Tod in der Berghütte - Renate Krohn - E-Book

Tod in der Berghütte E-Book

Renate Krohn

3,0

Beschreibung

Unsere Zeit verändert sich so rasant, dass man oft glaubt, nicht mehr nachzukommen. Dann ist es doch beschaulich, ein Buch in die Hand zu nehmen und in Erzählungen oder Geschichten zu versinken, die dieser Rastlosigkeit gleichsam Einhalt gebieten. Ein wenig Krimi, ein bisschen zum Nachdenken, vielleicht zum Schmunzeln, oder neudeutsch, einfach mal abhängen. Jochen und Renate Krohn nahmen ihre Umwelt genau so aufs Korn, schrieben viele Geschichten auf und beobachteten dabei, dass es auf diese Weise Momente der Beschaulichkeit durchaus noch gibt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 541

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,0 (1 Bewertung)
0
0
1
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jochen und Renate Krohn

Tod in der Berghütte

und andere Erzählungen

zum Schmunzeln, Nachdenken,

und einfach Abhängen …

Jochen Krohn *1938 in Dresden, verbrachte seine Kindheit in Potsdam. 1953 Übersiedlung nach Köln

Seine Liebe fürs Schreiben entdeckte Jochen Krohn erst verhältnismäßig spät; wobei speziell kritische und romantische Gedichte, Erzählungen und Kurzgeschichten, in denen sich sowohl irreale als auch unabänderliche Gegebenheiten widerspiegeln, den Vorrang haben. Dabei wird sowohl offene als auch verdeckte Kritik an unserer Gesellschaft deutlich.

Renate Krohn *1948 in Hüls/Niederrhein geboren, übersiedelte 1968 nach Köln.

Renate Krohn liebt Deutsch, Geschichte und Geographie. Nach der Schule absolvierte sie zunächst eine kaufmännische Ausbildung. Auf dem zweiten Bildungsweg, Studium am Fernlehrinstitut in Hamburg, erlernte sie das, was sie heute gern in einer oftmals deutlichen Sprache umsetzt. Mit den Jahren entwickelte sie ein waches Auge, gepaart mit einer gehörigen Portion Ironie. Es war und ist ihr immer sehr wichtig, lebensnah und realistisch, aber keinesfalls negativ zu sein.

Inhaltsverzeichnis

Das darf doch nicht wahr sein

Einkaufen zum Backen

Umzug nach einem langen Arbeitsleben

Der Steineklau

Ein glückliches Ende

Sie waren fünf

Fast alles wird gut

Der Fall Lotus-Bar

Eins + eins + eins

Die unverhoffte Erbschaft

Der Weidezaun

Eine Schweinerei in Farbe

Wasser statt Rotwein

Eine Bettgeschichte

Abgetaucht

Das Testament

Tod auf dem Meer

Eine Runde noch

Der grüne Jupp

Das lange Messer

Das geheimnisvolle Haus

Vier Leichen und keiner war’s

Carmen – die ungeliebte Tochter

Der Lottogewinn

Mit anderen Augen gesehen

Auf den Hund gekommen

Der Birkenhofbauer

Der kalte Backofen

Der schöne Vorgarten

Der ungewöhnliche Heimweg

Ein besonderes Wochenende

Ein Dackel namens Hugo

Ein komisches Gefühl

Ein ungewöhnlicher Wächter

Eine Familiensaga

Eine Werbefahrt nach Koblenz

Familienzuwachs auf zweimal zwei Beinen

Hätten wir doch gleich ein Taxi genommen

Ich wollte dir noch soviel sagen

Mitten im Wald

Moral

Wenn einer eine Reise tut

Die vergessene Tür

Ein mörderischer Weg

Der Puppenmord

Nadelgehölz

Weihnachten naht

Dankbarkeit

Das Hotel

Die ausgewählten Orte gibt es (fast alle) wirklich, doch die damit verbundenen Ereignisse und genannten Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Bewohnern sind absolut zufällig und von den Autoren keinesfalls beabsichtigt.

Jochen und Renate Krohn

©2017

Das darf doch nicht wahr sein!

Henri Unsinn las in seiner Mittagspause die Tageszeitung und stieß im Feuilleton auf eine seltsame Geschichte. Die spinnen, waren seine ersten Gedanken nach dem Lesen der Überschrift, doch er las die Abhandlung zu Ende und markierte sie mit seinem roten Kugelschreiber. Zu Hause würde er die Zeitung seiner Frau so hinlegen, dass ihr dieser Artikel sofort ins Auge fiele. Er freute sich schon auf ihre Reaktion … und seine Kalkulation ging auf! Kaum hatte seine Frau die Zeilen gelesen, als es auch schon losging: „Die Politiker haben wohl nichts anderes im Kopf, als die Bevölkerung zu ärgern. Ich sehe ja ein, dass überall gespart werden muss. Aber – das Weihnachtsfest abschaffen zu wollen, dürfte wohl ein Hirngespinst sein und hoffentlich bleiben“, sagte sie in die Richtung ihres Mannes. Der grinste und musste wegschauen, als Wilma weiterschimpfte: „Erst halbieren sie unsere Währung mit diesem (blöden) Euro; dann schaffen sie einen Feiertag ab und stehlen uns obendrein noch den siebzehnten Juni. Und jetzt so etwas… Die Schnapsidee eines Turnschuhpolitikers!“

Henri hatte seine Gesichtszüge wieder im Griff und antwortete: „Sieh mal, nur ein Beispiel, Millionen Tannenbäume dürften weiter wachsen und würden zur Erhaltung der guten Luft in der ganzen Welt beitragen. Außerdem könnten die Familien viel Geld sparen; keinen Baum, keine Lichter, weniger Stromverbrauch und, ganz besonders wichtig, keine Nadeln, die du im nächsten Jahr noch in der Wohnung findest!“

„Als wenn mir daran etwas liegen würde! Weihnachten ist ein christliches Fest, da wurde das Jesuskind geboren – das kann man gar nicht abschaffen!“

„Ich weiß nicht“, gab er zur Antwort, „bedenke doch, wie viele Menschen in den letzten Jahren aus der Kirche ausgetreten sind. Warum soll man das Fest dann noch feiern? Außerdem denke doch mal an den Klimawandel; es wird immer wärmer, kein Schnee mehr, kein Eis. Da kommt sowieso keine Stimmung auf. Die Firmen würden sich obendrein freuen, ihre Mitarbeiter würden in den drei Tagen mehr Leistung bringen!“

„Nein, nein, mein lieber Mann! Das können sie sich da oben abschminken. Weihnachten gibt es seit dem vierten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, das schafft man nicht ab. Und, wie bitte, willst du den Kindern erklären, dass der Weihnachtsmann nicht mehr kommt und Geschenke bringt? Die Weihnachtsferien würden ebenfalls überflüssig! Sie müssten an diesen Tagen in die Schule gehen und lernen, wo sie doch mit der heutigen Stundenmenge sowieso schon überfordert sind, wie alle behaupten. Nee, nee, dieses Fest wird nicht abgeschafft. Da können alle reden, was sie wollen!“

„Meine liebe Wilma! Gerade für die Kinder wäre es sehr gesundheitsfördernd. Das üppige Essen und die vielen Süßigkeiten entfielen; das ist mit Sicherheit positiv zu werten, fünfzig Prozent aller Kinder sind ohnehin zu dick …“

„Unsere aber nicht!“, protestierte Wilma. „Dann kommt noch dazu“ sprach sie weiter, „was wollen die eigentlich mit den ganzen Arbeitslosen machen, die zusätzlich auf der Straße landen?“

„Wieso arbeitslos? Diese Leute würden doch mehr arbeiten, wenn es die Feiertage nicht gäbe.“

„Überlege doch mal Henri, die Touristikindustrie verkauft keine Bahn- und Flugreisen; Bäcker und Konditoren backen nur noch Brot, die Papierindustrie stellt kein Weihnachtspapier und keine Karten mehr her; der Elektroindustrie fehlen die Aufträge für Lichterketten, bei den Kerzenmachern fallen ebenfalls die Aufträge weg, und so weiter…“

Wilma hatte sich so in Rage geredet, dass sie noch hinterher schob: „Weihnachtsgeld brauchen die Firmen dann auch nicht mehr zahlen und die, die schon genug haben, stecken sich noch mehr ein!“

Ein beißender Qualm zog mit einem mal durch die Wohnung und Wilma spurtete in die Küche. Die Kartoffeln für das Abendessen waren hinüber, sie landeten im Abfalleimer. Hoffentlich bekomme ich den Topf wieder sauber, dachte sie und drehte sich um, um ein Reinigungsmittel aus dem Schrank zu nehmen. Dabei fiel ihr Blick auf den Kalender in der Küche. Sie bekam fast einen Schlag, rückte ihre Brille zurecht und glaubte kaum, was sie da sah. Wie ein Wirbelwind machte sie auf dem Absatz kehrt, und legte einen Sprint ins Wohnzimmer ein. Henri hörte seine Frau kommen, schaltete den Fernseher an und schaute mit unbeteiligtem Gesicht auf den Bildschirm. Der Sprecher erschien und begrüßte die Zuschauer mit den Worten:

„Guten Abend meine Damen und Herren. Sonntag, der 1. April, zwanzig Uhr – die Nachrichten…!“

Einkaufen zum Backen

Heute war irgendwie alles anders; Wochenende zwar … doch nicht so geruhsam wie sonst! Es begann damit, dass Sieglinde, die sonst jede Minute herausschindete, um morgens noch eine Weile nach dem Klingeln des Weckers liegen zu bleiben, sofort aufstand. Auf die erstaunte Frage ihres Ehegespons: „Warum änderst du plötzlich deine Gewohnheiten?“ bekam er die knappe Antwort: „Ich habe heute viel Arbeit.“

Franz überlegte einen Moment. Weihnachten ist erst in einer Woche; sollte seine Frau bereits mit dem Hausputz anfangen? Er sagte aber nichts und stand ebenfalls auf.

