Die erinnerte Insel - Andrea Stefanoni - E-Book

Die erinnerte Insel E-Book

Andrea Stefanoni

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Beschreibung

Consuelo wächst während des Spanischen Bürgerkriegs unter ärmlichen Bedingungen in den Bergen Nordspaniens auf. Schon als junges Mädchen muss sie in der Kohlengrube arbeiten und lernt in den Minen Rogelio kennen, der Schreckliches erlebt hat: Im Bürgerkrieg stand er auf der Seite der Republikaner, wurde von Francos Schergen gejagt, inhaftiert und gefoltert. Gemeinsam geben sie ihrem Leben eine neue Richtung und ihre Tochter Elvira wird geboren. Doch als Rogelio von seinem Bruder verraten wird, müssen sie aus Furcht vor Rache aus Spanien fliehen. Sie finden eine neue Heimat in Argentinien und ziehen nun dort ihre beiden Kinder groß. Das scheinbare Idyll wird jedoch gestört, als Elvira etwas Furchtbares zustößt, das von der Familie totgeschwiegen wird, und die Tochter nun ihre Eltern verlässt. Als Rogelio stirbt, möchte seine Enkelin Sofía, Elviras Tochter, alles über ihre Großeltern erfahren und Consuelo lässt die Vergangenheit wieder aufleben. Andrea Stefanoni sucht einen frischen Blickwinkel bei der Behandlung eines zentralen Themas der zeitgenössischen Literatur, der Erfahrung von Krieg und Vertreibung, und wird dabei fündig. Basierend auf den authentischen Erzählungen ihrer Großeltern hat sie ein sehr persönliches Porträt geschaffen. Dabei trifft sie das richtige Maß an erzählerischer Genauigkeit und ihre originelle Sprache atmet einen unsentimentalen und zugleich warmen Ton.

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Impressum

Autorin und Klappentext

Titelseite

Buchanfang

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Leseproben

Rodrigo Rey Rosa - Die Gehörlosen

Rodrigo Rey Rosa - Stallungen

Carlos Gamerro - Der Traum des Richters

Carlos Gamerro - Das offene Geheimnis

Shusaku Endo - Schweigen

Corinna Antelmann - Hinter die Zeit

Gabriele Vasak - Den Dritten das Brot

Originaltitel: La abuela civil española © Andrea Stefanoni, 2014

(Nach Vereinbarung mit Literarische Agentur Mertin

Inh. Nicole Witt e.K., Frankfurt am Main, Deutschland)

All rights reserved

Dieses Werk wurde im Rahmen des »Sur«-Programms des Außenministeriums der Republik Argentinien zur Förderung von Übersetzungen verlegt.

Obra editada en el marco del Programa »Sur« de Apoyo a las Traducciones del Ministerio de Relaciones Exteriores y Culto de la República Argentina.

© der deutschen Ausgabe: 2016, Septime Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Ausschnitt aus: Juan Telleria, Hymne der spanischen Falange

»Das Gesicht zur Sonne« (»Cara al sol con la camisa«), Deutsch von W. A. Jaenecke, 1940

Lektorat: Christie Jagenteufel

Umschlag: Jürgen Schütz

Umschlagfoto: Cabo de Hornos – Zur Verfügung gestellt von Seix Barral

EPUB-Konvertierung: Esther Unterhofer

ISBN: 978-3-903061-24-8

Printversion: Hardcover, Schutzumschlag, Lesebändchen

ISBN: 978-3-902711-51-9

www.septime-verlag.at

www.facebook.com/septimeverlag

www.twitter.com/septimeverlag

Andrea Stefanoni

wurde 1976 in Buenos Aires geboren. Sie veröffentlichte journalistische Beiträge in Zeitschriften und Kulturmagazinen. 2009 gründete sie den Verlag Factotum ediciones, den sie seither leitet. 2012 veröffentlichte sie gemeinsam mit Luis Mey den Roman Tiene que ver con la furia. 
Mit ihrem ersten eigenen Roman Die erinnerte Insel landete sie einen Bestseller.

Klappentext

Consuelo wächst während des Spanischen Bürgerkriegs unter ärmlichen Bedingungen in den Bergen Nordspaniens auf. Schon als junges Mädchen muss sie in der Kohlengrube arbeiten und lernt in den Minen Rogelio kennen, der Schreckliches erlebt hat: Im Bürgerkrieg stand er auf der Seite der Republikaner, wurde von Francos Schergen gejagt, inhaftiert und gefoltert. Gemeinsam geben sie ihrem Leben eine neue Richtung und ihre Tochter Elvira wird geboren. Doch als Rogelio von seinem Bruder verraten wird, müssen sie aus Furcht vor Rache aus Spanien fliehen. Sie finden eine neue Heimat in Argentinien und ziehen nun dort ihre beiden Kinder groß. Das scheinbare Idyll wird jedoch gestört, als Elvira etwas Furchtbares zustößt, das von der Familie totgeschwiegen wird, und die Tochter nun ihre Eltern verlässt. 



Als Rogelio stirbt, möchte seine Enkelin Sofía, Elviras Tochter, alles über ihre Großeltern erfahren und Consuelo lässt die Vergangenheit wieder aufleben. 



Andrea Stefanoni sucht einen frischen Blickwinkel bei der Behandlung eines zentralen Themas der zeitgenössischen Literatur, der Erfahrung von Krieg und Vertreibung, und wird dabei fündig. Basierend auf den authentischen Erzählungen ihrer Großeltern hat sie ein sehr persönliches Porträt geschaffen. Dabei trifft sie das richtige Maß an erzählerischer Genauigkeit und ihre originelle Sprache atmet einen unsentimentalen und zugleich warmen Ton.

Andrea Stefanoni

Die erinnerte Insel

Roman | Septime Verlag

Aus dem argentinischen Spanisch von Birgit Weilguny

meinen Großeltern

You are back at the point where you discovered that you were lost.

The Journals of John Cheever

Erster Teil

1

Ich sitze beim Mittagessen. An einem Septembertag. Ich glaube, ich mache Pläne. Überlege mir kauend die nächsten Schritte. Manche Pläne werden durch das Besteckklappern um mich herum empfindlich gestört. Und manche nicht. Gewisse Pläne können sich auch im größten Lärm behaupten.

Die Arbeit in der Buchhandlung lässt mir Zeit, in Ruhe zu essen. Zu kauen und zu überlegen. Heute ist ein besonderer Tag. Ich kann den September genießen. Den Jänner planen. An vergangenen Juni denken. Aber mit der nötigen Distanz.

Das Handy klingelt. Mein Bruder ist dran. Er ruft sonst nie um diese Uhrzeit an. Ihm ist der Nachmittag lieber, mitten im Tagesgeschehen. Wenn er mehr zu erzählen hat.

»Sofía?«

»Was gibt’s?«

Ich höre ihm zu. Er lebt nicht in Buenos Aires. Er lebt drei Stunden entfernt auf dem Land, in einem Dorf ohne asphaltierte Straßen. Weit weg.

Unsere Oma hatte einen Unfall, wie er sagt. Er rief sie an, nur so, da hat er es erfahren. Sie ist wohl hingefallen. Consuelo, meine Oma.

Ich frage gleich, ob sie geblutet hat. Er sagt ja. Er drückt es irgendwie anders aus, aber ich höre nur Blut. Von manchen Wörtern erholt man sich schwer. Blut zum Beispiel.

Ich lasse alles liegen und stehen, lasse meine Ideen, die sich am Tisch verwirrt ansehen, zurück und laufe los. Zum Taxi und so schnell es geht zu ihr.

Ich lasse mich da stehen und laufe los.

Auf das Blut zu. Auf meine Großmutter.

2

Consuelo war zwölf. Sie lebte in Boeza, einem kleinen Dorf in der Provinz León in Nordspanien. In den Bergen. Um nicht zu verhungern, gab es für die Leute hier den Fischfang, ein paar Stück Vieh, ihre Hühner und die Arbeit in der Mine – einen Beruf konnte man es nicht nennen. Die Kohle bestimmte alles. Und die Grube war für die meisten ihr Schicksal.

