Mariness lebt ihren Traum - Renate Krohn - E-Book

Mariness lebt ihren Traum E-Book

Renate Krohn

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Beschreibung

Maria-Ines, Rufname Mariness, dieser passt auch viel besser zu ihr. Unter dem traditionellen altspanischen Namen stellt man sich eine, rassige, dunkelhaarige, Flamenco tanzende Schönheit vor. Mariness ist ein Teenager ihrer Zeit. Nach dem Abitur weiß sie nicht genau, was sie will, aber es sollte etwas mit Musik sein. Und dann entwickelt sich alles ganz anders. Ihr Vater spendiert ihr zum bestandenen Examen eine Reise nach Norwegen, von der sie verändert und gereift zurückkommt. Sie erlebt ihre erste Liebe, stolpert kopfüber in ein Abenteuer, indem sie sich dazu entschließt, Schauspielerin werden zu wollen. Sie kämpft sich ganz nach oben und eines Tages hat sie es geschafft. Mariness lebt ihren Traum.

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Gerufen wurde sie Mariness, das passt besser zu ihr als Maria-Ines. Unter diesem althergebrachten spanischen Namen stellt man sich eine dunkelhaarige, rassige Schönheit beim Flamenco vor. Doch Mariness ist ein Teenager ihrer Zeit. Was sie nach dem Abitur machen wird, weiß sie noch nicht genau; es sollte schon etwas in Richtung Musik sein. Doch dann kommt ganz anders. Ihr Vater spendiert ihr nach dem bestandenen Examen eine Reise nach Norwegen und dort fing alles an.

Renate Krohn *1948 in Hüls/Ndrh. übersiedelte 1968 nach Köln. Sie liebt Deutsch, Geschichte, Geographie. Und gehört zu der Generation, für die der Besuch einer weiterführenden Schule noch keine Selbstverständlichkeit war. Bereits in der Schulzeit schrieb sie mit Begeisterung Aufsätze, je länger, desto lieber. Mit den Jahren entwickelte sie ein waches Auge und fing Gegebenheiten ein, die sie in die entsprechende Zeit umsetzte. Mit dem Buch Mariness lebt ihren Traum schuf sie eine Figur, die in den sechziger Jahren lebte und deren Lebensweise heute noch oder schon wieder aktuell ist.

Personen

Maria-Ines Dreschmann

genannt Mariness

Axel Dreschmann

Vater

Anita Dreschmann

Mutter, geb. Carlsson

Boris Carlsson

Onkel

Magdalena, genannt Magda

Tante

Fedja

beider Sohn

Ramon Hellersen

Klassenkamerad von Mariness

Roy und Gerald Vater Hellersen Mutter Hellersen

Ramons Freunde Fabrikant Party“girl“

Hieronymus Griffel

Theaterintendant

Anneliese Brinker

Sekretärin

Jonathan Brinker

Journalist & Annelieses

Bruder

Norman Meller

Stammschauspieler

Harald von Bendom/Yannik

Stammschauspieler

Hartmut Rödeler Jens Mittelreich Lukas Anteil

Theaterneulinge

Clemens von Bendom

Haralds Vater

Marietta von Bendom

Harald Mutter

Horst Sandmann

Hauptkommissar

Rolf Deterlich

Hauptkommissar

Dr. Penelope Deterlich

Ehefrau und Pathologin

Helmut Kanter Dieter Schwarz Paul Kleemann Wolfgang Ixmann Kallmann Holler

Polizei und Spurensicherung

Julius Neuhauser

Pfarrer

Die ausgewählten Orte gibt es (fast alle) wirklich, doch die damit verbundenen Ereignisse und genannten Personen sind frei erfunden. Nur zwei Namen nicht, Mariness und Yannik existieren – aber sie leben irgendwo auf dieser Welt. Das kleine Theater in Bückeburg existiert in dieser Form ebenfalls nicht. Ansonsten sind eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden Bewohnern absolut zufällig und von der Autorin keinesfalls beabsichtigt.

Renate Krohn ©2018

Inhaltsverzeichnis

Die Reise nach Norwegen ...

Der Traum vom Ruhm

Ganz oben

Mariness lebt ihren Traum

Die Reise nach Norwegen ...

…ist ein Geschenk des Vaters zum bestandenen Abitur. Mariness wollte eigentlich nach Russland, doch das war ihrem Vater zu weit weg und er überredet sie mit List zu einem Besuch bei Verwandten in Vadsø im hohen Norden Norwegens. Als sei die Zeit dort stehen geblieben, erlebt Mariness eine völlig fremde Welt und ihre erste Liebe.

„Maria-Ines? Um Himmels Willen, was ist denn das für ein Name?“ Entsetzt hob Tante Hermeline die Hände und sah ihre Nichte Anita fast strafend an.

„Das ist ein alter spanischer Name und leitet sich von Agnes ab. Es bedeutet soviel wie heilig oder geweiht. Auch keusch. Das weiß man ja noch nicht. … Aber sie wird so heißen“, schloss Anita ihre Ausführungen mit einem leichten Schmunzeln im Gesicht und zuckte dabei mit den Schultern.

„Na ja, ein bisschen exotisch ist der Name schon, aber sehr schön. Mir gefällt er.“ Onkel Johann ließ sich die Silben auf der Zunge zergehen.

*

Gerufen wurde sie Mariness. Dieser Name passte auch besser zu ihr als Maria-Ines. Darunter stellte man sich eine dunkelhaarige Schönheit vor und bei Mariness stand noch nicht fest, wie sie sich einmal entwickeln würde. Kurz vor ihrem achtzehnten Geburtstag war sie ein modernes Mädchen ihrer Zeit. Ihr Vater betrachtete sie manchmal verstohlen und bemerkte, dass sie ihrer Mutter immer ähnlicher wurde. Nicht so hellblond wie ihre Mutter Anita, eher so ein dunkles Aschblond, von ihr selber spöttisch als Straßenköterfarbe bezeichnet. Graublaue Augen, eine schlanke Figur, die zeigte, dass sie sportlich durchtrainiert war.

Mariness’ Mutter Anita gebürtig aus Norwegen, stammte aber, was die weitere Familie anging, aus dem Osten. Aus einem Gebiet, das früher einmal Weißrussland hieß, kannte man es Jahrzehnte unter dem Sammelbegriff Sowjetunion, um es nun in dem Zusammenschluss ehemaliger sowjetischer Staaten in der GUS wiederzufinden.

In den Wirren des ersten Weltkrieges gelang es Mariness' Vorfahren, Russland zu verlassen. Sie ließen sich in Vadsø nieder.

