Die Erfahrung der Welt - Nicolas Bouvier - E-Book

Die Erfahrung der Welt E-Book

Nicolas Bouvier

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Beschreibung

1963 erschien "L'Usage du monde" ("Die Erfahrung der Welt"), das Erstlingswerk des Genfer Schriftstellers und Fotografen Nicolas Bouvier. Das Buch gehört heute zu den Klassikern der modernen Reiseliteratur. Der Text ist das Ergebnis einer fast zweijährigen Reise, die Nicolas Bouvier mit dem Maler Thierry Vernet 1953/54 unternahm. Die beiden Freunde fahren mit einem Fiat Topolino "in sehr gemächlichem Tempo" via Balkan, Türkei und Iran nach Afghanistan. Sie nehmen sich viel Zeit für die Entdeckung eines sowohl archaisch wie surreal anmutenden Kulturraums, wobei ihre Erfahrungen und Begegnungen mitunter an ein tragikomisches Welttheater erinnern. So wie sich dieses "langsame Reisen" an die Fremde herantastet, erkundet der Autor geduldig die Welt der Sprache, indem er den Reichtum der Dinge mit demjenigen der Worte zu verbinden versucht. Dabei entstehen atmosphärisch eindringliche Beschreibungen und farbige Porträts, durchdrungen von einem melancholischen Humor.

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Seitenzahl: 561

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Der Autor

Nicolas Bouvier (1929–1998) wuchs in Genf auf und machte schon als 16jähriger erste Reisen nach Frankreich und Italien. Nach dem Studium der Geistes- und Rechtswissenschaften in Genf fuhr er 1953 mit Thierry Vernet im Auto über Jugoslawien, die Türkei und Iran nach Afghanistan. 1955 Weiterreise nach Japan. In den sechziger Jahren unternahm Bouvier mehrere ausgedehnte Reisen, u.a. nach Japan, China und Korea. Der Schriftsteller, Fotograf und Journalist publizierte mehrere Bücher, darunter Skorpionfisch und Japanische Chronik. Postum erschien Es wird kein Bleiben geben.

Der Herausgeber

Roger Perret, geboren 1950 in Zürich. Studium der Philosophie, Literaturkritik und Komparatistik in Zürich. Mitarbeit an der Taschenbuchausgabe der Tagebücher von Klaus Mann. Herausgeber der Werke von Alexander Xaver Gwerder, Hans Morgenthaler, Sonja Sekula und Anne-marie Schwarzenbach.

Titel der französischen Originalausgabe:

L’Usage du monde

Copyright © 1963 by Nicolas Bouvier

Die Originalausgabe erschien 1963 in der Librairie Droz, Genève, und 1964 bei René Juillard, Paris; die deutsche Erstausgabe 1980 bei Benziger / Ex Libris, Zürich.

E-Book-Ausgabe 2014

Copyright © der deutschen Übersetzung

2001 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anne Hoffmann Graphic Design, Zürich

Coverfoto: Nicolas Bouvier (zwischen Isfahan und Jasd/Iran, Juli 1954)

www.lenos.ch

ISBN EPUB-E-Book 978 3 85787 585 4

Vorwort

I shall be gone and liveor stay and die.Shakespeare

Ich hatte Genf vor drei Tagen verlassen und fuhr in gemächlichem Tempo. In Zagreb fand ich einen postlagernden Brief von Thierry vor:

„Travnik, Bosnien, den 4. Juli

Heute früh strahlende Sonne, sehr heiss. Ich bin in die Berge zeichnen gegangen. Margeriten, grüne Kornfelder, stiller Laubwald. Auf dem Rückweg begegne ich einem Bauern auf einem Pony. Er steigt ab und rollt mir eine Zigarette, die wir am Wegrand kauernd rauchen. Mit meinen paar Brocken Serbisch kriege ich heraus, dass er Brote nach Hause bringt, dass er tausend Dinar ausgegeben hat, um ein Mädchen mit dicken Armen und grossen Brüsten zu besuchen, dass er fünf Kinder und drei Kühe besitzt, dass man sich vor dem Blitzschlag hüten muss, der voriges Jahr sieben Leute getötet hat.