Es war mitten im Winter. Die Schneefälle hatten etwas nachgelassen. Consuelo war zwar noch ein Kind, aber sie arbeitete jeden Tag. Brach morgens auf, begleitet von ein paar Hundert Ziegen und Schafen und den Hunden, die ihr halfen, die Herde zusammenzuhalten. Zu Fuß. In die Berge. Ein Hund lief neben ihr her, jagte aber bald davon. Der Hund konnte schnell laufen. Sie hingegen plagte sich bei jedem Schritt. Der Boden war schlammig. An manchen Stellen lag noch Schnee.

Oben traf sie jeden Tag Saturnina und Antonio, zwei andere Kinder mit derselben Arbeit. Sie redeten darüber, welches Leben sie einmal haben wollten. Vielleicht ohne zu ahnen, dass ihr Leben das hier war. Sie plauderten gerne über die Schule, in die sie nur gingen, wenn es schüttete oder schneite. Wenn sie wegen des Schlechtwetters nicht arbeiten konnten.

Sie plauderten und taten, was Hirten in der freien Natur auf keinen Fall erlaubt ist: Sie ließen sich ablenken.

Plötzlich verschlug es ihnen die Sprache. Sie erstarrten. Ihr Blick war unverwandt auf die Wölfe gerichtet, die hintereinander geradewegs auf die Schafherde zutrotteten. Sie zählten sie: dreizehn Wölfe. Auch wenn sie wie angewurzelt dastanden, zählen konnten sie noch. Sie rüttelten einander. Sie mussten etwas tun. Zu dritt liefen sie zu den Schafen, die über den ganzen Hügel verstreut grasten. Einmal hatte Consuelo gesehen, wie ein Wolf ein Schaf davongetragen hatte, um es in seinem Bau zu fressen. Sie zerfetzten die Schafe regelrecht. Bei dreizehn Wölfen konnten sie binnen Sekunden dreizehn Schafe verlieren.

Nach ein paar Minuten hatten sie die Herde mithilfe der Hunde zusammengetrieben. Dabei waren sie in Gefahr, selbst von den Wölfen angefallen zu werden. Die Angst vor den Wölfen, die Angst, Schafe zu verlieren, die Angst, es den Erwachsenen eingestehen zu müssen. Sie plagten sich Seite an Seite mit den Hunden. Versanken im Morast, im Schnee. Trotz der Kälte waren sie schweißgebadet. Da war die Angst. Das Adrenalin. Sie ließen nicht locker, bis sich die Hunde wieder beruhigten.

Die Wölfe waren verschwunden. Consuelo atmete auf. Sie hatte beim Laufen einen Schuh verloren. Im Schlamm. Sie machte nicht halt, um ihn zu suchen, auch wenn sich ihr nackter Fuß taub anfühlte. Dafür war keine Zeit. Jeder Schritt zurück wäre ein Schritt in Richtung der Wölfe. Sie wollte ins Tal, nach Hause. Wollte zwölf sein dürfen.

3

Rogelio war in Boeza geboren. Er hatte einen Bruder, Ángel, den alle Angelón nannten. Im Dorf gab es viele Ángels, und zu den meisten sagten die Leute Gelo, wie auch zu den meisten Rogelios. Rogelio aber war immer Rogelio gewesen.

Schon bevor sie in die Pubertät kamen, war unübersehbar, wie verschieden die Brüder waren. Für Rogelio musste es immer Fortschritt geben; für Angelón eine Wiederaufwertung des Gewohnten. Ángel war der Fröhlichere von beiden und klopfte Rogelio oft und gern auf die Schulter. Aber er kam immer wieder auf die Unterschiede zwischen ihnen zu sprechen, als könnte er keinesfalls – weder heute noch morgen – akzeptieren, dass sein Bruder anders dachte.

Rogelio war gerade vom Militärdienst zurückgekehrt. Er ruhte sich zwei Tage aus. Schlief und aß wie schon lange nicht mehr. Lag im Bett und grübelte, weil seine Vorgesetzten ihn beinahe erschossen hatten. Wenn ihn – erschöpft, wie er war – etwas wachhalten konnte, dann das. Wie es beim Militär zuging. Man bekam es nicht bloß mit dem Feind zu tun, sondern mit seinen Vorgesetzten, oft schlimmer als der Feind, hinterhältig und gefährlich. Körperlich und geistig erschöpft, nickte er zwischendurch ein.

Boeza war ein verschlafenes Nest. Rogelios erster Streifzug führte ihn nach Ponferrada, in die nächstgelegene Ortschaft, wo es eine Bibliothek gab. Nach stundenlangem Stöbern lieh er sich einige Bücher aus. Sie hätten ihm die Bücher nicht geben müssen, aber sie taten es, weil sie ihn kannten. Und wussten, dass er einer der wenigen aus Boeza war, die für Bücher einen so weiten Weg auf sich nahmen.

Dass er vom Militärdienst zurück war, hatte auch einer erfahren, der ihm schneller wieder Beine machen sollte, als ihm lieb war. Rogelio las gerade bei Kerzenlicht in einem Lexikon, als ein Freund vorbeikam, Felipe Acuña.

»Ich hab heut Abend mit dem Pfarrer gesprochen.«

»…«

»Er sagt, der Krieg steht kurz bevor und wir müssen uns bereit machen.«

»…«

»Du bist der geeignete Mann, Rogelio, um für die Falange eine Einheit aufzustellen.«

»Ich? Aufseiten der Falange?«

»Du und kein anderer. Du bist einer der hellsten Köpfe, die ich kenne. Nicht nur intelligent, auch mutig genug.«

»Felipe, bist du verrückt geworden? Das hier ist ein Arbeiterdorf! Hier sind die Leute in der Mine und im Straßenbau beschäftigt, wo allein achthundert Männer arbeiten. Wenn die herausfinden, dass wir eine Falange-Einheit organisieren, stecken sie uns in einen Sack und werfen uns in den Fluss.«

4

Als Consuelo sieben war, sagte man ihr, dass ihre Mutter Elvira an einem Schreck gestorben sei. Im Dorf war jeder Infarkt ein Schreck. Jeder Krebs eine Verbitterung. Jede Syphilis eine Sünde.

Wenn Consuelo morgens aufstand, richtete ihr Vater Emiliano für sie das Frühstück mit dem, was eben da war. Wenn sie müde nach Hause kam, nachdem sie die Schafe zurückgebracht hatte, empfing ihr Vater sie liebevoll wie jemand, der genau versteht. Und kümmerte sich ums Abendessen. Und an anderen Abenden kochte sie für ihn.

Vor allem, wenn es heiß war, war es meist Emiliano, der erschöpft nach Hause kam. Dann konnte sie ihm seine Fürsorglichkeit vergelten.

Die Kohle zermürbte die Männer. In der Grube hatte Emiliano erfahren, dass er Vater geworden war. In der Grube hatten sie ihn laut gerufen, als es seiner Frau nicht gut ging. Und in der Grube begriff er auch, dass seine Mühe kaum etwas wert war. Zu dieser Zeit kochte Consuelo jeden Abend.

Eines Tages konnte Emiliano nicht mehr. Sie waren zwar glücklich, doch auf diese Art glücklich zu sein, war zu mühsam.

Also heiratete er wieder, eine Frau, von der Consuelo noch nie etwas gehört hatte und die nun bei ihnen lebte. Ihr Name war Esperanza, was so viel wie »Hoffnung« bedeutet.

Consuelo hatte nur ein einziges Mal Macht über Esperanza. Damals war sie gerade im Haus und schnitt Gemüse, als Emiliano neben seinem eigenen noch einen zweiten Schatten mitbrachte. Er kam allein zur Tür herein und ließ die Frau mit schüchtern im Schoß gefalteten Händen draußen stehen. Als müsste sie warten, bis sie an der Reihe wäre.