Dieser Ort, denn mehr ist es nicht, liegt am Ufer des einhundertzwanzig Kilometer langen Vorangerfjords im Norden Norwegens.

Erst viele Jahre später wanderten einige Nachkommen nach Deutschland aus; warum sie ausgerechnet nach Bückeburg kamen, weiß wohl niemand mehr zu sagen. Dort wurde Mariness geboren.

*

Heute lief Mariness missmutig durch den Schlosspark und dachte mit Schaudern an das bevorstehende Abitur. Sie wusste, dass sie ihr Abi zwar schaffte, doch der Vater würde ein wenig enttäuscht sein. Er rechnete mit einer tollen Abschlussnote und die würde sie ganz gewiss nicht bekommen. Alle Mühen der letzten Wochen waren umsonst; auf die Nachlässigkeit der vergangenen Jahre folgte die entsprechende Strafe. Die Schule ist nun einmal nichts für mich, dachte Mariness wütend, keiner hat mich gefragt, ob ich überhaupt ein Abitur machen wollte. Meine Welt ist die Musik. Bloß Vati ist überzeugt, auch ein Musikstudium sei ohne Abitur nicht möglich. Mit einem unzufriedenen Seufzer machte sie sich auf den Heimweg. Ein bisschen muss ich wohl doch noch tun, sonst bekomme ich auch noch die versprochene Belohnung gestrichen, dachte sie im Stillen. Dazu muss man wissen, dass Mariness' Vater ihr eine großartige Reise in Aussicht gestellt hatte, wenn sie ein vernünftiges Abi bauen würde. Trotz dieses großzügigen Angebotes gab es allerdings einen Kampf zwischen Vater und Tochter. Mariness liebäugelte mit der Fahrt einer Jugendgruppe nach Russland. Sie wollte unbedingt das Land ihrer Vorfahren kennen lernen.

Zu dieser Mentalität hatte sie einen besonderen Draht; genauso, wie sie die russische Musik außerordentlich liebte. Vater behauptete immer, das sei ihr mütterliches Erbteil. Doch mit diesem Wunsch stand Mariness allein. Alles, nur genau diese Traumreise wollte der Vater nicht zulassen. Ihn schreckten die Nachrichten über die veränderten Gegebenheiten und außerdem beschlichen ihn, noch aus dem letzten Krieg, einige ungute Erinnerungen.

Mariness hingegen verstand einfach nicht, was daran so Besonderes sein sollte. Immerhin war sie erwachsen und der Ansicht, dass sie mit Anderen zusammen eine solche Reise durchaus antreten könne. Als Mariness von ihrer Schlenderei durch den Schlosspark heimkam, wartete der Vater schon auf sie.

„Kommst du mal bitte.“

Oh je, dachte Mariness, jetzt gibt's Schelte. Ich hätte längst mit den Vorbereitungen fürs Abendessen anfangen sollen. Seit Mariness' Mutter verstorben war, lebten die Beiden allein und teilten sich so gut es ging alle Hausarbeiten. Auch putzen und kochen. Mariness besaß darin ein beachtliches Geschick. Gelegentlich machte ihr das sogar Spaß. Entgegen aller Befürchtungen empfing der Vater sie jedoch sichtlich erfreut und meinte: „Jetzt wirst du dich bestimmt gleich hinsetzen!“

„Warum?“

„Ich habe eine Riesenüberraschung für dich!“

„Na, dann lass mal hören“, lachte sie und dachte dabei, ich bin neugierig, was da rauskommt.

„Du weißt, dass Mutter noch einen Bruder hat, der im äußersten Norden Norwegens lebt. Im Laufe vieler Generationen haben die Carlssons sich da oben ein großes Gut aufgebaut. Um es kurz zu machen, dein Onkel Boris hat dich eingeladen, einige Monate bei ihm zu verbringen. Wenn du also dein Abitur in der Tasche und Lust dazu hast, kannst du ein paar Monate dort bleiben. Immer vorausgesetzt, es gefällt dir auch. Zur Begleitung und Unterhaltung ist dein Cousin Fedja da, den du persönlich noch nicht kennst. Er ist zwei Jahre älter als du. Was sagst du jetzt?“ Im ersten Augenblick sagte Mariness gar nichts. Sie wusste nicht genau, ob sie sich freuen oder ärgern sollte. Dann flutschte ihr heraus: „Ich weiß nicht – das hast du doch eingefädelt?!“

Ein wenig pikiert antwortete der Vater: „Du irrst dich mein Kind, diese Einladung ist wirklich ohne mein Zutun entstanden. Bitte, lies selbst.“

„Tatsächlich“, murmelte Mariness, „Onkel Boris, wie komisch. Mit diesem Gedanken muss ich mich erst vertraut machen, Vati. Das kommt ziemlich plötzlich.“

„Norwegen muss ein herrliches Land sein.“

Mariness seufzte: „Das glaube ich sogar, trotzdem ...“

„Du entscheidest dich in den nächsten Tagen?“

Ein Kopfnicken war die Antwort und Mariness verzog sich erst mal in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten und nachzudenken.

*

Endlich war das Abitur überstanden und Mariness strahlte mit der Sonne um die Wette. Es klappte besser als erwartet und sie freute sich auf das Gesicht ihres Vaters. Die beiden hatten in den vergangenen Wochen Burgfrieden geschlossen und die Zusage zum Aufenthalt in Norwegen war inzwischen nicht nur abgeschickt, sondern löste in Mariness sogar eine unbestimmte Vorfreude aus.

Im Augenblick ging es nur noch um die Frage, ob man besser mit dem Zug fuhr oder das Flugzeug benutzte.

„Ich möchte eigentlich gern fliegen, Vati.“

„Hm, sicher“, meinte er unbestimmt, „das geht natürlich viel schneller.

Ich frage mich nur, ob du von einer mehrtägigen Bahnfahrt, so anstrengend sie auch sein mag, nicht mehr hast. Immerhin ist das eine Strecke, die normalerweise nicht übermäßig von Touristen frequentiert wird. Du würdest bestimmt eine Menge sehen und erleben. Im Liegewagen und mit einem Haufen Leute um dich herum ...“

Mariness strahlte ihren Vater erstaunt an: „Das ist ein Argument! Ich hätte nicht erwartet, dass du das zulassen würdest. Wo du doch so dagegen warst, dass ich nach Russland fahre.“

„Das ist etwas ganz anderes“, meinte er unwirsch.

