Die Erben der Nacht - Kampf um Licht und Schatten - Maike Stein - E-Book

Die Erben der Nacht - Kampf um Licht und Schatten E-Book

Maike Stein

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Das Buch zur 2. Staffel des TV-Serienhighlights »Erben der Nacht«

Nach dem Kampf gegen die Rotmasken nehmen die Erben Kurs auf Norwegen, die Heimat der Dracas. Doch während die Erben Seite an Seite stehen, wendet sich Ragnar, der Bruder von Baron Magnus, gegen alle Vampire und schließt einen Pakt mit Dracula. Er entführt Leo nach Russland. Um Leo zu retten, verbündet Alisa sich mit dem weltberühmten Vampirjäger van Helsing. Sie muss entscheiden, was ihr wichtiger ist: Leo – oder ihre Mission, Dracula davon abzuhalten, die gesamte Menschheit in willenlose Schattenvampire zu verwandeln.

Basierend auf der erfolgreichen Reihe »Die Erben der Nacht« von Ulrike Schweikert, erzählt nach der Handlung der TV-Serie mit farbigen Filmfotos im Innenteil

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 441

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MAIKE STEIN

KAMPF UM LICHT UND SCHATTEN

Das Buch zur TV-Serie (Staffel 2)

basierend auf den Romanen

von Ulrike Schweikert

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe Dezember 2020

© 2020 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Licensed by ZDF Enterprises GmbH, Mainz

© Lemming Film HON BV, Maipo Films A.S.,

Maze Pictures GmbH, ZDF Enterprises GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Tania Witte

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik und Typografie,

unter Verwendung von Motiven von © Lemming Film/Rolf Dekens

und Shutterstock.com (dwph, Independent birds, Chatchai.J)

Fotos im Bildteil: © Lemming Film/Rolf Dekens

kk · Herstellung: bo

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-26488-8V001

www.cbj-verlag.de

Aus dem Buch Dracul, eine Vampirgeschichte, Band I:

Der Beginn der Dämonenplage

(Autor: Abraham van Helsing, Vampirjäger und Gründer der Rotmasken)

… und Graf Draculas Tränen vermischten sich mit dem Blut, und aus Blut und Tränen formten sich dreizehn Rubine. Die Rubine leuchteten in einem dunklen Rot und pulsierten tief in ihrem Inneren. Aus jedem Rubin wurde einer der dreizehn Vampirclans geboren. Und jeder Clan erhielt die Gabe seines Geburtssteins, der jedem Clan auch seinen Namen gab. Solange die Ehrwürdigen der Clans den Rubin tragen, verfügen alle im Clan geborenen Vampire über die Gabe, die der Rubin verleiht:

– Die Dracas aus Norwegen können Gedanken lesen und in Gedanken miteinander kommunizieren.

– Die Nosferas aus Italien können die tödliche Wirkung geweihter Gegenstände überwinden.

– Die Vyrad aus England können das Wetter kontrollieren.

– Die Pyras aus Frankreich beherrschen alle Tiersprachen.

– Die Lycana aus Irland können ihre Gestalt wandeln.

– Die Upiry aus Rumänien können ihren Schatten unabhängig von ihrem Körper handeln lassen.

– Die Belov aus Russland vertragen das Sonnenlicht.

– Die Arrufat aus Spanien können mit den Toten sprechen.

– Die Tova aus Holland können die lähmende Wirkung von Wasser überwinden.

– Die Caminada aus der Schweiz können sich unsichtbar machen.

– Die Vikla aus Griechenland können Gegenstände durch Gedankenkraft bewegen.

– Die Grimur aus der Türkei können das Sonnenlicht einfangen.

– Die Vamalia aus Deutschland schließlich erhielten die Gabe der Liebe – und dieser Clan ist der Hüter des Funkens, der alles Vampirleben in der Welt auslöschen kann, wenn ein Vampir mit reiner Seele den Knoten löst.

Alisa

Nach allem, was sie erlebt hatten, schien es Alisa unwirklich, wieder im Klassenzimmer zu sein. Doch von den anderen teilte offenbar nur Luciano ihre Gefühle. Er saß ebenso still wie sie an seinem Tisch und betrachtete das Treiben um sie herum aus seinen ernsten grauen Augen. Seit dem Tod der Contessa war er noch zurückhaltender als zuvor und verbrachte viel Zeit mit seinem Vater. Gerade beobachtete er Tammo und Joanne, die mit Seymour Fangen spielten. Der Lycana hatte sich in ein Frettchen verwandelt und schlüpfte seinen Jägern immer wieder durch die Finger, was weder Alisas Bruder noch die Pyras Joanne entmutigte. Malcolm vergnügte sich derweil damit, eine kleine Wolke über Ingers und Fannys Köpfen abregnen zu lassen. Eine Weile versuchten die Dracas-Schwestern, der Wolke zu entkommen, aber selbst mit Vampirschnelligkeit konnten sie die nicht abschütteln. Erst als Leo hereinkam und Malcolm zur Begrüßung auf den Rücken schlug, verlor der die Kontrolle über die Wolke, die sich prompt auflöste. Malcolm regte sich kurz auf, aber Leo flüsterte ihm etwas ins Ohr und brachte ihn zum Lachen.

Es wirkte alles so – normal. Nicht, als läge ihr Kampf gegen die Rotmasken nur wenige Nächte zurück. Und ganz sicher nicht, als wären sie in einem Wettlauf mit Graf Dracula. Einem Wettlauf, der, wenn sie ihn verlieren würden, alles verändern würde. Alisa fröstelte, obwohl ihr nicht kalt war. Wie konnten die anderen so sorglos sein?

Sie wissen weniger als wir. Leo lächelte ihr zu. Ein bisschen beneide ich sie darum. Seine Gedankenstimme vertrieb ihr Frösteln. Und als Leo sich auf den Stuhl neben ihrem fallen ließ und ihr einen Arm um die Schultern legte, verschwand es ganz. Sie lehnte sich an ihn.

Weißt du, wo Ivy ist?

Keine Ahnung. Leo zog sie noch ein wenig näher. Sie wird schon … Er verstummte, als Conte Claudio das Klassenzimmer betrat und laut in die Hände klatschte.

»Setzt euch, setzt euch.« Das Fangenspiel brach ab, und im Zimmer wurde es still, als alle an ihre Plätze gingen. Nur das Frettchen blieb leise quiekend vor Tammo und Joanne auf dem Tisch hocken. »Danke«, fuhr Conte Claudio fort. »Wir sind alle sehr stolz auf euch – ihr habt gelernt und gekämpft und keinen Vampir im Stich gelassen.« Er räusperte sich, schluckte. Alisa musste nicht in seine Gedanken schauen, um zu wissen, dass er an die Contessa dachte, die in diesem Kampf gestorben war. Der Conte fuhr sich kurz über das Gesicht. »Nun, jetzt ist es an der Zeit, den Unterricht fortzusetzen.« Ohne hinzusehen, warf er eine Decke über das Frettchen. »Seymour, würdest du bitte …?«

Unter der Decke zuckte und zappelte es, dann krachte Seymour in die Decke gewickelt zu Boden. »Autsch«, stöhnte er. Doch als er aufstand, die Decke um sich geschlungen, lächelte er bereits wieder und verbeugte sich. Conte Claudio scheuchte ihn zu einem der noch freien Tische.

»Va bene. Malcolm, die Klasse gehört dir. Du hast das im Griff?«

»Selbstverständlich, Sir.« Malcolm ging nach vorn, während Conte Claudio das Klassenzimmer verließ. An der Tür drehte er sich noch einmal um.

»Habt Spaß, bambini.« Damit zog er die Tür hinter sich zu.