Emiliano beugte sich zu Consuelo hinunter, um ihr in die Augen zu sehen.

»Consuelo … Die Frau vor der Tür heißt Esperanza.«

»Esperanza?«

»Richtig. Sie wird ab heute bei uns leben.«

»Was, hier?«

»Ja. Du kannst sie Esperanza nennen, aber vor den anderen sagst du, sie ist meine Frau.«

»Deine Frau?«

»Ganz recht. Einverstanden?«

»Ja, Papa …«

Da trat Esperanza durch die Tür. Es war ihr ja gestattet worden. An diesem Abend aßen sie gemeinsam. Sie stellten dafür den Stuhl an den Tisch, der noch von Consuelos Mutter hier war. Kauten schweigend. Wenn Consuelo Esperanza ins Gesicht sah, schlug diese beschämt die Augen nieder. Consuelo spürte in der Magengrube dieselbe Anspannung, dieselbe Wachsamkeit wie an dem Morgen mit den Wölfen. Sie tat die ganze Nacht kein Auge zu. Und spitzte die Ohren, weil sie die geflüsterten Worte aufschnappen wollte.

Am nächsten Morgen, völlig erschöpft vom Vortag, waren der Sommerregen und die Frische der Natur für Consuelo eine Erleichterung. Als sie erzählte, dass sie so etwas wie eine neue Mutter bekommen hatte, fragten ihre Gefährten aus der Gegend, die auch fast nie zur Schule gingen, woran ihre richtige Mutter denn gestorben sei.

»Meine Mutter ist an einem Schreck gestorben.«

»Niemand stirbt an einem Schreck, Consuelo!«

»Vielleicht war sie krank. Wenn es ihr nicht gut ging, hab ich ihr immer Wasser gebracht.«

»Sie ist sehr hübsch gewesen«, sagte Saturnina. Als sie das hörte, fürchtete Consuelo, gleich weinen zu müssen. Doch so war es nicht.

Natürlich war ihre Mutter hübsch gewesen.

An jenem Morgen waren keine Wölfe zu sehen. Aber später, am Nachmittag, schlich sich ein Wolfspaar heran. Diese Woche hüteten sie weniger Schafe. Es waren viele verkauft worden, um Schulden zu begleichen. Die Wölfe trotteten vorüber. An ihnen und den Schafen. Sie nahmen keine Witterung auf, schenkten den Schafen keine Beachtung, blickten aus der Ferne geradewegs in die ruhelosen, feuchten Augen Consuelos, die sich fragte, warum Trauer und Wut in ihr aufstiegen. Vielleicht, weil Esperanza da sein würde, wenn sie nach der Arbeit müde nach Hause kam. Esperanza, die weder ihre Mutter war noch hübsch. Die Wölfe schienen zu ahnen, dass Consuelo diesmal lieber bei ihnen bliebe.

Sie kam erst nach Einbruch der Nacht nach Hause, müde und erschöpft. Emiliano war arbeiten. Esperanza, die in der Küche stand, hielt inne, musterte Consuelo und zeigte wortlos auf den Tisch.

»Und?«, war alles, was Consuelo sagte.

Sie sahen sich in die Augen. Ein Kräftemessen. Esperanza schnaubte verächtlich. Die Augen zusammengekniffen. Die Brauen hochgezogen. Der Blick herrisch.

»Dort sind der Tisch und die Kartoffeln. Die schälen sich nicht von allein!«

»Wo ist mein Vater?«

»Jetzt habe ich hier das Sagen. Ich bestimme, was du zu tun hast!«

Esperanza trat ihr gegenüber, fasste sie beim Kinn und drückte es nach oben. Sie sagte:

»Dort ist der Tisch, dort ist der Stuhl, dort sind die Kartoffeln. Genug gefaulenzt!«

Consuelo setzte sich, barfuß, wie sie war. Sie schälte und schnitt die Kartoffeln, machte den Tisch sauber und dachte an die Wölfe.

5

Nach dem Aufstehen ging Rogelio gleich zu Felipe.

»Guten Morgen, Rogelio! Du bist ja früh unterwegs.«

Felipe rieb sich die Augen, sah Rogelio an und erkannte es gleich: Rogelio schwitzte. Und das bei dieser Kälte.

»Ich hab heut Nacht in meinen Kleidern geschlafen und lange über unser gestriges Gespräch nachgedacht.«

»Das kann ich mir vorstellen.«

»Ich hab mich entschieden: Ich rede mit dem Pfarrer und sage ihm, ich übernehme … du weißt schon was.«

Drei Tage später kam es zu einem ersten Treffen. Rogelio forderte für den Anfang dreißig Pistolen, fünfundzwanzig Karabiner, fünfzig Sturmgewehre und reichlich Munition.

»Ausgezeichnet«, sagte der Pfarrer. »Nächste Woche wird man dir alles übergeben. Sonst noch etwas?«

»Nein, ich möchte Ihnen nur noch danken!«

Sie gingen. Der Pfarrer wirkte zufrieden.

Rogelio machte unterwegs ein ernstes Gesicht, Felipe hingegen überschlug sich fast vor Begeisterung. Er umarmte Rogelio. Und Rogelio Felipe. Nur dachten sie dabei überhaupt nicht an dasselbe.

Neun Tage später wurde Rogelio ins Pfarrhaus gerufen. Er ging mit Felipe dorthin, obwohl sie nur nach ihm verlangt hatten. Aber im Unterschied zu den anderen dachte Rogelio, dass ihm Felipe noch sehr nützlich sein konnte. Und Felipe freute sich nichts ahnend, dabei zu sein. Als sie ankamen, sah Rogelio ein nagelneues Auto vor der Eingangstür parken.

»Oho, was ist das denn? Wer kann das sein?«

»Bestimmt jemand Wichtiges …«

Noch bevor sie anklopfen konnten, riss ein Unbekannter die Tür auf und führte sie ins Speisezimmer, in dem sich bereits zwei Männer, der Pfarrer und das Hausmädchen befanden.

»Darf ich vorstellen, meine Herren: Der berühmte Rogelio Molinero. Und dann haben wir hier noch Felipe Acuña«, sagte der Pfarrer und stand auf, um Rogelio und dessen Freund, dem er auch noch auf die Schulter klopfte, die Hand zu schütteln.

Ein Mann erhob sich ebenfalls und streckte die Hand aus.

»Mario Salgado, Provinzkommandant der Falange. Und das ist mein Sekretär.«

»Es ist mir immer eine Freude, Mitglieder der Falange kennenzulernen«, sagte Rogelio.

»Soso, Molinero, was wissen Sie denn über die Falange?«, fragte der Sekretär und musterte ihn von oben bis unten.

Zunächst konnte Rogelio seinen Tonfall nicht so recht einordnen. Er empfand ihn als beleidigend, doch in Anbetracht der üblichen Gepflogenheiten begriff er, dass er sich nur ein Bild von ihm und seinen Fähigkeiten machen wollte. Also antwortete er:

»Wenig. Ich bin kein großer Verfechter politischer Ideen, ich will nur meine Heimat gegen die Roten verteidigen, die auf dem Vormarsch sind. Und mir fehlt es weder an Mut noch am nötigen Willen.« Rogelio gab sich große Mühe, ehrlich zu klingen.

Dann spielte er den Misstrauischen und bat die beiden, nur um sie abzulenken, sich als Falangisten auszuweisen, bevor sie sich weiter unterhielten. Er entschuldigte sich umständlich, betonte aber, dass es angesichts der geplanten Unternehmungen wichtig sei. Die Männer legten ihre Erkennungszeichen auf den Tisch.