Mariness unterließ vorsichtshalber die Frage, was daran anders sei. In Gedanken weilte sie bereits in Norwegen und dachte über ihren Onkel Boris und ihren Cousin Fedja, die sie beide kennen lernen sollte, viel nach.

„Gut, also nehme ich den Zug. Du hast Recht. Außerdem – was soll mir schon passieren. Schließlich bin ich erwachsen!“

Letzteres nahm der Vater mit gemischten Gefühlen zur Kenntnis. In seinen Augen war Mariness lediglich nach Kalenderjahren erwachsen. Das konnte er ihr nur nicht sagen. Wie jeder Teenager reagierte sie äußerst allergisch darauf, wenn man diese angebliche Tatsache infrage stellte.

*

Anfang August stieg Mariness in den Zug. Die Route war so zusammengestellt, dass sie unterwegs wirklich alles mitnahm, was an Sehenswürdigkeiten zu finden war.

Zwei Tage und eine Nacht sollte die Fahrzeit betragen; Eisenbahn und Fähre waren entsprechend geplant. Auf dem Bahnsteig wurde ihr plötzlich ein bisschen mulmig.

Ihre erste Reise und dazu eine so lange. Mariness fühlte sich auf einmal überhaupt nicht mehr erwachsen. Sie hätte am liebsten losgeheult. Der Vater stand auch mit einem seltsamen Gesichtsausdruck neben ihr, so dass Mariness sich eisern bezwang, genau das nicht zu tun.

„Der Zug kommt gleich. Mach's gut Mädchen, pass auf dich auf!“

„Klar Vati. Was soll denn schon passieren, immerhin kann die Eisenbahn nicht vom Himmel fallen.“

„Da hast du recht.“

Eine letzte Umarmung. Ab in den Zug.

Dem Abenteuer Norwegen entgegen.

*

Mariness suchte sich, nachdem sie die Fähre hinter sich hatte, ein drittes Mal umgestiegen war und jetzt in dem Zug saß, der sie ihrem endgültigen Ziel entgegen brachte, ihren reservierten Platz und begann, die Mitreisenden neugierig zu mustern. Es waren eine Menge älterer Leute darunter und nach kurzer Zeit kam auch eine Unterhaltung in Gang. Immerhin würde man ziemlich viel Zeit zusammen verbringen. Da war es schon wichtig, dass man sich nicht nur gegenüber saß und beharrlich anschwieg. Außerdem war Mariness inzwischen vom Reisefieber gepackt und beantwortete die Fragen ihrer Mitreisenden mit echtem Vergnügen.

In der Eisenbahn musste jeder für sich selbst sorgen und Mariness verspürte inzwischen ausgewachsenen Hunger. Ihr wohl gefüllter Proviantkorb enthielt nichts von dem, was sie momentan gern essen würde und deshalb machte sie sich auf den Weg zum Speisewagen. Für das, was sie vorfand, war der Begriff Speisewagen gewiss übertrieben. Aber immerhin ein Coupé, in dem man etwas Essbares kaufen konnte. Sie erstand ein Päckchen Erdnussplätzchen und, weil es keine Limonade gab, ein Glas Tee. Als es ans Bezahlen ging stellte sich heraus, dass Mariness ihr letztes Kleingeld ausgeben musste. Die größeren Scheine wollte sie für etwaige Sonderausgaben aufbewahren. Für die nächsten Gelüste blieb also nur der Proviantkorb. Sie sollte schnell merken, dass auf solchen Reisen eine Art Austausch von Essbarem keine Seltenheit war.

Mariness gewann den Eindruck, das nach festgesetzten Regeln ablief:

„Zeig mal – was ist das denn?“ „Das habe ich ja noch nie gegessen.“ „Oh, bitteschön – du kannst gern einmal probieren.“ „Was hast du denn da? Das kenne ich nun wieder nicht ...!“

Mariness wurde ohne große Worte in diesen Kreis einbezogen und bekam zunächst einmal einen roten Kopf. Sie bedankte sich und meinte:

„Das kann ich aber nicht annehmen. Ich kann Ihnen doch nichts zurückgeben.“

„Na und, Sie haben doch Hunger, oder?“ fragte die freundliche Stimme wieder.

„Ja.“

„Dann wünsche ich Ihnen einen guten Appetit.“

Mariness war wie benommen. In ihrem Kopf wirbelten die Eindrücke durcheinander. Wie war so etwas möglich? In Deutschland käme gewiss kaum noch jemand auf die Idee, einem Anderen mit nur zehn Cent aus der Patsche zu helfen und hier wurde sie mit der größten Selbstverständlichkeit von wildfremden Menschen gleichsam verpflegt. Besonders nett waren die Beiden aus dem Nachbarabteil. Ein älterer und ein junger Mann. Sowohl der Ältere als auch der Junge hatten schon mit ihr gesprochen und Mariness überlegte, was das für Landsleute wären? Beide sprachen deutsch mit ihr, allerdings unverkennbar mit Akzent.

Zunächst machte sie sich mit Appetit über die angebotenen Leckerbissen her. Während sie genießerisch kaute, ließen die Mitreisenden sie in Ruhe. Sie spürten, Mariness weilte mit ihren Gedanken in einer anderen Welt.

Wie wird es in Vadsø sein? fragte sie sich immer wieder. Ihr kam zu Bewusstsein, dass das Endziel nicht weit vom Eismeer lag, sogar ziemlich nahe an der Grenze. Eine ihr fremde Welt, so hoch im Norden Europas. Mariness war ehrlich zu sich selbst, sie hatte nun doch ein wenig Angst vor dem Unbekannten.

*

Die letzte Etappe der Fahrt war angebrochen. Von der Bahnstation, die noch etliche Kilometer von Vadsø entfernt lag, trennten sie nur noch wenige Stunden.

Mariness verbrachte zum ersten Mal in ihrem Leben eine Nacht im Liegewagenabteil eines Zuges und dachte am Morgen amüsiert an das Bettenbauen des vergangenen Abends zurück. Irgendjemand hatte ihr Doppellaken mit dem Einstieg falsch herum gelegt und da sie keine Ahnung hatte, wie das funktionierte, war sie bemüht, genau so in das Laken zu kriechen, wie die anderen Mitreisenden. Bloß – das ging nicht.

Bis der junge Bursche von nebenan kam und unter etlichem Gelächter ihr Bett so baute, dass auch sie dann endlich schlafen gehen konnte.

Währenddessen ratterte der Zug durch eine endlose Ebene mit kleinen Waldflecken, die eher mit halbhohen Krüppelbäumen bewachsen waren. Wald gab es nicht, aber kleinere Flecken mit halbhohem Bewuchs.

