Begegnung mit Ricardo - Renate Krohn - E-Book

Begegnung mit Ricardo E-Book

Renate Krohn

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Beschreibung

Ricardo Boticelli und Hans Gutmooser begegnen sich im Zug von München nach Köln zu einer Zeit, als in Deutschland noch mit DM bezahlt wurde, es einen zweiten Deutschen Staat gab und die Zahl der offenen Stellen die der Arbeitslosen überstiegen. Ricardo wollte nur ein paar Jahre in Deutschland bleiben, etwas Geld verdienen, seinen Eltern und Geschwistern das Leben in Ita-lien erleichtern und wieder nach Hause fahren. Doch es kam alles ganz anders… Die Begriffe Ristorante und Pizzeria waren noch neu und nicht alle standen diesen Errungenschaften aufgeschlossen gegenüber. Heute ist es normal zum Italiener, Griechen oder zu Achmed in die Tee-stube zu gehen. Mehr als zwanzig Jahre später. Sonja und Melanie, zwei Freundinnen, wollen sich einen gemütli-chen Abend bei Luigi, ihrem Italiener um die Ecke, machen und geraten in ein Abenteuer, dessen Folgen unabsehbar sind. Ein Roman aus der Zeit des Wirtschaftswunders nach einer wahren Begebenheit mit Humor, Tiefsinn und bemerkenswerten Parallelen zu unserer heutigen Zeit.

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Seitenzahl: 442

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Renate Krohn *1948 in Hüls/Ndrh. begann zu schreiben, nachdem ihr Chef sie mit einer dreisten Bemerkung so verärgerte, dass sie sich ihre Wut von der Seele schrieb. Bei der Gelegenheit stellte sie fest, dass es ihr Spaß bereitete,

Gedanken und Gegebenheiten in Worte zu fassen.

Die Veränderung der Gesellschaft, seit dieser Zeit, war ihr immer ein Anliegen, wobei sie stets darauf bedacht war und ist, realistisch, jedoch nicht negativ zu sein. Der Wandel, auch in der Sprache, ist unübersehbar und manchmal für den Einen oder Anderen nicht unbedingt nachvollziehbar.

Vorliegender Roman aus der Zeit der wirtschaftlichen Hochblüte Begegnung mit Ricardo beruht auf wahren Begebenheiten, die in die, nunmehr ehemalige, DDR hineinreichen. Bis zum Mauerfall 1989.

Die Örtlichkeiten und die Namen der Protagonisten sind verändert; eventuelle Namensgleichheit mit lebenden Personen rein zufällig und von der Autorin keinesfalls beabsichtigt.

Erstausgabe unter dem Titel „…und zum Frühstück Spaghetti“ im Eigenverlag September 1999

Zweite Auflage Weltbild-Verlag 2001

Überarbeitete Neuauflage unter dem Titel

Begegnung mit Ricardo BoD Norderstedt 2020

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Wie viel Sterne hat die Nacht wer macht, dass die Sonne lacht …

Ricardo 1965 – 1970

Arrivederci Hans das war der letzte Tanz das Licht geht aus im Lokal komm küss mich nochmal la lalala la

1968

Ricardo 1965 – 1970

Freitag

Ricardo 1965 – 1970

Freitagabend

Ricardo 1970 bis 1975

Freitagabend

Ricardo 1970 – 1975

Samstagmorgen

Ricardo 1970 – 1975

Samstagvormittag

Ricardo 1975 - 1980

Immer noch Samstag ...

Ricardo 1975 - 1980

Sonntag

Ricardo 1975 – 1980

Montag

Ricardo 1980 - 1985

Dienstagabend

Ricardo 1985 - 1990

Mittwoch

Ricardo 1990 - 1995

Donnerstag

Freitag - man sieht sich ...

Pressestimmen zu „…und zum Frühstück Spaghetti“

Bisher bei BoD erschienene Titel

Vorwort

Begegnung mit Ricardo

Es begab sich also zu einer Zeit … als in der damaligen BRD das Wirtschaftswunder blühte und die Zahl der offenen Stellen die der Arbeitslosen um ein Vielfaches überstiegen. Man zahlte mit DM und es gab einen zweiten Deutschen Staat.

Der Wirtschaftsboom war der Auslöser für viele Südeuropäer, nach Deutschland zu kommen und hier ihr Glück zu versuchen. Sie wollten es ihren Familien in der Heimat einfacher machen. Man nannte sie Gastarbeiter und das durfte man sogar sagen, ohne gleich in den Geruch zu geraten, fremdenfeindlich, rassistisch oder rechts (!) zu sein. Sie nannten sich selber so – die Gastarbeiter.

Und sie brachten etwas mit … eine gewisse Leichtigkeit, Herzlichkeit, Aufgeschlossenheit und, z.B., eine andere Ernährung. Die mediterrane Ernährungsweise der Italiener hielt bei uns nur zögerlich Einzug. Doch dann war der Siegeszug von Pizza, Pasta, Piadini und Co. nicht mehr aufzuhalten. Eine Verbrüderung ganz besonderer Art, die heute selbstverständlich ist.

Ricardo Boticelli aus Margherita am Golf von Manfredónia und Hans Gutmooser aus dem Rheinland treffen sich in der Eisenbahn und wagen in den 1960er Jahren eine vorsichtige Annäherung im D-Zug von München nach Köln, die für Ricardos weiteres Leben ausschlaggebend wird.

Mehr als zwanzig Jahre später.

Die beiden Freundinnen Sonja und Melanie, für die der Italiener um die Ecke, der Grieche im Zentrum und Achmed mit seiner Teestube zum normalen Alltag gehören, wollen sich bei ihrem Luigi einen gemütlichen Abend machen. Doch Sonja wird dort überraschend mit einer Episode aus ihrer Vergangenheit konfrontiert und die Beiden geraten in ein Abenteuer, dessen Ausgang absolut nicht vorhersehbar ist.

1962 – der erste Schlager, der sich mit dem Thema der damaligen Gastarbeiter (da durfte man das noch sagen) befasste, den Nerv der Zeit traf und ein absoluter Hit wurde.

Zwei kleine Italiener

Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein

Doch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause sein

Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli

Von Tina und Marina, die warten schon lang auf sie

Zwei kleine Italiener, die sind so allein

Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein

Doch zwei kleine Italiener möchten gern zuhause sein

O Tina, o Marina, wenn wir uns einmal wieder sehen

O Tina, o Marina, dann wird es wieder schön

Zwei kleine Italiener vergessen die Heimat nie

Die Palmen und die Mädchen am Strande von Napoli

Zwei kleine Italiener, die sehen es ein

Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein

Doch die beiden Italiener möchten gern zuhause sein

Zwei kleine Italiener am Bahnhof da kennt man sie

Sie kommen jeden Abend zum D-Zug nach Napoli

Zwei kleine Italiener, die schauen hinterdrein

Eine Reise in den Süden ist für andre schick und fein

Doch die beiden Italiener möchten gern zuhause sein

O Tina, o Marina, wenn wir uns einmal wieder sehen

O Tina, o Marina, dann wird es wieder schön

Komponist Christian Bruhn

Texter Georg Buschor

Interpretin Conny (Cornelia Froboess)

Wie viel Sterne hat die Nacht wer macht, dass die Sonne lacht …

Leise summte Sonja den Text mit, als ein schriller Pfiff vor ihrem Fenster der nachmittäglichen Stille abrupt ein Ende setzte.

Sonja schoss aus ihrem Sessel hoch und riß das Fenster auf: "Sag mal, hast du 'ne Meise? Ich habe auch eine Klingel an der Tür!"

„Keine Panik, Schätzchen, ich bin schon auf dem Weg nach oben.“

Melanie, Sonjas Freundin, hechtete, mehrere Stufen auf einmal nehmend, die Treppe rauf. Sturm klingeln brauchte sie nicht mehr; die Dielentür stand bereits offen.

Sonja stemmte die Arme wie eine Marktfrau in die Hüften und meinte: "Du denkst wohl nicht daran, dass das hier sowas wie ein äußerst seriöses Haus ist. Oder kannst du dir vorstellen, dass meine Nachbarn von diesem Aufstand begeistert sind?"

"Kaumstens", meinte Melanie ungerührt, "aber wir haben nach fünfzehn Uhr, so dass das Thema Mittagsruhe entfällt und zum Weiteren habe ich deine heißgeliebte Vermieterin gerade von dannen düsen sehen. Außerdem, das kommt noch hinzu, laß dich von denen nicht kirre machen. Zieh dir lieber was Schickes an. Ich will dich zum Bummeln entführen und anschließend werden wir zum Italiener gehen. Okay? Ich habe nämlich im Lotto gewonnen", fügte sie verschmitzt hinzu.

