!)

Else legte das Gewünschte auf den Tresen und nannte den Preis. Der Kunde fasste mit der rechten Hand, an der er einen Handschuh trug, in die Jackentasche. Statt der Geldbörse hielt er eine Pistole in der Hand.

„Geld her oder es knallt! Aber ein bisschen dalli!“

„Komm rein, wenn du Geld willst – die Tür ist offen. Oder… verschwinde!“

Sie trat noch einen Schritt zurück, so dass der Räuber sich schon ins Fenster legen musste, um sie zu treffen. Tatsächlich ging er um den Kiosk herum und fand die Tür. Seine linke Hand drehte an dem Knauf und vorsichtig, immer noch die Waffe in der Hand, setzte er den rechten Fuß zuerst in den Raum. Als er das zweite Bein nachzog, passierte es. Eine vierzigmal vierzig Zentimeter große Holzbohle sauste von oben auf seinen Kopf hernieder. Das war nicht tödlich, doch er blieb Else Liebig zu Füßen liegen. Schnell bückte sie sich und hob die Waffe auf; mit der anderen Hand drückte sie den Notknopf auf ihrem Handy. Dann ging alles ganz schnell. Ein Streifenwagen und ein weiteres Fahrzeug mit einem Arzt waren blitzschnell zur Stelle. Sie fanden, der Länge nach im Kiosk liegend, eine männliche Person mit rötlichem Haar und, für die scharfen Augen des Arztes, mit einem zu glatten Gesicht. Er griff nach dem Kopf, um ihn auf die Seite zu drehen, als er, ein wenig erstaunt, eine Perücke, an der eine Gesichtsmaske befestigt war, in der Hand hielt. Zum Vorschein kamen ein runzliges Gesicht und fast kein Haar mehr auf dem Kopf. Die kleine Platzwunde war schnell versorgt; wenn auch davon der Räuber wieder zu sich kam. Der Arzt nahm noch vor Ort eine Blutprobe; hatte er doch ein wenig Alkohol gerochen. Jetzt erst staunten die Beamten, dass eine Frau mit einem einfachen, aber wirksamen Trick, den Gauner zur Strecke brachte. Sie nahmen ihn in die Mitte, verfrachteten ihn ins Auto und fuhren zum Revier zurück.

Bei der späteren Vernehmung gab Emanuel Krüger zu, der Bruder von Lukas Kaskowsky zu sein, den er überhaupt nicht leiden konnte. „Diesen Besserwisser“, wie er sagte.“

Der Holzschein beim Förster war eine gute Täuschung; in der Fuhre Holz befand sich dann ein Kunststoffrohr, in das er nach dem Überfall das Geld, die Perücke und die schwarze Kunststoffjacke stopfte, um dann damit in aller Ruhe zu entkommen. Die beiden Beamten, die damals Verdacht schöpften und mich beim ersten Mal das Holz selbst abladen ließen, konnten so nicht bemerken, dass ein Stamm hohl war.“

Inzwischen traf auch das Ergebnis der Blutprobe ein. Nicht nur, dass man fast drei Promille Alkohol feststellte, nein, obendrein wurden auch Heroinrückstände gefunden. Das war Krügers Grund, sich auf diese Weise Geld zu beschaffen.

Nach einer Entziehungskur fand Emanuel Krüger einen milden Richter. Eineinhalb Jahre Gefängnis wurden zur Bewährung ausgesetzt; zusätzlich fielen noch fünfzig Sozialstunden an. Die gestohlenen Fahrräder kamen wieder zu ihren rechtmäßigen Besitzern. Das beim Überfall sichergestellte Geld, bekamen die Kioskbetreiber ebenfalls zurück.

Als Lukas Kaskowsky am nächsten Tag aufs Revier kam, unterschrieb er nur das Protokoll; seinen Bruder jedoch wollte er nicht sehen. Tatsächlich schaffte Emanuel Krüger es, vom Rauschgift loszukommen; als dann seine Strafzeit abgelaufen und die Sozialstunden abgearbeitet waren, zog er in ein anderes Bundesland. Er wollte, trotz seines Alters, noch einmal neu beginnen. Er bekam ja nun auch Rente.

Ein kleiner Held

„Willi ...?“

„Ja, was ist denn?“

„Bringst du heute Abend bitte unseren Sohnemann ins Bett; ich habe in der Küche zu tun.“

„Ist der denn schon bettfein?“

„Ja“, antwortete seine Frau Cornelia, „er ist satt, gewaschen und steckt im Schlafanzug.“

Willi rief seinen Filius und beide marschierten in den ersten Stock, wo das Kinderzimmer lag. Peter war fünf Jahre alt und daran gewöhnt, dass ihm vor dem Schlafengehen eine Geschichte vorgelesen wurde.

