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Warum bringt ausgerechnet ein Hase die Ostereier? Und seit wann tut er das? Der Osterhase gehört zweifellos zu den bekanntesten Symbolfiguren des westlichen Festkalenders – und zugleich zu den am wenigsten verstandenen. Seine Herkunft ist weder eindeutig religiös noch rein folkloristisch, weder rein kindlich noch völlig willkürlich. Dieses Buch geht dem Mythos nach: von den ersten schriftlichen Erwähnungen im protestantischen Mitteleuropa über vorchristliche Frühlingsbräuche bis hin zur modernen Popularisierung in Werbung, Kinderkultur und Familienritual. Dabei geraten auch scheinbar beiläufige Aspekte ins Blickfeld: Was hat das Ei mit Auferstehung zu tun? Inwiefern verschränkt sich die Figur des Osterhasen mit Fragen von Fruchtbarkeit, Naturbeobachtung und pädagogischer Kontrolle? Und warum erscheint er heute wie ein saisonales Maskottchen – zwischen Supermarktregal, Bastelvorlage und Kindergedächtnis? ›Die Erfindung des Osterhasen‹ rekonstruiert das kulturelle Geflecht, aus dem eine scheinbar einfache Figur hervorgegangen ist. Es fragt nicht nur, was der Hase darstellt, sondern warum er überdauert. Ein Sachbuch über eine liebgewonnene Tradition, das weder entzaubert noch verklärt – sondern aufklärt. Mit feiner Klinge und einem Blick für das, was unter der Oberfläche liegt.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Erfindung
des Osterhasen
•
mythologisch, symbolisch und geheimnisvoll
Eine Betrachtung
von
Lutz Spilker
DIE ERFINDUNG DES OSTERHASEN
MYTHOLOGISCH, SYMBOLISCH UND GEHEIMNISVOLL
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Texte: © Copyright by Lutz Spilker
Umschlaggestaltung: © Copyright by Lutz Spilker
Verlag:
Lutz Spilker
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Inhalt
Inhalt
Das Prinzip der Erfindung
Vorwort
Der Hase in der Frühzeit
Jagd, Fruchtbarkeit und die stille Präsenz eines Beutetiers
Spuren in der Landschaft des Frühen
Der Hase als Inbild der Fruchtbarkeit
Fluchtlinien des Beutetiers
Früheste Umrisse einer symbolischen Bedeutung
Ein Tier zwischen Sichtbarkeit und Entzug
Zwischen Tempel, Theater und Triclinium
Der Hase in der Tiermythologie des Altertums
Ein Tier im Reigen der Zeichen
Sinnbild der Begierde und Opfergabe
Luxus, Delikatesse und Provinzialität
Ein scheues Tier mit symbolischer Wucht
Zwischen Göttern und Dogmen
Der Hase im Frühmittelalter
Zwischen Hoppel und Hülle
Wie Hase und Ei zueinanderfanden
Das Ei als Weltanfang
Der Hase – ein Wesen der Dämmerung
Zwei Bedeutungsströme treffen aufeinander
Eine stille Verlobung im Frühling
Zwischen Tau und Trieb
Der Hase im Rhythmus des alten Jahres
Mönche, Moral und Metaphern
Tiergestützte Gleichnisse im klösterlichen Schrifttum
Zwischen Licht und Liturgie
Das Osterfest der Kirche
Ein Ritus ohne Dekoration
Die innere Architektur des Festes
Die Strenge der Frühzeit
Eine Welt ohne Hasen
Der stille Widerhall
Der protestantische Kulturraum
Neue Festtraditionen nach der Reformation
Ein gelehrter Seitenblick
Georg Franck von Franckenau und die erste Spur des Hasen
Zwischen Eiernest und Hasenspur