"Ach nee!" Sonja kannte ihre Freundin und deren Späße und resümierte: "Also, ich schätze mal drei Richtige werden es wohl gewesen sein."

"Irrtum – drei mit Zusatzzahl! Du siehst also, liebe Sonja, zum Essen reicht es allemal. Und außerdem“, meckerte Melanie nun etwas empört, „könntest du mir hoch anrechnen, dass ich mit dir zum Essen gehen will. Ich könnte ja auch warten, bis mein Holder von seiner Geschäftsreise zurück ist und ihn mitschleppen, oder?"

"Mitschleppen", lachte Sonja, "das wird's sein!"

Sie drehte aber doch ab ins Schlafzimmer, um den Kleiderschrank zu inspizieren.

Währenddessen sah sie aus dem Fenster und stieß einen recht undamenhaften Fluch aus. Das Schlafzimmerfenster ging zur Hauptstraße hinaus, wogegen der Blick aus dem Wohnzimmerfenster in einen Wendehammer mündete. Vor dem Fenster tummelte sich eine Horde Jugendlicher, die nicht unbedingt vertrauenerweckend aussahen.

"Melli – ich fürchte, wir müssen unseren Bummel verschieben. Sieh mal, was sich hier wieder zusammengerottet hat. So wie die aussehen, kriegen wir es locker mit einer unangenehmen Anmache zu tun, wenn wir denen zufällig über den Weg laufen."

"Das fürchte ich auch."

Melanie knurrte sauer: "Wir leben im Moment in einer ganz schön beschissenen Welt!"

Sonja, die normalerweise die Pessimistischere von beiden war, grinste: "Was denn nun? Schön oder beschissen?"

Melanie musste zwar lachen, sah die Freundin aber trotzdem ernst an. "Findest du denn gut, was hier so um uns rum alles passiert?"

"Das nun nicht gerade, aber wenn du schon global denkst, mußt du fairerweise dazu sagen, dass wir nicht nur in dieser Welt leben, sondern auch, dass wir ein Teil dieser Welt sind."

"Sonja, bist du verrückt? Du willst uns doch wohl nicht mit irgendwelchen Verbrechern in einen Topf schmeißen!"

"Natürlich nicht, trotzdem bin ich der Meinung, dass wir an diesen Auswüchsen einer übersättigten Wohlstandsgesellschaft mit Schuld tragen. Du meckerst ja auch, wenn du auf der Autobahn im Stau stehst. Du stehst aber nicht nur im Stau – du bist ein Stück Stau."

"Okay, aber dann verrate mir mal, wie ich zum Beispiel ohne Auto zu meinen Eltern kommen soll. Die wohnen fünfundzwanzig Kilometer vom nächsten Bahnhof weg. Das heißt: eigentlich ist das nicht ganz richtig. Der nächstgelegene Bahnhof ist eine ganze Latte näher dran, aber nicht mehr funktionsfähig."

Melanie seufzte: "Auch falsch, er wäre funktionsfähig, bloß es fahren in diesem Nahverkehrsbereich keine Züge mehr. Und die Fernzüge, die nach Emden oder sonstwo an die Küste fahren, halten in diesem Nest nicht. Also bin ich gezwungen, mich in die Karre zu hieven und da rauf zu brettern!"

"Mensch, Mädchen, darum geht es doch gar nicht. Das war doch bloß ein Beispiel. Ich wollte damit sagen, dass jeder immer und irgendwie für irgendetwas einen Preis zahlen muss. Unsere Eltern haben diese hirnverbrannten Kriege mitmachen müssen. Der letzte war ja wohl der schlimmste von allen. Wir haben noch keinen Krieg erlebt, bekommen stattdessen noch immer die Auswirkungen zu spüren. Und die übersättigte Wohlstandsgesellschaft haben wir obendrein. Damit meine ich auch die immer weiter aufklaffende Schere zwischen denen die noch Arbeit haben und den Anderen."

"Verstehe ich nicht!"

"Sieh mal – von wegen Arbeit. Wir beide haben seit Jahrzehnten unsere Stellen und die sind auch verhältnismäßig sicher. Ganz sicher ist niemals etwas, außer dass wir irgendwann einmal den Deckel auf die Nase kriegen. Aber, ohne Scherz, unsere Arbeitsstellen sind zumindest leidlich sicher. Wir hören täglich von der Arbeitslosigkeit, bedauern die Betroffenen auch zum Teil, aber was wirklich damit zusammenhängt, wie tief man vielleicht dadurch sinken kann, das wissen wir nicht. Andererseits tragen wir alle auch an dieser Entwicklung mit Schuld. Nicht du oder ich persönlich, aber, in den sechziger und siebziger Jahren haben wir gejubelt, wenn wir elf oder noch mehr Prozent Gehaltserhöhung bekamen. Der langersehnte Wohlstand hielt Einzug in Old Germany. Unsere Eltern haben das weiß Gott begrüßt; sie konnten nun endlich kaufen, was sie wollten. Das heißt, immer vorausgesetzt, dass der Familienvorstand soviel verdiente, dass das möglich wurde. Und da genau das eben damals schon nicht der Fall war, begannen die Frauen, arbeiten zu gehen. Der Wohlstand hatte bereits seinen Preis; es hat bloß keiner gemerkt. Der Jubel war größer als die Weitsicht. Da wir aber in diesen Wohlstand nicht hineingeboren wurden, sondern langsam damit wuchsen, sind wir heute in der Lage, das ganze Ausmaß dieses Fiaskos zu erkennen. Bloß – wir sind die Falschen! Unsere sogenannten Experten, oder besser die, die man uns dafür verkauft, hätten das schon lange erkennen müssen. Und ich behaupte sogar, dass die das damals durchaus bereits erkannt haben. So blöd konnte ganz einfach niemand sein. Aber es war doch viel bequemer, sich selbst erst einmal die Taschen zu füllen. Den Aufruf zum Maßhalten konnte man auf später vertagen. Und jetzt haben wir den Mist. Jetzt wirft man den Frauen vor, sie würden zwecks Selbstverwirklichung und Steigerung des Lebensstandards arbeiten gehen und … wie ist die Wirklichkeit? Die, die aus den vorgenannten Gründen arbeiten gehen, sind doch bloß eine Handvoll. Der Rest muss gehen, weil man sonst die Miete nicht mehr bezahlen kann. Unser, ach so soziales Deutschland!"

Sonja hatte sich in Eifer geredet und Melanie sah ihre Freundin nachdenklich an. "Bedauerlicherweise", meinte sie etwas sarkastisch, "muss ich dir Recht geben. Bloß was oder wie, bitteschön, willst du daran etwas ändern? Ich kann dir jedenfalls sagen, was ich jetzt ändere. Sollen die da draußen von mir aus brüllen zum Steinerweichen. Wenn du umgezogen bist, hauen wir durch die Waschküche ab und gehen ins Carrettino; inzwischen habe ich nämlich keine Lust mehr zum Bummeln, sondern nur noch ausgewachsenen Hunger!"

Ricardo 1965 – 1970

Stazione di Bolzano - Stazione di Bolzano.

Bozen Hauptbahnhof!

Peng! Die deutsche Version riss Ricardo aus dem tiefsten Schlaf und er schoss erschrocken von seiner Liege hoch. Ziemlich verdattert sah er sich um und musste sich erst einmal sortieren. Richtig, er war im Zug und auf dem Weg nach Deutschland. Gähnend reckte er sich und rieb seinen Kopf. Er hatte sich beim Hochschießen gründlich an der oberen Liege gestoßen. Da kam auch schon ein Kommentar: "Kann'ste denn nich'n bisschen vorsichtiger wach werden, du Heini!"

Ricardo verstand kein Wort und schmunzelte freundlich: "Si, si, Signor."

"Si si, Signor ...", brummte es von oben. Lern erstmal deutsch, dann reden wir weiter."

Schwergewichtig kletterte der Mitreisende aus dem oberen Bett und machte sich auf den Weg zum Waschraum. Waschräume in Zügen sind so eine Sache für sich. Die Türen sind so schmal, dass Schwergewichtler eh ihre Mühe haben; das Wasser läuft meist auch ausgesprochen spärlich und die Seife – naja, es ist schon besser, wenn man seine eigene bei sich hat. Ricardo wartete noch eine Weile und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel über den Sitzen im Abteil. Er fand sich reichlich verknautscht und außerdem hatte er Hunger. Das machte es nicht besser und war ein Problem. Er verstand so gut wie kein Wort deutsch und Geld war Mangelware. Seufzend griff er unter seinen Sitz und holte die Reisetasche her-vor. Eine Flasche Wasser hatte er noch – das musste für den Anfang reichen.