„Papa ... liest du mir auch eine Geschichte vor? Mutti macht das immer.“

„Welche denn?“, fragte Willi zurück.

„Ich weiß nicht, eigentlich kenne ich schon alle Geschichten aus den Büchern, die bei mir im Regal stehen.“

„Na gut“, meinte Willi, „dann erzähle ich dir eben eine schöne Geschichte.“

Ein kleiner Junge, ungefähr so alt wie du, fuhr mit seiner Mutti in der Eisenbahn. Schon im Bahnhof war er ganz aufgeregt. Zum ersten Mal sah er so viele Menschen auf einen Haufen. „Mutti“, fragte er, „wollen all diese Leute mit in unserem Zug fahren?“

„Ja“, sagte sie, „doch keine Angst, wir haben zwei Sitzplätze reserviert.

Die nimmt uns keiner weg.“

Als der Zug nun kam und hielt, stiegen sie ein und fanden auch ihre Plätze. Als die Eisenbahn schon eine ganze Weile unterwegs war und das Aus-dem-Fenster-gucken keinen Spaß mehr machte, krabbelte der Junge von seinem Sitz. Gerade als er seine Mutti fragen wollte, ob sie mit ihm etwas im Zug spazieren ging, sah er, dass sie eingeschlafen war.

Also ging er dann allein auf Erkundungstour. Schaute in jedes Abteil, spielte hier und da mit anderen Kindern und wanderte dabei immer weiter. Plötzlich war der Zug zu Ende und ein fremder Mann fragte ihn:

„Na, wo willst du denn hin?“

„Meine Mutti schläft im Abteil und ich wollte mir den Zug ansehen. Ich bin nämlich noch nie in einem so langen Zug gefahren! Außerdem suche ich ein Klo – ich muss mal.“

„Da kann ich dir weiterhelfen“, sagte der Fremde, „gleich um die Ecke, da ist eins. Ich war auch gerade dort.“

Der Junge bedankte sich artig und ging durch die angezeigte Tür. Als er fertig war und auf den Spülknopf drückte, sah er auf der Erde eine kleine Tasche stehen. Die hat bestimmt der Mann vergessen, der mir das Klo gezeigt hat, dachte er und wollte sie aufheben. Da hörte er seine Mutti rufen. Sie war aufgewacht und hatte ihren Sohn vermisst. Schnell machte er die Tür zu und lief ihr entgegen. Im Abteil erzählte er von der Tasche in der Zugtoilette und, dass vor ihm ein Mann heraus gekommen sei, der sie sicher stehen gelassen hatte. Als ein paar Minuten später der Schaffner vorbei kam, berichteten sie ihm die Geschichte. Der Schaffner informierte den Lokführer, der telefonierte mit der Zentrale und nach einer viertel Stunde quietschten die Bremsen. Der Zug hielt auf offener Strekke an. Plötzlich wimmelte es von Polizei und alle Passagiere mussten den Zug verlassen. Später hörten sie, dass in der Tasche Sprengstoff gefunden wurde. Der kleine Junge hatte mit seiner Aufmerksamkeit sicherlich Schlimmeres verhindert. Zum Dank durfte er bei seiner nächsten Eisenbahnfahrt vorne beim Lokführer mitfahren.

„Das war aber eine spannende Geschichte!“ Peter blinzelte schon mit den Augen und war kurz darauf eingeschlafen. Bevor Willi und Cornelia schlafen gingen, schauten sie noch einmal nach ihrem Sohn. Sie hörten ihn im Traum mit dem Lokführer sprechen.

Zwei feine Damen

Susanne und Carsten saßen im Wohnzimmer beim Abendbrot; der Flimmerkasten lief ausnahmsweise einmal. Eine Sendung über Sibirien wollten sie nicht verpassen, hatten sie doch in früheren Jahren Moskau und Sankt Petersburg besucht. Sie erinnerten sich an die herrlichen Bauten, den Kreml, die Museen und nährten eine heimliche Sehnsucht nach der unendlichen Weite dieses Landes.

Es war Herbst und die ersten Stürme zerrten an den frisch gepflanzten Bäumchen im Garten. Gut, dass wir sie mit Holzpflöcken gesichert haben, dachte Carsten mit einem Blick aus dem Fenster.

Sie wohnten erst seit zwei Jahren in Opladen; als die Reihenhäuser an der Lützenkirchener Straße gebaut wurden, griffen sie zu. An und für sich wollten sie nie Eigentum haben. Doch die Wohnung, in der sie seit zwanzig Jahren daheim waren, wurde verkauft. Der neue Eigentümer war offensichtlich nur auf das schnelle Geld aus; die Mieterhöhungen nahmen kein Ende.