Gelegentlich kam mal eine zusammen hängende Fläche mit Baumbestand.

Mariness sah aus dem Fenster: Ab und zu sah man dunkelblau das Wasser zahlreicher Seen schimmern. Trotz der Jahreszeit, es war erst August, strahlte eine kalte Sonne vom wolkenlosen Himmel. So blau kann der Himmel auch nur hier sein, dachte sie. Zu Hause sieht man oft kaum noch etwas von der Sonne; alles grau in grau.

Die kleinen Waldstücke blieben zurück und die Landschaft veränderte ihr Bild kaum. Die endlose Weite, die sie durchfuhren, machte auch die übrigen Mitreisenden schweigsam. Einige dösten vor sich hin, Andere sahen stumm aus dem Fenster.

Plötzlich sagte eine Stimme von der Tür her: „Nun junges Fräulein, was sagen Sie zu unserem schönen Land?“

„Es kommt mir so weit vor und trotzdem ... erdrückt es mich irgendwie“, drehte Mariness sich zu dem Sprecher um. Es war der nette Herr aus dem Nachbarabteil, der sie, gemeinsam mit seinem Sohn, der ihr belustigt beim Bettenbauen half, großzügig mit durchfütterte.

„Kommen Sie mit mir auf die andere Seite. Dort sieht die Landschaft ganz anders aus“, meinte der Fremde. Mariness erhob sich. Auf der anderen Seite blickte sie auf Grasflächen, die von kleineren und größeren Seen unterbrochen wurden. Einige, sonderbar gekleidete, Männer hüteten Viehherden oder sahen tatenlos in den grauen Himmel.

So gegensätzlich die Landschaftsbilder auch waren, sie bildeten eine Einheit. Eine Harmonie, die Mariness bis ins Innerste empfand. Sie dachte dankbar an ihren Vater, der ihr diese Reise ermöglichte. Aus ihren Phantasien auftauchend sah sie den Fremden immer noch neben sich und lächelte nachdenklich: „Sie haben sich so nett um mich gekümmert und dabei kennen Sie mich doch gar nicht.“

„So, ich kenne dich also gar nicht?“ fiel der Fremde unvermittelt in ein vertrauliches du. „Zugegeben, als ich dich zum letzten Mal sah, warst du höchstens so groß.“ Er deutete mit seinen Händen etwa die Größe eines einjährigen Kindes an. „Ich bin dein Onkel Boris.“

Mariness verschluckte sich. Sie hatte wohl noch nie so verdutzt geguckt wie gerade jetzt.

„Onkel Boris – ja, aber wieso sind Sie ... bist du ...?“

Die ganze Mariness war ein einziges Fragezeichen und verhedderte sich völlig. Boris lachte: „Nun das ist schnell erzählt. Weder dein Vater noch ich wollten dir das Erlebnis deiner ersten selbständigen Reise nehmen.

Allein eine mehrtägige Fahrt, mit einer Übernachtung in der Eisenbahn, machte uns doch Sorgen und so beschlossen wir, dir deine Freiheit zu lassen und trotzdem sorgfältig auf dich aufzupassen. Zufrieden?“

Mariness gehörte zu den Menschen, die schnell versöhnt sind und eine Notwendigkeit auch einsehen. Meistens jedenfalls.

„Du hast recht, Onkel Boris“, meinte sie. „Wenn wirklich etwas passiert wäre, hätte ich vermutlich ganz schön dumm aus der Wäsche geguckt.“

„Na, siehst du, es hat sich doch alles in Wohlgefallen aufgelöst. Dass du im Abteil nie allein warst, hast du gar nicht bemerkt. Fedja hat auf dich aufgepasst.“

„Fedja“, kam es fragend, „wer ist Fedja?“

„Erstens mein Sohn, zweitens dein Cousin und gleichzeitig der junge Mann, der dich immer mal mit gefüttert hat, wenn du gar so hungrig ausgesehen hast.“

Nun lachte Mariness. „Ach so – der war wirklich immer sehr nett. Ich mag ihn.“

„Kein Wunder, da er mein Sohn ist! Aber bitte, tu mir den Gefallen, und lass den Onkel weg. Das passt nicht zu mir und ich komme mir vor, als sei ich mein eigener …ich will nicht sagen Großvater!“

Das konnte Mariness ohne Probleme versprechen und meinte, sie könne in ihm wohl eher einen großen Bruder sehen. Eine Stimme ließ sich aus dem Hintergrund vernehmen: „Aber wage dich, mich zum kleinen Bruder abzustempeln!“ Mit einem: „dann bin ich beleidigt“, erschien Fedjas grinsendes Gesicht.

Inzwischen war die Bahnstation näher gerückt und man begann, die Koffer und Taschen auf den Gang hinauszutragen.

Himmel noch mal, was so ein Mädchen doch alles mit sich herum trägt, dachte Fedja, der sich leichtsinnigerweise bereit erklärte, das Gepäck zu übernehmen. Damit lastete das Schleppen auf ihm und er seufzte in sich hinein. Dabei sieht sie völlig normal aus, vollendete er insgeheim seine wiederholte Musterung.

Mariness war gewissermaßen Familienzuwachs, wenn auch nur für einige Monate.

Vor dem Bahnhof stand Grischa und wartete auf die Ankömmlinge. Er war das Hausfaktotum und schon lange im Dienst der Familie. Grischa gehörte einfach dazu. Neugierig musterte er das Mädchen aus dem Ausland. Alles, was nicht aus seiner unmittelbaren Nähe stammte, war für ihn exotisch. Ebenso gespannt betrachtete Mariness den älteren Herrn, der ihr als guter Geist des Hauses vorgestellt wurde. Man hatte ihr erzählt, dass es so etwas im Hause gab und nun war sie enttäuscht. Grischa sah ganz normal aus und sprach außerdem deutsch. Sie hatte so einen stinkfeinen Lakaien in Livree erwartet. Mariness wurde aufgeklärt, dass Grischas Familie ursprünglich deutschstämmig gewesen sei und die Sprache genauso beibehalten wurde, wie in der Familie die Tradition alter russischer Vornamen. Alle Familienmitglieder sprachen norwegisch, teilweise estnisch und sogar noch russisch, aber nur in Ausnahmefällen. Zu Hause sprach man deutsch und der letzte Krieg hatte dafür gesorgt, dass es auch nicht in Vergessenheit geriet. Mariness befürchtete allerdings gewisse Probleme, als sie bemerkte, dass ihr bisschen norwegisch wohl kaum für eine richtige Unterhaltung ausreichte. Mit einem Seitenblick auf Fedja dachte sie: na, du bist ja auch noch da!