Nach dem gemeinsamen Frühstück eröffnete Sieglinde ihrem Mann: „Unser täglicher Rundgang muss heute ausfallen. Ich werde die restlichen Plätzchen backen. Dazu fehlen mir noch einige Sachen.“ Sie drückte Franz den Einkaufszettel in die Hand und bat ihn, die notierten Produkte zu besorgen.

Als der nach zehn Minuten immer noch keine Anstalten machte, sich anzuziehen, fragte Sieglinde zurück: „Was ist? Hast du keine Lust?“

„Doch, doch… nur meinst du, ich hätte beim Edeka Kredit?“

Der Löffel, den sie gerade in der Hand hielt, verfehlte nur knapp sein Ziel! Trotzdem trocknete sie sich die Hände ab und ging, um Geld aus dem Portemonnaie zu holen. „Am besten bringst du zwei Pizzen mit, dann brauche ich am Mittag nicht zu kochen.“

Franz verschwand, drehte seine Runde, steckte noch einige Briefe in den Kasten und kaufte ein. Nach einundeinhalb Stunden kam er zurück, beladen mit zwei voll gepackten Taschen. Mit den Worten: „das duftet aber lecker“, stellte er die vollen Taschen auf den Küchentisch und verschwand in Richtung Wohnzimmer, um endlich seine Tageszeitung zu lesen.

Zehn Minuten später stand seine Sieglinde im Türrahmen und wedelte mit dem Einkaufszettel. Franz tat, als habe er sein Weib nicht gehört – allerdings hatte er keine wirkliche Chance.

„Sag mal, mein Lieber“ begann sie, „was soll ich mit zwei Kilo Nüssen und wieso bringst du, statt eines Päckchens Vanillezucker zehn Tüten, also gleich zehn mal zehn Stück mit? Dann stand auf dem Zettel ein Pfund Butter – ich zähle aber fünf mal ein Pfund!!!“

„Das war alles im Sonderangebot“, erwiderte Franz zu seiner Verteidigung, das muss man doch nutzen, oder?“

„Dafür fehlen Zitronat und Rumaroma. Warum das?“

„Kann doch bei so einer langen Liste mal passieren. Sag’ nur, du hättest noch nie etwas vergessen. Ich denke dabei an den Kartoffelsalat von vor drei Tagen, den ich ohne Zwiebeln essen musste!“

„Papperlapapp! Leg deine Zeitung zur Seite und hole mir bitte noch die fehlenden Sachen. Der Teig ist schon fertig; es fehlt nur noch das Aroma. In einer halben Stunde sind die anderen Plätzchen auch soweit…“ sprachs und verschwand wieder in der Küche.

Schweren Herzens schälte er sich aus seinem Ohrensessel und ging das Gewünschte holen. Seine Frau nahm gerade das Blech mit den fertigen Plätzchen aus der Röhre, als er in die Küche kam. Mit einem Grinsen registrierte Sieglinde, dass Franz zwei Flaschen Weißbier in den Kühlschrank stellte.

Er verzog sich wieder, um seine Zeitung zu Ende zu lesen. Kurz vor zwölf wurde er dann zum Essen gerufen. Franz hatte die ersten beiden Stücke Pizza gegessen, als er seine Frau anguckte.

„Ist irgendwas?“ fragte sie.

„Ja – die Pizza schmeckt heute nach Plätzchen. Hast du den Rum statt in den Teig auf die Pizzen geschüttet?“

„Also! Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Es kann höchstens sein, dass die Pizzen den Geruch angenommen haben; schließlich habe ich den ganzen Vormittag Plätzchen im Ofen gebacken. …kannst ja anschließend mit dem mitgebrachten Weißbier nachspülen…!“

Für den Rest des Tages sahen sie sich nicht mehr. Sieglinde verbrachte den ganzen Nachmittag in der Küche, nur durch zwei Telefonate mit ihren Kindern unterbrochen, in deren Verlauf sie nachfragte, ob mit den Besuchen an den beiden Weihnachtstagen alles klar sei.

Franz hatte ein Treffen mit ehemaligen Arbeitskollegen und war gegen zweiundzwanzig Uhr wieder zuhause.

Sie beschlossen den Abend gemeinsam mit einem Glas Rotwein.

Umzug nach einem langen Arbeitsleben

Tanja und Thomas trafen sich am Samstagabend bei Brigitte und Manfred. Sie wollten mal wieder ausgiebig miteinander quatschen und gepflegt essen gehen. Nicht weit von den Beiden gab es ein nettes Lokal; der Wirt war griechischer Staatsbürger und seine Speisen waren (noch) nicht so ganz den deutschen Gewohnheiten angepasst. Es sollte dort einen hervorragenden Lammbraten mit grünen Bohnen sowie einen tollen Rotwein geben. So fing eigentlich alles an …

Die vier hatten einige Viertel Rotwein geleert, als Brigitte lauthals verkündete: „Ich will in die Heide – und das sofort!“

Manfred, Tanja und Thomas guckten Brigitte an wie ein Auto. „Also! Sofort ist schon mal nicht möglich“, meinten alle drei wie aus einem Mund. Trotzdem wurde der Gedanke vertieft; als Tanja dann noch ihren Kalender zückte, fanden sie tatsächlich einen gemeinsamen Termin. Allerheiligen. Der erste November fiel auf einen Montag, und das Fahrradgeschäft von Manfred war geschlossen; so kamen sie das erste Mal in die Lüneburger Heide. Brigitte und Manfred hatten das größere Auto und unter der Bedingung, auf der Autobahn die Geschwindigkeit auf einhundertdreißig Stundenkilometer zu beschränken, gaben Tanja und Thomas ihr Okay.

An dem Samstag, nach Geschäftsschluss, fuhren sie los und erreichten nach viereinhalb Stunden den Ort Undeloh. An der ersten Raststätte hielten sie an, um den Tank gleich wieder zu füllen … man wusste ja nicht, ob diese auch an einem Feiertag geöffnet haben würde. Manfred staunte nicht schlecht, als er statt der üblichen dreizehn Liter pro hundert Kilometer nur zehn Liter Benzin verbraucht hatte. Zu Tanja und Thomas gewandt meinte er: „Das ist mir noch nie passiert. Nach einer solchen Strecke nur vierzig Liter nachtanken zu müssen.“

„Ja, ja, rasen bringt nichts“, meinte Tanja mit einem Lächeln.

Ein Wermutstropfen wurde ihnen allerdings an diesem Wochenende beschert. Am Sonntagmorgen, beim Frühstück, biss Manfred auf etwas Hartes. Das war’s für den Vormittag. Er musste einen Zahnarzt aufsuchen – seine Zahnprothese war in der Mitte durchgebrochen!

Tanja meinte scherzhaft: „Ich meine, ich höre es klappern.“

*

In den folgenden Jahren fuhren Tanja und Thomas noch oft an den gleichen Ort; zu den unterschiedlichsten Jahreszeiten. Sie machten Wanderungen bei Wind und Eisregen und lernten nette Menschen kennen. Einmal wollten sie unbedingt die Heide blühen sehen. Es wurde ein wirklich einmaliges Erlebnis. Diese Farbenpracht und das Summen der Bienen in der Luft. Doch das hatte auch einen Nachteil, es waren viel zu viel Menschen, einige davon mit Planwagen, unterwegs, anstatt auf Schusters Rappen die Natur zu genießen. Einige Male verbrachten sie auch das Silvesterwochenende in Undeloh, wozu sie Tanjas Eltern, die am Rande der Stadt Krefeld wohnten, mitnahmen.

Den beiden gefiel die Gegend so gut, dass Hartmut Ellenberg zu seiner Frau Gerda sagte: „Wenn ich pensioniert bin, ziehen wir hier her!“

Zufällig hörte der Wirt vom Smeshof, in dem sie, wie immer, Quartier genommen hatten, diesen Ausspruch und riet ihnen dringend ab, das zu verwirklichen. Es würde schwierig sein, Anschluss an die einheimische Bevölkerung zu finden.

„Schade“, meinte Gerda zu ihrem Mann, „es ist eine wirklich schöne Gegend hier …!“

*

Tanja und Thomas kamen aus Leverkusen und besuchten die Eltern ein übers andere Wochenende in Krefeld. Heute war es wieder einmal soweit. Nach der Begrüßung erwartete sie eine dicke Überraschung. Mit den Worten: „Nächsten Samstag müsst Ihr aber noch einmal kommen“, drückte Mutter den beiden einen Zeitungsausschnitt in die Hand.“

In einer Anzeige hieß es: preiswerte Einfamilienhäuser im Emsland.

„Was haltet Ihr davon?“, fragte sie. „Vater hat schon angerufen. Hört sich doch gut an und anschauen kostet ja nix, oder?“

„Ihr wollt tatsächlich aus Krefeld wegziehen?“, fragte Tanja ihre Eltern verblüfft.

Am nächsten Wochenende fuhren sie, nach vorheriger telefonischer Absprache, zu dem Makler, der die Annonce in die Zeitung setzte.