Da traf es sich gut, dass Susanne eine kleine Erbschaft von einer entfernten Verwandten bekam. Zusammen mit ihrem Ersparten, reichte es für zwei Drittel der Finanzierung. Den Rest wickelten sie über ihre Bank ab; so hielt sich die Abtragung in Grenzen.

Gerade erzählte der Moderator von den in ärmlichen Verhältnissen lebenden Menschen, die seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion weder geregelte Arbeit, noch den entsprechenden Lohn bekamen, als vor dem Haus Lärm entstand.

„Seit wann fahren denn durch unsere Straße LKWs?“, fragte Susanne kauend.

Carsten zuckte die Achseln. „Vielleicht hat sich mal wieder jemand verfahren.“

Susanne stand auf und ging in die Küche, um aus dem Fenster zu sehen.

Ein riesiger Möbelwagen stand mit laufendem Motor dort; der Fahrer war ausgestiegen und fragte den Nachbarn, der in seinem Vorgarten arbeitete, irgendetwas. Ob die endlich das Nachbarhaus verkauft haben, dachte sie und ging zurück ins Wohnzimmer, um ihrem Mann zu berichten, wer da draußen den Krach veranstaltete.

Tatsächlich zogen Leute in das Haus neben Susanne und Carsten Faust.

Seit die Reihenhäuser fertig gestellt waren, stand das Eckhaus leer. Es wurde weder geheizt, noch tat jemand etwas an den Außenanlagen. Trotz Isolierung zwischen den einzelnen Einheiten, merkten sie am Energieverbrauch den Leerstand des Nachbarhauses. Es ist ja auch nicht gerade vorteilhaft“, resümierte Carsten. „Eckgrundstück, dreimal Anliegergebühren und die Kosten für die Begrenzung sind auch entsprechend höher.

Außerdem führt der Weg zum Einkaufscenter ebenfalls an dem Grundstück vorbei.

„Gut, dass es nicht regnet“, meinte Susanne, die sich erst einmal wieder setzte, um das restliche Abendessen zu verzehren.

„Wieso…? Ach ja, wegen des Einzugs meinst du!“

„Hoffentlich sind es nette Leute. Gesehen habe ich allerdings noch Niemanden.“

„Die werden sich in den nächsten Tagen sicher vorstellen“, murmelte Carsten.

Nachdem sie ihre Mahlzeit beendet hatten, warteten sie noch das Ende der Sendung ab, beseitigten die Spuren des Abendbrotes und brachten das Geschirr in die Küche. Vom Fenster aus beobachteten sie die fleißig schleppenden Möbelpacker. Susanne und Carsten waren gerade dabei, sich anzuziehen, um noch eine Runde zu drehen, als es an der Haustür schellte. Susanne öffnete und sah sich zwei Damen mittleren Alters gegenüber. „Hallo; guten Abend – wir sind Ihre neuen Nachbarn. Aber … lassen Sie sich bitte nicht aufhalten.“

„Kein Problem“, antwortete Carsten, „wir wollten nur unseren üblichen Spaziergang machen.“

„Das trifft sich gut. Wir sind Elke und Vita Dünn und wollten neben unserer Vorstellung auch eine Entschuldigung anbringen wegen des Lärms, der beim Aufstellen der Möbel entstehen wird. Und… ein paar Löcher müssen auch noch gebohrt werden. Wenn wir in den nächsten Tagen fertig sind, werden wir Sie einmal zum Kaffee bitten.“ Damit verabschiedeten sie sich und die beiden Faust’s traten ihren Rundgang an. Als sie nach eineinhalb Stunden zurückkamen, war der Möbelwagen verschwunden.

„Was war das eigentlich für ein komisches Kennzeichen an dem Möbelwagen? PM – TM 077?“, fragte Susanne.

Sie machten es sich mit einem Glas Roten noch ein Stündchen bequem.

Von den neuen Nachbarn war nichts zu hören. Sie hatten wohl ihre ruhestörenden Arbeiten erledigt.

*

In den kommenden Tagen wurde das gesamte Grundstück umgegraben und eingezäunt. An der Seite zum Weg stellten Arbeiter des Gartencenters eine Art Laube auf und pflanzten ein paar kleine Bäume. Danach beobachteten Susanne und Carsten, dass Gras eingesät wurde. Als sie von einem Wochenendbesuch bei ihren Eltern heimkamen, staunten sie nicht schlecht. Am Zaun entlang war ein Erdwall aufgeschüttet und darauf eine Hecke gepflanzt.

„An Geldmangel scheinen die beiden Damen nicht zu leiden“, meinte Susanne.