Leo beugte sich zu Alisa. »Als ob wir noch Kinder wären.«

Alisa blickte zu ihrem jüngeren Bruder, der ein paar Tische weiter vorn mit Joanne und Luciano zusammensaß. »Manche sind’s.«

Leo folgte ihrem Blick und zuckte mit den Schultern. »Gegen die Rotmasken haben sie jedenfalls wie die Großen gekämpft.«

Ein leiser Donner grollte durch das Klassenzimmer und endlich sahen alle nach vorn. Malcolm grinste ihnen zu. »Jetzt, wo ich euer aller Aufmerksamkeit habe, können wir beginnen. Schaut her.« Er ließ zwei kleine Gewitterwolken unter der Zimmerdecke entstehen, die zwischen den Tischreihen abregneten. »Wenn ich allein die Vyrad-Gabe einsetze, kann ich schon einiges bewirken. Wie diese kleinen Wolken zum Beispiel. Oder auch etwas Wind.« Kleider und Haare flatterten, bis Malcolm dem Wind wieder Einhalt gebot. Er fuhr sich durch die kurzen, krausen Locken. »Jetzt wisst ihr, warum wir Vyrad so kurze Haare haben.« Er zwinkerte ihnen zu, dann wurde er wieder ernst. »Aber das gesamte Wetter als Einzelner zu beeinflussen, erfordert viel Kraft. Gemeinsam ist viel mehr möglich! Lasst uns das austesten – mir nach! An Deck!«

Leo strich sich die blonden Haare aus dem Gesicht und verdrehte die eisblauen Augen. Alisa grinste. Als würdest du nicht angeben, wenn du das alles schon perfekt beherrschen würdest. Alle, bis auf ihn und sie, waren bereits aufgesprungen und drängten Malcolm hinterher nach draußen.

Wird bald so weit sein. Leo stand auf. »Kommst du?«

»Gleich.«

»Wie du willst.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange und eilte den anderen hinterher. Alisa fuhr sich über die Haut, dort, wo seine Lippen sie berührt hatten. So ganz konnte sie das immer noch nicht glauben – Leo af Dracas mochte sie. Obwohl er wusste, dass sie nicht einmal ein voller Vampir war, sondern ein menschliches Herz hatte und weinen konnte. Und dass sie diesen verfluchten Funken trug und durch ihn mit Graf Dracula verbunden war. Aber das schreckte Leo nicht ab – nicht einmal, dass sie durch den Funken die Macht hatte, alles Vampirleben auszulöschen. Behauptete wenigstens das Buch über Graf Dracula.

Alisa starrte auf ihre Handfläche, der nichts anzusehen war von dem, was in ihr schlummerte. Im Moment jedenfalls. Der Funke war unberechenbar: Er konnte jederzeit aufleuchten und sie in Draculas Kopf schleudern, ihr zeigen, was er sah und hörte, während ihr Körper blieb, wo auch immer sie sich gerade befand.

Alisa rieb mit dem Daumen über ihre Handfläche und seufzte. Jetzt, mit allen Ehrwürdigen an Bord, waren viel zu viele anwesend, vor denen sie ihre Geheimnisse bewahren musste. Sie erinnerte sich an Nicu, nachdem der sie zum ersten Mal als Vampirin gesehen hatte. An die Angst in seinem Blick, die Ablehnung. Und an die winzige Hoffnung nach dem Kampf gegen die Rotmasken, als Nicu anerkennen musste, dass sie niemanden getötet oder auch nur ernsthaft verletzt hatten – diese winzige Hoffnung, dass er sie vielleicht doch nicht verachtete, vielleicht doch nicht für ein Monster hielt. Alisa seufzte. Gedanken an Nicu brachten nur die Erinnerung an seine Mutter zurück, Calvina, die im Schiffsbauch in einer Zelle hockte, weil Graf Dracula sie zu einer Schattenvampirin gemacht hatte. Entschlossen stand Alisa auf, um nach ihr zu sehen. Vielleicht ließ der Einfluss Draculas auf Calvina nach, je weiter sie sich von ihm entfernten.

Die Schattenvampirin lag in ihrer Zelle auf dem Boden, gefangen in einem unruhigen Schlaf. Alisa beschloss, sie nicht zu wecken, und huschte an der Zelle vorbei auf eine Gestalt zu, die sie weiter hinten erspähte. Ivy kauerte vornübergebeugt auf dem Boden vor einer Zelle mit blökenden Ziegen. Sie zuckte zusammen, als Alisa ihr auf die Schulter tippte.

»Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken.« Alisa setzte sich zu ihr. »Was machst du hier?«

Ivy deutete auf das Notizbuch vor sich, auf die mit sinnlosem Gekritzel gefüllten Seiten. »Ich versuche, die Aufzeichnungen deiner Mutter zu entschlüsseln. Erfolglos.« Sie warf ihren roten Zopf über eine Schulter zurück. »Ich hab es mit Rückwärtslesen versucht, das Buch auf den Kopf gedreht – hilft alles nichts. Und du?«

Alisa strich über die Notizbuchseiten. Die hatte auch ihre Mutter berührt. Sie hatte sie gefüllt in dem Vertrauen, Alisa würde all das entschlüsseln können. Aber da hatte sie sich geirrt. »Ich wollte sehen, wie es ihr geht.« Sie nickte zu Calvina hinüber.

»Sie ist die meiste Zeit über ruhig gewesen, schläft viel.« Ivy hob kurz den Kopf, dann blätterte sie weiter in dem Notizbuch. Alisa beugte sich mit ihr über die Seiten. Aber sosehr sie es auch wollte, keines der Zeichen darin ergab irgendeinen Sinn.

»Warum hat deine Mutter es dir so schwer gemacht?« Ivy sprach aus, was Alisa sich selbst auch fragte. Ratlos zuckte sie mit den Schultern.

»Vermutlich hat sie mich für klüger gehalten.«

»Da hat sie sich wohl getäuscht.« Ivy grinste.

»He!« Sie stieß Ivy mit einer Schulter an und musste gegen ihren Willen lachen. Ivy zwinkerte ihr zu und stimmte in ihr Lachen ein. Es tat gut, einen Moment lang herumzualbern. Leider verflog der Moment, als ein Stöhnen hinter ihnen sie beide herumfahren ließ. Calvina setzte sich in ihrer Zelle auf und blickte verwirrt um sich.

»Alisa …?«

Alisa sprang auf. »Wie geht es dir? Brauchst du etwas?« Sie ging auf Calvinas Zelle zu, obwohl Ivy leise warnte: »Sei vorsichtig.«

»Schau sie dir an«, gab Alisa ebenso leise zurück. »Sie ist harmlos.« Sie trat nah an die Gitterstäbe. »Calvina? Ich bin hier.«

»Du!« Calvina sprang auf, bleckte ihre Fangzähne. Fauchend warf sie sich gegen die Gitterstäbe. Alisa schreckte zurück. Zum Glück waren die Zellen darauf ausgelegt, Vampirkräften standzuhalten. Alisa drückte sich an die Schiffswand, froh, außerhalb der Reichweite von Calvinas Armen zu sein. Die Schattenvampirin riss die Augen weit auf. Sie leuchteten gelb wie Draculas. »Du! Mein Gebieter wird mich belohnen, wenn ich dich in die Finger bekomme! Wenn ich dich zu ihm bringe!« Sie presste sich an die Gitterstäbe und versuchte, nach Alisa zu greifen.

Sie wird bald verurteilt werden, erklang Leos Stimme in ihrem Kopf, und in die Sonne gehen müssen. Er stand auf dem oberen Treppenabsatz und schlug die Tür zu, bevor er zu ihr hinuntereilte. Er zog Alisa von der Zelle weg und küsste sie auf die Wange. Alisa lächelte ihm kurz zu, dann blickte sie wieder zu Calvina. Sie wusste zu genau, wie es sich anfühlte, unter Draculas Einfluss zu stehen. »Das ist nicht gerecht. Sie kann nichts für ihren Zustand.«

Leo schnaubte höhnisch, und Ivy fuhr ihn an: »Solltest du nicht im Unterricht sein?«

»Ihr nicht auch?«, gab Leo unbeeindruckt zurück. »Und dein Mitgefühl wird sie nicht retten.« Er zog Alisa näher an sich. »Die Ehrwürdigen haben bereits entschieden.«

»Woher weißt du das?«

»Sie haben in der Kapitänskajüte darüber geredet.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich war zufällig in der Nähe der Tür und –«

»Kannst du deinen Vater nicht um Gnade für sie bitten?« Alisa packte ihn an den Schultern und sah ihm eindringlich in die Augen. »Wenn Baron Magnus –«

»Wenn! Das ist ein großes Wenn! Und überhaupt: Warum sollte ich? Sie ist eine Gefahr für uns alle!«

»Aber das wird sie nicht bleiben! Klar, noch steht sie unter Draculas Einfluss, aber der wird nachlassen. Sie wird –«

»Ich weiß, dass du das glauben willst.« Leo blickte zu Calvinas Zelle. Die Schattenvampirin rutschte langsam an den Gitterstäben hinab zu Boden, als hätte ihr kurzer Ausbruch all ihre Kraft gekostet. Leo schüttelte den Kopf. »Aber wie kannst du dir so sicher sein? Sie ist Graf Draculas Schatten!« Er legte seine Stirn an ihre und sprach ruhiger weiter. »Niemand von uns weiß, wie groß oder weitreichend seine Macht über sie ist. Es ist zu gefährlich. Sie darf nicht länger existieren.«

»Wie kannst du so grausam sein?« Alisa stieß ihn von sich weg.