»Und wenn Ihnen das zu wenig ist, hier sehen Sie die Pfeile der Falange!«

Rogelio sah das Pfeilbündel zum ersten Mal. Ihm lief es kalt über den Rücken, wovon er mit einem schiefen Lächeln abzulenken versuchte, indem er sagte:

»Dann ist der Fall ja erledigt, kommen wir also zur Sache. Ich habe Ihnen, Vater, bereits gesagt, was ich brauche.«

»Ausgezeichnet, Molinero. Sie werden im Auto nach León mitfahren.«

»Nein, Felipe soll statt mir fahren; ich muss mich hier um die Zusammenstellung der Leute kümmern.«

Felipe und die beiden Männer brachen noch am selben Abend auf. Rogelio grüßte sie freundlich, aber ernst, und drückte Felipe an seine Brust.

Er blieb im Dorf und wartete. Tage vergingen. Manchmal dachte er, die Sache sei schiefgegangen. Dass sie schon zu lange brauchten.

Selbstverständlich konnte er mit niemandem darüber reden. In seinem Inneren bekämpften sich widerstreitende Stimmen. Und wenn er schlief, tat er das mit einem offenen Auge.

6

Es war der achtzehnte Juli und in den umliegenden Dörfern feierte die Jugend bei Wein und Gesang die Heilige Maria von Igüeña. Plötzlich wich das allgemeine Plaudern einer bedeutungsschweren Stille: Ein Junge, den der Pfarrer geschickt hatte, fragte nach Rogelio.

Dieser wusste gleich, welche Nachricht er überbringen würde.

»Der Pfarrer wartet auf dich. Er hat die … du weißt schon was.«

»Gut. Sollte ich sonst noch etwas wissen?«, fragte Rogelio.

Der Junge runzelte die Stirn, überlegte, sah sich um, betrachtete ein Mädchen mit einer Flasche in der Hand, nahm die Mütze ab und setzte sie wieder auf. Er wollte schon gehen, drehte sich aber noch einmal um und sagte:

»Ja, eines noch: Der Krieg ist ausgebrochen.«

Rogelio brach unverzüglich auf. Die anderen machten weiter mit dem Tanzen, mit dem Trinken. Niemand würde etwas bemerken. Er war einer von ihnen und wollte sie in Ruhe weiterfeiern lassen. Also sah er zu, dass er wegkam. Denn so würden Wein und Gesang seine auf groteske Weise endgültige Abwesenheit kaschieren.

Er machte sich auf den Weg. Mitten in der Nacht. In der Dunkelheit sprach er mit sich selbst. Die inneren Stimmen, die ihm halfen, sein Geheimnis zu hüten, waren außer sich. Gingen wieder und wieder den Plan durch. Mahnten ihn zur Vorsicht. Er möge seine Rolle weiterhin gut spielen. Bald würde er ja bei seinen Leuten sein, die bereits auf ihn warteten. Den Gruben- und Straßenarbeitern.

Keuchend näherte er sich dem Pfarrhaus. Er folgte den Reifenspuren eines Autos, das von dort weggefahren war. Alle Autos, die zum Pfarrhaus fuhren, vom Pfarrhaus kamen, waren in den Konflikt verwickelt. In die strategische Arbeit, die Organisation.

Rogelio sagte sich, dass er den Reifenspuren gerade deshalb in die Gegenrichtung folgte. Den entgegengesetzten Weg einschlug. Neben dem Haus stand wieder ein Auto, fast schon ein kleiner Lastwagen. Darauf lag, mit einer Plane bedeckt, alles bereit. Er fand es töricht, dass die Strategen das Fahrzeug komplett zugedeckt hatten. Das Heck hätte genügt. In diesem Zustand war es das verdächtigste Auto in ganz Spanien.

Als er sich ein wenig beruhigt hatte, klopfte er an die Tür.

Der Pfarrer öffnete. Er war wohl kurz eingenickt und schien verärgert darüber, gestört zu werden.

»Werter Molinero, ich habe die ganze Nacht kein Auge zugetan. Ich bin gerade kurz …«

»Keine Sorge, Vater, bleiben Sie hier, ruhen Sie sich aus! Ich kümmere mich um alles. Wir werden Ihre Geistesgegenwart in den Tagen, die kommen werden, noch brauchen.«

»Aber der Krieg! Die Nachrichten aus Madrid …«

»Vater! Ich bitte Sie! Seien Sie unbesorgt, ich kümmere mich darum!«

Rogelio packte ihn am Arm. Er brauchte ihn nicht einmal richtig zu rütteln, er brauchte nur entschlossen zu wirken. Der Pfarrer war ihm ohnehin dankbar. Er schien viel von ihm zu halten und sich bei dieser Aufgabe nur zu gern auf ihn zu stützen.

»Ich bin wirklich erschöpft, Rogelio.«

»Ich bringe die Waffen ins Versteck und verteile sie an die Leute. Bei mir sind sie in guten Händen. Erholen Sie sich! Morgen ist ein wichtiger Tag.«

»Danke, Rogelio!«

»Nein, ich habe zu danken!«

Der Pfarrer sank benommen in einen Lehnstuhl. Auf dem Tischchen daneben lagen Autoschlüssel. Er gähnte mit halb geschlossenen Augen und zeigte mit zitternden Fingern auf die Schlüssel.

Rogelio nahm sie an sich.

Er setzte sich ins Auto, stieg noch einmal aus, um das Kriegsmaterial zu prüfen, holte tief Luft und schluckte. Dann stieg er ein, startete den Motor und fuhr in Richtung Wald davon. Mit dem Auto und den Waffen, in eine Zukunft, in der er gebrandmarkt sein würde. In seinem Rücken zwei Schatten: Boeza, das Dorf, in dem er geboren war, und Felipe Acuña, der Mann, den er verraten hatte.

7

Der heilige Antonio war der Schutzheilige des Dorfes. So erklärte es sich mit Leichtigkeit, dass ihr Gefährte beim Schafehüten diesen Namen trug. Saturnina, die andere Gefährtin, wusste nicht, warum sie so hieß. Namen schienen wichtig zu sein. Oder jedenfalls glaubten manche daran. Antonio war dreizehn, Saturnina elf. Aufgrund seines Alters war Antonio der unumstrittene Anführer. Sie waren entfernte Cousins, woran Consuelo aber nie dachte, denn im Dorf waren alle irgendwie miteinander verwandt.

Die Berge bildeten ein Labyrinth. Auch jeder Berg hatte einen Namen. La Gándara. Los Tornos. Antonio wusste, wie man sich in den Bergen gefahrlos bewegte, er hatte gelernt, sich anhand von Wind und Sonne zu orientieren. Und mithilfe seiner Nase. Er konnte riechen, was hinter der nächsten Wegbiegung wuchs. Und so auch bei Nacht wieder nach Hause finden. Um die Wölfe fernzuhalten, rieb er sich mit einer Knoblauchzehe Arme und Beine ein. Wölfe, sagte er, hassen Knoblauch. Und man durfte auch nicht zum zweithöchsten Gipfel sehen, weil dort angeblich der Tod lauerte. Und den, der es trotzdem tat, der hinsah, den holten die Wölfe.

Das alles lernten sie von Antonio. Und der hatte es von jemand anderem in den Bergen gelernt. Und so wurde das Wissen weitergegeben. Und niemand hinterfragte, warum ein einfacher Knoblauch ein Wolfsrudel fernhalten sollte.

Antonio hatte gehört, dass die Wölfe seit ein paar Tagen Menschenfleisch fraßen, nicht weit von hier. Das Fleisch der toten Menschen aus dem Krieg. Hier in der Gegend erzählte man sich, die Wölfe hätten sich angewöhnt, nach dem überreichlich vorhandenen und leicht zugänglichen Futter zu suchen.

Eine Zeit lang hatte sich Consuelo jedes Mal mit Knoblauch eingerieben, bevor sie aus dem Haus ging. Dabei hasste sie Knoblauch. Er stank fürchterlich. Aber sie nahm ihn trotzdem. Manchmal, nicht oft, war Emiliano am Morgen noch da und bekam mit, wie sie losging, und bald roch er mehr, dass sie das Haus verlassen hatte, als dass er es sah. Er sagte nichts: Es ging nur seine Tochter und die Berge etwas an. Und wenn sie sich mit dem Knoblauch sicherer fühlte, sollte es Emiliano recht sein.