„Vielleicht besaßen sie da, wo sie zu Hause waren, Grund und Boden.

Oder ihre Männer, so sie denn welche hatten, hinterließen ihnen gute Lebensversicherungen…“, entgegnete Carsten.

„Ist ja auch egal“, murmelte Susanne, „Hauptsache sie sind verträglich.“

Wieder acht Tage später, luden die beiden Nachbarinnen sie zu dem versprochenen Kaffee ein und bei der Gelegenheit durften sie das Haus besichtigen. Im Verlauf eines netten Gesprächs erfuhren die Eheleute Faust, dass sie mit ihren Vermutungen gar nicht so falsch lagen. Die zwei Damen waren Schwestern, deren Ehemänner bei einer Bergwanderung im Harz ums Leben kamen. Beide Herren hatten unbekanntes Terrain betreten, obwohl auf dem Weg ein Warnschild gestanden haben soll:

Vorsicht Forstarbeiten – Lebensgefahr, waren sie weiter gegangen und ein umstürzender Baum wurde ihnen zum Schicksal.

*

Die Schwestern hatten sich eingelebt. Elke meinte zu Vita: „Unsere direkten Nachbarn scheinen ganz ruhige Vertreter zu sein.“

„Ich meine auch; sie sind keine Topfgucker und lassen einen in Ruhe. In den nächsten Tagen werde ich sie mal fragen, ob sie einen Landschaftsgärtner hier in der Gegend kennen.“

„Wieso – warum?“

„Schau mal aus dem Wohnzimmerfenster; was siehst du da?“

Vita guckte in den Garten. „Also ich sehe frisch gepflanzte Bäume, eine junge Birkenhecke und die ersten Grashalme aus der Erde sprießen.“

„Genau das ist der Punkt“, antwortete Elke. „Wenn wir an unser Gartenhaus wollen, treten wir den schönen neuen Rasen platt. Wir müssen einen schmalen Weg mit schönen Steinen legen lassen. Dann können wir daran denken, auch mal wieder ein männliches Wesen einzuladen.“

„Das ist wahr“, kicherte Vita, „Daran habe ich im Moment gar nicht gedacht…“

Vierzehn Tage später war der Weg fertig. In einem geschwungenen „S“ führte nun ein Pfad aus fast weißen Steinen von der Terrasse zum Gartenhaus, um das inzwischen einige Wachholdersträucher gepflanzt waren. Es hatte geregnet und der Rasen rechts und links erholte sich langsam wieder.

Carsten kam von der Arbeit heim, stellte sein Fahrrad in die Garage und wunderte sich über die große Limousine vor dem Haus der neuen Nachbarn. So was Schickes kann ich mir nicht leisten, dachte er auf dem Weg zur Haustür und so ein kleines bisschen klopfte der Neid an die Gehirnpforte. Sofort rief er sich zur Ordnung… was soll denn das?

Er sprach Susanne darauf an und sie erwiderte: „Der war vor zwei Tagen schon einmal da. Fast weiße Haare, elegant angezogen. Dem Nummernschild nach zu urteilen, kommt er aus dem Bergischen. Woher die nur so schnell einen Bekannten haben?“, schob sie noch hinterher. „Geht uns ja nix an; außerdem sind Beide alt genug, um Herrenbesuche zu empfangen.“

Damit war das Thema für Susanne und Carsten erledigt und bald wurde der Anblick des schönen, großen Autos normal.

Sie konnten fast die Uhr danach stellen; alle zwei Tage, gegen siebzehn Uhr, trudelte der Besuch für die Nachbarinnen ein.

Nach dem Abendessen verzog Carsten sich in seine geliebte Sofaecke, um sich noch einmal der Tageszeitung zu widmen. Politik und Sport hatte er bereits in der Mittagspause gelesen; jetzt kam der Rest dran. Eine ganze Weile blieb es ruhig in der Wohnung, nur unterbrochen von einem leisen Klappern, das der Abwasch in der Küche verursachte. Kurze Zeit später betrat Susanne das Wohnzimmer und nahm ihre Strickarbeit wieder auf. Carsten schmunzelte und meinte etwas maliziös: „Jetzt weiß ich, warum unsere Nachbarinnen so schnell Männerbesuch haben…“

Susanne blickte hoch. „Ach ja – und warum?“

Carsten blätterte einige Seiten zurück und las vor. Unter der Rubrik Kontaktanzeigen stand folgendes: Zwei Damen mittleren Alters, vielseitig interessiert, suchen Gleichgesinnte. Schreiben Sie uns unter www … usw.“

„Seit wann liest du denn die Kontaktanzeigen? Und wieso denkst du, dass das unsere Nachbarn sind? Suchst du vielleicht was Neues… Wag dich!“

„Wo denkst du hin!!! Ich finde es nur interessant, in welch schillernden Farben und Worten sich manche Leute anpreisen.“ Um das zu unterstreichen stand er auf, nahm Susanne ganz fest in den Arm und küsste sie.