Osterbräuche im Südwesten
Vom Hasen zum Eierleger
Wandel und Festigung einer Figur
Eine Figur ohne Ursprung – aber mit Geschichte
Zwischen Andeutung und Zuschreibung
Die Stabilisierung einer Unwahrscheinlichkeit
Der Hase als Projektionsfläche
Die Festigung durch Wiederholung
Eine paradoxe Figur mit Bestand
Der mahnende Hase
Wie aus einem Frühlingsboten ein Wächter der Tugend wurde
Der Osterbrauch wandert aus
Deutsche Einflüsse in Nordamerika
Der Hase wird Kindheitsfigur
Popularisierung im 19. Jahrhundert
Zwischen Damast und Moosnest
Ostern im bürgerlichen Haushalt
Das Ritual des Versteckens
Der Osterhase im Druck
Bilderbogen, Märchenhefte und Festkalender
Kommerzialisierung im 20. Jahrhundert
Süßwaren, Spielzeug und Werbung
Hasenohren auf Zelluloid
Der Osterhase in Film, Fernsehen und animierter Welt
Ein Tier auf Probe: Die ersten animierten Hasen
Vom Nebencharakter zur Hauptfigur
Der kommerzielle Durchbruch: Der Osterhase als Held
Serien, Specials und das Fest im Streaming-Zeitalter
Symbolwandel durch mediale Inszenierung
Ein Fest mit Bildschirmbegleitung
Der Osterhase als Konsumprodukt
Von Ketten, Marken und Karotten – wie ein Frühlingsbote zum Ladenhüter mit Hochglanzverpackung wurde
Wenn das Regal spricht
Markenbildung mit Hasenohren
Zwischen Zentrallager und Lastwagen
Der Hase und die ökonomische Blase
Der psychologische Osterhase
Kindliche Fantasie und elterliche Vermittlung
Das unsichtbare Wesen in der Wiese
Die leise Regie der Erwachsenen
Übergänge und Abschiede
Das Unsichtbare als Beziehungsangebot
HARVEY, der Unsichtbare – oder: Wenn der Hase bleibt
Osterfiguren weltweit
Von Kuckuck, Hahn und Fuchs
Der Hahn, der über das Ei wacht
Der Kuckuck – Ein Waldgeist zwischen Aberglaube und Brauch
Der Fuchs, der Eier bringt
Die Glocken, die fliegen
Und anderswo?
Der Hase ist kein Monopolist
Ein Ei für den Zaren
Exkurs: Die kaiserlichen Eier des Herrn Fabergé – Pracht, Politik und das österliche Staunen
Die Geburt einer imperialen Geste
Zwischen Symbolik und Spielerei
Der Fall der Eier – Revolution und Exil
Vom kaiserlichen Salon zurück in den Garten
Das christliche Dilemma
Ein Fest ohne biblisches Tier
Der Hase im religiösen Umfeld
Geduldet, verdrängt oder ignoriert?
Das Ei als göttlicher Behälter
Schale, Innenleben und der lange Weg zur religiösen Aufladung
Farbigkeit als Ritual
Die Kultur des Eierfärbens im Wandel
Der Frühling als Bühne
Naturerwachen und Festgestaltung
Kritik am Brauchtum
Kulturpessimismus, Kommerz und Entfremdung
Der Osterhase in der Gegenwart
Alltagssymbol zwischen Fest und Folklore
Digitale Osterwelten
Wenn der Hase durchs Netz hoppelt
Vom Fensterbild zur Bildschirmtapete
Apps und Algorithmen
Zwischen Zauber und Zappeln
Die Verkleidung des Vertrauten
Digitale Spuren in der Osterzeit
Vom Tier zur Idee
Der Osterhase als kulturelle Abstraktion
Die Leerstelle füllt sich
Die Idee im Übergang
Symbol ohne festen Kern
Die Idee lebt weiter
Die Abstraktion als Stärke
Epilog eines Symbols
Über den Autor
In dieser Reihe sind bisher erschienen
Ostern ist der Sieg der menschlichen Seele
über die Dunkelheit und die Traurigkeit.
