Die Entscheidung der Familie Sender - Jesper Clemmensen - E-Book

Die Entscheidung der Familie Sender E-Book

Jesper Clemmensen

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine tragische Reportage: Im März 1977 flieht die fünfköpfige Familie Sender in zwei Faltbooten über die Ostsee nach Dänemark. Mehr als 6.000 Menschen versuchten es, auf diesem Wege die DDR zu verlassen – fast 200 kamen dabei um: Warum nahmen Menschen dieses Risiko auf sich? Unter welchem Druck stand das Ehepaar Sender? "Über die menschliche Suche nach Freiheit." (Weekendavisen, dänische Zeitung) Jesper Clemmensen, geboren 1975, ist an der dänischen Ostseeküste aufgewachsen. Der Autor und TV-Journalist recherchierte sieben Jahre zu Einzelschicksalen von DDR-Flüchtlingen. Sein Reportage-Buch "Fluchtroute: Ostsee" (Flugtrute: Ostersoen, Gyldendal) wurde in Dänemark als "Bestes Buch über Geschichte" ausgezeichnet. Tobias J. Koch widmet sich der Ostseeregion als Kultur- und Literaturraum. Dabei ist er sowohl als Übersetzer aus dem Dänischen als auch als Kulturmanager tätig.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 51

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jesper Clemmensen

die Entscheidung der Familie Sender

Reportage

Aus dem Dänischen von Tobias J. Koch

ein mikrotext

Cover: Andrea Nienhaus

Coverfoto: BStU

Covertype: PTL Attention, Viktor Nübel

Erstellt mit Booktype

www.mikrotext.de – [email protected]

ISBN 978-3-944543-47-5

Übersetzung mit Unterstützung des Dänischen Kunstfonds 

Alle Rechte vorbehalten.

© mikrotext 2017, Berlin

Inhalt

Zwischen den Jahren 1961 und 1989 versuchten mehr als 6.000 Ostdeutsche über die Ostsee zu fliehen. Oft waren die dänische Küste oder die Mannschaften dänischer Schiffe ihre Rettung. Nur einer Minderheit gelang die Flucht, weniger als 1.000 von ihnen konnten sich aus den Fängen der Diktatur befreien – Tausende kamen ins Gefängnis, und mindestens 174 Erwachsene und Kinder kamen bei Fluchtversuchen ums Leben. Diese Reportage ist die dokumentarische Nacherzählung einer der dramatischsten und tragischsten Fluchten über die Ostsee.

Die Entscheidung der Familie Sender

Impressum

Inhalt

Titelseite

Die Entscheidung der Familie Sender

Quellenangabe

Über den Autor

Über den Übersetzer

Über mikrotext

Katalog

Ein Chat von der Flucht (Leseprobe)

Mein Brief an die NSA (Leseprobe)

Jesper Clemmensen

Die Entscheidung der Familie Sender

Reportage

Aus dem Dänischen von Tobias J. Koch

Die Entscheidung der Familie Sender

8. März 1977, Heiligendamm an der Ostseeküste

Der Winter hat das Land noch immer nicht aus seinem eisigen Griff entlassen. Die Temperaturen liegen unter dem Gefrierpunkt und der matschige Boden fühlt sich kalt an. Der Wind drückt die nackten Äste zur Seite und öffnet den Blick aufs Wasser. Zu dieser Jahreszeit gehen keine Touristen, sondern nur Einheimische im Wald spazieren, der direkt an der Küste liegt. Einer von ihnen hat die Polizei gerufen.

Erst am Nachmittag des zweiten Dienstags im März 1977 fährt ein weiß-grüner Wartburg mit blinkendem Blaulicht über den Sandweg. Er hält am Wald, die Beamten steigen aus und gehen zum Fundort. Der gestohlene Lastwagen steht leicht schräg am Waldweg geparkt, mit der Front in Richtung Strand. Unter der Plane auf der Ladefläche entdecken die Beamten drei Taschen mit Kleidung, darunter auch Pullover und Socken in Kindergrößen. Außerdem finden sie eine kleine und drei größere Matratzen sowie zwei Decken. Die Tür des Führerhauses ist nicht abgeschlossen, und der Schlüssel steckt immer noch in der Zündung; die Polizisten lassen ihn vorerst unberührt. Bei der weiteren Suche im Führerhaus taucht eine Monatskarte für den Schweriner Nahverkehr auf, die auf eine Person namens Sender ausgestellt ist. Der Fund wird gemeldet, und im Büro in Schwerin erhärtet sich schnell der Verdacht auf Republikflucht.