Sögel … wo liegt das eigentlich? Nach dem Studium der Karte kamen sie der Sache schon näher. Richtung Münster, dann Rheine – Lingen – Meppen, usw. Etwa zweihundertfünfzig Kilometer.

Bei Ankunft wurden sie schon erwartet und nach der Begrüßung äußerte der Makler: „Ich fahre vor und zeige Ihnen ein paar zum Verkauf stehende Häuser.“ Vor einem Bungalow mit Walmdach stoppten sie. Der Makler stieg aus und bat die vier, das Gleiche zu tun. Er zückte einen Hausschlüssel, schloss auf und ließ alle eintreten. Als Tanjas Eltern die Besichtigung beendeten stand für sie fest: dieses Haus nehmen wir!

*

Ein halbes Jahr später, Gerda und Hartmut Ellenberg konnten Ihr Haus in Krefeld günstig verkaufen, zogen Tanjas Eltern nach Werpeloh ins Emsland. Der Umzug selbst … das waren Profis durch und durch. Ab morgens um sechs wurde in Krefeld eingeladen und gegen vierzehn Uhr traf der Umzugswagen mit Sack und Pack in Werpeloh ein. Zwei Stunden später standen bereits alle Möbel und die Packer verabschiedeten sich ins Wochenende. Es war noch nicht einmal etwas zu Bruch gegangen! An diesem ersten Abend konnte man nicht mehr allzu viel machen, innerhalb kürzester Zeit waren alle greifbaren Geschirrhandtücher nur noch nasse Lappen.

Am folgenden Samstagmorgen standen – große Überraschung – schon in aller Herrgottsfrühe Rena und Harry, die Freunde von Tanja und Thomas, vor der Tür, um zu helfen. Die Idee war nicht nur großartig, sie hatte auch zur Folge, dass, nach diesem Mammutumzug, alle Beteiligten am Nachmittag gegen vier um den Kaffeetisch im neuen Wohn-/ Esszimmer saßen als hätte niemals ein Umzug stattgefunden. Gemeinsam amüsierten sie sich darüber, dass sie beim Auspacken sogar die Dachziegel vom Boden in Krefeld fanden; augenscheinlich hatte man auch nicht die geringste Kleinigkeit vergessen einzupacken.

Rechtschaffen müde verschwanden alle beizeiten in die Betten. Hartmut ermahnte seine Frau noch, etwas Schönes in der ersten Nacht im neuen Haus zu träumen, da diese Träume in Erfüllung gehen würden!

Am darauf folgenden Morgen wurden sie durch ein komisches Geräusch geweckt, das sie weder kannten noch konnten sie orten, aus welcher Richtung es kam. Als Mutter Gerda aus dem Fenster schaute, traute sie ihren Augen nicht. Ein ausgewachsenes Hausschwein buddelte den Vorgarten um und grunzte vergnüglich dabei.

Sie hatten am Vortag wohl die nahe gelegene Wiese mit den Schweinen gesehen, aber die Weide war doch eingezäunt!!! Schnell zogen sie sich etwas über und verjagten den schwergewichtigen Gesellen aus ihrem Garten. Am Nachmittag fragte Hartmut einen Nachbarn: „Passiert so was hier öfter?“

„Nun eigentlich nicht – aber manchmal eben doch!“ wurde ihm beschieden.

*

Nun lebten sie also auf dem Land!

Die Luft war nicht zu vergleichen mit der Stadt. Hartmut hatte weniger mit seinem Asthma zu kämpfen; die neuen Nachbarn waren freundlich und – sie waren eingerahmt: neben ihrem Haus befand sich eine Gärtnerei, auf der hinteren Seite, über die Straße hinweg, eine Pferdekoppel und auf der anderen Seite lebte besagte Schweinebande auf der Weide.

Für den Vorgarten suchten Hartmut und Gerda noch ein paar größere Steine. Sie hatten das bei einigen Nachbarn gesehen und das gefiel ihnen. Einer der Anlieger, der einen Traktor besaß, bot sich an, mit den neuen Dorfbewohnern auf ein Feld zu fahren, um dort herum liegende Steine aufzusammeln.

An einem der nächsten Tage ging es los. Die ersten Steine waren auf den Wagen geladen, als der Bauer daher kam, dem wohl das Feld gehörte. Auf seine Frage, ob Ellenbergs denn von hier seien, entgegnete Gerda, ja und nein – sie wären frisch zugezogen. Darauf hin verlangte er von den Beiden doch tatsächlich zehn €uro für die Steine! Um nicht zu Beginn Ärger zu bekommen, gaben sie ihm das Verlangte.

Es dauerte nicht lange und dieses Geschehnis war im ganzen Dorf bekannt. Von Stund an hieß er überall nur noch der-zehn-Euro-Bauer.

Einige Monate nach diesem Vorfall suchte die Schweinepest seine Tiere heim und man raunte im Ort: … das hat er nun davon!

*

Fast zwanzig Jahre lebten Gerda und Hartmut nun schon im Emsland; feierten Geburtstage, ihre Diamantene Hochzeit und langsam wurde es beschwerlich, das große Haus und den Garten mit Bäumen und Sträuchern in Ordnung zu halten. Zum Einkaufen gab es nach wie vor immer nur noch den einen Laden, ca. einen Kilometer entfernt; den Arzt musste man jetzt öfter mal in Anspruch nehmen und dann waren es doch beinahe drei Kilometer bis zum nächsten Ort. Sie setzten sich also beide zusammen und überlegten, was man am besten tat. Eine Anzeige in der Zeitung (wieder einmal!) brachte sie auf die Idee …In Sögel, der nächstgelegenen Kleinstadt, entstand eine Anlage für Betreutes Wohnen. Das wäre doch für die letzten Jahre eine Überlegung wert. „Dort gibt es Ärzte; alle Geschäfte sind in der Nähe und sollte einem von uns etwas passieren, ist eine Schwester gleich im Haus“, äußerte Gerda.

Ihr Mann meinte: „Warten wir, bis Tanja und Thomas das nächste Mal kommen und holen auch ihre Meinung ein.“

Doch ihre Kinder fanden die Idee gut; für sie war es ebenfalls eine Beruhigung, die Eltern bei Bedarf in guter Obhut zu wissen.

So verkauften sie ihr Eigentum, mieteten zum ersten Mal in ihrem langen Leben eine Wohnung. Die Miete bezahlen sie von dem Erlös des Hauses. Und –wenn Tanja und Thomas die Eltern besuchen, sind sie seit Jahren Stammgäste im benachbarten Hotel …

Der Steineklau

Mitte April, der Winter war laut Kalender vorbei, doch ohne Heizung ging noch nichts. Simon dachte an die gestiegenen Ölpreise und sagte zu seiner Frau: „Das wird in diesem Jahr eine saftige Nebenkostenabrechnung geben“.

Silke saß in ihrer Sofaecke, mit einem dicken Buch vor der Nase und völlig vertieft in dessen Inhalt. Ohne aufzusehen erwiderte sie: „Wieso Öl und teuer? Wir haben doch Gas!“

„Ja, ja“, gab er zur Antwort, soviel ich weiß, ist der Gaspreis aber an den Ölpreis gekoppelt.“

„Ist doch auch egal“, meinte Silke, „wenn mir kalt ist, wird die Heizung angemacht; ich setze mich nicht in eine Decke eingewickelt hier hin, nur um ein paar Euro zu sparen.“

„Das sollst du auch nicht“, schmunzelte Simon, „wir werden schon einen Weg finden, um die Heizkosten bezahlen zu können. Vielleicht haben wir Glück und der Sommer dauert bis in den Herbst hinein, dann gleicht sich das wieder aus.“

Von Silke kam keine Antwort mehr, so wandte er sich wieder um und schaute weiter aus dem Fenster. Es regnete seit zwei Tagen ununterbrochen, wer nicht unbedingt raus musste, blieb im warmen Stübchen. Gut, dass wir keinen Hund haben, dachte er im Stillen, mit dem müsste man bei jedem Wetter nach draußen. Er stellte sich im Geiste vor, wie es wäre, käme man mit dem Tier bei so einem Sauwetter wieder in die Wohnung zurück! Soeben sah er den Nachbarn von gegenüber mit seinem Spitz an der Leine in Richtung Dorfwiese gehen. Eine ganze Weile tat sich gar nichts; außer dass nur wenige Autos vorbeizischten. Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie Hund und Herrchen von einem, durch die Pfütze fahrenden PKW einen Schwall Wasser abbekamen.

Nach einer Stunde schmerzten die Ellenbogen und er gab seinen Fensterposten auf. Er wollte gerade die Gardine wieder zurechtrücken, als er auf der anderen Straßenseite einen Mann, im Friesennerz und mit Gummistiefeln, eine Schubkarre voll Pflastersteine schieben sah.

Der hat sich aber das richtige Wetter ausgesucht; bis der zu Hause ist, muss er zu den Steinen auch noch etliche Liter Wasser transportieren. Simon dachte an einen Ausspruch seines Vaters; als er mit ihm einmal bei einem Spaziergang vom Regen überrascht wurde, kamen sie gerade an einem Teich vorbei. „Schau mal Papa, da schwimmt ein Hut auf dem Wasser…“ – „Ja, ja, mein Junge, mach dir keine Gedanken. Das

ist der alte Johann, der mäht seinen Rasen bei jedem Wetter!“ Mit dem Gedanken ging er schmunzelnd in die Küche, um die Kaffeemaschine zu präparieren.

Plötzlich wurde es heller, hörte auf zu regnen und sogar die Sonne lugte hinter den Wolken hervor. Silke und Simon beschlossen, nach dem Kaffeetrinken noch einen Spaziergang zu machen.