8

Die drei Kinder hielten zusammen. Bald teilten sie, was nur wenige hier miteinander teilten: Essen, warme Kleidung und alles, was sie so brauchten. Jedes Kind begleitete seine Herde, und um einander wiederzufinden, brauchten sie nur der Knoblauchfährte zu folgen. Sie rieben sich jeden Tag mit mehreren Zehen ein. Manchmal kauten sie den Knoblauch und spuckten ihn dann aus.

Antonio hatte jeden Winter Unterstände gebaut. Nun achtete er darauf, dass sie groß genug für drei waren. Saturnina konnte gut kochen. Sie brauchte dazu nicht viel und es schmeckte trotzdem besser als zu Hause. Aber auch nicht viel konnte schwer aufzutreiben sein, denn manchmal hatten sie nichts.

In jenem Winter wurde Consuelo beim ersten Kälteeinbruch krank und konnte die Herde zwei Tage lang nicht auf die Weide führen. Als sie danach wieder in die Berge kam, traf sie Antonio an der Schlucht.

Sie sah ihn bereits von Weitem und er sah sie auch.

Sie winkte und lief auf ihn zu.

Aus irgendeinem Grund zog er die Schultern hoch und ging in die andere Richtung. Er hob nicht einmal die Hand, um ihr zu winken. Er ging einfach.

Saturnina war nicht dabei. Am nächsten Tag dasselbe. Nur Antonio, der sich von ihr fernhielt. Ein paar Tage später kreuzten sich einmal ihre Wege und Consuelo rief:

»Antonio!«

Er sah sie nicht an. Und grüßte sie nicht. Und ging vorbei, und so schien festzustehen, dass ihr Bund in den Bergen, warum auch immer, gebrochen war.

Als eines Tages Antonios Mutter hier auftauchte, was äußerst selten geschah, beobachtete Consuelo sie aus der Ferne und lief zu ihr, kaum dass sie sich von ihrem Sohn verabschiedet hatte. Die Mutter schien sich zu freuen und begrüßte sie herzlich. Sie erwähnte, dass sie Consuelo schon wenige Tage nach ihrer Geburt zum ersten Mal gesehen hatte. Und staunte darüber, wie groß sie geworden war. Consuelo sagte:

»Ich habe Saturnina schon eine Weile nicht mehr gesehen. Geht es ihr gut? Ist sie krank?«

»Saturnina?«

»Ja!«

»Saturnina ist fortgegangen. Hast du es nicht gehört? Natürlich nach Ponferrada! Wart ihr gut befreundet?«

Consuelo presste die Lippen zusammen und sagte:

»Ja.«

Dann zog sie mit ihren Schafen weiter.

Sie nahm eine Knoblauchzehe, um sich damit einzureiben, betrachtete sie erst nachdenklich und warf sie dann fort. So weit, wie sie konnte, und gemeinsam damit auch alles, was für das Auge unsichtbar ist.

Von nun an war sie auf sich gestellt. Wenn sie einen Unterstand wählte, blieb Antonio in einem anderen.

9

Der Pfarrer holte tief Luft und sagte zum Kirchendiener:

»Höchste Zeit … gehen wir!«

Die Waffen waren weg. Sie waren gestohlen worden. Nachdem die Vertreter der Bewegung wieder gegangen waren, hatte der Pfarrer fast zwei Stunden gebraucht, um sich einigermaßen von ihren Worten, ihren Mienen, ihren erhobenen Zeigefingern zu erholen. Sie hatten ja recht. Und ihm war zweierlei klar geworden. Erstens: Rogelio Molinero war ein toter Mann. Zweitens: Er musste zu Felipe gehen. Mit ihm reden.

Der Pfarrer und sein Kirchendiener gingen, und mit ihnen der Nachmittag. Ein Stück des Weges war das Echo der Spitzhacken zu hören, ihr lautes Klopfen in der Grube. Das die Beine vibrieren ließ. Ein Kribbeln, das von unter der Erde kam. Der Pfarrer ging gemessenen Schrittes und sein Kirchendiener hinter ihm. Kein Grund zur Eile. Der Krieg war in vollem Gange und sie hatten bei ihrer einzigen Aufgabe versagt. Jetzt mussten sie sich um die Sache kümmern.

Bei Felipes Haus angekommen, wussten sie schon an der Tür, dass er hier war. Felipe wollte mit niemandem sprechen. Ihm fehlte die Kraft dazu. Die Lust. Der Wille. Er schämte sich zu sehr. Er konnte niemandem mehr unter die Augen treten. Und so würde er bleiben, wo er war, auf ein Wunder hoffen und Rogelio Molinero hassen.

»Felipe, mach auf! Mach schon!«

Keine Antwort.

»Komm schon, Felipe!«, sagte der Kirchendiener. »Wir treten dir schon nicht die Tür ein, wir wollen nur mit dir reden!«

Aber Felipe verstand, dass sie genau das vorhatten. Alles ging schief. Und so stand er auf und stellte sich den beschämenden Tatsachen. Er wusste, was auf ihn zukam. Manchmal entgeht einem zwar lange Zeit ein entscheidendes Detail, aber wenn das Unglück einmal seinen Lauf genommen hat, weiß man nicht nur, was geschehen ist, sondern auch, wie es weitergeht, auf einmal liegt es auf der Hand.

Er öffnete die Tür.

»Vater!«

»Komm raus, Felipe!«

Felipe wusste, dass keine Uniformierten dabei sein würden. Noch nicht. Weil keine Notwendigkeit dazu bestand.

»Ist Molinero tatsächlich geflohen? Hast du etwas damit zu tun?«

Dem Pfarrer war bewusst, was los war – Rogelio Molinero hatte Felipe als Ersten hereingelegt – aber er hatte trotzdem vor, ihm die ganze Schuld aufzubürden, ihn bluten zu lassen, selbst wenn er zusammenbräche.

»Könnte ich sie Ihnen nur wiederbringen, Vater …«

»Felipe, wenn das ein Offizier erfährt, lässt er dich erschießen. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich dich auch erschießen lassen. Aber für solche Idioten wie dich ist jede Kugel zu schade. Wie gefährlich ihr auch sein mögt, es gibt noch gefährlichere Leute. Falls uns Kugeln übrig bleiben, können wir uns später immer noch um euch Idioten kümmern.«

»Aber Vater …«

»Halt jetzt den Mund. Wir brauchen dich trotz allem. Du erhältst eine neue Aufgabe.«

Felipe schöpfte zum ersten Mal wieder Hoffnung.

»Leider gibt es für jemanden mit deiner Inkompetenz keine geheimen militärischen Aufgaben. Aber es müssen viele Gräben ausgehoben werden. Dafür brauchen wir Leute. Wir brauchen auch Köche. Für den Dienst an solchen Söhnen Spaniens, die weniger nichtsnutzig sind und etwas im Kopf haben, für den Dienst an den Soldaten.«

»Und Rogelio Molinero?«, fragte Felipe mit belegter Stimme, zutiefst gekränkt.

»Die Sache mit Rogelio Molinero ist deine Schuld. Jedes Mal, wenn ich seinen Namen höre, werde ich an dich denken. Daran, wie schlau Molinero ist und wie blöd du bist.«

Damit ließen sie Felipe in der Tür stehen und gingen davon.

Im ersten Monat litt er bis auf die paar kurzen Pausen am Straßenrand den ganzen Tag so sehr, wie man an Blasen nur leiden kann. Die Arbeit mit dem Spaten war in jeder Hinsicht lebensgefährlich. Seine Kameraden kamen ihm geistesgestört vor. Alle Schwachköpfe Spaniens schienen an seiner Seite zu arbeiten. Alle, die der Krieg betrogen hatte. Jeden Tag bluteten ihm die Hände, aber die Arbeit durfte nie unterbrochen werden. Sie mussten Straßen bauen, damit Franco nach dem Krieg das Land kontrollieren konnte. Dafür schufteten sie. Für einen Sieg, der noch nicht einmal errungen war.