Inzwischen war der Reisekollege wieder eingetroffen und Ricardo suchte seinerseits den Waschraum auf. Er hatte in seinen Sachen geschlafen und fühlte sich denkbar unwohl. Die Anderen sahen ihn sowieso schon immer so komisch an und dabei hatte er sich für diese Reise besonders chic gemacht. Seine beste Hose, die Sonntagsschuhe und das gute Hemd hatten zum Entsetzen von Georgina, seiner Mutter, dran glauben müssen. "Bist du verrückt", hatte sie ihn angeschrien, "wie willst du denn was Neues kaufen. Wir haben sowieso kein Geld und du verdienst schließlich auch nichts!"

Ricardo hatte vergeblich versucht, seiner Mutter zu erklären, dass genau das der Grund dafür war, dass er nach Deutschland ginge. Ob sie es begriffen hatte? Er hatte so seine Zweifel.

Trotzdem zog er seine hellbraunen, geflochtenen Schuhe, die cognacfarbene Sonntagshose, das Hemd in hellem Lila und sein flaschengrünes Jackett an. Keiner im Dorf sah so super aus wie er und er war stolz darauf.

Ricardo stammte aus Margherita, was am Golf von Manfredónia lag, am Sporn des italienischen Stiefels. Aber wer kennt schon Margherita.

Jetzt standen sie alle am Bahnhof und bewunderten ihn. "Mensch, hast du dich fein gemacht. Hoffentlich bleibst du einer von uns", äußerte Maurizio zweifelnd.

"Und", so meinten Andere, "schreib uns, wie es da ist. Vielleicht können noch ein paar von uns nachkommen. Du weißt, wir brauchen alle Arbeit. Vom schönen Wetter und Strand werden wir nicht satt!"

Ricardo hatte gelacht und gewunken. "Ich denke an Euch, ganz bestimmt!"

Wie das allerdings mit dem Schreiben funktionieren sollte, darüber war er sich nicht ganz im Klaren. Er konnte nämlich kaum lesen und auch entsprechend schlecht schreiben. Georgio, sein Freund, der bereits ein halbes Jahr in Deutschland war, hatte ihm erzählt, dass man da ohne Probleme eine Schule besuchen könne. Und das hatte Ricardo sich ganz fest vorgenommen. Er wollte unbedingt so schnell und viel wie möglich lernen.

"... muß ja ein wahres Wunderland sein", dachte er.

Der Gedanke an Georgio beruhigte ihn ein wenig. Er würde ihn in Köln am Bahnhof erwarten. Gott sei Dank – so ganz allein hätte er dann doch nicht gewußt, wohin. Georgio konnte auch schon etwas deutsch und wollte ihn außerdem in die Firma mitnehmen. Dort, meinte, gäbe es viel Arbeit und ihn, Ricardo, würde man mit Kusshand nehmen.

*

Der Zug setzte sich in Bewegung und Ricardo ließ sich langsam auf seinen Sitz zurücksinken.

Ganz tief im Innern rumorte es und er schluckte doch ein paar Tränen hinunter. Das schlimmste war, dass er Daniela zurücklassen musste. Aber er konnte sie nicht mitnehmen. Abgesehen davon, dass sie seit ein paar Tagen weg war. In seinem Dorf wurden noch gravierende Unterschiede zwischen denen, die etwas Besseres waren und den einfachen Leuten gemacht. Und Danielas Familie gehörte zu denen, die nun mal etwas Besseres darstellten. Es war auch, so munkelte man im Dorf, beschlossene Sache, dass Daniela den neuen Doktor, der vor ein paar Monaten gekommen war, heiraten sollte. Auch deshalb musste Ricardo von Margherita weg; nach Deutschland, viel Geld verdienen, sparen und reich werden. Er musste irgendwann auch etwas Besseres sein – für Daniela. Sie hatte versprochen, auf ihn zu warten. Aber beide wußten, dass das sehr schwer werden würde. Es war nun einmal noch so, dass die Mädchen ihrem zukünftigen Ehemann versprochen wurden. Daniela hatte versucht, sich dagegen zu wehren, dabei eine Menge blauer Flecken eingefangen und war zwei Tage später ganz einfach verschwunden. Vorsichtig fragte Ricardo nach ihr, aber niemand wollte wissen, wo sie war. Weg. Ganz einfach weg.

Das war so in Margherita. Die Mädchen hatten keinerlei Rechte, aber die jungen Männer sollten sich die Hörner abstoßen. Natürlich bei Mädchen. Aber das, so hatte ihm sein Vater erklärt, seien keine Mädchen zum Heiraten – das seien Huren.

Ricardo war zweiundzwanzig Jahre alt und begriff nicht, wieso man in seinen Augen, ein Mädchen zunächst einmal benutzte um ihm anschließend genau das vorzuwerfen, was man gewollt hatte. Er hatte versucht, seinem Vater klarzumachen, dass das doch wohl eine äußerst doppelte Moral sei, biß jedoch auf Granit. Sein Vater war absolut vom alten Schlag und hielt eisern an dem Standpunkt fest, dass Männer alles dürfen, Mädchen aber zu gehorchen haben. Außerdem, so bot er Ricardo an, wenn er das nächste Mal in die Stadt fahren würde, könne er gern mitkommen. Mit zweiundzwanzig Jahren sei er alt genug. Und, das sei vielleicht noch viel wichtiger, würde er von allein den Unterschied zwischen Mädchen, die man heiraten könnte und einer Nutte feststellen.

Ricardo hatte seinen Vater völlig entgeistert angesehen. "Das bedeutet also", sagte er gefährlich leise, "wenn du in die Stadt fährst und wir alle glaubten, du müßtest etwas erledigen, betrügst du deine Frau?"

So ganz konnte er das, was er da hörte, nicht glauben.

"Das verstehst du nicht! Deine Mutter ist, ehhmmm, sagen wir mal, ein Leben lang anständig, sehr anständig gewesen. Aber, na ja, ab und zu braucht man eben auch mal etwas anderes."

"Sie hatte ja wohl auch keine Chance, etwas anderes als anständig zu sein", hatte Ricardo angewidert zurückgegeben und verließ fluchtartig die Küche. Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss und der Ton sagte – das wars!

Dieses seltsame Gespräch gab den Ausschlag, nach Deutschland zu gehen. Ricardo dachte noch darüber nach als er Pläne für seine Zukunft schmiedete.

Inzwischen ließ sich sein Magen nicht mehr beruhigen, aber es half nichts. Die letzten knappen zwölf Stunden, würde er auch noch durchhalten. Außerdem, bemerkte er für sich selbst leicht sarkastisch, einen gewissen Hunger war er schließlich gewöhnt.

Er erinnerte sich an die verteufelten Winter auf dem Stiefelsporn. Es wurde zwar nie so kalt, wie man es ihm über Deutschland erzählte, aber die gesamte Vegetation lief auf Sparflamme und sie mussten sich im Winter oft genug von den gedörrten Vorräten aus dem Sommer ernähren. Frisches Fleisch gab es sowieso selten, dafür umso mehr Fisch, den er nicht ausstehen konnte. Auch das, so dachte Ricardo, würde sich ändern. Er würde Geld nach Hause schicken, damit sie alle wenigstens ein bißchen besser essen könnten. Vorausgesetzt, der Vater würde es nicht wieder behalten und für sich durchbringen. Aber das Risiko musste er eingehen. Vor der Abreise hatte er noch Lorenzo, seinen jüngeren Bruder, eingeweiht und ihm ans Herz gelegt, auf die Mutter und die beiden jüngeren Schwestern aufzupassen. Er konnte also nur hoffen.

Ricardo schob die wehmütigen Gedanken beiseite und blickte erneut auf die Uhr. Voraussichtlich noch ungefähr zehn Stunden.

Deutschland!

Hatte er es wirklich richtig gemacht?

***

Arrivederci Hans das war der letzte Tanz das Licht geht aus im Lokal komm küss mich nochmal la lalala la

Leise pfiff Sonja vor sich hin. "Den kleinen Schreihals habe ich immer gern gehört", meinte sie zu Melanie.

"Den kleinen Schreihals???"