Gesagt – getan!

Sie gingen ihren üblichen Weg, sahen in den Vorgärten, wie sich die Tulpenblüten langsam wieder öffneten, staunten über den Quittenbaum und dessen Blüten und die vielen Menschen, die scheinbar auf das Ende des Regens gewartet hatten. Auf dem Rückweg, den sie ein wenig verkürzten, weil Silke am Horizont schon wieder dicke Wolken sah, kamen sie am Krankenhaus vorbei. Im daneben liegenden Park hatte man für die Bediensteten ein Stück abgezweigt und Parkplätze angelegt. Die ständige Beantragung der Berechtigungsausweise entfiel damit. „Da haben bestimmt die Grünen und der Stadtkämmerer protestiert“, meinte Simon.

„Wieso?“

„Na, dem fehlen doch nun ein paar Parkeuro im Stadtsäckel und die Anderen haben sich sicher gegrämt, dass ein paar Vögel und Maulwürfe nun weniger Platz haben…“

Gerade als sie unter der Eisenbahnbrücke hergingen, hatten die dicken Wolken sie eingeholt. Es begann erneut zu regnen. Zum Glück hatten sie einen Schirm dabei. Ein paar Meter hinter dem großen Parkplatz eines Kaufhauses blieb Simon stehen.

„Was ist? Willst du den Rest des Weges mit dem Bus fahren?“, fragte Silke grinsend?

„Nee – guck doch mal. Da pflastert doch einer seinen Weg zum Haus neu.“

„Ja – und?“

„Na, der ist doch erst bis zur Hälfte und für den Rest des Weges lag gestern noch ein Haufen Steine dort.“

„Du hast Recht“, meinte Silke, „die konnte anscheinend jemand gebrauchen. Bei dem Dauerregen hat keiner aus dem Fenster gesehen, außer dir natürlich … die hat jemand mitgehen lassen!“

„Es hat also auch Vorteile, wenn man aus dem Fenster guckt“, bemerkte Simon.

„Welche denn? Weißt du jetzt, wie viel Autos in der Stunde vorbei gefahren sind?“

„Nein, ich habe gesehen, wie ein Mann mit den Steinen im strömenden Regen hier vorbei kam. Die sind vermutlich jetzt schon in irgendeinem Garten verarbeitet.“

Der April machte seinem Namen alle Ehre; nach einem kleinen Zwischenhoch – bewölkt und trocken – begann es wieder zu regnen. Trotzdem musste man ja etwas essen. Also: feste Schuhe angezogen: mit einem Regenschirm bewaffnet wollten Silke und Simon zur Post in der Bahnhofstraße und auf dem Rückweg beim Edeka einkaufen. Auf der Lützenkirchener Straße kamen sie an einer neu errichteten Wohnanlage vorbei. Von weitem sahen sie einen Polizeiwagen stehen. Trotz des Regens standen die Beamten mit einigen Bauarbeitern auf dem Gehweg und diskutierten heftig. Im Vorbeigehen hörten die beiden, dass wohl eine ganze Palette Platten – vorgesehen für den Gehweg – verschwunden waren. Sie gingen weiter und unterhielten sich darüber, ob hier wohl ein Zusammenhang zu dem Diebstahl der Pflastersteine vor ein paar Tagen bestehen könnte.

Am nächsten Morgen fanden beide in der Tageszeitung eine kurze Mitteilung der Polizei mit folgendem Inhalt: In den letzten Tagen verschwinden von Baustellen rund um Leverkusen Gegenstände, wie Platten, Steine usw. Wer etwas zur Aufklärung beitragen kann, wird gebeten, seine Beobachtungen unter der Rufnummer 12345 der örtlichen Behörde zur Kenntnis zu geben.

In einem kurzen Telefongespräch teilte Simon der Polizei in Opladen seine Wahrnehmung vom Regentag der letzten Woche mit …

Ein glückliches Ende

Sie hatten es zu etwas gebracht. Beide trafen sich das erste Mal in der Universität, hatten das schwierige Fach Jura belegt und saßen zufällig nebeneinander im Hörsaal. Das soll es ja geben. Jutta Caspar, einundzwanzig Jahre alt, tiefschwarze Haare, die sie immer zu einem dicken Zopf zu flechten pflegte. An ihrer Figur gab es ebenfalls nichts auszusetzen, alles war an den richtigen Stellen platziert – wie Harry Hinze bemerkte! Als er Jutta kennen lernte, war er selbst ein richtiger Spargeltarzan. Blond und bei einer Größe von einem Meter und achtzig, brachte er knapp fünfundsiebzig Kilo auf die Waage.

Heute hatte er geringfügig zugelegt. Die Größe stimmte noch, aber das Gewicht! Fast neunzig Kilo trug er mit sich herum.

Die Jahre gingen ins Land, gemeinsam bauten sie sich, nach dem sie verheiratet waren, eine Anwaltskanzlei auf. Jutta verlegte sich auf das Scheidungsrecht und Harry bearbeitete Strafrecht mit Schwerpunkt Diebstahl. Geschieden und geklaut wurde immer; so wie die Geschäfte liefen, war ihre Entscheidung wohl richtig. Im Bergischen Land stand ein schmuckes Häuschen mit etwa zweihundert Quadratmetern Wohnfläche; der schöne Garten diente ihnen zur Erholung.

Eine strapaziöse Woche ging wieder zu Ende; es war Samstag und jeder saß während des Vormittags noch an seinem Schreibtisch. Es hatte sich so eingebürgert, diese Stunden noch zu nutzen, um einige Dinge nach- und für die kommende Woche vorzubereiten. Mittags gingen sie meist aus essen. Es sei denn, sie waren irgendwo eingeladen oder bekamen selbst, vielleicht am Abend, Gäste. Dann fiel das Mittagessen aus. Den Nachmittag verbrachten sie bei schönem Wetter im Garten. Da sie auch sonst noch vielseitig interessiert waren, wurde es ihnen nie langweilig. Am Sonntag wurde selbst gekocht. Beide ergänzten sich dabei.

Abends saßen sie dann öfter bei einer guten Flasche Wein zusammen und hörten gedämpft schöne Opernklänge, als Jutta abrupt ihren Harry ansah und meinte: „Eigentlich schade, dass wir keine Kinder haben.“

„Wann sollten wir das noch bewerkstelligen?“ erwiderte Harry.

„Du hast schon Recht. Für uns stand immer der Beruf im Vordergrund. Ein ums andere Jahr haben wir es verschoben und plötzlich stehen wir kurz vor der Fünfzig. Nun ist es zu spät. Manchmal macht es mich ein bisschen traurig, vor allem, wenn es, so wie jetzt, auf die Feiertage zugeht.“

„Man kann halt nicht alles haben“, sagte er. „Karriere, Eigentum schaffen und Kinder großziehen…“

„Stimmt; auch auf die schönen Reisen, die wir machen durften, mochte ich nicht verzichten.“

Das Für und Wider war noch eine ganze Weile intensives Gesprächsthema zwischen ihnen, so bemerkten sie nicht, dass die Uhr fast Mitternacht zeigte.

Jutta räumte die, inzwischen geleerte, Flasche Wein in die Küche und ließ noch etwas Wasser in die Gläser laufen. Das Spülen überließ sie ihrem guten Geist, der von Montags bis Freitags ins Haus kam. Harry blies inzwischen die Kerze aus und entfernte den Aschenbecher. Dann löschten sie das Licht und gingen ins Bad, nicht ohne vorher ringsum die Rollos herunter zu lassen.

*

Eine gute Stunde lagen sie nun schon im Bett und konnten beide nicht einschlafen. Sowohl der Rotwein als auch das Gesprächsthema hatten den Kreislauf ordentlich angeheizt. Unvermittelt drehte Harry sich zu Jutta um, legte seinen Arm um sie und erklärte: „Ich habe eine Idee!“

„Lass hören, mein Schatz.“

„Was hältst du davon, wenn wir uns erstens ab dem zwanzigsten Dezember Urlaub nehmen; zwischen den Tagen ist es bei Gericht immer etwas ruhiger…“

„Aber nicht schon wieder wegfahren“, fiel Jutta ihm ins Wort.

„Nein, nein – nun lass mich doch erst einmal ausreden.“ Er nahm seinen Arm zurück und knipste das Licht über den Betten an, um seiner Frau in die Augen zu schauen. „…und dann schlage ich vor, einfach im Waisenhaus nachzufragen, ob es möglich ist, ein oder zwei Kinder für die Feiertage einzuladen. Platz genug haben wir ja.“ Juttas Gesichtsausdruck war ein einziges Fragezeichen. „Meinst du das wirklich?“

„Ja. Fragen kostet nichts und es gibt bestimmt einige Kinder, die niemanden mehr haben. Denen würden wir vielleicht eine Riesenfreude machen. Wir könnten dabei ausprobieren, wie das so ist, eine Familie mit Kindern zu sein; und im Waisenhaus hätten sie ein oder zwei traurige Gesichter weniger.“

„Also – ehe ich dazu ja sage, lass uns darüber schlafen.“

Am Morgen beim Frühstück sah Jutta ihren Mann an: „Ich habe mich mit dem Gedanken angefreundet. Wir versuchen es. Ich rufe nachher vom Büro aus im Nachbarort an und mache einen Termin im Städtischen Waisenhaus.“

Der Vormittag verlief turbulent und weder Jutta noch Harry hatten Zeit, sich auf ein ordentliches Gespräch mit der Leiterin des Waisenhauses vorzubereiten. Gegen dreizehn Uhr bekam Jutta endlich die Gelegenheit, in Ruhe dieses Telefonat zu führen. Dafür ließ sie das Mittagessen ausfallen.