Sie bekamen kein Verbandszeug. Das Verbandszeug, wirklich jede einzelne Binde, befand sich anderswo: Dort, wo gekämpft wurde.

Beim Straßenbau und bei der Errichtung der Infrastruktur rissen diese Schwachköpfe Streifen aus ihrer Kleidung und umwickelten sich damit die Hände. Bis sie ganz zerlumpt aussahen.

Ein paar Männer, die es leid waren, planten zu fliehen. Um anderswo ein besseres Leben zu haben. Zwei oder drei von ihnen träumten vom Reisen, und vier oder fünf wollten für den Rest ihres Lebens einfach nicht mehr arbeiten.

Die Wache bestand aus ein paar schwer bewaffneten Soldaten. Einmal pro Woche erschien ein Offizier und kontrollierte. Er kam sauber hier an, ein Anblick, an den Felipe nicht mehr gewöhnt war. Der Inbegriff eines Komforts, den er wohl nie mehr genießen würde, denn er konnte hier sterben. An den Entzündungen an seinen Händen.

Eines Nachmittags verschwanden zwei Faulpelze. Sie hatten sich einfach fortgestohlen. Beim Appell herrschte Grabesstille. Niemand wusste, wo sie steckten, in welche Richtung sie geflüchtet waren. Rundherum war Wald. Viel Wald. Und dahinter der ganze Kontinent. Keiner würde die Männer verfolgen.

Die Soldaten waren ärgerlich, aber die Arbeit ging unverändert weiter. Es schien niemand etwas zu wissen. Sie hatten alle befragt, die Sache dann aber auf sich beruhen lassen. Sie mussten ja weiter Straßen für Franco bauen. Damit seine Lastwagen durchkämen. Und seine Verbündeten.

Als der Offizier in Begleitung einiger Soldaten wiederkam, um nach dem Rechten zu sehen, starrte Felipe ihn unverhohlen an. Starrte und starrte. Er stand höchstens zehn Meter von ihm entfernt. Alle gruben, nur Felipe nicht. Bisher hatte er die Schaufel eher schneller geschwungen als manch andere. Aber jetzt stand er nur da, unter ihm ein Haufen dunkler, feuchter Erde, und starrte Löcher in die Luft. So lange, bis der Offizier auf ihn aufmerksam wurde.

Er sprach weiter mit seinen Untergebenen. Und Felipe starrte ihn weiter an.

Nachdem er es dreimal festgestellt hatte, begann es dem Offizier zu missfallen.

»Moment mal …«

Und er kam näher. Festen Schrittes und ohne Eile. Mit einem Gesichtsausdruck, der Bände sprach. Er zückte die Waffe und sagte:

»Was gibt’s? Wer sind Sie?«

Der diensthabende Soldat trat hinzu. Er stammte aus Boeza, war sozusagen einer von ihnen.

»Das ist ein Schwachkopf und Verräter. Hat der Pfarrer gesagt.«

»Hat ihn der Pfarrer hergeschickt?«

Der Soldat nickte.

»Warum arbeitet er nicht? Will er uns immer noch verraten?«

»Herr Offizier, Sie vertrauen Ihren Soldaten?«

Der Offizier entsicherte seine Waffe, zielte aber nicht auf Felipe, noch nicht. Felipes Gesicht war so verdreckt, als würde er in der Kohlengrube arbeiten, aber die Augen, mit denen er jetzt ohne zu blinzeln auf die anderen blickte, waren blank.

»Nein, tu ich nicht.«

»Gestern sind zwei Arbeiter abgehauen. Vielleicht zu den Roten.«

Felipe war klar, dass das so nicht stimmte, dass sie einfach nicht mehr arbeiten wollten. Es genügte aber, dass sie weg waren.

»Fünf andere planen das auch. Hier wollen viele abhauen.«

»Kannst du mir sagen, wer die Leute sind, oder ist das reines Geschwätz?«

Felipe drehte sich um und zeigte von seinem Erdhügel aus auf einen Mann, einen weiteren, noch einen, den daneben und den dahinter. Fünf, die plötzlich zu graben aufhörten. Und sie groß ansahen. Ihn und den Offizier.

Felipe durfte die Schaufel in die Ecke stellen. Jetzt hatte er die Aufsicht über die Arbeiter. Zwei davon waren die vom Offizier degradierten Soldaten, die früher ihn beaufsichtigt hatten.

Im nächsten Monat flüchtete niemand mehr.

Felipe überwachte in den folgenden Wochen verschiedene Bau- und Abtragungsarbeiten.

Irgendwie war es ihm gelungen, nicht mehr als der Verräter, als der Idiot wahrgenommen zu werden, der dem Feind zu Waffen verholfen hatte. Nur der Pfarrer erinnerte ihn hin und wieder daran, aber nur so lange, bis er in andere Kirchen, in andere Dörfer geschickt wurde und sie sich aus den Augen verloren.

Rogelios Bruder Ángel Molinero war auch einer von denen, die Leute meldeten. Felipe und er vertrugen sich jetzt sehr gut miteinander. Sie waren auch früher schon gute Nachbarn gewesen. Jetzt aber gab Felipe Ángel die Lebensmittel, die er vom Führungsoffizier erhielt, um sie an mehrere Leute zu verteilen. Es fehlte Angelón an nichts. Und für Felipe war ein Informant wie er ausreichend. Einer, der effizient war, der sich ohne Skrupel in die Häuser schlich, Briefe las, die persönliche Habe der Leute durchsuchte. Der sich das meiste zusammenreimen konnte, wenn er am Brunnen stand und die Leute beobachtete. Weil er gut im Lesen von Gesichtern war.

So stellte Felipe seinen Ruf wieder her. Und ruinierte ihn zugleich. Er ließ sich mit Señor ansprechen. Er ordnete die meisten Exekutionen in den Dörfern im Umkreis an. Bis er, wie so viele, versetzt wurde und eine neue Aufgabe erhielt.

Vor seiner Abreise besuchte er Angelón zu Hause. Er verabschiedete sich von niemandem sonst.

»Angelón. Wir müssen uns Lebewohl sagen.«

»Sagst du mir, wohin du gehst?«

»Das geht jetzt nicht. Aber du kannst mir ans Madrider Hauptquartier schreiben, wenn du möchtest! Mehr darf ich nicht verraten.«

»Herzlichen Glückwunsch, Felipe!«

Sie umarmten sich, aber nur kurz. Felipe zeigte längst keine Gefühle mehr. Was der Pfarrer damals gesagt hatte, schmerzte immer noch wie Salz in einer Wunde.

»Um eines wollte ich dich noch bitten. Hör dich weiterhin in Boeza für mich um und halte die Augen offen, hörst du?«

»Werd ich machen!«

»Ich weiß, dass er dein Bruder ist, Angelón … Aber wenn du erfährst, wo Rogelio …«

»Dann hörst du es als Erster, Felipe. Ich werde es dich wissen lassen.«

»Vielleicht ist er ja tot …«

»Möglich. Wir werden es schon noch in Erfahrung bringen. Ich schreibe dir alles, was ich höre.«

Sie verabschiedeten sich. Angelón blieb einsam zurück und ihm wurde bewusst, dass Felipe eine größere Lücke hinterlassen würde als sein Bruder.

10

Wenn es schüttete oder schneite, brauchte Consuelo nicht zu arbeiten. Dann ging sie zur Schule.

Es gab keine Klassen, alle Altersgruppen waren gemischt. Achtjährige lernten gemeinsam mit Dreizehnjährigen. Immer die, die gerade da waren, und voneinander lernten sie schneller als anderswo zu lesen und zu schreiben. Der Unterricht orientierte sich an denen, die schon mehr wussten. Der Rest sollte aufschließen.