Die Fahrt nach Vadsø trat Mariness auf dem Kutschbock an. Das war für sie etwas ganz Besonderes. Als Stadtkind und dazu aus Deutschland, kannte sie diese Art der Fortbewegung nur von vorbeifahrenden Hochzeitskutschen und genoss es sehr. Außerdem drängte sich noch Fedja auf den Kutschbock, der sich vorgenommen hatte, seine Cousine keinesfalls mehr aus den Augen zu lassen. Er vertrat vor sich die Ausrede, für sie verantwortlich zu sein. Sie war ja noch so jung. Dass er selber gerade zwei Jahre älter war, wollte er im Moment gar nicht wissen.

Die Landschaft mit Wiesen, Seen und Niedriggehölz zog an ihr vorbei und Mariness staunte immer wieder darüber, wie abwechslungsreich dieses Bild war. Vom Bahnhof waren es noch gute zwei Stunden Fahrt.

Trotzdem war sie enttäuscht als es hieß: „Nur noch ein paar Kilometer und du hast es geschafft. Du musst ja hundemüde sein; zwei volle Tage im Zug sind zum Schluss bestimmt kein Vergnügen mehr.“

Der Wald öffnete sich und gab den Blick auf sanfte Hügel frei. Umgeben von Weideflächen, anders als wir sie kennen, mit härterem Gras, und am Horizont durch eine niedrige Hügelkette gesäumt, lag Vadsø wie ein vergessener Ort inmitten einer Mulde. Der Bauernhof, den man ihr geschildert hatte, entpuppte sich vor Mariness Augen eher als ein ausgedehntes Gut. Der strenge Baustil wirkte ein wenig abweisend; Shakespeare hätte Pate sein können. Auf ihre diesbezügliche Frage wurde sie von Grischa aufgeklärt. Ein Gut sei es anfangs nicht gewesen; die ersten Besitzer waren jedoch sehr gut situiert und ließen vor allem der Inneneinrichtung große Bedeutung zukommen. Aufgrund der politischen Wirren von zwei Weltkriegen waren die Gebäude und das dazu gehörende Land irgendwann einmal in den Besitz der Familie Carlsson übergegangen. Danach hatte jeder Besitzer ein Stück angebaut, vergrößert oder verändert. Obwohl der Unterhalt sehr kostspielig sei, erklärte man Mariness, wolle man versuchen, es auch weiterhin im privaten Besitz zu halten. Es hatte bereits einige Versuche gegeben, dieses Haus für die wenigen Touristen, die hierher kamen, zu öffnen. Dies sei jedesmal am Widerstand der Familie gescheitert. Na, Gott sei Dank, dachte Mariness, es wäre eine Schande, wenn hier ständig fremde Menschen herumliefen. Man käme sich vor, als ob daheim im Wohnzimmer immer eine Kamera mitlaufen würde, die aufzeichnet, was man gerade tut. (*)

(*) Inzwischen gibt es in Vadsø fünf Hotels und auch Touristen finden sich ein. Es ist die vorletzte Station auf der Hurtigroute.

Mariness wunderte sich nicht wenig über sich selbst. Erst hatte sie nicht fahren wollen und jetzt ... Sie versuchte sich zu erklären, was sie vom ersten Sehen mit diesem Haus verband. Allerdings wollte das nicht so recht gelingen.

Mit einem scharfen Ruck hielten die Pferde und Mariness fiel fast vom Kutschbock, hätte Fedja sie nicht im letzten Moment festgehalten. „Na, kleine Cousine, ausgeträumt? Ich denke, Mutter wird schon warten. Sie freut sich seit Wochen darauf, so ein verhungertes Stadtkind endlich ein bisschen rausfüttern zu können.“

Bloß das nicht, dachte Mariness nicht gerade freundlich, es fehlt mir noch, dass ich nach Hause komme und nicht mehr in meine Hosen passe.

Als hätte sie den Satz laut ausgesprochen, begann Boris zu lachen: „Lass nur, so schlimm wird es bestimmt nicht!“

Die Mutter entpuppte sich als eine kleine, zierliche Frau namens Magdalena. Eine blonde Zopfkrone thronte hoheitsvoll über normalerweise spitzbübisch blitzenden blauen Augen. Boris sprang aus der Kutsche und legte den Arm um seine Frau: „Magda, das ist nun der verhungerte Spatz aus der Stadt.“ Und zu Mariness gewandt: „Das ist unsere Mutter.

Für die nächsten Monate auch die deine.“

Magda musterte Mariness entgegen der vorangegangenen Aussage von Boris eher kühl und fragte: „Wie kommst du zu so einem ausgefallenen Namen? Das ist doch nicht deutsch?“

„Nein, das ist ein Name aus dem alten Spanien – eigentlich sogar aus Guatemala – und vollständig heiße ich Maria-Ines. Als ich ein bisschen größer wurde stellte meine Mutter fest, dass ich für diesen klassischen Namen denkbar ungeeignet sei. Seitdem rief man mich kurz Mariness.“

„Nun, deine Mutter war wohl etwas exzentrisch in dieser Beziehung. Ich hätte nicht den Mut gehabt, meiner Tochter so einen außergewöhnlichen Namen zu geben. Aber schön ist er.“

Zusammen gingen sie ins Haus und Mariness blieb erstaunt in einer großen Halle stehen. In den Zeiten reicher Gutsherren wurde sie sicherlich als Empfangshalle genutzt. Die Einrichtung erschien kostbar. Große Vasen in kobaltblau, Vorhänge, die aussahen, als seien sie aus Silberfäden gewebt. Das hatte Mariness nicht erwartet. Sie drehte sich ein bisschen eingeschüchtert zu Fedja um.

Der lachte: „Keine Angst, das ist gar nicht so vornehm wie es aussieht. Viele Sachen standen bereits vor unserer Zeit hier und wir haben nichts geändert, sondern dieses Mobiliar übernommen. Jedenfalls einen grossen Teil davon. Die gläsernen Kobaltvasen zum Beispiel, sind nicht aus Glas.“

„Nicht?“

„Nein, du wirst es nicht glauben: es sind Tonvasen, die irgendwer der früheren Bewohner, zugegebenermaßen wohl entsprechend talentiert, mit kobaltblauer und goldener Farbe überzogen hat. Sehr sorgfältig, das muss man dem Künstler lassen. Als Laie sieht man keinen Unterschied.