*

„Anwaltspraxis Hinze und Hinze“, meldete sie sich am Telefon. Es dauerte eine Weile, bis vom anderen Ende eine Antwort kam.

„Ja bitte? Was kann ich für Sie tun?“, kam fragend eine leise Stimme.

„Könnte ich bitte mit der Direktorin des Hauses, Frau Sigrid Wange, sprechen.“

„Am Apparat.“

„Heute Abend möchte ich gern mit meinem Mann kurz zu Ihnen kommen. Es ist eine private Angelegenheit und nicht für ein Telefonat geeignet.“

Frau Wange zögerte etwas, denn sie konnte sich nicht vorstellen, was sie mit einer Anwaltskanzlei zu tun haben könnte. Doch dann einigten sie sich auf zwanzig Uhr. Um diese Zeit seien alle Kinder versorgt und sie hätten Zeit füreinander. Jutta bedankte sich und legte auf. Sie stellte sich vor, wie es jetzt im Kopf der Heimleiterin rotierte, obwohl sie dazu gesagt hatte, es sei privat. Nun, wer hatte schon gern mit einem Anwalt zu tun. Ihren Mann hatte sie den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen; sie sahen sich erst kurz nach siebzehn Uhr.

Um den privaten Charakter ihres Besuches zu unterstreichen, fuhren sie zuerst nach Hause und zogen sich um.

Pünktlich, kurz vor zwanzig Uhr, klingelten sie an der Eingangspforte und wurden mit skeptischen Blicken empfangen. Frau Wange bat die Besucher in ihr Büro, bat sie Platz zu nehmen und fragte nach ihrem Anliegen.

Harry Hinze begann. „Ja… hm…also das ist so… Wie soll ich Ihnen das erklären?“ Doch dann begann er zu erzählen. Von ihrer beider Beruf und dass sie leider keine Kinder hätten. „Da dachten wir uns, ein oder zwei Waisenhauskindern ein schönes Weihnachten erleben zu lassen; sie zu uns einzuladen und zu beschenken. Wir haben uns für diese Zeit Urlaub genommen und könnten uns daher intensiv mit ihnen beschäftigen.“

Sehr begeistert schaute die Heimleiterin nicht drein. „Ihre Absicht in allen Ehren“, antwortete sie, „doch überlegen Sie bitte auch, was nach den Tagen passiert, wenn die Kinder praktisch wieder abgegeben werden. Ich habe die Befürchtung, dass sie sich dann nicht mehr problemlos einfügen. Das ist fast so, als wenn ein Enkelkind bei den Großeltern alles darf und die Eltern dann dieses oder jenes anschließend wieder ausbügeln müssen.“

„Nun“, schaltete Jutta Hinze sich ein, „es könnte ja sein, dass das oder die Kinder sich bei uns wohl fühlen. Es ist nicht auszuschließen, dass sie uns auch in Zukunft weiter besuchen können.“

Einen Moment herrschte Stille. Frau Wange überlegte und schien abzuwägen. In Gedanken sah sie ihre Schützlinge vor sich; einige von denen waren schon Jahre bei ihnen. Die kamen, ihrer Meinung nach, für ein solches Experiment – wie sie es im Stillen nannte – ohnehin nicht in Frage. Diese Kinder würden eher Schaden nehmen als Nutzen davon haben. Dann war sie in Gedanken bei den beiden Mädchen, Elfi und Ulla, angekommen. Zwillinge. Sieben Jahre alt und erst seit zwei Monaten im Heim. Die Eltern waren in den Bergen bei einem Unwetter verunglückt. Großeltern, andere nahe oder auch entfernte Verwandte, gab es nicht. Sollte sie es mit den beiden versuchen? Konnte und durfte sie das verantworten? Gut, sie kannte zwar das Anwaltsehepaar als gut situiert und auch sozial engagiert… auf der anderen Seite standen die Zwillinge vor dem ersten Weihnachtsfest ohne eigene Familie.

Jutta und Harry hatten inzwischen ein ungutes Gefühl, als Frau Wange zu sprechen begann: „Ich will es versuchen“, sagte sie. „Wir haben hier in unserer Einrichtung Zwillinge. Mädchen. Sieben Jahre alt; die Eltern sind vor kurzem verunglückt. Elfi und Ulla, so heißen die zwei, haben keine Angehörigen und sind sehr traurig. Außerdem haben sie derzeit Schwierigkeiten, sich hier einzufügen… Übermorgen, am Mittwoch, veranstalten wir eine kleine Feier, weil ein paar Kinder von Verwandten abgeholt werden. Sie kommen einfach dazu, schauen sich um und wenn es sich ergibt, dass die Beiden Sie mögen, bin ich einverstanden. Sie sind auch nicht die einzigen Erwachsenen aus der Gegend, die diese Gelegenheit nutzen wollen, den Heimkindern etwas Gutes zu tun.“

*

Auf der Fahrt nach Hause freuten Hinzes sich schon auf das Fest und das Zusammentreffen mit den Kindern. Die Heimleiterin hatte ihnen die beiden Mädchen beschrieben, sowohl vom Aussehen als auch den, in der kurzen Zeit, die sie im Heim weilten, erkennbaren Charakter. Ein Ersatz für das persönliche Kennen lernen war das allerdings nicht. Vor allem Jutta war schon jetzt überzeugt, dass sie sich mögen würden und machte im Geiste reichlich Pläne für die Zeit. Harry war eher etwas nervös; bislang waren sie in ihrem Leben zu zweit – plötzlich sollten sie eine Familie mit zwei Kindern sein. Wenn auch nur auf begrenzte Zeit!

Daheim angekommen fuhr Harry das Auto in die Garage. Es begann zu schneien und Jutta war froh, einen überdachten Zugang von der Garage ins Haus zu haben. Bei einem Glas Rotwein ließen sie den Abend noch einmal Revue passieren. „Was sollen wir den Kindern im Heim zu diesem Fest eigentlich mitnehmen?“, fragte Jutta. „Es sollte schon etwas sein, mit dem sie auch etwas anfangen können.“

Wie meistens dachte Harry praktisch. „Was hältst du davon, wenn wir für jedes Kind einen Umschlag machen, zehn Euro und eine kleine Leckerei hineinstecken. So haben sie alle das Gleiche und keiner bekommt etwas, worüber er später die Nase rümpft.“

Zum Glück hatten sie gefragt, wie viel Kinder in der Gruppe leben.

„Die Idee ist gut“, murmelte Jutta, „so machen wir es. Mit diesen Gedanken verzogen sie sich ins Bad und dann ins Schlafzimmer. Beim Einschlafen gaukelte ihnen ihre Phantasie wunderschöne Mädchengesichter vor. Alle mit blonden, langen Haaren…

*

Das Fest begann pünktlich; sogar der Bürgermeister der Gemeinde ließ es sich nicht nehmen, eine kurze Ansprache zu halten. Als Geschenk hatte er das Stadtsäckel geplündert und für jedes der Kinder einen bunten Teller, sowie für die Einrichtung einen neuen Computer gesponsert. Heimkinder und Besucher saßen gemischt an den geschmückten Tischen. Mit viel Geschick hatten Jutta und Harry es eingerichtet, sich rechts und links neben Elfi und Ulla zu setzen. Nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken bildeten sich kleine Gruppen. Es wurde geschwatzt, gespielt und gelacht. Bevor die ersten Kinder gegen achtzehn Uhr abgeholt wurden, verteilte Herr Hinze – mit Genehmigung der Heimleitung – die Umschläge an die Kinder. Die meisten freuten sich über das zusätzliche Taschengeld und bedankten sich artig. Auch Elfi und Ulla sagten danke, doch ihre Gesichter drückten eine stille Trauer aus. Sie wussten auch, dass diese kleine Feier bedeutete, von einigen Kindern Abschied zu nehmen, bis sie nach den Feiertagen wieder ins Haus kämen. Hinzes waren mit Frau Wange übereingekommen, während des Festes nichts von ihren Absichten kundzutun; die Zwillinge sollten ohne Vorbehalte mit ihnen umgehen können. So gaben sie den Beiden nur die Hand und sagten, dass es ihnen gefallen habe. Danach verschwanden sie im Büro der Heimleiterin. Bei Elfie kullerten ein paar Tränchen, als ihre Schwester sie in den Arm nahm. „Musst nicht weinen; es war doch ein schöner Nachmittag und für die zehn Euro können wir uns die Umhängetaschen kaufen, die wir in dem kleinen Geschäft im Schaufenster gesehen haben.“

Sie wollten gerade den Gang entlang zu ihrem Zimmer gehen, als Christel, eine der Betreuerinnen, sie rief. Beide drehten sich um und warteten. Christel nahm sie an die Hand und ging den Weg zurück ins Heimleiterbüro.

„Wohin gehst du mit uns?“, fragten die Mädchen wie aus einem Mund.

„Ich soll Euch zu Frau Wange bringen. Da ist Besuch für Euch.“

„Für uns? – Wir haben doch niemanden auf der Welt!“

Schon waren sie vor der Tür. Christel öffnete sie nach dem Herein und schob die beiden Kinder durch den Rahmen. Ein wenig erhellten sich ihre Gesichter, als sie Jutta und Harry Hinze auf den Besucherstühlen sitzen sahen.