Später bin ich auf den Markt gegangen. Heute findet er statt. Säcke aus einem ganzen Ziegenfell, Sensen, die einem Lust machen, ganze Roggenfelder abzumähen, Fuchsfelle, Paprika, Pfeifchen, Stoffschuhe, Käse, Schmuckstücke aus Blech, Korbwaren aus grünen Binsen, die von schnurrbärtigen Männern rasch fertiggeflochten werden, das alles beherrscht von einem Publikum aus Einbeinigen, Einarmigen, Triefäugigen, Zittrigen und Lahmen auf ihren Krücken.

Abends habe ich ein Glas unter den Akazien getrunken, um den Zigeunern zuzuhören, die sich selbst übertrafen, und auf dem Rückweg einen grossen Klumpen ölige, rosa Mandelmasse gekauft. Das ist der Orient!“

Ich sah mir die Karte an. Darauf ein kleines Städtchen, von Bergen umgeben, im Herzen von Bosnien. Von dort wollte er nach Belgrad hinunter, wo er auf Einladung der „Vereinigung serbischer Maler“ seine Zeichnungen ausstellen sollte. Und ich sollte mich dort in den letzten Julitagen mit dem Gepäck und dem alten Fiat einfinden, den wir aufgemöbelt hatten, um die Reise fortzusetzen: Türkei, Iran, Indien, vielleicht noch weiter. Wir hatten zwei freie Jahre vor uns und Geld für vier Monate. Unser Programm war vage, aber bei solchen Unternehmungen ist es das Wichtigste, dass man überhaupt einmal losfährt.

Diese Lust, alles stehen und liegenzulassen, kommt einem im Alter von zehn bis dreizehn Jahren, wenn man bäuchlings auf dem Teppich liegt und sich still den Atlas anschaut. Denkt bloss an Gegenden wie das Banat, das Kaspische Meer, Kaschmir! Die Melodien, die dort erklingen, die Blicke, denen man begegnet, die Gedanken, die einen erwarten … Wenn die Sehnsucht den ersten Angriffen der nüchternen Vernunft standhält, sucht man nach Gründen für sie. Und findet keine stichhaltigen. Tatsache ist, dass man nicht weiss, wie man diesen Drang nennen soll. Etwas in uns wächst und löst sich aus der Vertäuung, bis man eines schönen Tages, seiner selbst nicht sehr sicher, endgültig aufbricht.

Eine Reise braucht keine Beweggründe. Sie beweist sehr rasch, dass sie sich selbst genug ist. Man glaubt, dass man eine Reise machen wird, doch bald stellt sich heraus, dass die Reise einen macht – oder kaputtmacht.

Hinten auf dem Kuvert stand noch: „Meine Ziehharmonika, meine Ziehharmonika, meine Ziehharmonika!“

Ein guter Anfang. Auch für mich. Ich sass in einem Café am Stadtrand von Zagreb, nicht gehetzt, ein Glas gespritzten Weisswein vor mir. Ich sah zu, wie der Abend herabsank, wie eine Fabrik sich leerte, wie ein Begräbnis vorbeizog – blosse Füsse, schwarze Kopftücher, Messingkreuze. Zwei Häher zankten sich im Laub einer Linde. Staubbedeckt, eine angebissene Paprika in der Rechten, lauschte ich, wie tief in mir der Tag fröhlich einstürzte wie eine Felswand. Ich streckte mich, zog literweise Luft ein. Ich dachte an die sprichwörtlichen neun Leben der Katze und hatte das deutliche Gefühl, in das zweite einzutreten.

Ein Duft von Melonen

Belgrad

Es schlug gerade Mitternacht, als ich vor dem Café Majestic hielt. Auf der Strasse war es noch warm, es herrschte eine freundliche Stille. Durch die Spitzenvorhänge beobachtete ich Thierry drinnen im Café. Er hatte einen Kürbis in natürlicher Grösse aufs Tischtuch gezeichnet, den er jetzt, um die Zeit totzuschlagen, mit winzigen Kernen füllte. Der Friseur von Travnik hatte ihn offenbar nicht oft zu Gesicht bekommen. Mit seinen Haarbüschelchen auf den Ohren und seinen blauen Äuglein sah er wie ein mutwilliger, erschöpfter junger Haifisch aus.