»Wie kannst du so naiv sein?« Leo starrte sie an und ihr wurde innerlich kalt unter seinem Blick. Wie konnte er so ungerührt davon reden, einen Vampir in die Sonne zu schicken?

»Beruhigt euch, alle beide.« Ivy räusperte sich. »Bitte. Wir sollten uns auf die Sachen konzentrieren, die wir beeinflussen können. Oder?« Sie hielt demonstrativ das Notizbuch zwischen ihnen hoch. Von Deck schallten Donnergrollen und das Heulen eines auffrischenden Windes hinab. Alisa legte eine Hand auf Ivys Arm und drückte ihn sanft nach unten.

Leo. Bitte. Du musst doch verstehen –

»Ich fasse es nicht!« Leo stürmte zur Treppe. »Wieso musst du dich für die Mutter dieses Jungen einsetzen?« Seine Stimme hallte in ihr nach, als die Tür hinter ihm zukrachte. Alisa senkte den Kopf.

»Was sollte das?« Ivy legte einen Arm um sie. »Warum streitest du dich mit Leo? Und ausgerechnet wegen Calvina?«

Alisa schloss die Augen. Es war unmöglich, sich nicht für Calvina einzusetzen. Aber wie sollte sie Ivy das begreiflich machen? »Es ist meine Schuld, dass sie so ist.«

»Quatsch. Ist es nicht.«

»Wenn ich Nicu nie begegnet wäre, dann wäre das alles nicht passiert.«

Ivy drückte sie. »Woher willst du das wissen? Sie ist schon lange vor eurer Begegnung die Anführerin der Rotmasken gewesen. Früher oder später hätte Graf Dracula sie sowieso angegriffen.«

Ivy hatte leicht reden. Wenn sie sich das alles doch auch so einfach wegerklären könnte! Alisa seufzte. Wenn sie doch einfach aufhören könnte, an Nicu zu denken. An Nicu mit den dunklen Locken und den dunklen Augen und den Byron-Zitaten.

Ivy schüttelte sie leicht. »He, was ist mit dir los?«

»Ich kriege ihn nicht aus dem Kopf.«

»Leo?«

»Den auch nicht.«

»Nicu?«

Alisa nickte. »Verdammtes Herz!« Sie lächelte gequält. Ob alle so empfanden, die ein menschliches Herz hatten? War das die Erklärung?

»Wenn es groß genug für zwei ist …« Ivy stieß sie mit einer Schulter an. »Genieß es. Gehört alles zu den Vorzügen, ein Mädchen zu sein.«

»Was?«

»Probleme.« Ivy verzog das Gesicht.

»Als ob du welche hättest!«

»Echt jetzt?« Ivy wirkte, als würde sie plötzlich an Alisas Verstand zweifeln. Und Alisa wünschte sich, sie hätte erst nachgedacht und dann den Mund geöffnet. Denn gegen Ivys Probleme war die Tatsache, Gefühle für zwei Jungen zu haben, geradezu … trivial. War sie wirklich so selbstsüchtig, dass sie daran nicht einmal gedacht hatte? Ivy war immerhin eine Schattenvampirin, die sich allen gegenüber als Erbin ausgab und bei Entdeckung wer weiß was riskierte. Kein Wunder, dass sie sich lieber hier unten verkroch, als in den Unterricht zu gehen! Alisa könnte sich für ihre Gedankenlosigkeit treten.

»Ich – tut mir leid.« Sie schluckte. »Meine Lippen sind versiegelt.«

»Weiß ich doch.« Ivy tippte auf das Notizbuch. »Konzentrieren wir uns auf die wichtigen Dinge, ja? Wir müssen dieses Buch entschlüsseln und den Knoten finden, damit du die Welt retten kannst. Alles klar?«

»Ich hoffe, das ist leichter, als sich zwischen zwei Jungen zu entscheiden …«, erwiderte Alisa. Wenigstens würde es sie eine Weile lang ablenken. Sie blickte hinüber zu Calvina, die wieder in ihren unruhigen Schlaf versunken war, zuckte und die Lippen bewegte, als wollte sie etwas sagen. Aber Worte waren nicht zu hören.

»Es tut mir so leid, Nicu«, murmelte Alisa mehr zu sich selbst. Sie wollte sich von Calvina abwenden, wollte sich zu Ivy drehen, doch ein gleißendes Licht blendete sie, ließ sie erstarren, ließ sie fallen, herumwirbeln, stürzen.

Sie kennt den Ort, an dem sie zu sich kommt. Sie sitzt an eine Häuserwand gelehnt auf Kopfsteinpflaster, vor ihr öffnet sich die Gasse zu einem Platz mit einem Brunnen. Alisa blinzelt, ist irritiert von der Abwesenheit des Schwindels, der diese Wechsel sonst immer begleitet. Am Brunnen steht eine vertraute Gestalt. Nicu! Sonnenlicht streicht über seinen Kopf. Doch er scheint es nicht zu bemerken, sondern blickt konzentriert auf eine Münze, die er zwischen seinen Fingern reibt. Sie will zu ihm rennen, obwohl sie weiß, dass er sie nicht einmal sehen kann. Sie ist hier nichts als ein Geist – ein Geist, den nur einer wahrnehmen kann. Und der lauert auch schon im Schatten der Gasse gegenüber. Nicu bemerkt ihn nicht – und sie kann nichts tun, als zuzusehen, wie Graf Dracula sich tiefer in den Schatten der Gasse drückt und Nicu beobachtet. Ihr dummes Herz schlägt wie verrückt, als würde das jetzt irgendwie helfen.

Nicu blickt von der Münze zum Brunnen und wieder zurück. »Ich hätte auf dich hören sollen, Mom«, flüstert er. »Es tut mir so leid. Ich hätte an deiner Seite sein sollen … vielleicht hätte ich dich beschützen können. Ich hätte dir glauben müssen. Von Anfang an.« Er beißt sich auf die Unterlippe und wirft die Münze, auf der das Sonnenlicht funkelt. Dracula schießt aus dem Schatten hervor und schnappt die Münze aus der Luft, bevor sie in den Wunschbrunnen fallen kann. Geistesgegenwärtig reißt Nicu etwas aus seiner Jacke – einen Holzpflock! Er stürzt sich auf Dracula. »Ich bringe dich u–«

Dracula packt ihn am Hals, hebt ihn mühelos hoch und würgt ihm die Worte ab. Nicu windet sich in seinem Griff. Vergeblich.

Alisa zittert von der Anstrengung zu bleiben, wo sie ist. Alles in ihr schreit danach, sich auf Dracula zu stürzen, Nicu beizustehen – doch sie kann nicht. Machtlos sieht sie zu, wie Dracula Nicu den Holzpflock abnimmt. »Beruhige dich, Kleiner.« Er wirft den Holzpflock in den Brunnen, ohne Nicu loszulassen. Nicu zappelt in seinem Griff, schlingt die Hände um Draculas Arm.

»Du hast meine Mutter in ein Monster verwandelt!«, presst er hervor.

»Deine Ansicht.« Dracula lässt Nicu fallen.

Alisa zuckt zusammen, als sie sich vorzustellen versucht, was das für einen menschlichen Körper bedeutet. Nicu keucht und setzt sich vorsichtig auf. »Wegen dir habe ich sie verloren.«

Dracula lehnt sich an die Brunnenmauer und blickt auf Nicu hinab. »Ich kann sie dir zurückbringen.«

»Und was würde das helfen? Sie kann sich doch nicht einmal an mich erinnern!« Er springt auf, als sei er gegen jedes bessere Wissen bereit, sich erneut auf Dracula zu stürzen. Der verschränkt lächelnd die Arme, und Nicu ballt die Hände zu Fäusten, bleibt aber stehen.