„Setzt Euch“, forderte Sigrid Wange die Zwillinge auf. „Ich habe erstmal eine Frage an Euch. Im Laufe des Nachmittags hab ich beobachtet, dass Ihr Euch mit unserem Besuch recht gut verstanden habt. Stimmt das?“

Sie guckten zu Hinzes und sagten laut und deutlich ja. „Wir haben sogar beim Mensch ärgere dich nicht gewonnen“, meldete Ulla.

„Also Ihr Beiden – Frau und Herr Hinze haben keine Kinder und würden Euch ab dem kommenden Wochenende bis über Silvester zu sich einladen. Ihr habt nun zwei Tage Zeit, um Euch das zu überlegen. Wir haben zwar einen Weihnachtsbaum und veranstalten auch eine kleine Feier für alle die, die hier bleiben müssen, aber…“ Den Rest des Satzes ließ sie offen.

Elfi und Ulla guckten sich an – guckten zu Hinzes und wieder zurück. Ulla war diejenige, die für beide antwortete. „Wir brauchen keine zwei Tage zum Überlegen. Wir haben ja nicht viel einzupacken und könnten gleich mitgehen…!“

Die Erwachsenen wechselten ein paar Blicke, dann war es entschieden.

„Gut“, sagte Harry und schaute den beiden Kindern in die Augen, „hurtig, hurtig – einpacken! Wir warten hier auf Euch, wenn auch Frau Wange einverstanden ist.“

Die Antwort warteten die Beiden gar nicht erst ab, so fix verschwanden sie durch die Tür.

„Ich glaube, die sind mehr als nur begeistert, dass das geklappt hat“, schmunzelte Harry. „Wir werden uns alle Mühe geben, den Zwillingen eine schöne Zeit zu schenken.“

*

Während der Fahrt zu Jutta und Harrys Zuhause, war es ziemlich still im Auto. Es schien, jeder machte sich seine Gedanken darüber, wie es in den nächsten beiden Wochen werden würde. Als sie vor dem Haus ankamen, war es an den Zwillingen, Mund und Nase aufzureißen. In so einem großen Haus sollten sie jetzt zwei Wochen leben; da würde man sich ja glatt verlaufen.

Jutta drehte sich zu ihnen um. Sie hatte die staunenden Blicke gesehen und meinte: „Macht den Mund einfach wieder zu… Ihr gewöhnt Euch daran. Versprochen!“ schmunzelte sie.

Von der Garage gingen sie den direkten Weg ins Haus und standen in der riesigen Diele. Wieder blieben sie staunend stehen: „So eine große Wohnung hatten wir früher nicht“, bemerkte Ulla. „Wir bewohnten nur zwei Zimmer in einem Hochhaus.“

Harry kam dazu und hörte die letzten Worte mit. „So“, sagte er, zu den beiden Mädchen gewandt, „das ist für Euch ab heute also Jutta, ich bin der Harry und wir sagen du zueinander, einverstanden? Jetzt machen wir uns noch etwas zu essen und zu trinken und danach zeige ich Euch das Haus, damit Ihr Euch nicht verlauft! Jutta richtet in der Zeit das Zimmer für Euch her. Eigentlich sollte das alles fertig sein, wenn Ihr ja gesagt hättet und zwei Tage später gekommen wärt. Aber so ist es auch schön und wir haben zwei Tage mehr miteinander. Also… stellt Eure Sachen in der Garderobe ab. Wir sind unter uns und hier kommt bestimmt nix weg. Ach – und noch etwas: zu uns kommt jeden Tag eine nette Haushaltshilfe bis zum Mittag. Wir haben jetzt Urlaub, aber wenn wir wieder arbeiten, macht sie während dieser Zeit hier sauber. Nicht, dass Ihr Euch erschreckt, wenn außer uns vieren noch jemand herum geistert. Die Dame heißt Hanne. Jetzt habe ich genug geschwatzt, auf geht’s in die Küche; vielleicht ist unser Abendbrot sogar schon fertig.“

Mit noch etwas unsicheren Schritten folgten die Zwillinge ihrem neuen Vater auf Zeit…

Danach ging es durch das Haus. Zum ersten Mal in ihrem jungen Leben hatten sie ein eigenes Zimmer mit angrenzendem Bad. Elfi und Ulla hatten einen Teil ihrer Scheu abgelegt und genierten sich nicht, Juttas Hilfe beim Duschen anzunehmen. Danach gingen sie noch einmal ins Wohnzimmer, um Harry Gute Nacht zu sagen. Wieder zurück in ihrem Zimmer huschten sie ins Bett und kuschelten sich aneinander. Jutta drückte beiden einen zarten Kuss auf die Stirn und zeigte auf die kleine Lampe in der Steckdose, die die ganze Nacht leuchtete. Sie sollten etwas sehen können, für den Fall, dass sie in der Nacht mal aufstehen müssten. Schließlich waren sie noch fremd hier.

„Na?“, fragte Harry seine Frau, als sie zurück ins Wohnzimmer kam, „wie fühlt man sich als zweifache Mutter?“

„Komisch… mir ist das so, als sei es selbstverständlich. Vielleicht hat jede Frau etwas Mütterliches, auch wenn man selbst keine Kinder geboren hat. Ich glaube, ich war die Treppe noch nicht zur Hälfte hinunter, schliefen die Beiden bereits. Wir werden wohl auch nicht alt; ab Morgen wird unser Haushalt völlig umgekrempelt.“

*

Hanne kam wie jeden Morgen gegen halb acht. Sie hatte einen Schlüssel und ging zuerst in die Küche, um die Reste des Abends zu spülen, sowie den Raum durchzuwischen. Auf dem Tisch standen noch vier Tassen und Teller. Wieso vier überlegte sie.

Sie wusste, Hinzes hatten Urlaub, doch von Gästen hatten sie nicht gesprochen. Und außerdem… Gäste von Hinzes in der Küche?! Na ja, irgendwann wird ja einer auftauchen und dazu etwas sagen können. Gerade stellte sie den Putzeimer wieder weg, als sich die Küchentür öffnete. Zwei blonde Mädchenköpfe schauten herein. „Hallo Hanne – wir haben Durst!“

„Wer seid Ihr denn und woher kennt Ihr mich? Kommt erstmal rein und macht die Tür zu. Ich mache Euch etwas zu trinken und Ihr erzählt mir, wie Ihr hierher kommt, ja.“

Mit roten Köpfen und in ein Gespräch vertieft, trafen Jutta und Harry die Dreierbande am Küchentisch sitzend.

„Wie ich sehe, habt Ihr Euch schon bekannt gemacht“, lachte Harry.

„Wir hatten ganz vergessen, Ihnen zu sagen, dass wir ab heute bis über den Jahreswechsel Besuch haben. Entschuldigung.“

„Kein Problem; nur gewundert habe ich mich. Mir war bislang völlig entgangen, dass Sie Kinder haben“, entgegnete Hanne mit einem Lächeln im Gesicht.

„Dann sind Sie bitte so lieb und machen zunächst einmal Kaffee für uns drei und Kakao für die beiden jungen Damen“, meldete Jutta sich zu Wort. „Und Ihr zwei – seid Ihr schon gewaschen und habt Zähne geputzt?“

„Gewaschen ja“, sagte Elfi leise, „das Zähne putzen holen wir nach, wenn wir gefrühstückt haben. Ist sowieso besser, dann bleiben die Zähne bis zum Mittag sauber.“

Jutta schaute zu ihrem Mann rüber und sah ihn, nach dem eben Gehörten, grinsen. Ganz schön clever unsere beiden Hübschen! Inzwischen standen Kaffee und Kakao fertig auf dem Tisch und alle begannen mit dem Frühstück. Zwischen zwei Bissen meldete sich Harry: “Was haltet Ihr von einem kleinen Einkaufsbummel?“ Begeistert riefen beiden ja.

„Bis gegen dreizehn Uhr sind wir wieder zurück.“ Nach dem Frühstück verabschiedeten sie sich von Hanne und zogen Hand in Hand zu Fuß in die nahe gelegene Stadt. Alle Bekannten, die sie unterwegs grüßten, sahen ihnen noch lange hinterher und schüttelten teilweise den Kopf. Sie wussten hundertprozentig, dass Hinzes keine Kinder hatten. Und dann auch noch so junge…!

Jutta und Harry amüsierten sich königlich bis Ulla einmal fragte: „Warum sehen uns die Leute denn so komisch an, nachdem wir sie gegrüßt haben?“

„Die kennen uns nur als Ehepaar ohne Kinder“, erwiderte Jutta schelmisch. „Die wundern sich vermutlich, wie man so schnell an so große und dazu noch hübsche Töchter kommt“, fügte Harry hinzu.

Den Ersatzeltern machte es Spaß, für ihre beiden Kinder auf Zeit etwas auszusuchen und trafen eine Vorauswahl unter den Teilen, aus denen Elfi und Ulla dann wählen durften. So bekamen sie jede einen roten Anorak, dazu eine passende Pudelmütze, sowie ein Paar feste Schuhe. Für die Pflege gab es noch für beide jeweils ein Handtuch und einen Waschlappen mit eingestickten Namen, zwei Zahnbürsten, Becher und andere Kleinigkeiten. Zwischendurch tranken sie in der Cafeteria des Kaufhauses alle einen heißen Tee.

Mit allerhand Tüten in den Händen kamen die Vier zehn Minuten vor der verabredeten Zeit wieder daheim an. Sie öffneten die Haustür und da kam ihnen schon Pizzaduft entgegen. Hanne hatte in der Küche gedeckt und kurze Zeit später saßen alle, mit noch roten Gesichtern von der frischen Luft, um den Esstisch.