Ich schaute lange durchs Fenster, bevor ich mich an seinen Tisch setzte. Wir stiessen an. Ich war glücklich, dass unser alter Plan endlich Gestalt annahm, er, dass er Gesellschaft bekam. Es war ihm schwergefallen, sich loszureissen. Er hatte, ohne jedes Vortraining, zu lange Fussmärsche unternommen, und die Müdigkeit machte ihn missmutig. Während er, mit wunden Füssen und Schweissperlen auf der Stirn, Weiten durchwanderte, wo Bauern lebten, die er nicht verstand, hatte er alles in Frage gestellt. Die ganze Unternehmung schien ihm absurd. Ein romantischer Blödsinn. In Slowenien hatte ein deutschsprechender Gastwirt angesichts seiner abgezehrten Miene und seines übergewichtigen Rucksacks freundlich gesagt: „Ich bin nicht verrückt, Meister, ich bleibe zu Hause!“ Das machte die Sache nicht besser.

Dann hatte er einen Monat lang in Bosnien gezeichnet, und das brachte ihn wieder auf die Beine. Als er mit seinen Zeichnungen unterm Arm in Belgrad anlangte, hatten ihn die Kollegen von der ULUS (Vereinigung der serbischen Maler) wie einen Bruder aufgenommen und ihm irgendwo in der Vorstadt ein leeres Atelier aufgestöbert, wo wir beide wohnen konnten.

Wir setzten uns in den Wagen. Das Atelier lag tatsächlich sehr weit draussen. Erst musste man über die Save-Brücke fahren und dann den Radspuren folgen, die dem Ufer entlangliefen, bis zu einem von Disteln überwucherten Terrain, auf dem ein paar verfallene Pavillons standen. Thierry hiess mich vor dem grössten halten. In tiefer Stille bugsierten wir das Gepäck eine finstere Treppe hinauf. Ein Geruch nach Terpentin und Staub schnürte einem die Kehle zu. Die Hitze war erdrückend. Ein mächtiges Schnarchen drang durch die halboffenen Türen und hallte im Treppenhaus wider. Thierry hatte sich als methodischer Clochard mitten in einem riesigen, kahlen Raum auf einem Stück sauber gefegten Fussboden eingerichtet, in sicherer Entfernung von den zerbrochenen Fensterscheiben. Eine rostige Sprungfedermatratze, sein Zeichenmaterial, die Petroleumlampe und auf einem Ahornblatt eine Wassermelone und ein Stück Ziegenkäse. Die Wäsche von heute trocknete an einer ausgespannten Schnur. Es war frugal, aber so natürlich, dass ich das Gefühl hatte, er erwarte mich hier schon seit vielen Jahren.

Ich breitete meinen Schlafsack auf dem Fussboden aus und legte mich in den Kleidern nieder. Schierling und Hundspetersilie wucherten so hoch, dass ihre weissen Dolden zum offenen Fenster hereinschauten. Die Sterne am Sommerhimmel leuchteten sehr hell.

Es gibt keine Tätigkeit, die einen mehr in Anspruch nimmt als das Nichtstun in einer neuen, unbekannten Welt.

Die Vorstadt zwischen dem hohen Bogen der Save-Brücke und dem Zusammenfluss von Donau und Save gleisste unter der Glut des Hochsommers. Sie verdankte ihren Namen Saimischt (Messe) den Überresten einer landwirtschaftlichen Ausstellung, die dann von den Nazis in ein Konzentrationslager umgewandelt wurden. Juden, Widerstandskämpfer und Zigeuner waren hier vier Jahre lang zu Hunderten gestorben. Als der Friede kam, hatte die Stadtverwaltung die grausigen Baracken, Überreste des Wahnsinns, recht und schlecht neu verputzt, um sie den Künstlern zur Verfügung zu stellen, die Stipendien vom Staat erhalten hatten.