Consuelo ging sehr gerne zur Schule. Auch wenn die Kinder hier Prügel bekamen, zumindest hin und wieder.

Es gab auch Kinder, die jeden Tag kamen. Wer wie Consuelo höchstens ein paarmal im Monat die Gelegenheit dazu hatte – weil es dreimal schüttete oder hin und wieder schneite –, bemühte sich besonders, die Zeit zu nutzen. Consuelo war strebsam. Bei Regen, wenn es nach Feuchtigkeit roch, donnerte und blitzte, und wenn die Sonne sich versteckte, bekam sie die größte Lust zu lernen. Ihre Sinne waren dann wie von selbst geschärft. Sonnenschein war mit Dummheit und Arbeit verbunden. Grau war verheißungsvoll. Die Farbe der Weisheit, des Lernenkönnens. Alles, was sie lernte, lernte sie bei grauem Wetter.

Wie gesagt, gab es aber auch Kinder, die jeden Tag in die Schule gingen. Die mit den gepflegten Händen und Kleidern, die störten und Zirkus machten.

Die Lehrerin kannte alle beim Namen, manche rief sie aber öfter auf als andere. Die in den hinteren Reihen sammelten wie üblich Ermahnungen. Einige brachten es fertig, sich fast jeden Tag eine Strafe einzuhandeln und nach vorne gesetzt zu werden. Die Lehrerin züchtigte sie mit einer Weidenrute. Sie schlug sie auf die Finger. Oder wohin es ihr einfiel. Üblicherweise erkannte man die undisziplinierten Kinder an den Striemen auf ihren Händen.

Wenn der Stock weich oder brüchig wurde und nicht mehr wehtat, mussten die Kinder für Ersatz sorgen. So war es üblich. Die Unterdrückung musste von allen unterstützt werden.

Es gab eine weitere wichtige Regel. Wer bemerkte, dass Mitschüler irgendetwas anstellten – und da genügte es bereits, zu grinsen oder nicht bei der Sache zu sein –, war verpflichtet, es zu melden. Tat man es nicht und ein anderer meldete, dass man geschwiegen hatte, bekam man fürs Verheimlichen die doppelte Strafe.

Irgendwann war die doppelte Strafe nicht mehr nötig. Alle hatten den Verrat an den Mitschülern im Namen des Systems – des Schulsystems – mehr oder weniger verinnerlicht.

Esperanza war an Schultagen äußerst wachsam. Peinlich genau sorgte sie dafür, dass Consuelo nichts von zu Hause erzählte. Sie behauptete, Informanten zu haben und die Lehrerin gut zu kennen. Würde Consuelo auf dem Schulweg trödeln oder einen anderen Weg nehmen, käme ihr das zu Ohren.

»Verstanden?«

»Nein.«

»Hast du mich verstanden?«

»Ich wüsste nicht, was es da zu verstehen gibt.«

»Von dem, was zu Hause los ist, dringt mir nichts nach außen!«

»Was ist denn zu Hause los?«

Esperanza erhob sich langsam, aber mit entschlossenem Gesichtsausdruck. Musterte sie von oben herab, die Arme vor der Brust verschränkt, und nickte seufzend.

»Spiel nicht die Neunmalkluge!«

»Ich spiele nicht, Esperanza.«

Consuelo ging in die Schule und sprach mit niemandem darüber. Sie wünschte sich das ganze Jahr Schnee, auch wenn sie dann genügsamer sein müssten. Denn die Schule machte sie wach für ihre Umgebung.

An jenem Nachmittag erwartete ihre Stiefmutter sie beim Nachhausekommen mit einer Mahlzeit. Sonst bekam sie nie eine. Sie setzte sich Esperanza gegenüber und behielt sie im Auge. Keine sagte ein Wort. Consuelo aß, ohne aufzusehen, und verschlang alles bis auf den letzten Krümel. Das würde sie nicht ausschlagen. So dumm war sie nicht. Auch wenn sie diese Frau hasste. Das Essen schmeckte gut und war reichlich.

»Bist du fertig?«, fragte Esperanza süßlich.

»Ja. Soll ich abräumen? Und abwaschen?«

»Aber nein! Bleib sitzen!«

Esperanza stand auf und kam auf sie zu. Gelähmt vor Angst musste Consuelo mit ansehen, wie sie mit aller Kraft die Schüssel an die Wand schleuderte, sodass das Besteck durch die Luft flog. Dann hob sie einen Stuhl hoch und wartete kurz, bevor sie ihn vor der fassungslosen Consuelo zu Boden krachen ließ. Zum Glück brach nur das rechte vordere Stuhlbein ab. Sie hatten nur einen Stuhl für jeden, aber Emiliano würde das reparieren können.

Consuelo sah zunächst das Chaos und dann Esperanza, die wie verrückt lachte und deren Gesicht verzerrt wirkte.

»Hast du mich jetzt verstanden?«

»Nein …«, sagte Consuelo schluchzend.

Abends kam Emiliano müde nach Hause. Fünf Minuten zuvor hatte Esperanza plötzlich zu weinen begonnen. Als Emiliano das Zimmer betrat, fiel sein Blick zunächst auf die weinende Frau und erst dann auf seine verwirrte und verängstigte Tochter. Er war müde, das Schluchzen berührte ihn unmittelbar, und so missverstand er Consuelos Gesichtsausdruck, woran Esperanza nicht ganz unschuldig war.

»Emiliano, so kann es nicht weitergehen!«

Er fragte, was Esperanza meine. Dann verließen sie das Haus für einen langen Spaziergang im Schnee. Als sie zurückkamen, wollte Emiliano mit Consuelo reden.

»Mach es Esperanza doch nicht so schwer, Kind. Sie hat dich lieb. Sie will nicht den Platz deiner Mutter einnehmen, ganz bestimmt nicht. Wenn du auf irgendjemanden oder irgendetwas böse bist, kannst du immer zu mir kommen. Aber mach bitte nichts mehr kaputt!«

»Das war ich doch nicht, Papa!«

»Lassen wir das. Ich möchte dich nur bitten, keine Sachen mehr kaputtzumachen. Und es Esperanza ein wenig leichter zu machen. Denk an ihren Namen, er bedeutet nicht umsonst ›Hoffnung‹!«

Wie Consuelo das hasste! Warum schrieben die Leute einem Namen, der der Trägerin nicht im Geringsten gerecht wurde, magische Kräfte zu? Ihre Wut über den Betrug und ihre Verwirrung verfolgten sie noch, als sie bereits im Bett lag. Sie hatte noch nie eine derartige Bosheit gesehen. Consuelo lag bis in die Morgenstunden wach. Später hörte sie nicht, wie ihr Vater in aller Frühe das Haus verließ. Sie wurde vielmehr vom lautlosen Singen des Schnees und dem Geruch nach Esperanzas schalem Frühstück wach. Heute würde sie hundemüde in die Schule kommen.

»Wach auf!«

»Ich bin schon munter.«

Esperanza forderte sie auf, sich zu setzen, und Consuelo ging auf einen Stuhl zu.

»Nein, nicht hierhin!«, sagte Esperanza.

Consuelo ging zum anderen Stuhl.

»Nein, hier auch nicht.«

Esperanza zeigte auf den kaputten Stuhl. Consuelo versuchte es. Sie setzte sich und stützte sich nur mit der Kraft ihrer Beine ab. Sie kaute, was es eben gab, und fing an diesem Morgen an, Schnaps zu trinken. Mit dreizehn. Weil es nämlich heute Schnaps gab. Ein Stück Brot und Schnaps. Esperanza fragte:

»Consuelo?«

Consuelo sah sie mit einer Träne im Auge an, vom Schnaps, nicht von ihrer Traurigkeit.