Mitarbeiter der Staatssicherheit treffen am Fundort ein und fotografieren die Reifenspuren und den Lastwagen. Von vorne, von der Seite, von oben, vom Waldrand und von beiden Wegesenden aus. Sie fotografieren die Umgebung, die Zufahrtswege und den Strand. Schließlich entfernen sie den Schlüssel vorsichtig aus der Zündung und legen ihn in ein Einmachglas, das sie anschließend versiegeln. So können sie ihn jederzeit wieder herausholen, falls Spürhunde auf den Verbrecher angesetzt werden sollen. Oder sie können die Geruchsprobe in einer späteren Gerichtsverhandlung als Indiz gegen den Verbrecher nutzen. Doch zuallererst muss Sender gefunden werden. Die ersten Ermittlungen fördern bereits interessante Details zutage. Der Besitzer der gefundenen Monatskarte arbeitet in eben jenem Heizkraftwerk, aus dem am Vorabend ein Lastwagen entwendet wurde. Der vollständige Name lautet Heinz-Georg Sender. Allmählich fügt sich das Mosaik zusammen. Ein paar Volkspolizisten werden zur Adresse Ausbau 7 am Schweriner Stadtrand geschickt. Sie müssen feststellen, dass sich niemand in dem kleinen Haus befindet, das idyllisch am großen See gelegen ist. Kein Klingelschild gibt Auskunft über die Namen der Bewohner, doch die Adresse stimmt. Hier wohnt Sender mit seiner Familie.

Wenige Stunden später steht eine Gruppe von Mitarbeitern der Staatssicherheit vor der Tür. Ein Fachmann verschafft ihnen mit einem Nachschlüssel Zugang, und die in Zivil gekleideten Männer beginnen mit der Durchsuchung des Hauses. Die Spurensuche bringt die Quittung für zwei Kajaks zum Vorschein. Vor allem aber bestätigt gerade das nicht Auffindbare den Verdacht: Sämtliche persönlichen Dokumente fehlen, und außerdem sind fast alle Fotos aus den Fotoalben verschwunden.

Die Staatssicherheit kann sich nun sicher sein, dass Georg Sender gerade versucht, die DDR auf illegalem Weg zu verlassen – mit seiner 35-jährigen Frau, seinem 16-jährigen Sohn und seinen beiden Töchtern, die 11 und 13 Jahre alt sind. Für die Staatssicherheit ist es keine Überraschung, dass Georg Sender Ärger macht, doch es ist ein Debakel, dass es ihm gelungen ist, mit seiner gesamten Familie zu verschwinden. Über einen Monat lang ist ein Inoffizieller Mitarbeiter damit beauftragt gewesen, eventuellen Fluchtplänen des Familienvaters auf die Schliche zu kommen, doch letztlich haben sie die Familie nicht aufhalten können, in die sie so viel investiert hatten. Nun werden alle Kräfte aufgeboten, um das Verbrechen aufzuklären.

Schon am nächsten Tag werden sie den Ausgang der Flucht von Familie Sender kennen.

16 Jahre zuvor, im Jahr 1961 am Grenzübergang „Horst“

An einem Freitag im Januar 1961 suchte ein 24-jähriger Mann ein Gebäude auf, das an der Auffahrt zur Transitstrecke nach Westberlin lag. Er gab an, mit einem Verantwortlichen des ostdeutschen Geheimdienstes sprechen zu wollen. Die Anfrage des jungen Mannes war höchst sonderbar. Heinz-Georg Sender, der nur die zweite Hälfte seines Vornamens angab, wurde in einen Raum geführt und einem Offizier der Staatssicherheit vorgestellt. Der junge Mann erzählte, dass er westdeutscher Soldat sei und dem Geheimdienst der DDR seine Mitarbeit anbieten wolle. Dieses außergewöhnliche Vorkommnis sorgte natürlich dafür, dass sämtliche Alarmglocken klingelten. Ein westdeutscher Soldat, der für die DDR arbeiten wollte – dabei konnte es sich eigentlich nur um Spionage handeln. Andererseits wirkte das Ganze auch beinahe zu offensichtlich. Während des Gesprächs stellte sich heraus, dass Georg Sender 1.700 DM Schulden hatte, da er ein Auto zu Schrott gefahren hatte. Außerdem fühlte er sich vom Militärischen Nachrichtendienst seines eigenen Landes verfolgt. Georg Sender rechnete sich aus, dass er seine Schulden begleichen könnte, wenn die Ostdeutschen für heimliche Informationen bezahlen würden. Er hegte keinerlei Träume Spion zu werden, sondern hoffte ausschließlich, so seine Schuld begleichen zu können. Der Offizier der Staatssicherheit an der Grenze zur DDR dankte ihm für sein Angebot und schickte ihn erst einmal mit einem niedrigen Betrag zurück in den Westen. Man wollte seine Loyalität testen. Meinte es der junge Mann tatsächlich ernst? Oder war es alles nur ein schlechter Scherz? Georg Sender kehrte in seine Kaserne bei Flensburg zurück.