»Ich könnte dafür sorgen, dass sie sich wieder an dich erinnert. Sie zurückverwandeln. Unter einer Bedingung. Ich helfe dir und dafür hilfst du mir.«

»Ich glaube dir kein Wort! Und ich werde dir niemals helfen!«

Dracula beugt sich gelassen vor und tippt Nicu auf die Brust. »Das werden wir sehen … Wir haben schließlich alle etwas, das uns antreibt … oder in den Wahnsinn treibt … Was ist es bei dir, Nicu?« Sein Mund ist gefährlich dicht an Nicus Hals. Nicu weicht zurück.

Alisa bebt vor Wut. Vor Hilflosigkeit. Und auch … vor Ungeduld. Denn eine kleine Stimme in ihr drängt Dracula, weiterzureden, zu erklären, was das zu bedeuten hat: zurückverwandeln.

Der Graf streicht mit einem Finger über Nicus Hals. Der steht stocksteif da, kann nicht weiter zurückweichen, weil eine Hauswand in seinem Rücken ist. Über Nicus Herz stoppt Draculas Finger. Er tippt darauf und neigt den Kopf, als würde er lauschen. »Was treibt dich an? Ich denke, es ist dieses Loch, das du in dir spürst. Diese Leere. Diese Einsamkeit. Dieser Betrug.« Er beugt sich nah an Nicus Ohr. »Alisa hat dich betrogen. Sie hat dein Vertrauen missbraucht, deine Liebe. Sie hat dir deine Mutter genommen. Ich habe Calvina nur verwandelt, weil Alisa mir gar keine andere Wahl gelassen hat.«

Alisa verwünscht ihre Vampirsinne. Als Mensch würde sie kein Wort von dem hören, was Dracula in Nicus Ohr raunt. Aber so fühlt es sich an, als würde er die Worte direkt aus ihrem Kopf nehmen. Sie hat Nicu verschwiegen, wer sie wirklich ist, hat seine Mutter und ihn in Gefahr gebracht. Es ist alles ihre Schuld.

Dracula tritt einen Schritt von Nicu zurück. »Ich kann sie dir wiedergeben, Nicu«, sagt er mit beschwörender Stimme. »Ungeschehen machen, was Alisa dir angetan hat. Denk darüber nach. Ich werde hier sein.« Er tippt sich an den Zylinder und wendet sich von Nicu ab. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht schreitet er direkt auf sie zu. »Ich weiß, dass du hier bist, Alisa«, wispert er so leise, dass menschliche Ohren ihn nicht hören können. »Und ich bin euch auf den Fersen. Ich werde mir meine Rubine von euch holen.«

Sie presst sich an die Hauswand und starrt Dracula hinterher. Es wird heller, sie stürzt, fällt, taumelt, ist so geblendet, dass alles dunkel ist, sie stürzt durch Dunkelheit ins Bodenlose –

Splittriges Holz unter ihren Händen, kein Kopfsteinpflaster. Alisa blinzelte. Es war nicht mehr dunkel. Alles drehte sich um sie herum – oder sie drehte sich. Der Schwindel war also doch nicht fort. Sie drückte die Hände fester auf das Holz und lachte hilflos.

»Alisa? Was ist mit dir? War das …?«

Ivy. Alisa setzte sich langsam auf. Sie war niemals an diesem Brunnen gewesen, saß immer noch im Bauch des Schiffes, nicht weit von Calvinas Zelle entfernt.

»Was hast du gesehen?« Ivy hockte sich vor sie, versperrte ihr die Sicht auf Calvina. Die vielleicht zurückverwandelt werden konnte. Und wenn es für Calvina diese Chance gab, dann –

Alisa drückte einen Handballen gegen ihre Stirn, als könnte das ihre Gedanken ordnen, die letzten Reste des Schwindels vertreiben. »Vielleicht kannst du auch zurückverwandelt werden …«, murmelte sie.

»Zurückver… was?«

Das musste warten. Alisa sprang auf und stürmte zur Treppe. »Ich muss die Ehrwürdigen aufhalten!« Sie war schon an der Tür, als Ivy ihr hinterherrief.

»Was meinst du damit, Alisa? Wieso …?«

Später! Erst einmal musste sie dafür sorgen, dass die Ehrwürdigen ihr Urteil zurücknahmen. Es gab eine andere Möglichkeit als den Tod für Calvina! Wenn sie zurückverwandelt werden konnte, wäre sie für niemanden mehr eine Gefahr, das mussten die Ehrwürdigen einsehen. Sie mussten einfach!

Alisa hielt nicht inne, als sie das Deck erreichte, sie hielt nicht inne, als die Donner, Blitze und der Wind der anderen Erben verstummten – sie hielt auch an der Tür zur Kapitänskajüte nicht inne, riss sie auf und stürmte hinein.

»Kann ein Schattenvampir zurück in einen Menschen verwandelt werden?«, rief sie in die fassungslose Stille. Alle fünf Ehrwürdigen starrten sie an. Großmutter fasste sich als Erste.

»Alisa!«, fuhr sie sie an. »Manieren!«

Doch Alisa war so aufgeregt, dass nicht einmal die scharfe Stimme ihrer Großmutter sie einschüchtern konnte. »Ist das möglich?«

Baron Magnus schob sich vor die Gruppe. Seine mächtige Brust bebte vor Zorn – ebenso wie seine Stimme. »Du hast kein Recht, hier zu sein! Dies ist eine Versammlung von Ehrwürdigen! Dein Platz ist im Unterricht bei den anderen Erben!« Er kam auf sie zu, als wollte er sie mit seiner bloßen Präsenz zur Tür hinausdrängen.

Alisa wich nicht vor ihm zurück. »Nein. Ich will jetzt die Wahrheit wissen. Kann ein Schatten zurückverwandelt werden?«

Conte Claudio trat neben Baron Magnus und berührte ihn sanft an der Schulter. »Per favore, Magnus, ich bitte dich.« Der hagere Conte wirkte zwar, als könnte ihn der kräftige Baron mühelos wegstoßen, doch zu Alisas Erstaunen ließ der sich zurückhalten. Conte Claudio richtete seine hellgrauen Augen auf sie. »Ja, es gibt ein Ritual … Der Gebieter eines Schattens kann ihn wieder freigeben – ihm seine menschliche Existenz zurückgeben.«

Also hatte Dracula nicht gelogen! Alisa schluckte. »Warum habt ihr uns das verschwiegen?« Ihr war, als würde sie wieder fallen. All die Schatten, denen ihre Erinnerungen geraubt worden waren, die jedem Befehl eines geborenen Vampirs gehorchen mussten, keinen freien Willen hatten – all diese Jahrhunderte lang! Es war so ungerecht. Alisa funkelte die versammelten Ehrwürdigen an. »Warum geben wir sie nicht alle frei?«

Madame Audry schüttelte sich, als hätte Alisa einen unanständigen Vorschlag gemacht. »Es ist unsere Tradition, Schatten zu haben.«

»Wozu?« Alisa wurde übel von dieser Gleichgültigkeit. »Damit sie uns dienen? Hinter uns aufräumen? All das tun, wozu Sie keine –«

»Alisa!«, zischte Großmutter. Aber Alisa ließ sich nicht aufhalten.

»Es ist ungerecht! Sie verlieren ihre Erinnerungen. Ihren freien Willen. Sie stehlen ihnen ihr ganzes Leben! Wie können Sie …?« Sie rang um Worte, die auf diesen Gesichtern vor ihr etwas anderes hervorrufen würden als Entsetzen und Verschlossenheit. Sie wandte sich an Großmutter. »Was ist mit Hindrik? Wie kannst du damit leben, dass er nur bei uns ist, weil er das muss, und nicht aus seiner eigenen freien Entscheidung heraus?«

»Ich kann Hindrik nicht freigeben, Alisa.« Großmutter seufzte und tastete Halt suchend nach Sir Miltons Arm. »Er würde danach … Er ist weit über hundert Jahre alt – älter, als ein Mensch jemals werden könnte. Das weißt du doch, Alisa. Er würde sofort nach dem Ritual sterben.«

Er würde sterben? Aber … sollte er nicht wenigstens jetzt die Wahl haben zwischen einem Leben, in dem er unfrei blieb, und … dem Tod?, zwang Alisa sich zu denken. Alles drehte sich in ihrem Kopf. Es war nicht gerecht! Wieso konnte es keine Rettung für alle geben? »Aber Calvina würde leben! Und Ivy auch!«, platzte sie heraus.