Nach einer Stunde Mittagsruhe verzog Harry sich auf den Dachboden und kramte den alten Schlitten aus seiner Jugendzeit hervor. Mit ihm ging es dann am Nachmittag ins Bergische. Es hatte die letzten Tage geschneit, das wollten sie mit den Kindern nutzen. Es wurde schon fast dunkel, als alle vier, rechtschaffen müde, daheim eintrudelten. Elfi und Ulla gingen nach dem Abendessen ohne Murren ins Bett. Jutta bot ihnen an, eine Geschichte vorzulesen und sie sagten begeistert ja. Nach zwei Seiten waren sie fest eingeschlafen.

Als Hanne sich in ihren verdienten Feierabend verabschieden wollte, baten Jutta und Harry sie noch einen Moment ins Wohnzimmer. „Was halten sie von unseren beiden Trabanten?“ fragte Jutta sie.

„Ich glaube, das sind zwei ganz Liebe, die werden sich nach den Feiertagen bestimmt schwertun, wenn sie zurück ins Heim gehen.“

„Darüber haben wir uns auch schon Gedanken gemacht“, grummelte Harry halblaut. „Dann bis morgen. Ach, eins noch, wenn Sie Lust haben und selbst vielleicht nicht wegfahren wollen, können Sie gern die Weihnachtstage mit uns verbringen. Meine Frau wird Ihnen in der Küche helfen und die beiden Kinder sind sicher ganz wild aufs Helfen beim Plätzchen backen. Sie sind herzlich eingeladen.“

„Danke für das Angebot“, erwiderte Hanne, „ich gebe Ihnen morgen Bescheid, wenn es recht ist.“

Mit diesen Worten sagte sie noch mal Tschüs bis morgen früh.

Hanne war schon in der Tür als Jutta hinterher rief: „Sie können die nächsten Tage morgens ruhig eine Stunde später anfangen…“

„Ist gut“, antwortete sie und verschwand.

*

Als wollte Petrus den Hinzes und ihren Leihkindern ein ausnehmend schönes Weihnachtsfest bereiten, ließ er es fortgesetzt schneien. Der Weg vom Haus bis zur Straße musste vom Schnee befreit werden; Harry nahm den Schieber und die Zwillinge fegten mit einem Besen nach. Dann zogen sie sich an; um mit Harry einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Begeistert halfen Elfi und Ulla mit, einen besonders schönen auszusuchen. In ihrem ehemaligen Zuhause war wenig Platz und ihre Eltern waren gezwungen, nur ein kleines Bäumchen aufzustellen. Zum ersten Mal dachten Elfi und Ulla an ihre Eltern und wurden etwas stiller. Harry bemerkte es wohl, ließ die Beiden aber in Ruhe. Es dauerte eine Weile, bis sie den richtigen Baum fanden. Immer wieder umrundeten sie einen nach dem anderen, ob er gleichmäßig gewachsen sei und auch überall Äste waren. Am Ende entschieden sie sich für eine zwei Meter fünfzig große Nordmann-Tanne. Ein tüchtiges Mitglied der Familie Baumverkäufer hatte am Rand der Verkaufsfläche einen Glühweinstand aufgebaut. Für Harry gab es einen solchen, Elfi und Ulla bekamen warmen Traubensaft, genannt Kinderpunsch und der Vormittag war fast vorbei als sie mit ihrer Beute im Gänsemarsch den Heimweg antraten. Harry vorne am schwersten Ende und hinten – an der Spitze – teilten sich die Zwillinge das Schleppen. Daheim angekommen trugen sie den Baum ins Gartenhaus; er musste erst abtrocknen. Der Schnee war zwar schon abgeschüttelt, doch die Nadeln hielten noch viele Tropfen fest. Morgen war Heiligabend, da wollten sie am Vormittag alle gemeinsam den Baum im Wohnzimmer aufstellen und schmücken. Jutta hatte indessen der Hausdame in der Küche geholfen. Keine könne die Semmelknödel so gut machen wie sie selber – behauptete sie jedenfalls! Nach dem Essen war Mittagsruhe angesagt; am Nachmittag lud der Hausherr alle zu einem Bummel über den Weihnachtsmarkt ein. Hanne hatte sich entschieden, das Angebot, die Feiertage mit der Familie zu begehen, anzunehmen.

Unter dem Vorwand, sie müsse schließlich dem Weihnachtsmann die Tür öffnen, blieb Jutta zu Hause, während Harry, Hanne und die Zwillinge am späten Nachmittag zum Weihnachts-Gottesdienst am Heiligen Abend gingen. Jutta traf in der Zeit die Vorbereitungen für den Abend; schaltete die Beleuchtung am Weihnachtsbaum ein, legte eine CD mit weihnachtlichen Liedern in den Spieler und verteilte die Geschenke für alle rund um den Baum. Als die Kirchgänger zurückkamen, war in der Küche der Tisch gedeckt und es gab traditionell Würstchen mit Kartoffelsalat. Hanne wunderte sich im Stillen, dass das Weihnachtsessen in der Küche stattfand, aber im Verlauf der Mahlzeit verstand sie, dass Hinzes den Zwillingen keine Komplexe bescheren wollten. Sie waren so gar nichts von daheim gewohnt und wurden hier in eine völlig andere Welt versetzt. Nach dem Essen halfen alle, die Küche aufzuräumen, während Harry ins Wohnzimmer ging, um die Musik anzustellen. Auf dieses Zeichen hatten sie gewartet. Langsam betraten sie, Eine nach der Anderen, das Zimmer und bekamen große Augen angesichts des festlich geschmückten und nun beleuchteten Baumes. Die Präsente für die Kinder waren nicht zu übersehen; zwei Fahrräder funkelten im Kerzenlicht und etliche weitere Gaben, alle mit Namen versehen, warteten darauf, besichtigt zu werden. Auch für Jutta lag ein Päckchen unter dem Baum. Harry hatte es, bevor er die Musik anstellte, fix aus dem Keller geholt, wo er es seit Wochen versteckt hielt. Es wurde ein aufregender Abend. Einige Spiele wurden ausprobiert; Hanne erzählte eine Geschichte aus ihrer eigenen Kindheit und immer wieder wurden die Geschenke begutachtet.

Als Elfi und Ulla an diesem Abend im Bett lagen, konnten sie wieder nicht einschlafen. Zuviel war auf sie eingestürmt. Die Schwestern waren sich einig, so einen schönen Heiligen Abend verbrachten sie noch nie. Alle waren ganz lieb zu ihnen, vor allem Jutta und Harry. Sie seien wie richtige Eltern, meinte Ulla gähnend und Elfi nickte dazu in der Dunkelheit. Dann endlich übermannte sie der Schlaf.

Hanne überraschte die Familie am ersten Feiertag. Sie war früher aufgestanden, um ganz leise das Haus der Hinzes zu betreten. Damit keiner etwas bemerkte, nahm sie ihre Sachen mit in die Küche und werkelte so ruhig wie möglich beim Decken des Frühstückstisches.

Jutta stand als erste auf und schnupperte auf dem Weg ins Bad. Wieso riecht es am frühen Morgen in unserem Haus nach Kaffee? Sie schaute noch einmal ins Schlafzimmer zurück auf die Uhr – acht Uhr morgens. Harry blinzelte. „Was ist? Ich denke, du bist im Bad?“

Jutta berichtete, dass sie Kaffeeduft in der Diele gerochen hätte.

„Das kann doch nicht sein“, sagte Harry und stand ebenfalls auf. Beide schlichen Richtung Küche und öffneten die Tür einen Spalt. Da saß Hanne gemütlich auf einem Stuhl und grinste über alle vier Backen.

Jutta und Harry waren sprachlos. „Haben Sie hier übernachtet?“ fragten sie lachend.

„Nein, nein, das ist nur ein kleines Dankeschön für den netten Abend gestern.“

„Na – dann wollen wir mal…“ meinte Harry. In diesem Moment kamen Elfi und Ulla, fertig angezogen, geschniegelt und gebügelt aus ihrem Zimmer. „Jetzt sind wir die einzigen, die noch im Morgenmantel hier herum stehen.“ Ohne ein weiteres Wort verschwanden Hinzes im Bad. Bevor die Zwillinge fragen konnten, erzählte Hanne den Beiden ihre Morgengeschichte. Zum Mittagessen hatten Hinzes in einem Restaurant für fünf Personen einen Tisch reserviert. Am ersten Feiertag wollten sie daheim nicht kochen. Am Nachmittag verabschiedete sich Hanne; sie hatte nun bis zum zweiten Januar frei bekommen. Jutta und Harry wollten in diesen Tagen mit den Kindern noch in den Zoo und ins Wellenbad, wofür die zwei auch jede einen schicken Bikini spendiert bekamen. Ebenso stand noch ein Besuch der Pizzeria und einmal Schlitten fahren im Bergischen Land auf dem Plan, bevor es auch für sie dann wieder hieß, Abschied zu nehmen.

Am Neujahrtag wurde es ruhig im Hause Hinze. Alle vier, ob groß oder klein, hingen ihren Gedanken nach. Jutta war es, die es aussprach: „Eigentlich haben wir uns an die zwei Krabben gewöhnt.“

Harry stimmte zu. „Und – was tun wir jetzt?“

Elfi und Ulla saßen in ihrem Zimmer und wollten in einem der neuen Bücher etwas lesen, doch sie konnten sich nicht konzentrieren. „Am liebsten würde ich hier bleiben“, meldete Elfi sich zu Wort.