Die Überraschung blieb nicht ohne Folgen. Ein lautes Aua beendete die Zärtlichkeit; eine Stricknadel hatte sich in seinen Bauch gebohrt!

*

Weihnachten nahte und Carsten brachte am Haus die Außenbeleuchtung an. Elke und Vita Dünn begnügten sich mit einem geschmückten Baum auf der Terrasse. Sie wollen wohl keine Nadeln in der Wohnung haben, dachte er. Als er die Beiden mal vor der Tür traf, bestätigten sie ihm diese These. Während der Feiertage standen vor dem Nachbarhaus zwei Autos; ein Porsche mit Kölner Kennzeichen und ein dicker BMW mit GL - … auf dem Nummernschild. Susanne überlegte später halblaut: „Den anderen Mann gibt es wohl nicht mehr.“ Weder das Auto, noch die dazugehörende Personen hatte sie eine Weile schon nicht mehr gesehen. „Ist doch klar“, grinste Carsten daraufhin. „Ein Mann für zwei Damen – ist doch ein bisschen wenig, findest du nicht?“

„Was du immer gleich denkst“, kam es zurück.

„Was denkst du denn, was ich denke“, lachte Carsten nun laut heraus.

Sie blödelten noch eine Weile herum, dann zogen sie sich an und begaben sich auf ihren täglichen Rundgang.

Nach eineinhalb Stunden schlossen sie ihre Haustür auf und die beiden Autos waren verschwunden. Am Nachbarhaus waren bereits die Jalousien geschlossen und Carsten blickte automatisch auf seine Uhr. „Kurz vor zwanzig Uhr – ob die wohl schon schlafen?“

Susanne öffnete noch einmal den Briefkasten. Seit es mehrere Zusteller gab, war das erforderlich geworden. Sie fand aber nur einen, in aller Eile geschriebenen, Zettel und daran angeklemmt, einen kleinen Schlüssel.

Noch bevor sie ins Haus gingen, las Susanne den Text laut vor. Hallo, liebe Nachbarn. Wir sind ganz spontan drei Wochen in Urlaub gefahren. Sind Sie bitte so lieb und kümmern sich um den Briefkasten. Im Haus ist nichts zu tun; die Heizung ist zurück gedreht, alle Stecker sind gezogen und Blumen gibt es nicht. Danke! Elke und Vita Dünn.

„Das ist ja ein Ding – einfach so in Urlaub fahren. Ich möchte mal wissen, wovon die beiden Damen leben. Einer mit Gehalt verbundenen Arbeit scheinen sie nicht nachzugehen“, dachte Carsten laut.

*

Es war Mai geworden. Faustens freuten sich auf ihren Urlaub. Freunde versorgten das Haus und den Garten – es sei alles geregelt, teilten sie auch ihren Nachbarn mit. Es sollte nach Kreta gehen. Über die Insel und deren Kultur hatten sie schon viel gelesen, so dass sie es auch einmal in natura sehen wollten. Mit einem Taxi fuhren sie nach Rheindorf zur S-Bahn, dann über Düsseldorf-Hauptbahnhof weiter zum Flughafen. Einige Stunden später Landung in Herakleon und weiter mit dem Bus zur Hotelanlage. Die ersten Tage gehörten der Erholung am Strand. Bevor sie das erste Mal ins Wasser gingen, warnte man sie, unbedingt Badeschuhe anzuziehen. Nicht nur wegen des felsigen Untergrundes, vor allem wegen der Seeigel. Eine Begegnung der Füße mit diesen Stacheltieren verursacht üble Wunden.

In der zweiten Woche gab es Kultur satt. Knossos, Palast von Pheistos; viele Ausgrabungen, Wanderungen im Ida-Gebirge und Besuche in verschiedenen Museen.