Wieso starrten die sie alle an? Was hatte sie –? Oh, nein. Alisa schlug sich eine Hand vor den Mund. Aber es war zu spät.

Mit zusammengezogenen Brauen lehnte Baron Magnus sich vor. »Ivy of Lycana ist – ein Schatten?!«

Ivy

Ivy starrte auf Hindriks Rücken und versuchte, an nichts zu denken. Niemanden anzusehen. Doch der Last der Blicke, die auf ihr ruhten, konnte sie nicht entkommen, während sie an Ehrwürdigen vorbeiging. Sie folgte Karen und Hindrik, der ihren Sarg aus dem Schlafquartier der Mädchen trug. Auf dem Gang hatten sich zu beiden Seiten die Erben aufgestellt. Sie zuckte zusammen, als Seymour nach ihr rief, aber sie lief stur weiter, hörte, wie Malcolm und Leo ihren Bruder zurückhielten, ihm sagten, er würde es nur schlimmer machen. Aber es war die nächste Stimme, die es schlimmer machte. Alisa.

»Es tut mir so leid.«

Ivy biss sich auf die Unterlippe und hielt inne.

»Ich wollte dich nicht verraten. Ivy, bitte …« Alisas flehender Tonfall machte es nicht besser. Ob Absicht oder nicht – im Ergebnis bedeutete das keinen Unterschied. Ohne Alisa anzusehen, streckte sie ihr das Notizbuch ihrer Mutter hin.

»Hier. Das war sowieso nie für eine wie mich bestimmt.« Sie ließ das Buch los. Sollte es ruhig fallen, wenn Alisa noch nicht zugegriffen hatte.

Es fiel nicht.

Ivy straffte die Schultern und hob das Kinn. Sie würde sich nicht die Blöße geben, ihre Scham zu zeigen. Als sie sich wieder in Bewegung setzte, um Hindrik und Karen weiter in das Quartier der Schatten zu folgen, stellte Fanny sich ihr in den Weg.

»Wusste ich doch, dass mit dir was nicht stimmt!«

Ivy blickte stur geradeaus, auch noch, als Fanny sie schubste und lachte und – von Inger weggezogen wurde. »Lass sie in Ruhe, Fanny!«

»Was ist denn mit dir los?« Fanny lachte ungläubig auf. »Sie ist nur ein Schatten –«

»Sie ist meine Schwester!«, rief Seymour. Die Wut in seiner Stimme stärkte Ivy den Rücken, als sie weiterging. Auch dass Inger leise mit ihrer Schwester stritt, tat gut. Trotzdem war sie erleichtert, als Hindrik hinter ihr die Tür des Schattenquartiers zuzog.

Die Särge zum Schlafen standen zwischen Bottichen und Fässern, überall dort, wo gerade Platz war. Wäscheleinen waren kreuz und quer durch den Raum gespannt und auf der Suche nach einem Platz für Ivys Sarg mussten Hindrik, Karen und sie unter trocknenden Kleidern und Tüchern hindurchtauchen. Schließlich fanden sie eine halbwegs freie Stelle an der Schiffswand. Hindrik schob einen Waschbottich zur Seite, um etwas mehr Platz zu machen, dann stellte er den Sarg ab.

Karen legte ihr einen Arm um die Schultern. »Nimm es nicht so schwer.«

Ivy starrte auf ihren Sarg, auf die Berge von Schmutzwäsche, die durch den Wellengang hin und her schaukelnden Kleider auf den Leinen. Das war also jetzt ihr Leben. Für die anderen würde der Unterricht weitergehen – und sie würde ihre Wäsche waschen. Ihnen das Essen servieren. Befehlen gehorchen müssen. Sie senkte den Kopf und wünschte sich, sie könnte weinen wie Alisa, wünschte sich, sie hätte nicht an Alisa gedacht. Hindrik räusperte sich hinter ihr.

»Ich bin sicher, Alisa hat das –«

»Bitte.« Ivy hasste, wie ihre Stimme zitterte. »Nicht jetzt.«

Wenn sie wenigstens all das zurücknehmen könnte, was sie je zu Alisa gesagt hatte. All die Worte über Freundschaft, das Gefühl, hier eine Familie gefunden zu haben. Wenn sie doch bloß abgehauen wäre, sich Seymour geschnappt und verschwunden wäre, nachdem sie ihren Rubin endlich zurückbekommen hatten! Aber nein – sie hatte bleiben und helfen wollen. Und das hatte sie jetzt davon. Ein tiefer Seufzer durchbrach ihre Gedanken.

»Wir müssen gleich das Essen auftragen«, sagte Hindrik. Wenn das sein Versuch war, sie aufzumuntern, war er darin nicht besonders gut. »Sieh zu, dass du danach schnell in deinen Sarg kommst. Wir müssen früh raus, du wirst deinen Schlaf brauchen.«

Karen drückte sie. »Wird schon werden. Wir Schatten halten zusammen.« Die beiden älteren Vampire nickten einander zu. Sie schienen sich auch ohne Worte oder die Gabe des Gedankenlesens zu verstehen. »Nimm dir ein paar Momente«, riet Karen. »Wir sehen dich dann gleich in der Messe.« Sie ging mit Hindrik hinaus, ohne eine Antwort abzuwarten. Ivy ließ sich auf ihren Sarg sinken. Ein paar Momente. Als könnten die ihre Situation verändern! Nichts würde mehr sein wie vorher. Und sie konnte nicht einmal abhauen, weil sie auf einem verdammten Schiff auf dem verfluchten Meer war. Ivy stieß einen wütenden Schrei aus. Ha! Das fühlte sich ein wenig besser an. Sie ließ einen zweiten folgen. Und einen dritten. Wut. Ja! Daran konnte sie sich festhalten.

Der Nachhall ihrer Schreie, den sie noch in sich spürte, gab ihr die Kraft, die Messe zu betreten. An einem Tisch saßen alle Ehrwürdigen bis auf Baron Magnus zusammen. Ivy war froh, wenigstens ihm nicht begegnen zu müssen. Die Ehrwürdigen blickten nicht einmal auf, als sie hereinkam, blieben in ihre Gespräche vertieft, während Karen ihnen Schüsseln mit Rot servierte. Ivy ging zu Hindrik hinüber, der weitere Schüsseln aus einem großen Topf befüllte. Sie wünschte, sie könnte ihre Wut wie eine Glocke um sich tragen. Dann würden die flüsternden Stimmen der Erben daran abprallen, sie nicht berühren. Aber sie trafen, wie unzählige Nadeln aus Silber.

Hindrik reichte ihr eine Schüssel. »Der Trick ist, nicht zuzuhören. Stell dir einfach vor, sie würden eine Sprache sprechen, die dir unbekannt ist.« Und damit schickte er sie ausgerechnet zu dem Tisch, an dem Alisa sich niedergelassen hatte, etwas abseits von den anderen. Schien, als hätte ihr Verrat ihr nicht nur Pluspunkte eingebracht.

Kein Mitleid, ermahnte sich Ivy und konzentrierte sich darauf, die Schüssel ruhig zu halten, während sie auf Alisa zuging. Nicht einmal Leo saß bei ihr – allerdings auch nicht bei den anderen. Er glänzte genauso durch Abwesenheit wie sein Vater. Ivy fixierte den Tisch und stellte die Schüssel mit dem Rot leise und ohne jedes Schwappen vor Alisa ab. Sie hielt den Blick weiter gesenkt, ganz wie es sich für einen ordentlichen Schatten gehörte.

»Ivy, ich wollte dich nicht –«

»Du hast mir dein Versprechen gegeben.« Ivy bebte. Zur Hölle mit dem Schattenbenehmen! Mühsam klammerte sie sich an den Rest ihrer Vernunft, die ihr gebot, leise zu sprechen. »Aber das Wort einer Erbin gilt wohl nichts. Zumindest nicht einem Schatten gegenüber.« Sie drehte sich um und ging. Sie wollte keine Antwort hören. Sie wollte nicht wissen, wie Alisa ihre Worte aufnahm. Sie wollte nicht einmal mehr hier sein. Aber sie durfte erst gehen, nachdem alle mit dem Essen fertig waren, sie Karen und Hindrik geholfen hatte, das Geschirr einzusammeln, das sie gemeinsam ins Schattenquartier trugen.