„Ich auch“, meinte Ulla, „Man bemerkt gar nicht, dass Jutta und Harry etwas älter sind als andere Eltern, die Kinder haben, die so alt sind wie wir. Die sind so lieb, als seien es unsere richtigen Eltern. Ob man da gar nichts machen kann? Wir haben doch sonst niemanden…!“

Jutta und Harry unterhielten sich im Wohnzimmer. „Schade, dass die beiden Kinder nicht bleiben können. Ob man da nicht etwas machen kann? Sie haben doch sonst niemanden. Mit Hanne habe ich mal so prophylaktisch gesprochen; sie würde auch ganze Tage kommen, wenn die Kinder hier wären.“

„Ich fände es auch schön. Da wir es gern machen würden, wäre die Belastung, trotz unseres Berufes und … unseres fortgeschritteneren Alters gar nicht so stark. Tagsüber würde Hanne uns gewiss Einiges abnehmen und das Jugendamt kann von mir aus alles überwachen, wenn sie das für nötig halten“, bemerkte Harry.

„Verlass dich drauf. Das halten die für nötig! Ganz bestimmt bei uns; die kümmern sich doch bloß bei solchen Leuten nicht drum, wo es definitiv angebracht wäre“, giftete Jutta in Erinnerung an die kürzlich bekannt gewordenen Kindesmisshandlungen, die in zwei Fällen zum Tode der armen Würmer führte.

Am Abend saßen alle vier, jeder in einer Ecke, auf der Polstergarnitur und machten traurige Gesichter. Ulla nahm sich nach langer Zeit ein Herz und sagte leise zu Jutta und Harry: „Wir wollen gar nicht mehr ins Heim; wir würden gerne bei Euch bleiben!“

Jutta sprang von ihrem Platz auf, war mit einem Satz bei den Kindern und umarmte sie. Dann weinten alle drei eine Weile. Harry saß in seiner Ecke und verstand nicht, warum man heulte, wenn man sich freut.

Dann schauten Jutta und die Zwillinge ihn an: „Ja – wir hätten auch nichts dagegen. Und wenn wir vier zusammen halten, sollte es doch gelingen, sowohl im Heim als auch bei den Behörden, Entsprechendes zu erreichen.“

Jetzt war es an Elfi und Ulla, aufzuspringen und Harry in den Arm zu nehmen. Wieder liefen die Tränen…

Um einundzwanzig Uhr mahnte Harry seine Bande, ins Bett zu gehen. Morgen wird wohl der erste von vielen anstrengenden Tagen werden. Da müssen wir fit sein und dürfen nicht womöglich mit verweinten Augen im Heim auftauchen. Außerdem müsst Ihr Euch für die Schule vorbereiten, oder? Also – ab in sämtliche Betten!“

Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, war es soweit. Sie stiegen alle ins Auto, um ins Kinderheim zu fahren. Verabschiedet hatten sie sich gestern Abend schon voneinander; nach ihren Wünschen sollte es nur für kurze Zeit sein. Jutta und Harry hatten gesagt, es sei seit vielen Jahren für sie das schönste Weihnachtsfest gewesen. „Wir hatten auch wunderschöne Weihnachten mit Euch“, antwortete Ulla für Elfi.

Ihre Sachen ließen sie erst einmal bei Harry und Jutta; abholen konnte man sie immer. Außerdem beschlossen die Geschwister, die Beiden sowieso jeden Tag zu besuchen!

So fuhren sie los und waren trotz allem gedrückter Stimmung. Elfi und Ulla Schimmel waren die letzten Kinder, die aus den Weihnachtsferien zurückkamen. Viele Andere standen am Fenster, um zu sehen, wer die Zwillinge zurück brachte. Damit alles seine Ordnung hatte, gingen Jutta und Harry mit ins Büro von Frau Wange. Die Zwillinge wurden gefragt, wie es denn gewesen sei. Sie strahlten und antworten wie aus einem Mund: „So schöne Weihnachten hatten wir noch nie!“

Dann geht mal zu den anderen Kindern. Sie sind schon neugierig, wo ihr solange wart, aber sie wollen natürlich auch ihre Erlebnisse erzählen. Beide gaben Jutta und Harry noch einmal die Hand und schauten ihnen fest in die Augen. Diese nickten unmerklich mit dem Kopf. Es sollte soviel heißen, wie: „Wir schaffen das schon, wenn wir ganz fest wollen.“

Dann waren Elfi und Ulla durch die Tür.

Hinzes brachten nun der Heimleiterin ihr Anliegen vor und erklärten gleich, wie sie sich das vorstellten und, dass die Mädchen, ohne dass sie sie in dieser Richtung beeinflusst hätten, gern das Angebot annehmen würden.

Für unsere Behörden eine stramme Leistung! Nach „X“ Prüfungen der Lebensläufe usw. hatten Hinzes es nach sechs Wochen schwarz auf weiß: die beiden Vollwaisen Elfi und Ulla Schimmel durften zu Jutta und Harry Hinze, ihren Pflegeeltern, wie man es nannte, ziehen.

Es war Freitagnachmittag, an dem sich Jutta und Harry frei nahmen; keiner wollte sich entgehen lassen, Elfi und Ulla von der Schule abzuholen.

Die Schulglocke ertönte und kurz danach stürmten die Kinder aus dem Gebäude. Als einer der letzten erschienen die Zwillinge. Andere Kinder versperrten ihnen noch die Sicht zum Tor des Schulhofes. Erst wenige Meter davor sahen sie sie. Zunächst verhielten sie ihre Schritte. Bis Jutta und Harry die Arme ausbreiteten – dann hielt sie nichts mehr. Mit ernstem Gesicht sagte Harry: „So ihr beiden – wir fahren jetzt ins Heim…“

Elfis und Ullas Gesichter wurden lang und länger. „Treib es nicht zu weit“, sprang Jutta ein. „…wir holen Eure restlichen Sachen und fahren nach Hause. Jetzt sind wir eine richtige Familie.

Sie waren fünf

Sie stellten eingeschworene Gemeinschaft dar – die Fünf aus Queringen; sie spielten im örtlichen Fußballverein in der gleichen Mannschaft und meistens machten sie auch gemeinsam ihre Schularbeiten. Manchmal blieben sie nach Schulschluss noch eine Stunde oder zwei, ein Abkommen mit dem Hausmeister machte es möglich. In dieser Zeit arbeiteten sie ihre Hausaufgaben ab und sagten dann Bescheid, dass sie ihren Klassenraum sauber und aufgeräumt verlassen hätten. Hinter ihnen wurde abgeschlossen. Oft trafen sie sich zu diesem Zweck reihum; bei jedem wurde mal gearbeitet. Ein weiteres Hobby, das sie miteinander teilten, war das Schwimmen. Wenn die Zeit reichte und das Wetter mitspielte, sah man sie im Freibad oder im nahe gelegenen Baggersee.

Wer waren diese Burschen, die so zusammenhielten; dergleichen war doch in den letzten Jahren immer seltener geworden. Sicherlich konnten die Fünf nicht immer gleicher Meinung sein, doch spätestens nach einem gewonnenen Fußballspiel waren alle eventuellen Streitigkeiten vergessen.

Da gab es zunächst die Zwillinge, Jens und Jürgen Mahlke – sechzehn Jahre. Vom Äußeren nicht unbedingt schlank, doch, wie sie mit einem Augenzwinkern, immer behaupteten … alles Muskeln. Beide hatten einen Kopf voll blonder Locken, um die sie so manches Mädchen in der Schule beneidete. Die Eltern betrieben eine Schreinerei, in der sie immer mal wieder kräftig zupacken mussten, wenn der Vater das Glück hatte, einen eiligen Auftrag an Land zu ziehen.

Den Dritten im Bunde, Swen Schmied, nannten alle nur den Spargeltarzan. Er überragte seine Kumpel um Haupteslänge; mit seinen langen Beinen war er der schnellste in der Runde und mit siebzehn Jahren der Älteste. Swen lebte mit seiner Mutter allein in einer geschmackvollen Wohnung; sein Vater war vor einem Jahr bei einem Betriebsunfall ums Leben gekommen.

Hans Wallek verdankte den Spitznamen Feuermelder seinen brandroten Haaren. Und als nächstes bekam er dann die Frage zu hören: Hast du die Masern? Er war über und über mit Sommersprossen gesegnet; hatte jedoch, mit seinen knapp siebzehn Jahren, nur wenige Monate jünger als Swen, eine für sein Alter normale Statur. Die Vorfahren der Familie sollten aus Irland stammen. Seine Eltern, die ein Lebensmittelgeschäft unterhielten, betrieben allerdings keine Ahnenforschung.

Den fünften im Bunde nannten sie nur den Türken, obwohl er keineswegs einer war. Doch seine pechschwarzen Haare, der sich abzeichnende dunkle Oberlippenbart und seine olivfarbene Haut ließen diesen Schluss zu. Diese Tönung verdankte er allerdings eher seiner Neigung, jeden Sonnenstrahl einzufangen, denn sein Name war wirklich typisch deutsch: Willi Schmitz. Er lebte mit seinem Vater und dessen zweiter Frau in einem Reihenhaus. Seine Mutter, aus einer begüterten Familie stammend, verstarb kurz nach seiner Geburt.

*

Jutta Kramm und Alexandra Jung waren Freundinnen. Obwohl sie altersmäßig zwei Jahre auseinander lagen, pflegten sie die gleichen Interessen. Jutta, gerade sechzehn, mit einer normalen Figur; ihr Markenzeichen waren zwei, bis zu den Hüften reichende, pechschwarze Zöpfe.