Und jeder, der vor uns hier wohnte, hat das Inventar offensichtlich immer sehr gepflegt. Man muss es einfach mögen, dieses Haus, mit allem drum und dran. Aber nun komm, ich zeige dir deine Zimmer.“

„Zimmer – in der Mehrzahl! Fedja, ich weiß gar nicht, was ich mit mehr als nur einem Zimmer machen soll!“

„Daran wirst du dich sehr schnell gewöhnen. Hier ist alles ein bisschen größer. Passt zum Land, nicht wahr?“

Im ersten Stock blieb er stehen und drehte sich zu Grischa um, der ihnen mit einem Teil des Gepäcks gefolgt war. Leise sagte er: „Pass auf sie auf und verwöhne sie ein bisschen. Sie scheint es nötig zu haben.“

Das hätte Grischa auch so getan. Das deutsche Fräulein gefiel ihm ausgesprochen gut. Inzwischen hatte er auch festgestellt, dass Fedja Gefallen an ihr fand und nahm sich vor, hübsch die Augen offen zu halten. Mariness sollte schließlich nur für ein paar Monate hier bleiben und Grischa wollte nicht, dass sein erklärter Liebling Fedja möglicherweise gekränkt zurückblieb. Er vermutete trotz der Kürze der Zeit aufkeimende zarte Bande zwischen den Beiden...

„Wenn Sie etwas möchten, Fräulein Mariness, klingeln Sie einfach. Ich bin meistens irgendwo im Haus und Frau Magda wird ebenfalls noch nach Ihnen sehen.“

„Danke, Grischa.“ Dann war sie allein.

Langsam ging Mariness quer durch den Raum zum Fenster und sah hinaus auf die Pferdekoppel. Daneben standen auf einer Weide noch Jungtiere und sie nahm sich vor, in den kommenden Wochen alles genau auszukundschaften. Trotz der vielen neuen Eindrücke empfand sie einen Augenblick so etwas wie Heimweh. Ihre Augen verfolgten einen Sonnenstrahl und sie verbannte die trüben Gedanken. Das Zimmer war viel zu schön, als über etwas anderes nachzudenken. Mariness nahm sich vor, alles was man ihr bot, zu genießen. Manchmal hatte der Vater doch recht, wenn er sagte, sie solle nicht so viel träumen. Man brauchte nur die Augen aufzumachen und die Welt um sich herum zu sehen. Das war manchmal schon wie ein Traum. Dieses Zugeständnis war der erste Schritt aus ihrer eigenen Welt in die der Erwachsenen. Dass das nicht ohne Schwierigkeiten zu meistern ist, sollte sie noch feststellen.

*

Das Abendessen wurde im Kreis der Familie eingenommen und Mariness fiel auf, dass Grischa Mädchen für alles war. Sie sah in ihm den Kutscher, Chauffeur, Gärtner, ein Faktotum und, wenn es sein musste, auch das Haus„mädchen“.

Nach dem Essen machte sich die lange Reise bemerkbar und Mariness fielen die Augen fast im Sitzen zu. Magda sagte noch zu ihr: „Weißt du, du hast so einen schönen Namen, ich werde dich Maria-Ines nennen.

Hast du etwas dagegen?“

Sie hatte eine Menge dagegen, ergab sich jedoch seufzend in ihr Schicksal, weil sie Magda nicht verärgern wollte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass Magda ihr bei weitem nicht so gut gesonnen war wie sie tat.

„Nein, tu' das“, antwortete sie gähnend und verschwand in ihrem Zimmer. Waschen? Mariness entschied, dass sie sogar dazu viel zu erschöpft sei. Zähneputzen, dreimal rechts, dreimal links – das war für heute genug. Danach legte sie sich ins Bett und war wenige Minuten später fest eingeschlafen. In ihren Träumen sah sie den Vater mit erhobenem Zeigefinger: „Pass auf dich auf und komm bald wieder!“

Das Traumbild verschwand.

*

Die Sonne schickte ihre Morgenstrahlen schräg durch das Fenster und Mariness schlug die Augen auf. Sie musste sich erst besinnen wo sie war, setzte sich im Bett auf und blickte sich um. Am Abend zuvor war sie so müde, dass sie alles nur halb wahrgenommen hatte. Das sollte also ihre Behausung für die nächsten Monate sein, falls sie Lust hätte, so lange zu bleiben. Es war beinahe eine komplette Wohnung beziehungsweise das, was man in Deutschland als ein äußerst luxuriöses Appartement bezeichnete. Ein großer, gemütlicher Raum mit abgeteiltem Alkoven, offenem Kamin, einer wuchtigen, dunkelbraunen Ledergarnitur und dicken Teppichen. Die Teppiche zogen ihre Aufmerksamkeit an. Mariness kletterte aus dem Bett und hockte sich auf den Boden. Webteppiche, murmelte sie, so was sieht man bei uns nur noch ganz selten. Während sie damit beschäftigt war, ihr Zimmer zu inspizieren, hörte sie, wie sich nebenan jemand daran machte, ihr ein Bad zu richten. Das konnte nur Grischa sein. Sie öffnete die Tür und staunte Bauklötze. Entsprechend der Landessitte und ihrer Kenntnisse aus diversen Büchern, hatte sie eine Sauna erwartet, doch das hier war ein richtiges Badezimmer. Komfortabel, komfortabel, dachte sie, so fein habe ich es zu Hause nicht. Das war kein Badezimmer, sondern ein Badesaal! In der Mitte des Raumes führten ein paar Stufen zu der fest installierten Wanne hinauf, deren Wasser herrlich blau schimmerte. Die Beckenwände und der -boden sahen aus, als seien sie mit lauter Mosaiksteinchen verkleidet. Als Mariness mit der Hand über den Rand strich, stellte sie aber zu ihrem Erstaunen fest, dass auch das Keramik war. Von fachkundiger Hand lackiert.

Grischa bedeutete Mariness, dass das Bad fertig sei und schloss die Tür hinter sich. Sie kletterte in die riesige, runde Wanne. Der Badeofen war vorsintflutlich, aber er funktionierte. Das Wasser war herrlich temperiert und Mariness streckte sich wohlig aus. Während sie darüber nachdachte, dass es eine Mordsarbeit sein musste, diese Riesenwanne so in Ordnung zu halten, genoss sie diese Art von Annehmlichkeit bis das Wasser kühl wurde.