Dort lag sie in ihrem Sarg, lauschte den Spülgeräuschen, den leisen Stimmen von Hindrik und Karen, die sich am Spülfass abwechselten, sobald ihre Hände vom Wasser zu taub wurden, und wünschte sich, sie könnte alle ihre Sinne genauso betäuben wie Wasser einen Vampirkörper.

Leo

Leo ging zögerlich aufs Deck hinaus. Er hatte keine Eile, seinem Vater zu begegnen, auch wenn Karen deutlich gemacht hatte, dass der ihn umgehend zu sehen wünschte. Er starrte über die See, diese bewegte Dunkelheit, auf der das Licht der Sterne silbern glänzte. Silber – das war ein guter Schutz für seine Gedanken. Leo gönnte sich einen Moment, um den Schutzwall in seinem Kopf mit einem Anstrich aus Silber zu überziehen. Das sollte selbst seinem Vater ein paar Schwierigkeiten bereiten. Er lief über das Deck, um die Kapitänskajüte herum und zu der Treppe, die auf ihr Dach führte, wo sein Vater am Steuer stand. Leo sah ihn nicht an. »Du wolltest mich sehen?«

»Ja.« Er trat einen Schritt zurück und schob Leo vor sich. »Nimm du das Steuer.«

Das von vielen Händen und Jahrhunderten geglättete Holzrad fühlte sich viel zu klein an, um ein so großes Schiff wie die Elisabetha zu lenken. Leo hielt es ruhig, lauschte dem Auf und Ab der Wellen und dem Schweigen seines Vaters. Der hatte ihn, da war er sich sicher, nicht nur rufen lassen, um zu sehen, wie er sich am Steuer machte.

»Wie lange wird es noch dauern?«, fragte er und hielt den Blick auf den weit entfernten dunklen Streifen gerichtet, wo sich Meer und Nachthimmel trafen. Er konnte dort kein Land ausmachen, schon gar nicht die vertraute norwegische Küste.

»In zwei Monden sind wir da.« Die Hände seines Vaters legten sich wie Eisengewichte auf seine Schultern. »Eines Tages wirst du unseren Clan anführen, Leo. Und du wirst deine Sache gut machen.«

»Woher willst du das wissen?«

Sein Vater klopfte ihm von hinten auf die Schultern und lachte. »Mein Blut fließt in deinen Adern. Daher.«

Es war ungewohnt, seinen Vater solche Dinge sagen zu hören. Leo richtete sich ein wenig gerader auf. Vielleicht war das der richtige Moment – Leo räusperte sich, wandte den Blick nicht vom Horizont ab. »Wegen der Gefangenen – kannst du nicht …« Der Druck auf seine Schultern verstärkte sich, ließ seine Worte ersterben.

»Leo.«

So viel dazu. Er packte das Steuer fester, versuchte, die Hände seines Vaters auf seinen Schultern zu ignorieren.

»Ich möchte, dass du dich von dieser Vamalia fernhältst. Sie – sie macht nichts als Schwierigkeiten.«

Leo ruckte mit den Schultern, um sich zu entziehen, doch es gelang ihm nicht. »In Italien hat Alisa uns allen das Leben gerettet.« Er würde seinem Vater nicht den Gefallen tun, ihren Namen zu unterschlagen. »Alisa hat uns nicht nur vor den Rotmasken, sondern auch vor Graf Dracula gerettet.«

»Und dafür bin ich dankbar. Gewiss.« Sein Vater roch nach Meer und Schnee und Kiefern. Nach zu Hause. Doch seine Finger bohrten sich in Leos Schultern. »Aber sie sieht die Welt anders als wir. Sie will alles verändern, mit unseren Traditionen brechen. Das dürfen wir nicht zulassen. Das verstehst du doch?« Die tiefe Stimme war so nah und eindringlich, dass sie ihn mit seinem Vater in eine eigene Welt einzuschließen schien. Eine Welt, die all die Weite um sie herum ausschloss. »Glaub mir, es sind immer die Vamalia, die sich gegen unsere Gesetze auflehnen. Bislang konnte ich sie im Zaum halten.« Leo stand stocksteif da, wünschte sich, er hätte den Mut, sich aufzulehnen. »Ich weiß, dass du sie magst. Aber ich will, dass du jeden Umgang mit ihr einstellst. Sie wird dich verändern. Und du darfst nie vergessen, wer du bist. Ein Dracas. Mein Sohn. Stärker als alle anderen.«

Leo umklammerte das Steuer so hart wie sein Vater seine Schultern. Möglich, dass Alisa ihn veränderte. Aber war Veränderung etwas so Schlechtes? Er verzog das Gesicht. Die Antwort seines Vaters kannte er nur zu gut: Die Dracas waren allen überlegen, unbesiegbar und immer im Recht. Und sie kannten nur eine Loyalität, die dem eigenen Clan gegenüber. Leo senkte den Kopf. Apropos Loyalität … Alisa hatte sich Ivy gegenüber nicht als loyal erwiesen. Gegen seinen Willen musste er sich eingestehen, dass dieser Verrat, diese Schwäche an ihr ihn enttäuschte. Allerdings hatten auch die Ehrwürdigen ihn enttäuscht, die nicht einmal über eine andere Reaktion nachdachten, als Ivy umgehend zu degradieren. Leo runzelte die Stirn. Eines war ganz sicher: Vor Alisa hätte er sich niemals so viele Gedanken gemacht.

Sein Vater schüttelte ihn leicht. »Haben wir uns verstanden?«

Leo nickte knapp. Widerworte waren ohnehin sinnlos. Der schmerzhafte Griff um seine Schultern lockerte sich.

»Geh und iss etwas. Du musst stark bleiben.«

Alisa saß allein an einem der Tische, und bevor Leo zu einer Entscheidung kommen konnte, ob er sich überwinden und zu ihr gehen sollte oder nicht, zog Malcolm den leeren Stuhl neben sich zurück und winkte ihn heran.

»Endlich erwachsene Gesellschaft!« Er grinste Leo zu.

»Noch nicht.« Leo ließ sich auf den Stuhl fallen. »Und du wirst vor mir volljährig, oder?«

Malcolm tauchte seinen Löffel ins Rot. »Kann gar nicht schnell genug passieren«, murmelte er und starrte in die Schüssel mit dem Rot. Leo widmete sich seinem eigenen Essen. Er konnte sich gut vorstellen, woran sein Freund dachte: an Tonka, die Upiry, die ihn auf Graf Draculas Geheiß dazu gezwungen hatte, Ur-Rot zu trinken, und daran, wie er in der Folge ausgerastet war … was letzten Endes nicht nur zu Tonkas Tod geführt hatte, sondern auch zu dem von Contessa Viola di Nosferas. Kurzum, ganz sicher nichts, worüber Malcolm sich unterhalten wollte. Der legte seinen Löffel beiseite und sagte: »Ich werde es ganz bestimmt nicht vermissen, unter Zwang gestellt zu werden.«

Tammo, der die ganze Zeit wortlos mit Joannes Hausratte Easy gespielt hatte, schaltete sich ein. »Darf ich dich an diesen Satz erinnern, falls du in Versuchung kommst, jemanden von uns zu etwas zu zwingen?«

»Keine Sorge.« Malcolm lehnte sich zurück und ließ sein Grinsen wieder aufblitzen. »Solange ihr euch gut benehmt …« Das Grinsen wurde zu einem Lachen, in das auch die anderen einstimmten. Es war ansteckend und Leo fühlte sich so leicht wie lange nicht mehr. Doch als Fanny sich über den Tisch zu Tammo und Joanne beugte, verging der Moment ebenso plötzlich, wie er gekommen war.

»Unter Zwang oder nicht – ihr Kleinen geht besser schlafen, wir müssen morgen alle früh raus«, sagte sie bedeutungsschwanger.

Seit wann kümmerte es seine Cousine, ob andere genug Schlaf bekamen? Leo schüttelte den Kopf. »Wieso das denn?«

Fanny zog die Augenbrauen hoch. »Na, wegen Calvina. Ich dachte, deswegen wollte Onkel Magnus dich sehen.«

»Calvina? Was ist mit ihr?« Alisas Stimme war nur ein Flüstern, ließ ihn aber trotzdem zusammenzucken. Leo drehte sich nicht um, auch nicht, als Fanny sich mit einem gehässigen Grinsen an Alisa wandte.