Viel zu schnell vergingen die drei Wochen und ab ging es schon wieder in Richtung Heimat. Am S-Bahnhof in Rheindorf bestellten sie sich ein Taxi; Susanne war in Gedanken bereits zu Hause und meinte: „Bin mal gespannt, welche Autos jetzt vor dem Nachbarhaus stehen…“

„Das ist mir eigentlich egal“, gähnte Carsten, „Hauptsache in unserem Haus und Garten ist alles in Ordnung.“

Dann kam das bestellte Taxi und zehn Minuten später standen sie vor ihrem Heim. Der Fahrer lud das Gepäck aus, nahm den Fahrpreis entgegen, drehte und fuhr davon. Susanne schaute zum Nachbarhaus. Alle Jalousien waren herunter gelassen und an der Eingangstür prangte ein großes Plakat. Mit ein paar schnellen Schritten ging sie nach rechts, um zu lesen, was da geschrieben stand. Zu verkaufen – Maklerbüro Milke, Gartenstraße… „Das ist ja ein Ding!“

„Was ist ein Ding?“, fragte Carsten und schleppte den letzten Koffer ins Haus. Susanne kam zurück. „Stell dir vor, unsere Nachbarn sind ausgezogen!“

„Was?“

„Da steht dran … zu verkaufen …“

„Das ist aber eigenartig; die wohnen doch erst ein halbes Jahr hier! Da stimmt aber was nicht.“

„Heute ist es schon zu spät. Morgen früh, wenn wir uns bei Tanja und Marc zurückmelden, werde ich sie fragen. Vielleicht wissen die etwas Näheres.“

Sie gingen beide ins Haus, packten die Koffer aus, duschten ausgiebig und ließen den Abend bei einem Glas Rotwein ausklingen, den sie als Andenken mitgebracht hatten.

*

Eine nicht allzu große Mitteilung in der Tageszeitung machte Carsten während der Mittagspause stutzig. In Brandenburg wurde nach zwei Frauen gesucht, die auf ihrem Grundstück vermutlich zwei, vorher umgebrachte, Männer unter dem Kompost vergraben hatten. Einer der Verstorbenen hatte noch eine entfernte Nichte, die sich darüber wunderte, weder Urlaubsgrüße noch Geburtstagsglückwunsche zu erhalten, obwohl ihr Onkel das nie vergaß. Der Zeitungsreporter wies daraufhin, dass die beiden Damen den Nachbarn seinerzeit erzählten, sie würden sich hier nicht mehr wohl fühlen und daraufhin seien sie mit unbekannter Adresse verzogen. Sachdienliche Hinweise …. usw. So fahndete also schon die örtliche Polizei nach ihnen. Carsten legte seine Stirn in Falten. Ob das wohl ihre Nachbarinnen …? Das waren doch so hilfsbereite Frauen?

…aber die unterschiedlichen, dicken Autos, die dann plötzlich nicht mehr kamen? Das musste er am Abend unbedingt mit Susanne besprechen. Am besten wäre es wohl, den Zeitungsausschnitt mitzunehmen und die hiesige Polizei von ihren Vermutungen in Kenntnis zu setzen.

Carsten fieberte dem Feierabend entgegen. Auf der Fahrt nach Hause fand nichts Anderes als das zum Verkauf stehende Haus und dieser Zeitungsartikel Platz in seinen Gedanken. Zu Hause angekommen, stellte er nicht, wie üblich, sein Fahrrad gleich in die Garage. Hastig schloss er die Haustür auf und rief nach Susanne: „Hast du das schon gelesen…?“

„Was soll ich gelesen haben?“, kam es aus der Küche.

„Na, in der heutigen Ausgabe der Tageszeitung!“

„Du Komiker! Wie soll ich etwas in der Zeitung gelesen haben, wenn du sie mit zur Arbeit genommen hast.“

Carsten fasste sich an die Stirn. „Klar! Wie konntest du. Entschuldige bitte.“ Dann nahm er die Zeitung und breitete sie vor Susanne aus. Nachdem sie den rot markierten Artikel gelesen hatte, entfuhr ihr: „Mensch, Mann – wenn das stimmen sollte, dann wird hier Morgen in der Früh allerhand los sein…!“

*

Mit der Zeitungsnotiz in der Tasche fuhr Carsten am nächsten Morgen zur Polizeiwache und schilderte den Beamten seine Vermutung, wobei er betonte, dass er sich darüber im Klaren sei, dass dies eine schwere Beschuldigung wäre, die ihm entsprechendes Magendrücken verursachte.

Immerhin sei es wirklich nur eine Vermutung aufgrund des sonderbaren Verhaltens dieser beiden Damen. Hendrik Schulz und Jürgen Lange, die sich nach ihrer Nachtschicht eigentlich auf ihren Feierabend vorbereiteten, guckten ziemlich müde aus der Wäsche. Sie versprachen, die Informationen an den Kollegen von der Frühschicht weiterzureichen. Damit war er zunächst entlassen und radelte zur Arbeitsstelle.

Gegen neun Uhr wurde Carsten ans Telefon gerufen. „Ja bitte?“

„Stell dir mal vor, was hier los ist!“, begann Susanne. „Drei Polizeiwagen; ein Bagger, der Makler steht mit großen Augen dabei und weiß offenbar nicht, was hier vorgeht. Das Haus und den Garten haben sie schon abgesucht. Den Bagger haben sie in der Zwischenzeit umgebaut.