Die unsrige– schlecht schliessende Türen, zerbrochene Fenster, widerspenstige Wasserspülung– enthielt fünf Ateliers, abgestuft vom äussersten Mangel bis zu einer luxuriösen Boheme. Die beiden bedürftigsten Hausgenossen, die vom ersten Stock, trafen sich jeden Morgen mit dem Rasierpinsel in der Hand bei der Wasserleitung auf dem Treppenvorplatz, gleichzeitig mit dem Portier, einem Kriegsverletzten, dessen Mütze an der Schädelplatte festgeschraubt war. Man musste ihm die Haut am Kinn straffen, während seine einzige Hand vorsichtig die Rasierklinge darüber führte. Er war ein kränklicher Mensch, äusserst misstrauisch, der nichts anderes zu tun hatte, als eine Tochter, die gerade alt genug für Fehltritte war, zu beaufsichtigen und in den sogenannten Toiletten Taschentücher, Feuerzeuge, Füllfedern und ähnliche Schätze einzusammeln, die ein zerstreuter Benützer vergessen haben mochte, denn es waren türkische Latrinen, in denen man die Taschen leeren muss, ehe man niederhockt. Der Literaturkritiker Milovan, der Keramiker Anastase und Vlada, ein bäuerlicher Maler, bewohnten die Ateliers im Parterre. Stets bereit zu helfen, uns als Dolmetscher zu dienen, eine Schreibmaschine, eine Spiegelscherbe, eine Handvoll grobes Salz zu leihen oder, falls sie ein Aquarell oder einen Artikel verkauft hatten, das ganze Haus zu einem lärmenden Festmahl einzuladen mit Weisswein, Paprika, Käse, gefolgt von einer gemeinsamen Siesta auf dem sonnenbeschienenen nackten Bretterboden. Gott weiss, dass sie kärglich lebten, doch die dunklen Jahre der Besetzung und des Bürgerkrieges hatten sie gelehrt, wie kostbar der Friede ist, und in Ermangelung von Komfort besass Saimischt seine ureigene Gemütlichkeit. Es war eine Wildnis von Feldmohn, Kornblumen, blühendem Unkraut, die zum Sturm auf die verkommenen Gebäude anrückte und die Zufallsbuden und Schuppen, die ringsum aufgeschossen waren, in ihrem grünen Schweigen erstickte. Im Pavillon neben uns hauste ein Bildhauer. Nachts schlief er, das Kinn vom Bartwuchs geschwärzt, seine Hämmer wie Revolver im Gürtel, auf einem Strohsack zu Füssen des Standbilds, das er gerade vollendete: ein Partisane mit nacktem Oberkörper, die Faust um die Maschinenpistole geballt. Er war der Reichste der ganzen Gesellschaft, denn die Lage war für ihn günstig; mit Aufträgen für Grabdenkmäler, Sterne aus rotem Granit, Standbilder von Partisanen, die gegen einen Sturm von zweihundert Stundenkilometern ankämpften, war er für mindestens vier Jahre eingedeckt. Das war ganz folgerichtig: Sobald sie nicht mehr Sache von Geheimausschüssen sind, fassen die Revolutionen festen Fuss, versteinern und werden rasch zur Sache von Bildhauern. In einem Land wie Serbien, das sich ständig in Kampf und Auflehnung befand, steht ihnen bereits ein grosser heroischer Fundus zur Verfügung– sich aufbäumende Pferde, gezückte Säbel, –, aus dem zu schöpfen genügt. Diesmal war es allerdings schwieriger. Die Befreier hatten den Stil gewechselt: Sie sassen nicht mehr hoch zu Ross, sondern standen mit kurzgeschorenem Haar und sorgenvollen, mürrischen Gesichtern auf ihren eigenen Füssen, und nur das Löffelchen Rosenkonfitüre, das der Bildhauer den Besuchern nach serbischer Sitte anbot, erinnerte an eine sanftere, weniger martialische Welt.

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