"Na, Rita Pavone, genannt Karottenkopf aus Italien, die hat den Schlager so in den Sechzigern gesungen."

"Kenn' ich nicht".

"Himmel noch mal, so viel jünger bist du doch nun auch nicht. Die war damals ganz populär und im Rahmen der neuen Nostalgiewelle müßtest du das eigentlich schon mal gehört haben."

Melanie war sechs Jahre jünger als Sonja, hatte aber ein völlig anderes Leben gelebt. Behütet und als Kind einigermaßen gut situierter Eltern waren ihr viele Dinge, die Sonja für selbstverständlich hielt, fremd. Trotzdem verstanden die beiden sich großartig.

Zwischenzeitlich hatten sie das Carrettino, ihren Italiener, erreicht und sahen sich an.

"Zum Essen ist es eigentlich noch ein wenig zu früh", meinte Sonja.

"Aber die verflixte Bande vor dem Haus hat uns völlig aus dem Konzept gebracht. Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir die Lust am Bummeln vergangen."

"Also", sagte Melanie, "gehen wir erst einmal rein und dann sehen wir weiter. Außerdem wiederholen wir uns. Dass wir keine Lust mehr zum Bummeln haben, hatten wir bereits festgestellt".

Die beiden steuerten auf einen freien Ecktisch zu. Luigi kam und fragte: "Wollen Sie essen?"

"Na klar, Luigi, aber vorher kriegen wir erst einmal einen halben Liter Montepulciano."

"Jeder einen halben?", grinste Luigi.

"Um Himmels Willen. Dann fangen wir mit Sicherheit an zu singen. Und das wollen wir dir ersparen."

Luigi lachte und machte sich in Richtung Theke davon.

"Mensch, Melli, die haben sich aber gewaltig in Unkosten gestürzt. In den vergangenen vier geschlossenen Wochen, haben die den Laden toll umgemodelt. Ich muß sagen, sie haben es gut gemacht!"

"Mir gefällt es auch."

Das Restaurant war nicht besonders groß und nach dem Umbau hatte man sogar nochmals auf zwei kleine Tische verzichtet. Es war mit einem etwas größeren Tisch für acht Personen, zweien für sechs, zwei Tischen für vier und zwei Minitischen für zwei Personen einfach urgemütlich geworden.

Die Wände zeigten farbenfrohe italienische Bilder, Fischernetze, Chiantiflaschen und Ähnliches; was die Hintergrundmusik anging, hatte man sich auf italienisch/deutsche Nostalgie verlegt. Bestimmt nicht das Verkehrteste.

Die beiden hatten in aller Gemütsruhe ihr erstes Viertel geleert und kamen überein, jetzt zu essen. Sonja entschied sich für Spaghetti, was Melanie zu der Bemerkung veranlaßte: "Du denkst ja daran, dass du eine weiße Bluse anhast?!"

Sonja lachte: "Ich weiß, am besten wickle ich mir ein Schlabberlätzchen rundum."

Melanie zog Tortellini vor und grinste: "Ich kenn' mich schließlich!"

Als das Essen serviert wurde, erstarb die Unterhaltung für einen Moment. Beide waren angelegentlich beschäftigt und Sonja wollte sich gerade die aufgewickelten Spaghetti in den Mund schieben, als sich die Eingangstür öffnete.

Sonja blieb die Gabel auf halbem Weg in der Luft hängen und sie verfärbte sich. Melanie, die mit dem Rücken zur Eingangstür saß und somit nicht sehen konnte, was sich dort abspielte, sah ihre Freundin an: "Um Himmels Willen, was hast du? Du siehst aus wie ein Gespenst!"

"Dreh dich bitte nicht um", sagte Sonja. "Der Kerl kommt gleich an dir vorbei. Dann siehst du ihn."

"Wer ist das denn?"

"Diese Visage werde ich in meinem ganzen Leben nicht vergessen", zischte Sonja leise. "Der hat mir eingebrockt, dass ich vier Jahre nur noch auf dem Klo allein war!"

???

Die ganze Melanie war ein einziges Fragezeichen.

"Ich habe das Gefühl, dass ich dich zwar schon eine ganze Reihe von Jahren kenne, aber sehr wenig von dir weiß", antwortete sie.

"Warte ein bißchen, bis wir draußen oder daheim sind, ich erzähle dir alles."

Sonja sah geistesabwesend vor sich hin. In ihr lief das Geschehen von damals ab wie ein alter Film …

***

1968

"Scheibenkleister!" Sonja fluchte leise vor sich hin. Die Kontrollen an der innerdeutschen Grenze Helmstedt-Marienborn waren gerade über die Bühne, dafür war die Verspätung auf acht Stunden angewachsen. Davon hatten sie indessen die letzten zweieinhalb Stunden an der Grenze gestanden. Dadurch, dass der Zug gleich zu Anfang aus dem Fahrplan geraten war, musste er zwischendurch immer auf Nebengleise, um die Züge, die im Plan lagen, durchzulassen. Die anfängliche Verspätung hatte sich nicht verringert, wie alle hofften, im Gegenteil.

Außerdem war es saukalt im Abteil und es zog wie Hechtsuppe. Kurz nachdem man in Köln losgefahren war, hatten die Mitreisenden bemerkt, dass die Heizung nicht funktionierte und zu allem Überfluß die Fenster undicht waren. Mangels anderer Möglichkeiten opferte einer der Mitreisenden einen Teil seiner Zeitschrift Der Spiegel. Sie wurde zerrupft und damit die Fenster abgedichtet. Die Fahrgäste, die in Fahrtrichtung saßen, wären innerhalb kürzester Zeit nicht nur erfroren, sondern auch noch eingeschneit. Seit Stunden schneite es wie Hund. Als man sich der DDR-Grenze näherte, dachte natürlich kein Mensch mehr an die blödsinnige Zeitschrift. Und ausgerechnet Der Spiegel. Na, das war ja bei den Grenzern besonders gut angekommen.

Trotzdem waren sie noch verhältnismäßig freundlich. Sie bestanden zwar auf der Entfernung dieser Fetzen, opferten aber wenigstens Papierhandtücher und Klopapier von der Zugtoilette.

Ausnahmsweise war ja mal was da.

Sonja musste innerlich grinsen.

Das verging ihr allerdings gründlich als sie nach einem Blick auf die Uhr feststellen musste, dass sie in Magdeburg den Anschluß wohl endgültig in den Wind schreiben konnte. Sie fragte sich, wie zum Teufel, sie nach Riesa und von dort aus nach Elsterwerda kommen sollte. Mitten in der Nacht würde auf dieser Strecke vermutlich noch weniger fahren als man das vom Westen gewöhnt war. Außerdem würde der Schwiegervater wohl kaum die Nacht auf dem Bahnsteig verbringen. Nach ungefähr einer weiteren Stunde Fahrt hatten sie dann endlich Magdeburg erreicht. Sonja angelte sich ihren Koffer und stieg aus. Eisige Kälte schlug ihr entgegen und der erste Gedanke war, man fühlt schon die Nähe zu Russland und danach bin ich weiß Gott nicht angezogen. Obwohl der Gedanke an die Nähe zu Russland rein theoretisch war; geographisch stimmte das in keiner Weise. Aber für Sonja war das ein Wintereinbruch, den sie aus dem milden Rheinland nicht kannte und Temperaturen von mehr als zwanzig Grad minus hatte sie bis dato auch noch nicht erlebt.

Außerdem – das faszinierte sie schon – war alles dick verschneit und Sonja wagte nicht zu ermessen, wie hoch der Schnee lag. Sie dachte, dass sie mit ihrer Schätzung ziemlich daneben liegen könnte. Sie sah sich um und stellte fest, dass der Bahnhof genauso trostlos aussah, wie ihre Stimmung. Am Ende des Bahnsteiges stand eine einsame, vermummte Gestalt, die sich bei ihrem Anblick langsam in Bewegung setzte.

Der Schwiegervater. Er hatte also doch gewartet.

"Du lieber Gott", entfuhr es Sonja, "Du mußt doch völlig durchfroren sein. Und was sage ich jetzt? Guten Abend ist nicht mehr ganz passend, wie? Das kann man wirklich nicht mehr sagen."

Friedrich Hanser lachte. "Nein, wohl kaum. Da hast du recht. Aber zunächst einmal: herzlich willkommen. Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen. Immerhin war die plötzliche Hochzeit von Johannes eine ziemliche Überraschung für mich."