Die Schaufel abmontiert und stattdessen einen Arm mit einem Haken angebracht. Damit hieven sie jetzt gerade das Gartenhaus hoch. Gefunden haben sie bisher aber wohl noch nichts…“

„Ich muss Schluss machen, Susanne, werde allerdings versuchen, im Büro freizubekommen. Die Polizei wird uns sicher ebenfalls befragen wollen. Obwohl wir fast nichts wissen. Doch dann möchte ich auch gern daheim sein.“

Susanne legte den Hörer auf und ging auf die Terrasse, um den Arbeitern weiter zuzusehen.

Jetzt schwenkte der Baggerfahrer mit seinem Ausleger langsam die Hütte zur Seite; alle standen mit aufgerissenen Mündern da! Ein riesiges Loch, so groß wie der Grundriss des Gartenhauses, tat sich vor ihnen auf. Susanne erinnerte sich an das Gespräch mit Carsten, als die Nachbarn über Nacht, beziehungsweise an einem Wochenende, am ganzen Zaun entlang einen Erdwall aufschütten ließen und sie sich wunderten, wo denn die Erde herkam. Beide hatten keinen LKW gesehen, der etwas anlieferte. In dem Loch schien auf den ersten Blick nichts feststellbar; Susanne sah, wie ein Beamter auf die wieder aufgesteckte Schaufel des Baggers kletterte und sich in die Grube absenken ließ.

Carsten hatte frei bekommen und gesellte sich zu den vielen Neugierigen, die rings um das Grundstück herumstanden. Gerade sah er, wie der Beamte das letzte Stück von der Baggerschaufel in die Grube hüpfte.

Dort, wo er landete, spritzte die Erde etwas zur Seite und eine weiße Plastikplane lugte aus dem Erdreich. Er rief seinem überirdischen Kollegen etwas zu; daraufhin reichte man ihm eine Schaufel, mit der er die restliche Erde vorsichtig zur Seite kratzte. Und die Zuschauer staunten zum zweiten Mal nicht schlecht. …drei sauber nebeneinander liegende weiße Pakete kamen zum Vorschein!

Carsten drehte sich um und ging endlich ins Haus; nicht, ohne sein geliebtes Fahrrad vorher in die Garage zu stellen.

Dieses Geschehnis stellte natürlich das Thema für den ganzen Abend zwischen Susanne und Carsten dar. Wie von ihm vermutet, tauchte die Polizei auch bei ihnen auf um zu fragen, was ihnen alles aufgefallen sei.

Ebenso erhielten sie die Aufforderung, sich am kommenden Tag im Polizeirevier einzufinden, um in Begleitung der Polizisten sich die drei Leichen in der Pathologie anzuschauen. Sie sollten eventuell bezeugen, dass die Toten die Besucher der beiden unbekannt verzogenen Damen gewesen seien und diese identifizieren.

Als die Beamten das Haus wieder verlassen hatten, meinte Susanne: „Wo mögen die bloß die Autos gelassen haben…?“

„Vielleicht haben die das ganz raffiniert angestellt und verfügen über ordentliche Papiere. Dann lassen sich solche Fahrzeuge ganz leicht verkaufen“, sinnierte Carsten vor sich hin.

„Das ist natürlich auch eine Art, sich seinen Unterhalt zu verdienen. Man lacht sich reiche, allein stehende Männer an, erleichtert sie um ihr Vermögen und bringt sie dann um die Ecke. Vielmehr in die Grube!“

„Na, ich weiß nicht – immer auf der Flucht; wenn es entdeckt wird… Wäre das was für dich?“, fragte er zurück.

„Nun, eines ist doch klar. Bei uns gibt es keine Todesstrafe mehr und im Knast brauchen sie sich um nichts zu kümmern. Kosten für Miete und Essen werden auch noch von den Steuerzahlern übernommen… Keine Steuererklärung, keine Kosten für Arzt und Medikamente“, schob Susanne noch hinterher.

*

Am nächsten Morgen fuhren beide in die Pathologie, um die drei gefundenen Leichen anzusehen. Sie waren noch recht gut erhalten, trotzdem schüttelte sich Susanne bei deren Anblick. Es waren einwandfrei die Besucher ihrer ehemaligen Nachbarinnen.

Da man keinerlei Papiere bei den Toten fand, ihre Mörderinnen mussten sie vernichtet haben, erschienen am Tag darauf in der Zeitung drei Fotos mit der Überschrift: Wer kennt diese Personen? Sachdienliche Hinweise an die Polizei Leverkusen, Köln oder jede andere Dienststelle.