J.R.R. Tolkien
John Ronald Reuel Tolkien, CBE (* 3. Januar 1892 in Bloemfontein, Oranje-Freistaat;
† 2. September 1973 in Bournemouth, England), war ein britischer Schriftsteller und Philologe. Sein Roman ›Der Herr der Ringe‹ (The Lord of the Rings, 1954/55, auf Deutsch erschienen 1969/70) ist eines der erfolgreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts und gilt als grundlegendes Werk für die moderne Fantasy-Literatur.
Das Prinzip der Erfindung
Vor etwa 20.000 Jahren begann der Mensch, sesshaft zu werden. Mit diesem tiefgreifenden Wandel veränderte sich nicht nur seine Lebensweise – es veränderte sich auch seine Zeit. Was zuvor durch Jagd, Sammeln und ständiges Umherziehen bestimmt war, wich nun einer Alltagsstruktur, die mehr Raum ließ: Raum für Muße, für Wiederholung, für Überschuss.
Die Versorgung durch Ackerbau und Viehzucht minderte das Risiko, sich zur Nahrungsbeschaffung in Gefahr begeben zu müssen. Der Mensch musste sich nicht länger täglich beweisen – er konnte verweilen. Doch genau in diesem neuen Verweilen keimte etwas heran, das bis dahin kaum bekannt war: die Langeweile. Und mit ihr entstand der Drang, sie zu vertreiben – mit Ideen, mit Tätigkeiten, mit neuen Formen des Denkens und Tuns.
Was folgte, war eine unablässige Kette von Erfindungen. Nicht alle dienten dem Überleben. Viele jedoch dienten dem Zeitvertreib, der Ordnung, der Deutung oder dem Trost. So schuf der Mensch nach und nach eine Welt, die in ihrer Gesamtheit weit über das Notwendige hinauswuchs.
Diese Sachbuchreihe mit dem Titelzusatz ›Die Erfindung ...‹ widmet sich jenen kulturellen, sozialen und psychologischen Konstrukten, die aus genau diesem Spannungsverhältnis entstanden sind – zwischen Notwendigkeit und Möglichkeit, zwischen Dasein und Deutung, zwischen Langeweile und Sinn.
Eine Erfindung ist etwas Erdachtes.
Eine Erfindung ist keine Entdeckung.
Jemand denkt sich etwas aus und stellt es zunächst erzählend vor. Das Erfundene lässt sich nicht anfassen, es existiert also nicht real – es ist ein Hirngespinst. Man kann es aufschreiben, wodurch es jedoch nicht real wird, sondern lediglich den Anschein von Realität erweckt.
Der Homo sapiens überlebte seine eigene Evolution allein durch zwei grundlegende Bedürfnisse: Nahrung und Paarung. Alle anderen, mittlerweile existierenden Bedürfnisse, Umstände und Institutionen sind Erfindungen – also etwas Erdachtes.
Auf dieser Prämisse basiert die Lesereihe ›Die Erfindung …‹ und sollte in diesem Sinne verstanden werden.
Vorwort
Kaum eine Figur scheint so harmlos, so niedlich, so eindeutig zuzuordnen wie der Osterhase. Er verteilt bunte Eier, versteckt sie im Gras, bringt Kinderaugen zum Leuchten und scheint sich jedes Jahr pünktlich zum Frühjahr aus dem kollektiven Brauchtumsschatten zu schälen. Und doch: Bei näherer Betrachtung beginnt sich das vermeintlich Selbstverständliche aufzulösen.
Wer ist dieser Hase – und seit wann gehört er zu Ostern? Weshalb trägt ausgerechnet ein Tier mit scheuem Wesen, flinken Läufen und nachtaktiver Lebensweise die symbolische Last eines religiös geprägten Festes? Welche Geschichte, welche Mythologien, welche kulturellen Zuschreibungen verbergen sich hinter seinem pelzigen Rücken?