"Kann ich mir denken", lachte Sonja. "Aber ich glaube, wir sollten hier nicht festwachsen, sondern zusehen, dass wir irgendwie ins Warme kommen. Falls es sowas wie beheizte Warteräume gibt", fügte sie leise hinzu.

Friedrich Hanser nahm mit der einen Hand den Koffer und hakte Sonja an der anderen Seite unter. "Komm, wir brauchen wirklich nicht festzuwachsen. Abgesehen davon, dass der Warteraum beheizt ist, habe ich ein Taxi organisiert, was uns auf dem schnellsten Wege nach Elsterwerda bringt. Der nächste Zug fährt nämlich erst um fünf in der Früh und bis dahin sind wir tatsächlich erfroren."

Sie machten sich auf den Weg zum Bahnhofsgebäude, in dem ein Taxifahrer reichlich mißmutig wartete.

"Na endlich", brummte er, "dann können wir ja wohl?"

Vor dem Bahnhofsgebäude, wo von einer Straße nichts mehr zu sehen war, weil alles im Schnee versank, stand das Taxi und Sonja sah zum ersten Mal einen Wolga. Taxi auf russisch. In der DDR sah man zu dieser Zeit fast nur Wolga’s als Taxi, weil nämlich eine entsprechende Abnahmeverpflichtung bestand. Seitens der Russen kann man das durchaus verstehen, mussten die doch ihre Fahrzeuge loswerden. Allerdings haben die deutschen Taxifahrer nicht schlecht geflucht. So ein Wolga war versoffen und brauchte ungefähr sechsundzwanzig Liter Benzin auf hundert Kilometer. Aber dafür hatte er eine ausgezeichnete Heizung.

Wen wundert's!

Der Fahrer nahm Sonjas Koffer und wollte den Kofferraum öffnen. Ja, denkste! Sachkundig und etwas lakonisch stellte er fest: "Zugefroren. Mist elender! Was jetzt?"

Letzteres war an Sonja gerichtet.

Diese war inzwischen saumüde, knatschig und kaum mehr ansprechbar. Trotzdem fiel ihr ein, dass sie noch ein Fläschchen Türschloßenteiser in der Handtasche haben könnte. Mit blaugefrorenen Fingern wühlte sie darin herum.

"Hurra, da ist es ja!"

Sie ging an dem Fahrer vorbei und steckte die spitze Tülle in das Türschloß an der Fahrerseite. Nachdem sie ein wenig von der Flüssigkeit in das Schloß gedrückt hatte, ging sie um das Auto herum und machte es mit den anderen Türschlössern und dem Schloß des Kofferraumdeckels genauso. Nach kurzer Zeit ließen sich alle Türen , auch der Kofferraum, problemlos öffnen.

Der Fahrer staunte nicht schlecht und Sonja dachte, dass dem armen Kerl vermutlich am nächsten Tag das gleiche passieren würde.

"Hier, bitte. Sie brauchen es wohl dringender als ich."

Dass sie sich, wenn sie wieder in Köln war, ein neues Fläschchen kaufen könnte, sagte sie taktvollerweise nicht dazu. Endlich war der Koffer verstaut und der Wagen setzte sich in Bewegung. Gegen zwei Uhr in der Früh erreichte man Elsterwerda. Die Fahrt war das, was Sonja heute als einen Horrortrip bezeichnen würde. Alles dick verschneit und besonders angenehm: die Straße darunter war total vereist. Von räumen oder streuen hatte man anscheinend noch nie was gehört, jedenfalls war eine Rutschpartie par excellence angesagt, was die ganze Geschichte nicht besser machte.

Endlich war man da.

Friedrich Hanser schloß die Tür auf und Sonja wollte sich gerade die Schuhe ausziehen, um niemanden zu wecken als die Wohnzimmertür aufging und eine Dame mittleren Alters im Rahmen stand.

"Ich bin Isa Kannemeier und die Lebensgefährtin Ihres Schwiegervaters", stellte sie sich vor. "Kommt erst einmal rein. Ich habe einen Kaffee warmgehalten, damit Ihr wenigstens ein bisschen zu Verstand kommt."

Gähnend sank Sonja in den nächsten Sessel und hüpfte gleich wieder hoch. "Entschuldigung", meinte sie, "ich habe mich einfach hingesetzt."

"Das wäre ja auch noch schöner, wenn du das nicht dürftest", lächelte Isa. "Was meinst du?", wandte sie sich an Friedrich Hanser.

Während dieses kleinen Geplänkels hatte Sonja sich ganz verstohlen ein wenig umgesehen. Das Wohnzimmer war recht gemütlich, wenn auch mit Möbeln ausgestattet, die ihre eigenen Eltern schon vor über zehn Jahren entsorgt hatten. Plüsch, Quaddeln und das alles in altrosa. Naja – aber woher sollten sie es auch nehmen. Sie trank ihren Kaffee und meinte dann aber: "Ihr seid mir bitte nicht böse, aber was ich jetzt nur noch brauche, ist ein Bett!"

Isa Kannemeier stand auf. "Du hast recht, hoffentlich kannst du nach dem Kaffee jetzt noch schlafen?"

"Bestimmt", gähnte Sonja, "ich wußte gar nicht, dass ein einzelner Mensch so müde sein kann."

Sonja schaffte es gerade noch, sich in dem ihr zur Verfügung gestellten Schlafzimmer auszuziehen. Ins Bett, Beine noch unter die Decke ziehen – dann fiel sie in einen totenähnlichen Schlaf. Durch ihr Gehirn rasten die wildesten Träume. Sie erlebte die Bahnfahrt genauso noch einmal wie die stillen Ängste, die sie an der Grenze ausgestanden hatte.

"Nein – nein – ich will nicht mitkommen ..."

"Sonja, wach auf!"

Erschrocken fuhr sie hoch.

Vor dem Bett stand der Schwiegervater. "Du mußt dich anziehen. Draußen stehen zwei Herren, die dir den Dresdner Zwinger zeigen wollen."

Die gesamte Betonung dieses Satzes war so seltsam, dass Sonja sofort hellwach wurde. Friedrich Hanser legte den Finger auf die Lippen. Ganz leise flüsterte er: "Die sind vom Staatssicherheitsdienst – STASI – dagegen kannst du dich nicht wehren. Und!, sei wachsam; ich weiß nicht was die wollen. Etwas Gutes kann's nicht sein."

Laut sagte er: "Nun komm, Mädchen, werd' langsam munter. Ich warte im Wohnzimmer auf dich."

Seufzend schälte Sonja sich aus dem Bett und fluchte innerlich. Die hätten doch wenigstens noch ein paar Stunden warten können.

Unausgeschlafen, ohne Frühstück.

Wie spät ist es eigentlich? Ein Blick auf den Wecker: gerade mal halb acht.

"Die haben einen Vogel", meinte sie, "und, was zum Teufel, soll ich in Dresden?"

Mit einer halben Drehung zum Schwiegervater, der noch im Türrahmen stand, meinte sie: "Ich bin zu dir gekommen und wenn wir einen Ausflug machen wollen, können wir das allein."

Friedrich Hanser meinte flüsternd: "Nicht so laut; du hast ja recht, es hilft bloß nichts. Komm und mach dich fertig. Letztlich kriegen wir beide bloß Probleme."

Sonja schlurfte ins Bad. Sie war gewohnt, täglich zu duschen. Aber hier gab es nur eine Badewanne. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als die Handbrause zu nehmen und sich, wie sie es nannte, mit dem Telefonhörer zu duschen. Dass ihre Stimmung dabei einen gewissen Aufschwung erhalten könnte, war nicht gerade festzustellen. Zwanzig Minuten später war sie fertig.

Im Wohnzimmer standen zwei Männer, die vor allem eines waren: denkbar unsympathisch. Bei Sonja schlugen alle Frühwarnsysteme Alarm, aber sie riss sich zusammen. Schon das Äußere der Beiden sprach Sonja auf das Unangenehmste an. Beide trugen dunkle Ledermäntel und Hüte. Bei dem Kleineren der beiden guckten lange, ungepflegte Haare heraus. Außerdem roch der Lange ekelhaft nach Schweiß. Und das war etwas, was Sonja nun gleich gar nicht leiden konnte.

Sie rümpfte die Nase: "Guten Morgen, ich bin Sonja Hanser."

"Guten Morgen. Wir freuen uns, Sie kennenzulernen. Wir haben aus Ihren Einreisepapieren gesehen, dass Sie zum ersten Mal in der DDR sind (was schon nicht stimmte!) und wollen Sie gern für einen Tag betreuen. Da ganz in unserer Nähe die Stadt Dresden liegt, die besonders schön und geschichtsträchtig ist, haben wir beschlossen, Ihnen diese Stadt und den wunderschönen Zwinger zu zeigen."