Als die polizeilichen Ermittlungen vor Ort beendet waren, ließ der Makler einen LKW mit Kies anliefern und die Grube neu verfüllen. Anschließend kam das Gartenhäuschen wieder an seinen Platz. Weitere acht Wochen später war das Haus verkauft; ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern zog dort ein.

Anhand der veröffentlichten Fotos konnten die drei männlichen Leichen einwandfrei identifiziert werden. Auch die beiden Frauen wurden nach einer europaweiten Fahndung gefunden. Sie hatten sich nach Spanien abgesetzt. Die spanische Polizei überraschte sie auf einer einsamen Finca im trauten Beisammensein mit zwei gut aussehenden Herren. Hatten die ein Glück, sie landeten nicht in spanischer Erde.

Nachdem die Auslieferungsanträge perfekt waren, wurden Elke und Vita Dünn – sie hießen tatsächlich so – nach Deutschland überstellt. Zweimal lebenslänglich lauteten die Urteile. Sie hatten, wie von Carsten und Susanne vermutet, den Männern ihre Güter abspenstig gemacht und ihnen Pflanzengift in hoher Dosis ins Essen gemischt.

Verbrechen lohnen sich nicht; alle werden irgendwann zur Rechenschaft gezogen. Mord verjährt nicht…

Der weiße Auflieger

Sven saß in seiner Sofaecke und las, wie jeden Morgen nach dem Frühstück, die Tageszeitung. Er teilte diese mit seiner Frau Silke, die mit dem Lesen in der Mitte begann und den ersten Teil zum Schluss las.

Im Lokalteil fand Silke eine halbseitige Anzeige mit der Überschrift:

„Wer hat achtzehnjähriges Mädchen gesehen?“ Danach folgte die Personenbeschreibung.

Erst beim zweiten Anruf reagierte Sven, als Silke ihn darauf aufmerksam machte, dass schon wieder ein Mädchen verschwunden sei. Nach einem Discobesuch am Freitagabend war sie nicht wieder nach Hause gekommen.

„Heute ist Dienstag“, meinte Sven, „wieso haben die so lange gewartet?

Das hätte besser schon in der Samstagausgabe stehen sollen; die Chance, dass sich jemand erinnert, wäre dann wesentlich größer gewesen.“

Sven vertiefte sich wieder in seinen Teil der Zeitung. In Russland hatte man gerade einen Anschlag auf eine Ölpipeline zu beklagen; im Sudan brachte man Gegner der Regierung um und im Irak gab es erneut Attentate. „Am besten“, sinnierte er, „kauft man gar keine Zeitung mehr. Nur noch Mord und Totschlag; wenn da nicht der Sport und die Nachrichten aus der Region wären.“

Silke ignorierte die Sportseiten, war also früher fertig mit lesen und hatte demzufolge Zeit, sich ausgehfertig zu machen. Der Einkaufszettel war geschrieben und es galt, ihn auf dem täglichen Rundweg abzuarbeiten.

Gegen neun Uhr machten sie sich auf den Weg; zuerst durch das nahe gelegene Industriegebiet, vorbei an der Muckibude und dem Recyclingcenter. Sie hatten dieses Stück des Weges schon fast hinter sich gelassen, als Sven fragte: „Ist dir eigentlich aufgefallen, dass der eine Auflieger, der weiße mit der Plane, bestimmt schon vierzehn Tage an der gleichen Stelle steht?“

„Genau“, meinte Silke, „sowohl ohne Nummernschild als auch unverschlossen. Ob der wohl irgendwo abhanden gekommen ist?“

Sie kamen überein, noch eine Weile zu warten; sollte sich dann nichts bewegt haben, wollten sie auf ihrem Rundweg beim örtlichen Polizeirevier Meldung machen.

Als die beiden nach einer Woche wieder die gleiche Route gingen und besagter Auflieger scheinbar noch immer unberührt dort stand, sprachen sie im Polizeirevier vor. Sie erklärten dem Beamten ihre Beobachtung und auch er fand die Sachlage etwas komisch. Obwohl, ganz so ungewöhnlich sei das nicht. Er sagte: „Oftmals werden diese Auflieger, wenn sie gerade nicht gebraucht werden, abgestellt. Bei Bedarf werden sie vermietet und der jeweilige Fahrzeugführer bringt ein eigenes Kennzeichen mit. Im Laufe der nächsten Tage wird eine Streife einmal danach sehen“, versprach er den beiden.

Tatsächlich – nach weiteren drei Tagen stand der Auflieger zwar noch am gleichen Platz, doch nun zierte ihn ein grüner Zettel.