Der Osterhase ist keine universale Erscheinung, sondern eine historisch gewachsene, regional unterschiedlich ausgeprägte Erfindung. Er steht an der Schnittstelle zwischen vorchristlichen Frühlingsbräuchen, volkstümlicher Erzähltradition und protestantischer Festgestaltung. Seine Herkunft verliert sich zwischen Symbolen der Fruchtbarkeit, den ersten Sonnenfesten des Jahres und einer kindgerechten Ritualisierung von Hoffnung und Neuanfang.
Dieses Buch folgt seiner Spur: vom Hasen als Tiermetapher über das Ei als Lebenssymbol bis zur modernen Ikonografie eines saisonalen Maskottchens. Es beleuchtet, wo der Ursprung liegt, wann die Figur zum ersten Mal greifbar wird – und warum sich um sie eine so dauerhafte kulturelle Sympathie rankt. Die Fragen sind gestellt, die Antworten liegen in der Geschichte verborgen.
Was also feiern wir, wenn wir vom Osterhasen sprechen?
Eine Kindheitserinnerung? Ein Fest der Fruchtbarkeit? Oder die Spätfolge eines frühneuzeitlichen Erziehungsmodells?
Der Hase läuft.
Wir folgen.
Der Hase in der Frühzeit
Jagd, Fruchtbarkeit und die stille Präsenz eines Beutetiers
Bevor der Hase in geflochtenen Nestern bunte Eier versteckte, bevor er mit Körbchen und Kinderlächeln assoziiert wurde, war er vor allem eines: Teil der wilden Welt, in der der Mensch noch kein Haustier kannte, kein Acker pflügte und kein Festkalender den Jahreslauf ordnete. In dieser ursprünglichen Ordnung war der Hase weder harmlos noch vermenschlicht – sondern ein Wesen des Waldrandes, des offenen Felds, der Nacht. Als flinkes Beutetier, als geheimnisvoller Vermehrer und als Teil des täglichen Überlebenskampfes besaß er in der Frühzeit eine Bedeutung, die tief unter der späteren Symbolik verborgen liegt. Dieses Kapitel versucht, ihn dort aufzusuchen.
Spuren in der Landschaft des Frühen
In den weiten, noch ungeordneten Räumen des Alt- und Mittelpaläolithikums begegnete der Hase dem Menschen nicht als freundliches Fabelwesen, sondern als Nahrung. Die archäologischen Funde – kaum je zentral, meist beiläufig – bezeugen ihn dort, wo Menschen jagten, sammelten, Feuerstellen errichteten. Knochenreste von Feldhasen finden sich beispielsweise in mehreren europäischen Höhlenstätten, etwa in der Grotte du Lazaret (Frankreich) oder in Schichten nahe dem heutigen Ungarn. Doch anders als das Großwild – das Mammut, das Rentier oder der Auerochse – taucht der Hase in jenen frühen Fundhorizonten nicht als Hauptbeute auf. Er gehörte zur sogenannten kleinen Jagd, war Teil jener Kategorie von Wild, die man fing, wenn das große Tier ausblieb oder die Vorräte knapp wurden.
Seine geringe Körpergröße und seine flüchtige Erscheinung machten ihn zwar nicht zum Jagdschwerpunkt, doch eben diese Eigenschaften verschafften ihm in der Wahrnehmung des frühen Menschen eine Aura: Er war da – aber schwer zu greifen. Er war oft sichtbar – aber selten verfügbar. Und was sich entzieht, wird über kurz oder lang symbolisch aufgeladen.
Der Hase als Inbild der Fruchtbarkeit
Die frühen Gesellschaften lebten nicht nur in steter Jagd, sondern auch in beständiger Beobachtung. Wer auf Wildtiere angewiesen ist, studiert deren Verhalten, Jahreszeitenrhythmen, Paarungszeiten, Spuren im Boden. In dieser aufmerksamen Welt muss der Hase ein auffälliger Akteur gewesen sein: Plötzliche Sprünge, hektische Paarungsverhalten, die Fähigkeit, in wenigen Wochen erneut Junge zu werfen. Nicht zuletzt die sogenannte ›Superfötation‹ – die Möglichkeit, während einer Trächtigkeit eine weitere zu beginnen – muss, ohne wissenschaftlich verstanden zu werden, für Staunen gesorgt haben. Inmitten einer Welt der Entbehrung und der Knappheit war der Hase ein Tier der Fülle. Seine Fruchtbarkeit grenzte – aus damaliger Sicht – ans Übernatürliche.