Sonja fing gerade noch einen warnenden Blick ihres Schwiegervaters auf und antwortete brav: "Dankeschön, das ist sehr aufmerksam. Aber, wenn ich ehrlich sein soll, es wäre mir lieber gewesen, wenn Sie damit noch ein wenig gewartet hätten. Ich bin in der vergangenen Nacht, nach einer Horrorfahrt, erst gegen zwei Uhr in der Früh hier angekommen und im Moment noch saumüde. Gefrühstückt habe ich auch noch nicht."

Die beiden Herren verzogen unisono das Gesicht, was wohl ein Lächeln darstellen sollte.

"Das Frühstück holen wir unterwegs nach, wenn es Ihnen recht ist. Sogar recht exklusiv. Aber was meinten Sie mit Horrorfahrt? Haben Sie etwas gegen unsere fortschrittlichen Eisenbahnverbindungen?" Damit war wohl klar, wie hier der Hase laufen würde.

Zähneknirschend ging Sonja in die Diele und zog sich die Schuhe an. Als sie vor die Tür traten, atmete Sonja tief durch, was in einem Hustenanfall endete. Du lieber Himmel, war das kalt. Die Nasenwände klebten zusammen und sie angelte nach ihrem Taschentuch, um es sich vor das Gesicht zu halten.

"Wieviel Grad minus haben wir eigentlich?", nuschelte sie aus ihrer Vermummung.

"Ungefähr fünfundzwanzig."

Das kann ja heiter werden, dachte sie und stieg in die schwarze Limousine mit Chauffeur, die vor dem Haus wartete.

Die nun folgende Fahrt blieb Sonja nur mehr oder minder bruchstückhaft in Erinnerung. Teilweise hatte sie den Eindruck, über den Mond kutschiert zu werden.

Die Landschaft, nicht gerade von Schönheit geprägt, versank inzwischen in leichtem Nebel, der die Rutschpartie nicht angenehmer machte. Sie dachte mit Schaudern daran, dass sie den ganzen Tag in Gesellschaft dieser zweifelhaften Typen verbringen musste und gab sich redlich Mühe, das Frage- und Antwortspiel der beiden mitzumachen. Sie konnte sich die ganze Chose nicht erklären.

"... ja, und wissen Sie, dann kommt auch noch dazu, dass Sie doch ganz bestimmt Ihren Schwiegervater gern bei sich hätten, oder?"

Sonja, die gedankenverloren diesem Warum nachhing, schreckte plötzlich hoch und war hellwach. Vor lauter Angespanntheit vergaß sie sogar, welchen Hunger sie hatte. Jetzt kam es wohl darauf an.

"Natürlich wäre das schön, wenn wir nicht soweit auseinander wohnen würden", sagte sie vorsichtig. "Aber das läßt sich nun einmal nicht ändern."

"Das, junge Frau, liegt in Ihrer Hand", bemerkte der mit dem ledernen Schlapphut.

"Wieso?"

"Nun, Sie werden sich ja wohl denken können, dass wir nicht jeden in unser Land lassen und können es sich zur Ehre anrechnen, dass Sie eine Einreisegenehmigung erhalten haben. Durch diese Papiere wissen wir auch, dass Sie in einem grossen Industrieunternehmen tätig sind. Nun, wenn Sie bereit wären und uns vielleicht ab und zu einen kleinen Gefallen erweisen, könnte Ihr Schwiegervater innerhalb kurzer Zeit ausreisen und bei Ihnen wohnen."

Das war es also!

Sonja vergaß, Luft zu holen. In ihrem Kopf war ein einziges Durcheinander und vor allen Dingen panische Angst. Spionage!

Wie, zum Teufel, sollte sie da wieder rauskommen. Und zwar unbeschadet.

"Es versteht sich von selbst", sagte der lange Stinker gerade, "dass Sie über dieses Gespräch absolutes Stillschweigen bewahren werden, nicht wahr? Andernfalls könnte das sehr unangenehme Konsequenzen für Sie und Ihre Familie haben", meinte er weiter.

Sonjas Herz raste. Sie riß sich zusammen und hoffte, dass ihre Stimme nicht allzusehr zitterte. "Aber da sind Sie bei mir doch nun völlig falsch. Ich bin wirklich nur eine kleine, unbedeutende Sekretärin."

Der Kurze, Ungepflegte, gähnte ungeniert und nuschelte etwas maliziös: "Ganz so klein und unbedeutend nun auch nicht. Immerhin sitzen Sie bei einem Direktor und dürften schon Einblick in Unterlagen haben, die durchaus interessant sein könnten. Aber das können Sie sich natürlich überlegen. Nur ... denken Sie daran, je länger Sie überlegen, desto länger muß Ihr Schwiegervater hierbleiben. So! Jetzt gehen wir endlich frühstücken. Leider sind wir nicht in Berlin – mit dem Adlon können wir also nicht dienen", meinte er.

"Wieso Adlon", reagierte Sonja ganz automatisch, "das ist doch im Krieg in die Binsen gegangen, oder?"

Auf's Frühstücken hätte Sonja inzwischen verzichten können; der Appetit war ihr gründlich vergangen und sie kämpfte mit gnadenloser Angst. Wie käme sie da wieder raus ohne sich und ihre Familie in Schwierigkeiten zu bringen. Die unverhohlene Drohung, die der Lange ausgesprochen hatte, setzte ihr zu und sie beschloss, entgegen aller Warnungen, sobald sie zurück waren, ihren Schwiegervater einzuweihen. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass etwas im Hintergrund schwelte, was für sie von Bedeutung war.

"Ich verstehe trotzdem nicht, wie Sie ausgerechnet auf mich kommen," hörte sie sich selber weitersprechen. "Gut, mein Chef ist Direktor, aber auch er hat nur ein begrenztes Gebiet der Zuständigkeit und Dinge, die wirklich gravierend oder besonders wichtig wären, sieht vermutlich noch nicht einmal er. Geschweige denn: ich. Und ich wüßte auch nicht, wie ich Ihnen überhaupt Nachrichten zukommen lassen sollte; ich habe noch nicht einmal ein Telefon."

Uff, so müßte es gehen, dachte Sonja. Das ist meine Rettung. Pustekuchen. Das hatte sie auch wirklich nur gedacht.

Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. "Das dürfte doch bei Ihnen drüben das geringste Problem sein, an einen Telefonanschluss zu kommen."

Die Kerle waren offensichtlich bestens informiert.

"Und wer bezahlt mir das?", fragte Sonja zurück.

"Wir gehen davon aus, dass Ihr Schwiegervater Ihnen das wert ist."

"Und außerdem", resümierte der Andere, "liegt Spionage ja wohl in Ihrer Familie. Immerhin hat Friedrich Hanser aus eben diesem Grund fünfundzwanzig Jahre in Brandenburg im Kittchen zugebracht. Es war sicher nicht dumm, zu spionieren, aber er war dumm genug, es für die Gegenseite zu tun und noch dümmer, sich erwischen zu lassen."

Sonja schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihr wurde schlagartig übel.

***

Ricardo 1965 – 1970

Ricardo kämpfte gegen die bleierne Müdigkeit, die diese elend lange Bahnfahrt bei ihm auslöste. Immer wieder ging sein Blick zur Uhr, nur noch knapp sieben Stunden. Inzwischen hatte man München erreicht und, wenn ihm nicht gerade mal wieder die Augen zufielen, besah er sich die Landschaft. Die Alpen lagen bereits hinter ihnen und Ricardo war fasziniert von der Schönheit dieses Landes. Er hatte sich unter Georgios Schilderungen nicht viel vorstellen können und bewunderte vor allen Dingen, dass alles so herrlich grün war.

Hinter München trübte sich der Himmel dann ein und er bekam einen ersten Vorgeschmack auf das, was man in Deutschland allgemein Sauwetter nennt. Besonders im Rheinland, wo ein Spruch die Wetterregeln sehr vereinfacht ausdrückt: Wenn man aus dem Fenster guckt und das Siebengebirge sehen kann, dann regnet es bald und, wenn man es nicht sieht: regnet es.