*

Die nächsten Wochen vergingen wie im Flug und Mariness lernte das Hofleben von einer Seite kennen, die nicht nur amüsant war. Sie wollte zwar immer und überall helfen, stand jedoch öfter als einmal im Weg, weil sie, von ihrer mangelnden Technik mal abgesehen, auch nicht über ausreichend Körperkraft verfügte, die für viele der anfallenden Arbeiten unerlässlich war. Sie liebte Tiere, konnte aber nicht sonderlich gut mit ihnen umgehen. Als Stadtkind hatte sie von den entsprechenden Notwendigkeiten keine Ahnung. Sie hätte es am liebsten beim Füttern und Streicheln belassen; doch sowohl Grischa als auch Fedja bestanden darauf, dass sie, wenn sie schon helfen wollte, auch unangenehme Arbeiten verrichten musste. Ausmisten zum Beispiel. Und genau da merkte Mariness ganz schnell, dass sie den Mund zu voll genommen hatte. Der Muskelkater, der sie tags darauf plagte, war ärger als alles, was sie in dieser Hinsicht bislang erlebte. Die grinsenden Gesichter taten regelrecht weh. Mit zusammengebissenen Zähnen setzte Mariness sich an den Abendbrottisch und hätte Magda, die sich scheinheilig nach ihrem Befinden erkundigte, am liebsten erwürgt.

Doch mit der abwechslungsreichen Arbeit, abendlichem Zusammensitzen und ab und zu einmal ins Dorf gehen, das heißt aufgrund der Entfernung musste man fahren, gingen die Wochen bis zum Herbst, der so hoch hier oben schon Winter war, dahin.

Eines Morgens, Mariness reckte sich genüsslich unter ihrem dicken Federbett, als ihr auffiel, dass sich die Geräuschkulisse verändert hatte. Es herrschte eine unnatürliche Ruhe. Sie stand auf, ging zum Fenster und schaute fassungslos nach draußen. Über Nacht war es Winter geworden.

Das war doch nicht möglich! In Deutschland hieß es Spätsommer, beziehungsweise gerade Herbstanfang, und hier hatte es geschneit. Mariness überlegte, dass das außergewöhnlich sei, als ihr die Tiere einfielen, die sie am Vortag noch auf der Koppel gesehen hatte. So, wie sie war, im Nachthemd, hastete sie die Treppe hinunter. An der Außentür stieß sie mit Fedja zusammen, der sich gerade den Schnee von seinen Stiefeln wischte.

„Fedja“, sprudelte sie gleich los, „was ist mit den Pferden. Das ist doch viel zu kalt!“

„Keine Sorge, Boris und ich haben sie gestern Abend noch in die Unterstände gebracht. Wir rechneten bereits seit ein paar Tagen mit einem Wetterumschwung. Der Himmel sah danach aus und es ist auch die Zeit dafür. Meistens kommt hier ein regelrechter Wettersturz; das kennen wir. Du bist hier in einem Gebiet, in dem nur wenige Wochen im Jahr richtig Sommer ist. Frühjahr, Sommer und Herbst, alles zusammen dauert nur wenige Wochen. Und der Winter ist lang.“

Nachdenklich ging Mariness in ihr Zimmer zurück und stellte mit einem kleinen Seufzer fest, dass sie nun die schönen neuen Sachen, die sie sich für die Reise gekauft hatte, nicht mehr anziehen konnte. Gott sei Dank befand sich auch etwas warme Kleidung im Gepäck; dass sie diese Sachen so schnell und ausschließlich brauchen würde ... mit dem Gedanken konnte sie sich noch gar nicht anfreunden.

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Nachdem sie ihr morgendliches Bad beendet und sich angezogen hatte, ging sie hinunter zum Frühstück. Magda und Fedja saßen schon dort, sie hatten gewartet; nun hießen sie Mariness tüchtig zugreifen. Trotzdem fiel ihr auf, dass die Stimmung irgendwie gedrückt war. Mariness wagte nicht zu fragen; sie fühlte sich ab und zu noch fremd. Manchmal war das Gefühl so stark, dass sich sogar so etwas wie Heimweh in ihr breitmachte. Fedja meinte nach einer Weile: „Hast du Lust, eine Tour mit der Kutsche zu machen? Das Auto lassen wir besser wo es ist, bei diesem Wetter sind die Pferde zuverlässiger. Du willst doch soviel wie möglich sehen.“

„Gerne. Das ist eine gute Idee.“

Magda sagte mit einem seltsamen Unterton in der Stimme: „Fedja!“ Dann stand sie auf und ging nach draußen.

Mariness sah Fedja fragend an. Er lächelte ein bisschen hilflos: „Mutter meinte, ich sollte ihr heute ein wenig zur Hand gehen, doch das kann Grischa ebenso gut.“

Mariness wurde den Eindruck nicht los, das sei nur die halbe Wahrheit und schwieg. In Familienprobleme wollte sie sich nicht einmischen. Sie frühstückte rasch zu Ende und ging dann nach oben, um sich für den Ausflug umzuziehen. Dabei stellte sie fest, dass ihre Stiefel für diese Witterungsverhältnisse nicht geeignet waren. Zu Hause, in Bückeburg gab es auch Winter, doch das war kein Vergleich mit dem, was sich hier über Nacht ereignete. Etwas ratlos schlüpfte sie hinein und wieder heraus. Ach, das war noch eine Möglichkeit: sie zog ein zweites Paar Sokken an. Jetzt waren die Stiefel ein bisschen eng, doch sie musste ja nicht laufen. Fedja hatte für Mariness Mütze, Schal und Handschuhe von Magda besorgt. Mit dieser Notaufmachung versehen lief sie abermals nach unten und machte sich auf den Weg zu den Ställen.

Fedja war gerade dabei, die Pferde anzuschirren und sie sah interessiert zu.

„Kannst du eigentlich reiten?“, fragte er.

„Das hast du mich schon einmal gefragt! Nein, wo hätte ich das lernen sollen? Wir haben eine kleine Wohnung in der Stadt, einen winzigen Balkon vor dem Fenster und viel zu wenig Geld, als dass ich daheim reiten lernen könnte. Immerhin muss man dazu eine Reitschule besuchen und die Unterrichtsstunden sind nicht gerade billig.“

„Das wird sich ändern“, versprach Fedja. „Ich werde dir das Reiten beibringen. Spätestens im nächsten Frühjahr. Ob wir es jetzt noch schaffen, wage sogar ich anzuzweifeln!“

„Was ich alles in der Zeit, die ich bei Euch verbringe, lernen soll! Außerdem bleibt abzuwarten, ob ich im Frühjahr noch hier bin“, erwiderte Mariness. „Trotzdem setzt du allerhand Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Irgendwann muss ich schließlich wieder nach Hause.“ Was deiner Mutter sehr entgegen käme, wenn ich das richtig beurteile, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Komm, klettere auf den Kutschbock, wir haben unterwegs genug Zeit zum Erzählen.“

Mariness enterte den Schlitten. Es war die Kutsche, mit der man sie vor Wochen vom Bahnhof abholte, nur für die jetzigen Gegebenheiten mit Kufen versehen. Von Fedja wurde sie zunächst einmal äußerst sorgfältig eingepackt.