So beginnt sich eine Spur zu legen, die später in die Kulturen Mesopotamiens, Ägyptens, Galliens und Chinas hineinführt: der Hase als Sinnbild für Erneuerung, für Leben, das sich selbst hervorbringt. Er wurde nicht verehrt im eigentlichen Sinn – jedenfalls gibt es aus der Frühzeit keine Hinweise auf kultische Verehrung –, aber seine Eigenarten wurden bemerkt, vielleicht erzählt, womöglich gedeutet. Dass sich aus dieser schlichten tierischen Reproduktion ein Sinnbild für menschliche Hoffnungen entwickelte, lässt sich erst in späteren Zeitabschnitten zeigen. Doch der Boden war bereitet.
Fluchtlinien des Beutetiers
In der Hierarchie des frühen Überlebens war der Hase nie das höchste Ziel. Doch in Notzeiten war er rettend – schnell, nahrhaft, reich an Fett. Die Hasenjagd war dabei kein heroisches Unterfangen wie die Jagd auf Bär oder Wisent. Sie war leiser, vorsichtiger, oft wohl auch eine Arbeit der Frauen und Kinder, die mit Schlingen und Gruben nach Kleingetier suchten. Man kann sich vorstellen, wie viel Geschick es brauchte, sich dem Hasen zu nähern, dessen Gehör, Geruchssinn und Reflexe ihn vor den meisten Gefahren schützten. Seine Flucht war nicht geradeaus, sondern im Zickzack – als würde er die Linie des Lebens selbst unterbrechen, um das Ende zu vermeiden. Dieses Bewegungsmuster hat sich in das Bild des Hasen eingeschrieben: Er entzieht sich, windet sich aus der Bedrohung, bleibt wachsam. Selbst in Gefangenschaft bleibt er ein scheues Tier.
Gerade diese Bewegungsart – unstet, unerwartet – wurde später als verschlagen oder ängstlich gedeutet. Doch in der Frühzeit war sie schlicht Überlebensstrategie. Und vielleicht mehr: In einer Welt, die sich über Kraft, Größe und Drohgebärden definierte, war der Hase ein Gegenmodell. Er lebte nicht vom Kampf, sondern von der Flucht. Nicht vom Angriff, sondern vom Ausweichen. Nicht von Gewalt, sondern von Vorsicht. Diese Eigenschaften stehen dem frühen Menschen möglicherweise näher, als er es sich eingestehen wollte. Wer sich vor Raubtieren schützen muss, wer Hungerzeiten überlebt, indem er vorausschauend denkt und sich klein macht, erkennt sich womöglich im Hasen wieder – nicht im Löwen.
Früheste Umrisse einer symbolischen Bedeutung
Ob der Hase in der Frühzeit bereits als Symbol galt, bleibt offen. Sicher ist: Seine Eigenschaften wurden registriert. Er war schnell, fruchtbar, flüchtig – und damit ganz anders als jene Tiere, mit denen der Mensch sein Dasein teilte. Während der Hund allmählich zum Gefährten wurde, das Rind zur Ressource und das Pferd zum Transportmittel, blieb der Hase draußen – am Rand der Lichtung, zwischen den Hecken, im Gras verborgen. Vielleicht war es gerade diese Außenseiterrolle, die ihn vor der völligen Vereinnahmung bewahrte. Tiere, die man nicht zähmen kann, lassen sich leichter mit Bedeutung aufladen.