Georgio hatte ihm erzählt, dass es viel regnen würde und im Winter bitter kalt sei, aber wirklich vorstellen konnte Ricardo sich das nicht. Bei weiteren Blicken aus dem Zugfenster dämmerte ihm, dass er mit seinen paar Klamotten, die ausschließlich auf mediterranes Klima ausgerichtet waren, wohl kaum auskommen würde. Aber dafür brauchte er Geld und, um genau daran zu kommen, Arbeit. Sorgen machte Ricardo sich darum nicht. Georgio hatte ihm versprochen, dass das kein Problem sei und seinem Freund vertraute er immer schon. Georgio war ohnehin der Aktivere und Mutigere von ihnen beiden.

Sein Reisegefährte kam vom Frühstück aus dem Speisewagen und besah den vor sich hin dösenden Ricardo. Er hatte zwar nicht viel für Menschen übrig, deren Sprache er nicht verstand, aber irgendwie rührte ihn dieses Bengelchen. Trotz erheblicher Sprachprobleme hatte er immerhin heraus bekommen, dass der Junge Ricardo hieß und in Deutschland Arbeit suchte. Naja, dachte Hans Gutmooser, bei uns will eh' keiner mehr die Straße kehren, warum sollte er das nicht tun. Er dachte an seine Frau Hertha und die beiden Kinder, die unbedingt studieren wollten. Wollten sie das wirklich?, war es nicht eher so, dass sie sollten! Er, Hans Gutmooser, war sowieso dagegen. Nicht, dass er seinen Kindern eine solche Ausbildung nicht gegönnt hätte oder nicht bereit gewesen wäre, sie zu bezahlen. Nein, er war aufgrund der Zeugnisse der Beiden ganz einfach der Ansicht, dass sie in einem Beruf, zu dem man kein Studium bräuchte, besser aufgehoben seien. Mit seiner Ansicht biss er bei Hertha auf Granit. Sie wollte unbedingt stolz auf ihre Kinder sein, was er auch irgendwie verstand. Aber musste man dafür studiert haben? Und ihre Worte: Ihr sollt es einmal besser haben als ich, konnte er nicht mehr hören.

Er seufzte und sah Ricardo an. Mit Händen und Füßen starteten die Beiden einen erneuten Versuch, sich zu unterhalten und brachen zwischendurch in schallendes Gelächter aus. Mißverständnisse waren programmiert; aber man kam sich näher. Hans Gutmooser schämte sich fast ein wenig, dass er am Morgen so unfreundlich zu Ricardo gewesen war. Er hatte auch rausgekriegt, dass der Junge zweiundzwanzig Jahre alt war. Aussehen tat er gerade mal wie sechzehn. Er versuchte, ihm klarzumachen, dass er so empfand, aber das scheiterte dann endgültig an dem, was man Sprachproblem, beziehungsweise Verständigungsschwierigkeiten nannte. Gutmooser beschloß, in den verbleibenden Stunden Ricardo ein paar Worte Deutsch beizubringen. Er setzte sich in Positur und Ricardo sah ihn neugierig an. Dann lachte er und machte es seinem Reisegefährten nach.

Hans Gutmooser deutete mit dem Zeigefinger auf sich und sagte:

"Mein Name ist Hans Gutmooser."

"Aha", hatte Ricardo begriffen und wiederholte brav.

"Nein, nein", lachte Gutmooser, "mein Name....."

Dann deutete er mit dem Finger auf Ricardo.

Es dauerte eine kleine Weile aber dann hatte Ricardo die Technik verstanden und die beiden nahmen immer einzelne neue Worte auf. Ricardo holte sich einen kleinen Block und einen Bleistift aus der Tasche und versuchte, so gut das ging, mitzuschreiben, was sein Reisegefährte ihm beibrachte. Das war mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, da Ricardos Schreibtechnik zu wünschen übrig ließ. Hans Gutmooser half ihm so gut wie möglich und die letzten Stunden bis Köln vergingen wie im Flug. Als der Zielbahnhof erreicht war, bedauerten beide, dass sie nicht schon früher den Versuch gemacht hatten, miteinander zu sprechen. Gutmooser gab Ricardo seine Adresse – er wohnte auch in Köln – und machte ihm verständlich, dass er sich, sobald alles ein bißchen in der Reihe sei, bei ihm melden solle. Er würde sich freuen, ihn wiederzusehen. Ricardo freute sich auch.

Mit einem Ruck hielt der Zug.

Endstation. Alles aussteigen.

Dank Gutmoosers Hilfe verstand, treffender: begriff, Ricardo diese Durchsage sogar und nahm seine Tasche. Er stieg aus, winkte seinem eilig davon strebenden Reisegefährten nach und sah sich um. Da kam Georgio.

Die beiden fielen sich um den Hals und redeten im Eiltempo aufeinander ein. Auf dem Bahnsteig sahen einige Passanten dieses Schauspiel und eine Frau sagte: "Schon wieder so'n paar Spanier."

"Nix Spanien", sagte Georgio empört, "isch sein Italien!"

"Mir auch wurscht", meinte die Dame, "verstehen kann Euch hier sowieso kein Mensch."

"Das werden besser, junge Frau", meinte Georgio ungerührt, "isch haben schon gelernt eine Menge deutsch Worte. Aber nicht genug.

Du vielleicht können helfen, dann schneller!?"

Er grinste und nahm Ricardo am Arm. Die beiden gingen zum Ausgang und Ricardo begann von seiner Reise zu erzählen.

Vor dem Bahnhofsportal stand Georgios Fahrrad. Die Reisetasche wurde auf dem Gepäckträger verstaut und zu Fuß machten sie sich zunächst auf den Weg zu Georgios Quartier. Er wohnte in einem Heim für Ausländer, in unmittelbarer Nähe des Rheins.

Ricardo wurde angesichts dieser Riesenstadt ganz still und fast ein bißchen ängstlich. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen!

Georgio nahm ihn mit auf sein Zimmer und erklärte ihm, was am kommenden Tag zu erledigen sei. Heute könne man ohnehin nichts mehr machen, da die Behörden bereits geschlossen hätten. Aber morgen.

Ricardo sah in verzweifelt an: "Und, wie, bitte, soll ich das hinbekommen?"

"Keine Bange", lachte Georgio, "ich habe mir einen Tag Urlaub genommen und werde dich begleiten. Wir schaffen das schon. Ich habe es schließlich auch geschafft. Jetzt komm erst einmal mit, ich werde dich den Anderen vorstellen. Auch die werden dir alle helfen. Wir sind hier ungefähr zwanzig Leute, davon sind sechzehn Spanier."

"Heilige Mutter Gottes", entfuhr es Ricardo, "die versteh' ich doch auch nicht!"

Georgio lachte: "Nein, noch nicht - aber bald!"

"Wieso, muß ich jetzt etwa auch noch spanisch lernen?"

"Natürlich nicht, Ricardo, aber du vergißt, dass wir jetzt alle in Deutschland sind und die Spanier müssen, genau wie wir, deutsch lernen. Das ist für die Zukunft unsere gemeinsame Sprache."

Ricardo musste lachen. "Du hast ja recht, aber eine komische Vorstellung ist das schon. Das mußt du zugeben, oder?"

Inzwischen hatten sie einen Mitbewohner aufgegabelt. Rodrigo, einen Spanier. Der lebte bereits über ein halbes Jahr in Köln und konnte inzwischen schon ganz gut deutsch. Außerdem hatte er sich durch seine italienischen Kumpels auch etwas italienisch (!) angeeignet, so dass die Verständigung prima klappte.

Ricardo verlor ein wenig seine Unsicherheit und als Georgio sagte, man wolle am Abend zusammen ein Bier trinken gehen, war er nur zu gerne bereit, dieses Angebot anzunehmen.

Die nächstgelegene Kneipe war uralt und rappelvoll. Ein altes Brauhaus, was nicht nur von Kölnern, sondern auch rund um die Uhr von jeder Menge Touristen besucht wurde. Da Ricardo von seiner Reise noch reichlich kaputt war, verzichtete man aus Solidarität auf ein ausgiebiges Gelage und ging nach drei Bier wieder heim.

Georgio gähnte inzwischen mit Ricardo um die Wette, aber nicht, weil er zuviel getrunken hatte, sondern weil ihm die letzte Nachtschicht noch in den Knochen steckte.

"Komm", meinte er, "wir sehen zu, dass wir ins Bett kommen. Morgen ist um halb sieben die Nacht zu Ende!"

"Wann?", fragte Ricardo entsetzt. "Halb sieben? Das ist ja mitten in der Nacht!"