»Die Ehrwürdigen haben ihr Urteil gefällt. Sie muss morgen in die Sonne gehen.« Fanny starrte weiter über Leos Schulter hinweg, und Leo hatte das Gefühl, als hätte ihn jemand mit Wasser übergossen. Er wollte sich rühren, konnte aber nicht. Auch nicht, als hinter ihm ein Stuhl zu Boden krachte. Und er blieb weiter wie gelähmt, als Alisa an ihnen allen vorbeistürmte, die Tür aufriss und hinter sich zuschlug.

»Uh, Drama.« Fanny verdrehte die Augen.

Halt die Klappe, Fanny.

Du hast mir gar nichts zu sagen.

Fannys Gedankenstimme löste seine Starre. Leo sprang zur Tür. Auf dem Gang sah er gerade noch, wie Alisa im Schlafquartier der Mädchen verschwand. Hinterher! Wenigstens würden sie dort allein sein. Er stieß vorsichtig die Tür auf, gerade als Alisa den Deckel ihres Sarges zuknallte. Es hatte ihn nie zuvor in seinem Leben so viel Mut gekostet, einen Raum zu durchqueren. Zögernd legte er eine Hand auf den Sarg. Als könnte sie das spüren … Leo ballte die Hand zur Faust.

Alisa?

Keine Reaktion. Er schloss die Augen, versuchte, das Chaos in seinem Kopf wegzudrängen. Warum musste sie ausgerechnet Nicus Mutter verteidigen, was war so wichtig an diesem Menschen, an überhaupt einem Menschen, warum musste sein Vater so stur sein, warum musste er sich mit diesen Zweifeln herumschlagen, warum …? So viele Fragen. Sie mussten warten. Leo konzentrierte sich auf Alisa. Es tut mir leid, Alisa. Ich habe versucht, meinen Vater umzustimmen – wegen Ivy – wegen Calvina –

Der Sargdeckel flog auf und Leo machte einen Satz rückwärts. Alisa stand in ihrem Sarg und funkelte ihn voller Wut und mit Tränenspuren auf den Wangen an. »Nichts davon hast du getan!« Ich kann deinen Trick mit dem Gedankenlesen jetzt auch. Solltest du eigentlich wissen. In Gedanken klang sie nicht weniger wütend. Leo senkte den Kopf.

»Es tut mir leid.«

»Hab einfach eine eigene Meinung! Lern endlich, deinem Vater zu widersprechen!« Alisa schlug ihren Sargdeckel wieder zu und gab keinen Ton mehr von sich. Leo rieb sich über das Gesicht. Die hatte leicht reden! Natürlich hatte er seinem Vater nicht entschieden genug widersprochen. Niemand tat das. Zumindest nicht mehr, seit seine Mutter gestorben war. Er schluckte. Seine Mutter … Vielleicht war sie die Stärkste im Dracas-Clan gewesen und nicht sein Vater.

Er blickte auf Alisas geschlossenen Sarg. Doch ihm fiel nichts ein, was er sagen könnte, um das zwischen ihnen zu retten. Leo fluchte still vor sich hin, verfluchte sich selbst, während er langsam den Raum verließ, um zu seinem eigenen Sarg zu gehen.

Alisa

Alisa lauschte auf ihren Herzschlag. Tammo hatte sie einmal gefragt, ob der wehtäte. Sie hatte stumm den Kopf geschüttelt. Dieser Moment schien mindestens so weit entfernt wie Hamburg, obwohl es erst Wochen her war, dass er die Frage gestellt hatte.

Jetzt riss jeder Schlag ein Loch in ihre Brust. Sie blieb reglos liegen, als sie die anderen Mädchen ins Schlafquartier kommen hörte. Joanne unterhielt sich leise mit Easy. Fanny zog noch immer über Ivy her, fragte, warum die für ihren Betrug nicht gleich mit in die Sonne geschickt würde, wie Calvina. Inger zischte wütend, dass sie endlich den Mund halten solle, wenn sie nichts anderes als Schwachsinn von sich geben könnte.

»Was hast du nur mit der Lycana?«, fragte Fanny, offensichtlich unbeeindruckt von Ingers Wut.

»Nichts. Du nervst einfach.« Inger klang wenig überzeugend, fand Alisa. Fanny hingegen schien sich mit der Antwort abzufinden – oder die beiden setzten ihre Unterhaltung in Gedanken fort. Weder Joanne noch Easy gaben einen Laut von sich. Alisa starrte in die Dunkelheit, die sie umgab, und in der es keinen Unterschied machte, ob sie die Augen schloss oder offen hielt. Von draußen hörte sie nur noch Schritte, keine Stimmen mehr. Dann klappten drei Sargdeckel zu.

Es war still. Zeit verging. Oder auch nicht.

Sie sollte schlafen. Unmöglich. Wie konnten die Ehrwürdigen so grausam sein? Es musste eine Möglichkeit geben, Calvina vor diesem Urteil zu bewahren! Sie hatte nichts getan, was ein Todesurteil rechtfertigte – das war genauso ungerecht, wie das Urteil gegen Hindrik gewesen war. Genauso ungerecht wie alles, was Schattenvampire betraf.

Vermutlich sollte sie dankbar sein, dass Ivy für ihre Täuschung nicht mit dem Tod bestraft wurde. Würde sie sich das je verzeihen können? Ein paar blöde Sekunden der Unbedachtheit – und Ivy hatte alles verloren. Wegen ihr. Warum hatte sie auch ihren Mund nicht halten können? Dann wäre alles noch gut! Nicht alles, korrigierte Alisa sich und presste die Hände gegen ihre Brust, als könnte sie damit ihr pochendes Herz besänftigen. Je mehr sie von der Welt sah, desto mehr Ungerechtigkeiten offenbarten sich ihr. Wie konnte Leo vor all dem die Augen verschließen? Sogar dieser sturköpfige Dracas müsste begreifen, dass sich etwas grundlegend ändern musste.

Sie drückte ihre Hände noch fester gegen ihren Brustkorb, als das Kribbeln auf der Handfläche begann. Nicht schon wieder! Bitte, nicht schon … Aber das Licht des Funkens drang zwischen ihren Fingern hervor, vertrieb die Dunkelheit in ihrem Sarg, riss sie mit sich fort, wirbelte unten und oben durcheinander, ließ sie stürzen, aufsteigen, stürzen und fallen und –

Wieder die Gasse, die auf den Platz mit dem Wunschbrunnen hinausgeht. Alisa lehnt sich an eine Hauswand, weil etwas Festes im Rücken den Schwindel schneller vertreibt. Sie will nicht zum Brunnen schauen, weil sie schon weiß, wen sie dort sehen wird, denn sie kennt die zwei Stimmen nur zu gut. Sie will nicht, aber sie muss. Alisa strafft die Schultern und blickt zum Brunnen. Nicu steht mit ausgestreckter Hand vor Dracula.

»Gib mir meine Münze zurück«, verlangt er, ohne den Vampir anzusehen. Dracula lässt wortlos die Münze auf Nicus Handfläche fallen. Der schließt die Finger darum und drückt die Faust an seine Brust. Renn weg! Flieh!, will Alisa ihm zurufen, auch wenn sie weiß, wie nutzlos das ist. Erstens würde er sie nicht hören, zweitens würde er Dracula niemals entkommen. Mit einer ruckartigen Bewegung schleudert Nicu die Münze ins Wasser.

»Was hast du dir gewünscht?«, fragt Dracula – ganz so, als wäre das ein Geplänkel zwischen Freunden.

Alisa presst sich fester gegen die Hauswand, um nicht vorzustürzen und ihn von Nicu wegzureißen, schluckt gegen die Schreie an, die in ihr aufsteigen, hinauswollen. Sie beißt die Zähne aufeinander.

Nicu packt den Griff des Silberdolches, der in seinem Gürtel steckt. »Was muss ich tun, damit du meine Mutter zurückbringst?«

Alisa schüttelt den Kopf. Du darfst dich auf keinen Handel mit ihm einlassen! Bitte. Sie legt alle Kraft in ihre Gedanken, kann nicht aufhören zu hoffen, dass sie ihn irgendwie doch erreichen kann. Aber Nicu nimmt sie nicht wahr.