„Ich komme mir vor, als wolltest du mich in Watte packen. Ich werde bestimmt nicht erfrieren“, meinte Mariness.

„Hast du eine Ahnung, wie kalt das während der Fahrt wird. Das ist kein deutscher Winter.“

„Die sind auch kalt“, meinte sie „nur anders. Weniger Schnee, dafür eine nasse Kälte. Es regnet halt viel bei uns.“

Die Unterhaltung erstarb, weil Fedja damit beschäftigt war, die Pferde durch die Einfahrt zu lenken. Nach einer Weile kam die Frage: „Wie gefällt dir das, was du hier siehst?“

„Gut. Ich hatte ja gar keine Vorstellung. Oder besser ausgedrückt: eine völlig falsche. Ich kenne nur die Erzählungen meiner Mutter und da war ich selber noch ein kleines Mädchen. Sie hatte mir alles immer weit und groß geschildert. So etwas kann man sich nicht ausmalen. Man muss es gesehen und erlebt haben. Es ist ein herrliches Land und Ihr, Ihr seid eine nette Familie!“ Im Stillen dachte Mariness, immer nett sind eigentlich nur Boris, Fedja und Grischa. Magda hatte etwas gegen sie. Das spürte sie täglich aufs Neue, nur konnte sie das Warum nicht unterbringen.

„Danke“, sagte Fedja in ihre Grübeleien hinein, „Könntest du dir denn vorstellen in diesem Land zu leben? Du kennst bisher nur unser Haus und eben das bisschen Gegend, was ich dir in den vergangenen Wochen zeigen konnte. Hier ist vieles anders als bei Euch. Es beginnt schon mit dem Einkaufen. Für den täglichen Bedarf kriegst du alles, sonst musst du, im Sommer mit dem Jeep, im Winter mit dem Pferdeschlitten in die nächste Stadt. Du bekommst noch lange nicht alles so, wie du es dir vorstellst. Es ist ein schönes, manchmal hartes Leben bei uns.“

„Ach“, meinte Mariness, „ich denke, daran kann man sich gewöhnen.

Ich könnte mir schon vorstellen, hier zu leben.“

Fedja saß in Gedanken versunken neben ihr und sie hatte den Eindruck, als höre er ihr überhaupt nicht zu.

Langsam zogen die Pferde durch das verschneite Land. Mariness und Fedja sprachen nun nicht mehr. Fedja, mit einem grüblerischen Ausdruck im Gesicht, lenkte das Gespann; Mariness betrachtete die Landschaft. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander und sie schalt sich eine dumme Gans. Immer wieder sah sie ihn von der Seite an. Er gefiel ihr.

Netter Kerl, dachte sie, man muss ihn einfach mögen. Sie mochte ihn viel mehr als bloß ein bisschen ... und ertappte sich dabei, dass sie mit nicht gerade schwesterlichen Gefühlen zu Fedja schielte. Inzwischen glaubte sie zu wissen, warum in der Frühe so eine gedrückte Stimmung in der Küche geherrscht hatte: sie war die Ursache. Nur über den Grund wurde sie sich nicht klar. Ein bisschen trotzig kam sie zu dem Schluss: Na und, ich mag Fedja, finde ihn nett und Boris weiß das schließlich. Ich habe es ihm im Zug schon gesagt; möchte bloß wissen, was Magda plötzlich hat? Erst soll ich mich ganz in Familie fühlen und dann...? Ja, was dann? Darüber legte Mariness sich keine Rechenschaft ab. Allerdings fiel ihr auf, dass sie am Morgen keine Spur von Boris gesehen hatte und brach das Schweigen. „Fedja, wo ist eigentlich Boris und wieso sagst du Boris zu ihm und nicht Vater?“

Fedja lachte leise. „Also zu Punkt eins: Boris ist in die Stadt gefahren. Er will für Grischa auf irgendeinem Amt etwas erledigen. Was, weiß ich nicht. Und zum zweiten Teil: ja“, sinnierte Fedja plötzlich, „da fragst du aber etwas. Ich weiß es, ehrlich gesagt, nicht. Es hat sich einfach eingebürgert, dass ich Boris sage. Vielleicht hat er mich als Kind schon dahin gelenkt? Wenn du mich nicht darauf aufmerksam gemacht hättest, wäre mir das wohl gar nicht mehr aufgefallen. Bisher hat mich jedenfalls noch niemand darauf angesprochen.“

Sie fuhren eine Weile ganz gemächlich durch die verschneite Gegend als die Pferde plötzlich ein bisschen schärfer anzogen und Mariness am Horizont eine dunkle Wand bemerkte, die langsam näher kam. Fedja sah sie anscheinend ebenfalls, spornte die Tiere zu einer noch schnelleren Gangart an und meinte: „Wir sollten uns mächtig beeilen, es zieht ein Wetter auf.“

„Müssen wir dann nicht zurück?“

„Das geht nicht mehr. Wir sind zu weit weg. Ich fahre durch den kleinen Wald; dort steht eine alte Hütte, die oft von schutzsuchenden Jägern benutzt wird. Da können wir den Schneesturm in aller Ruhe abwarten. Wenn er vorbei ist, fahren wir wieder nach Hause.“

Die Pferde jagten auf die Wolkenwand zu und der Waldrand, obwohl man im Vergleich zu deutschen Wäldern kaum Wald dazu sagen konnte, kam langsam näher. Mariness wurde immer ängstlicher.

Nur nichts anmerken lassen, dachte sie, sonst lacht er mich womöglich aus. Ihr lag viel daran, dass Fedja eine gute Meinung von ihr hatte. Sie wollte nicht als dummes, kleines Mädchen dastehen.

Fedja betrachtete ihr angespanntes Gesicht von der Seite.

Kleines Mädchen, wenn du wüsstest! Seine Gedanken waren ebenso wenig brüderlich, wie die von Mariness schwesterlich waren.