Und so begegnet man dem Hasen bald in Höhlenritzungen, in rituellen Darstellungen, in frühen Mythen – zunächst jedoch immer mit einer gewissen Unklarheit. Er war nicht heilig, aber bemerkenswert. Nicht göttlich, aber doch außergewöhnlich. In Kulturen, die keine klare Trennung zwischen Naturbeobachtung und Weltdeutung kannten, ist dies bereits eine Form der Symbolik. Der Hase war ein Tier, das etwas bedeutete, ohne dass man es hätte benennen müssen.
Ein Tier zwischen Sichtbarkeit und Entzug
Vielleicht liegt im Wesen des Hasen eine tiefere Spannung: Er ist sichtbar – und doch schwer fassbar. Er lebt nahe beim Menschen – und doch nicht mit ihm. Er erscheint – und verschwindet. In einer Welt, die vom Mangel geprägt war, in der jede Ressource gezählt wurde, war der Hase ein Tier, das zugleich Geschenk und Entzug verkörperte. Wenn er sich zeigte, konnte man ihn nicht immer erlegen. Wenn man ihn erlegte, war es kein Festmahl. Und wenn man ihn beobachtete, hatte man das Gefühl, dass da etwas lebt, das sich der Kontrolle entzieht.
In dieser Spannung liegt womöglich die Urform jener Bedeutung, die er später erhielt. Als Tier des Übergangs. Zwischen Wildnis und Siedlung. Zwischen Jagd und Mythos. Zwischen Fleisch und Sinnbild. Der Hase hat diesen Wandel mitvollzogen, nicht aus eigener Entscheidung, sondern durch die Blicke, die man auf ihn warf. Seine Frühzeit ist mehr als ein zoologisches Kapitel – sie ist der leise Beginn einer Bedeutungsaufladung, die sich Jahrtausende später in festlichen Bräuchen niederschlagen wird.
Doch das liegt noch fern. Vorläufig bleibt der Hase ein scheues Wesen, das zwischen Büschen kauert, in den Dämmerstunden aktiv ist und bei Gefahr davonstößt – ein Tier, das man nur dann wirklich sieht, wenn man geduldig bleibt. Und genau das tat der frühe Mensch. Ohne Absicht, aber mit wacher Aufmerksamkeit. Aus dieser Konstellation heraus begann sich das Bild eines Tieres zu formen, das bis heute Anlass zu Fragen gibt.
Zwischen Tempel, Theater und Triclinium
Der Hase in der Tiermythologie des Altertums
In den mythologischen Welten der Antike nimmt der Hase eine merkwürdig schillernde Stellung ein. Er ist weder heilig noch profan, weder Götterbote noch Teufelstier. Und doch begegnet er uns immer wieder – in Reliefs, auf Vasen, in Gedichten, Sagen und rituellen Speisen. Er ist nie Hauptfigur, aber auch nie gänzlich abwesend. Ein Tier im Dazwischen, wie geschaffen für symbolische Bedeutungsüberladungen, deren Ursprünge sich nur mit Mühe voneinander trennen lassen. Wer sich dem Hasen im ägyptischen, griechischen und römischen Altertum widmet, betritt ein Terrain aus Andeutungen, Konnotationen und tiefverwurzelten Vorstellungen – zwischen Fruchtbarkeit, Wandel, Eros und Opfer.
Ägypten:
Ein Tier im Reigen der Zeichen
In der hochentwickelten Symbolsprache Altägyptens war der Hase kein prominenter Gottbegleiter, wohl aber ein wiederkehrendes Motiv im kosmologischen Denken. Das altägyptische Wort für Hase lautete un, was zugleich sein oder existieren bedeuten konnte. Diese sprachliche Doppelbödigkeit scheint bereits eine symbolische Aufladung vorzubereiten. Im Neuen Reich wurde der Hase zu einem Tier des Ostens, der aufgehenden Sonne – und damit zum Sinnbild für Wiedergeburt, Zeitmaß und zyklischen Neubeginn. In Wandmalereien erscheint er gelegentlich in Verbindung mit dem Gott Osiris, der als Regenerationsgott eine Brücke zwischen Tod und Neugeburt darstellt.