»Komm mit mir«, sagt Dracula zu Nicu – und so wild sie auch den Kopf schüttelt und Nicu innerlich »Tu es nicht!« zubrüllt, es nutzt nichts. Lediglich Dracula hebt den Kopf und lächelt ihr zu, während er Nicu bedeutet, ihm zu folgen. »Komm«, wiederholt er. Nicu umklammert seinen Dolch noch fester. Aber er zieht ihn nicht, auch nicht, als Dracula ihm den Rücken zuwendet, losgeht. Nicu folgt dem Vampir.

Nein, nein, nein! Alisa stößt sich von der Hauswand ab, will den beiden hinterher. Doch ihr Schritt geht ins Leere. Sie fällt und stürzt, taumelt, ohne jeden Halt –

Dunkelheit fing sie auf. Alisa presste die Hände gegen die Seitenwände ihres Sarges. Das kann nicht alles gewesen sein! Komm schon, zeig mir mehr! Der Funke reagierte nicht auf ihr Wüten. Natürlich nicht. Der reagierte nie auf das, was sie wollte. So wie ihr auch sonst niemand zuhörte, auf das hörte, was logisch und gerecht war! Alisa stieß ihren Sargdeckel auf. Sie konnte nicht länger hier liegen und nichts tun. Sie musste wenigstens das verhindern, was sie verhindern konnte. Was auch immer Nicu für Dracula tun musste, sie würde nicht zulassen, dass sein Einsatz am Ende umsonst gewesen wäre.

Alisa sprang aus ihrem Sarg und hielt inne. Lauschte. Aus keinem der Särge kam ein Geräusch. Entweder hatte keine der anderen sie bislang gehört, oder sie ignorierten den Lärm, den Alisa veranstaltete. Glück gehabt. Sie nahm sich vor, ab sofort bedachter vorzugehen, auch wenn die Zeit drängte. Sie eilte aus dem Schlafquartier und durch den Gang nach hinten. An der Tür, hinter der es hinunter zu den Zellen ging, blieb sie stehen und horchte. Doch da waren nur das vertraute Schiffsknarren und das Rauschen der Wellen. Also weiter.

Auch Calvina schlief nicht. Sie stand in der Mitte ihrer Zelle und blickte Alisa wachsam an. Alisa hielt Abstand zu den Gitterstäben. Die Erinnerung an Calvinas Angriff war noch zu frisch.

»Tut mir leid, dass ich vorhin so auf dich losgegangen bin«, entschuldigte sich Calvina. »Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist.«

Alisa wagte sich ein wenig näher. »Ist nicht deine Schuld gewesen. Das ist Draculas Einfluss, weil er dich – verwandelt hat.« Sie schluckte. »Wie fühlst du dich jetzt?«

»Besser. Leichter irgendwie. Als wäre ein Druck von mir gewichen …«

»Das ist gut.« Alisa zögerte noch einen Moment, doch dann wagte sie sich dicht an die Zelle heran und redete weiter, redete gegen ihr heftig pochendes Herz an. »Das heißt, Draculas Einfluss auf dich wird schwächer – je weiter du von ihm entfernt bist, desto weniger Kontrolle hat er über dich.« Sie legte die Hände um die Gitterstäbe. Calvina näherte sich ihr langsam, blieb allerdings wenige Schritte vom Gitter entfernt stehen.

»Warum bin ich eingesperrt?«

Alisa schloss die Augen und war froh, dass Calvina ihre Gedanken nicht lesen konnte. Denn ein Bild davon zu sehen, wie man selbst unter der Sonne zu Asche verbrannte, würde jeden Vampir zum Ausrasten bringen. Auch ganz ohne Draculas Einfluss. »Die Ehrwürdigen halten dich für eine Gefahr – für uns alle.«

»Was werden sie mit mir tun? Mich auf ewig gefangen halten?«

Alisa zwang sich, ihre Augen wieder zu öffnen. Aber sie konnte Calvina nicht ansehen, starrte stattdessen auf die Gitterstäbe, auf ihre eigenen Finger, die sie immer fester um das Metall klammerte.

»So schlimm?«, hakte Calvina sanft nach.

Alisa nickte. Aber sie würde das nicht zulassen. Abrupt wandte sie sich um und eilte die Treppe hinauf. Gleich neben der Tür hingen die Schlüssel zu den Zellen. Sie klirrten hell gegeneinander, während sie zurück zu Calvinas Zelle rannte. Und sie klirrten auch, als sie nach dem richtigen Schlüssel für die Zelle suchte und ihn mit zittrigen Fingern ins Schloss steckte.

»Was tust du da?«

»Ich hole dich hier raus.« Alisa zog die Zellentür auf. »Weißt du noch, wie man mit einem Boot umgeht?«

»Ich glaube schon.« Calvina trat zögernd aus der Zelle. Als fürchte sie, Alisa könnte es sich jeden Moment anders überlegen. »Danke.«

»Dank mir, wenn wir es geschafft haben.« Alisa legte einen Finger an die Lippen. »Kein Wort mehr ab jetzt.«

Calvina nickte. Alisa ging voraus, vergewisserte sich an jeder Tür, vor jedem Gang, dass sie allein waren, bevor sie der Schattenvampirin bedeutete, ihr zu folgen.

Warte hier, schickte sie Calvina in Gedanken, als sie den Fuß der Treppe erreichten, die aufs Deck führte. Sie huschte allein hoch. Spähte umher. Es war mehr Zeit vergangen, als sie gedacht hatte. Die Nacht war bereits auf dem Rückzug, der Himmel zeigte erstes Grau. Noch würde die Sonne nicht aufgehen, aber sie musste unbedingt dafür sorgen, dass eine lichtdichte Plane in Calvinas Rettungsboot lag. Sie spähte umher.

Bis auf Baron Magnus war niemand an Deck zu sehen. Er vertäute bereits das Steuer mit einem Seil, damit das Schiff tagsüber Kurs hielt. Das hieß, er würde gleich zu den anderen Ehrwürdigen in die Kapitänskajüte gehen. Alisa winkte Calvina nach oben. Nebeneinander pressten sie sich an das Treppengeländer und warteten, bis die Tür der Kapitänskajüte hinter Baron Magnus ins Schloss fiel. Jetzt musste es schnell gehen. Alisa spurtete los.

Sie würde nicht an all das denken, was schieflaufen konnte. Niemand würde jetzt noch an Deck kommen. Niemand würde hören, wie sie das Rettungsboot zu Wasser ließen. Niemand würde schlaflos aus einem der falschen Fenster spähen – Alisa stoppte bei einem der Rettungsboote und begann mit zittrigen Fingern dessen Vertäuung zu lösen. »Nimm du die andere Seite«, wisperte sie, ohne sich zu Calvina umzudrehen.

Keine Antwort. Nicht einmal eine Reaktion. »Calvina?« Alisa fuhr herum und sah gerade noch, wie Calvina die Tür der Kapitänskajüte aufriss und hineinstürmte. Alisa unterdrückte einen Schrei und stürzte ihr hinterher in die Kajüte.

Noch bevor sie wirklich erfassen konnte, was geschah, hatte Calvina sich eine Armbrust samt Pfeil vom Tisch in der Mitte der Kajüte geschnappt und zielte auf Baron Magnus, der mit dem Rücken zu ihr vor den Särgen stand. Einen Moment lang schien das Bild vor ihren Augen ebenso zu erstarren wie sie selbst. Dann stieß Alisa einen Warnschrei aus – genau in dem Augenblick, in dem Calvina den Pfeil von der Armbrust schnellen ließ. Baron Magnus konnte sich nicht einmal umdrehen, bevor die silberne Spitze in seinen Rücken eindrang. Er stürzte neben seinem Sarg zu Boden. Sofort warf Calvina sich auf ihn und zerrte am Kragen des regungslosen Barons.

»Her mit den Rubinen! Die gehören meinem Gebieter!«

Alisa riss sich aus ihrer Erstarrung. Mit einem Satz war sie hinter Calvina und packte sie, hob sie mit all ihrer Kraft hoch, schleuderte sie in Baron Magnus’ offen stehenden Sarg und knallte den Deckel zu. Calvina trommelte von innen gegen den Sargdeckel, Alisa konnte ihn nur mühsam geschlossen halten. Alles schien gleichzeitig zu passieren.

Auf einmal war Großmutter an ihrer Seite, lehnte sich mit ihr gegen den Sargdeckel.

Calvina tobte und brüllte.

Conte Claudio, Madame Audry und Sir Milton beugten sich über Baron Magnus.

Bitte lass ihn nicht sterben, bitte lass ihn nicht sterben