"Hilft nichts, mein Freund", grinste Georgio schadenfroh. "Du bist nicht mehr in deinem verschlafenen Margherita sondern in Köln. Und, Ricardo, das ist jetzt kein Spaß: die Deutschen sind sowieso ganz anders als man uns das mit den tollsten Schauermärchen weismachen wollte. Wenn ich ein paar von unseren Schwadlappen bei meinem nächsten Besuch in die Finger kriege, werde ich denen was erzählen. Aber eines wissen unsere Schwarzmaler mit ihrem Superfeindbild nicht: die Deutschen sind, Ausnahmen gibt's auch hier, absolut zuverlässig und pünktlich. Du darfst dir so annähernd alles erlauben, die sind hier wirklich sehr tolerant, bloß eines solltest du nie sein: unpünktlich. Dann bist du untendurch. So, und jetzt komm. Heute schläfst du bei mir und morgen gehen wir zum Ausländermeldeamt. Und hier im Haus melden wir dich beim Hausmeister. Möchtest du ein Zimmer für dich allein oder willst du lieber zu zweit wohnen?"

Fragend sah Georgio seinen Freund an. Aber der war nur noch bettreif.

"Ich werde morgen weiterdenken", sagte er zu Georgio.

Morgen!

Morgen würde er anfangen, Deutschland zu erobern.

***

Freitag

Melanie sah ihre Freundin an, die wie in Trance eine Geschichte erzählte.

"He", sagte Melanie, "aufwachen!"

Sonja schreckte wie aus einem Traum hoch und lächelte entschuldigend: "Sorry, jetzt habe ich dich auch noch mit diesem elenden Mist aus der Vergangenheit zugelabert."

"Du bist gut! Laß mich jetzt gefälligst nicht mittendrin hängen.

Wie ging das denn weiter?"

Melanie drängte Sonja zum Weitererzählen, aber diese wehrte zunächst ein bißchen ab. "Laß uns zu Ende essen und heimgehen.

Dann erzähle ich dir den Rest. Hier hab' ich keinen Nerv mehr."

Was Melanie dann auch irgendwie verstehen konnte.

Sie nahm einen Schluck Rotwein und deutete mit der Gabel nach vorne.

"Sieh mal, Nicoletta ist auch hier."

"Ist das Luigis Tochter?"

"Nein, das ist schon seine Enkelin."

"Himmel, wie lange ist Luigi denn schon in Deutschland?"

"Hm, wenn mich nicht alles täuscht, müßten das etwas über dreißig Jahre sein."

Luigi, der die leise geführte Unterhaltung dennoch mitbekommen hatte, fügte hinzu: "zweiunddreißig!"

Sonja lachte zum ersten Mal an diesem Abend auf: "Luigi, eines mußt Du zugeben, Du bist deutscher als wir alle zusammen!"

"Stimmt!"

"Außerdem", schaltete sich Melanie ein, "Du hast völlig recht. du arbeitest hier und zahlst deine Steuern, also hast du auch das Recht, deinen Mund aufzumachen."

Luigi hatte auch nicht vor, sich Fesseln aufzuerlegen. Immerhin hatte er es von einem kleinen Fabrikarbeiter zum Restaurantbesitzer gebracht. Und darauf war er, und wie er fand: mit Recht, stolz. "Um an den Ursprung des Themas anzuknüpfen", begann er. "Ja, Nicoletta ist schon meine Enkelin und in Deutschland geboren. Sie ist jetzt sechs Jahre alt und dieses Jahr in die Schule gekommen. Aber für Arietta, meine Frau, und für mich ist das alles ein bißchen problematisch. Sie ist fast das einzige Kind mit christlichem Glauben. Der ganze Rest, bis auf einige wenige, sind Moslems, Hindi und was weiß ich sonst noch. Ich kenn' mich da nicht so genau aus. Fiorena, meine Tochter und Nico, mein Schwiegersohn, sehen das nicht so eng. Sie sagen immer: je multinationaler und -kultureller, umso besser. Aber ich weiß nicht so recht. Ich fühle mich einfach unwohl bei dem Gedanken, dass Nicoletta eines Tages nach Hause kommt und vielleicht den Wunsch äußert, einen anderen Glauben annehmen zu wollen."

Luigi wartete keine Antwort ab, seufzte und lächelte dann: "Jetzt trinken wir aber noch einen Grappa; auf Kosten des Hauses. Damit läßt sich auch die Rechnung viel besser verdauen."

Sonja und Melanie teilten sich, wie immer, den Betrag. Sie gingen seit Jahren gemeinsam essen und anfangs hatte jeder für sich bezahlt. Eines Tages stellten sie fest, dass das ganz großer Blödsinn sei, dass jede ihr Glas Wein für sich bestellen würde. Am Ende hatten sie, bis auf ein paar Cent rauf oder runter, sowieso immer den gleichen Betrag. Seit dieser Erkenntnis machten sie grundsätzlich eine gemeinsame Rechnung und Luigi kannte das schon gar nicht mehr anders; und er machte auch immer das gleiche Witzchen.

Irgendwie hatte Luigi das Gefühl, dass Sonja eine besondere Frau war. Sie strahlte etwas aus, was Luigi nicht definieren konnte. Er hatte schon einmal versucht herauszufinden, wie alt Sonja denn war. Seine Bemühungen hatte sie damals kurzerhand im Keim erstickt in dem sie sagte: "Gib dir doch um Himmelswillen nicht soviel umständliche Mühe, Luigi; wenn du was wissen willst, dann frag' mich halt."

Luigi kam daraufhin gewaltig ins Schwitzen. Hatte man ihm doch beigebracht, eine Dame niemals nach ihrem Alter zu fragen.

Sonja sah ihn damals – und das war nun immerhin schon ein paar Jahre her – an und meinte: "So, so, was dir also auf der Seele brennt ist, zu wissen, wie alt ich wohl bin, hm?"

In der Erinnerung musste Luigi lachen. Jetzt war Sonja jedenfalls achtundvierzig und, je nachdem, wie sie angezogen oder gelaunt war, sah sie manchmal auch gut und gerne zehn Jahre jünger aus. Trotzdem fühlte er so etwas wie ein Geheimnis um diese Frau. Er hatte auch schon mit Arietta darüber gesprochen, die dann mit scherzhaft erhobenem Zeigefinger meinte: "Du willst mir doch wohl auf Deine alten Tage nicht noch untreu werden?"

Am meisten hatten Luigi die alten Tage getroffen, aber sonst konnte er Arietta schon glaubwürdig versichern, dass seine stille Liebe zu Sonja rein platonisch war.

Wirklich?

Er schüttelte die Gedanken ab und konzentrierte sich darauf, den beiden Damen in ihre Jacken zu helfen.

"Ciao Luigi! Bis zum nächsten Mal. Und grüße deine Frau von uns. Mach's gut, Nicoletta. Und viel Spaß in der Schule!"

Luigi und Nicoletta sahen den beiden nach.

"Nicht wahr, Großvater, Sonja ist bestimmt schon einmal auf der Welt gewesen?"

"Wie kommst du denn darauf", sah Luigi seine Enkeltochter erstaunt an.

"Ich glaube, sie hat ganz doll viel erlebt. Und das paßt gar nicht alles in ein Leben."

"Was du dir zusammenreimst, cara mia. Komm rein, die Oma wartet bestimmt schon mit dem Abendessen."

Vertrauensvoll schmiegte sich Nicolettas kleine Hand in die Pranke von Luigi und sie gingen gemeinsam in die Küche.

*

Melanie und Sonja legten den ersten Teil des Heimweges schweigend zurück. Melli wollte ihre Freundin nicht drängen und ihr Gelegenheit geben, sich zu sammeln. Obwohl sie fast vor Neugier platzte und gleichzeitig selbst versuchte, mit dem Gehörten zurecht zu kommen. Sonja und sie waren schon zwanzig Jahre eng befreundet, aber Melanie gestand sich ein, dass sie ihre Freundin kaum kannte. Sie war sich auch klar darüber, dass das ganz allein ihre Schuld war. Sie hatte all' die Jahre ihre Kümmernisse bei Sonja abgeladen, aber sich niemals selbst die Mühe gemacht, auch Sonja zu verstehen. Im Grunde schämte sie sich ganz furchtbar.

Laut sagte sie: "Am besten gehen wir zu dir. Ich habe das Gefühl, als könntest du heute Abend durchaus noch mal einen Cognac vertragen und dann solltest du anschließend nicht noch durch die Gegend laufen müssen."

Dankbar sah Sonja ihre Freundin an: "Vermutlich hast du recht. Ich bin auch, ehrlich gesagt, nicht sicher, ob ich unbedingt nüchtern ins Bett gehen will!"