»Hast du mich jetzt verstanden?«

Consuelo kamen tausend andere Gedanken, sie senkte aber nur den Kopf und kaute angestrengt, um das Essen hinunterzukriegen, wo doch ihre Kehle wie zugeschnürt war.

»So ist es brav!«, sagte Esperanza.

So würde es sein. Von nun an. So würde es für Consuelo sein.

11

Die hungrigen Flöhe hatten Rogelio geweckt. Ein Durcheinander von Stimmen, laut und leise, nah und fern, ließ ihn hellwach werden. Sein ganzer Körper voller Flöhe. »La Verruga«, ihre Stellung, lag auf einer Anhöhe. Er also hier oben. Konnte sich nicht erklären, was vor sich ging. Immer noch das Stimmengewirr und dazwischen Flohbisse. Einzelne Worte lösten sich aus dem Tumult heraus, wurden lauter, bis sie an sein Ohr drangen:

»Ihr Roten, der Krieg ist vorbei! Trinken wir darauf! General Franco, El Caudillo, gibt einen aus!«

»Franco ist ein Mörder! Und ihr, seine Anhänger, auch!«, schrie Rogelio.

Bis zum nächsten Morgen hatte sich die Nachricht wie ein Lauffeuer an den republikanischen Frontlinien hier verbreitet. Der Krieg war vorbei. Niemand wusste, wohin es nun ging, aber die meisten ahnten, wohin es führen würde. Im fahlen Morgenlicht zog sich jeder auf seine Seite zurück. Sie befanden sich schon fast auf dem Boden von León, manche saßen, manche lagen da, benommen, desorientiert. Rogelio suchte das Feld ab. Sah sich die Männer an. Einen nach dem anderen, ein Gesicht nach dem anderen. Er bemühte sich, Kameraden zu erkennen. Und fand viele. Er schlug ihnen vor, die Seen hinter sich zu lassen. Die unteren zu dieser Jahreszeit zugefroren, eiskalt, zwischen Bergen; die oberen wunderbar, aber mörderisch. Zwischen Bergspitzen des Hungers, der Schutzlosigkeit, des Eises, der Einsamkeit, der Gefallenen, der Verlorenen, der Geschlagenen. Die Seen von Saliencia. Besser in die schroffen Berge von León zu gehen.

Die Männer sahen ihn entgeistert an. Einer brüllte:

»Du bist verrückt! Das ist völlig verrückt, Rogelio! Du hast wohl im Krieg deinen Verstand verloren.«

»Es ist gar nicht so verrückt«, erwiderte Rogelio.

»In den Bergen liegt Schnee, mindestens eineinhalb Meter hoch.«

»Na und?«

»Na und!? Sie werden uns jagen wie die Hasen.«

»Ich bin dabei, Rogelio. Gehen wir in die Berge!«, rief einer.

»Wir gehen auch mit, Rogelio«, sagten einige Männer, die etwas entfernt noch auf dem Boden saßen.

Rogelio versammelte mehr als neunzig Männer um sich. Sie wollten die Nacht vor Ort bleiben und ihr Bestes tun, noch andere von ihrem Vorhaben zu überzeugen und sich nicht davon abbringen zu lassen. Am nächsten Morgen überraschte sie ein Schneesturm. Fünf überlegten es sich anders. Jetzt waren sie knapp unter neunzig. Angesichts dieser ersten Schwierigkeit hätte früher vielleicht die Hälfte wegen des Sturms aufgegeben. Aber der Krieg hatte sie verändert. Nur fünf hatten es sich anders überlegt, und das bestärkte Rogelio darin, trotz des Unwetters aufzubrechen, obwohl er sich genauso fürchtete. Beinahe fand er es gut. Er wusste, wie schwierig es war, in Asturien die Berge zu überqueren. Und wenn das Wetter ungünstig war, war es für alle ungünstig, dachte er, auch für ihre Verfolger.

Die Neunzig und die weiße Stute Paloma, die Rogelio treu begleitete, stapften los.

Sie brauchten Disziplin, um ans Ziel zu kommen. Erst wurde jedoch lediglich geklagt, gefordert, genörgelt und nein gesagt. So beschlossen sie, aufgeregt flüsternd, die Wahl eines Anführers: Die meisten hoben ihre Hand für Rogelio.

Auch wenn sie riskierten zu erfrieren, lockerte sich ihre Anspannung bei dem Gedanken, frei zu sein und wenigstens vorläufig nicht verfolgt zu werden. Paloma schob auf der Suche nach etwas Gras mit dem Maul den Schnee zur Seite. Es begann wieder zu schneien: Die Furcht zu erfrieren wurde stärker. Aber sie gingen weiter. Eine halbe Stunde später heulte der Sturm lauter als am Vortag. Presste sich auf ihre Münder, bis sie kaum noch atmen konnten. Ihre Lippen aufgesprungen, die Kiefer frostklamm. Ihre Füße taub. Zeitweise spürten sie ihre Hände nicht mehr. Manche vergaßen hinter dem weißen Schleier, dass sie sich bewegen mussten, um zu überleben.

Von oben erspähten sie ein paar versprengte Hütten, ein kleines Dorf, noch auf asturischem Gebiet. Vorsichtig, weil vielleicht Francosoldaten in der Gegend waren, schritten sie darauf zu. Der Schneefall ließ nach Stunden nach. Die Männer, denen es am schlechtesten ging, klopften an eine Tür und fragten, ob sie sich kurz in der Küche wärmen dürften. Ob man es ihnen gestattete, und seien es nur fünf Sekunden für jeden Soldaten.

Zu ihrer Überraschung lud die Familie sie, die gelernt hatten, nicht einmal ihrem eigenen Schatten zu trauen, zu Maisbrot und warmer Milch ein. Die Kinder spielten, ohne die Fremden aus den Augen zu lassen. Sie lächelten sie an und fuhren mit ihrem Spiel fort. Schienen ihnen Vertrauen zu schenken. Offenbar fasziniert von ihren Gestalten, denen man die Schlachten ansah. Deren Spuren sie an Körper wie Kleidung beobachten und studieren konnten. Und von den Waffen. Die Kinder verstanden und ließen sie nicht aus den Augen. Der Vater und die Mutter wollten wissen, wie es ihnen ging, und sagten, es täte ihnen leid, dass sie sich nur um die Ärmsten kümmern konnten und nicht um alle.

Rogelio sah den Hausherrn nur groß an und brachte auf so gut wie keine seiner Fragen eine Antwort heraus. Überwältigt von der Güte, der Selbstverständlichkeit, mit der er und seine Familie ihnen halfen. Plötzlich vermisste er sein Dorf. Vermisste eine Vergangenheit ohne Widersprüche. Diese Familie begab sich sehenden Auges in Gefahr. Kämen jetzt Francos Soldaten, würden sie alle ermorden, das wusste Rogelio genau. Auch die Kinder.

»Das vergesse ich euch nie!«

»Gern geschehen. Nichts zu danken. Geht nur!«

»Ich kann die Stute nicht mitnehmen. Würdest du sie mir abkaufen?«, fragte Rogelio.

»Nichts lieber als das. Sie macht einen guten Eindruck. Aber ich habe kein Geld.«

»Geld würde mir auch nichts nützen.«

»Was willst du für sie haben?«

»Brot, etwas Speck. Für meine Kameraden.«

»Wenn das so ist, einverstanden. Wir haben gerade Brot für einen Monat gebacken.«

»Achte bitte gut auf sie! Es ist eine brave Stute. Du wirst ja sehen. Sie wird bald zur Familie gehören!«

Rogelio stand auf und wollte hinausgehen. Als er den Stuhl zurückschob, wurde ihm eine weitere Last bewusst: seine tiefe Erschöpfung. Der Hausherr bemerkte es, stellte sich ihm wie zufällig in den Weg und streckte ihm die Hand entgegen. Rogelio blickte auf die Hand und dann in das Gesicht des Mannes. Dieser sah ebenfalls hinunter, als wartete er begierig, dass Rogelio seine Hand ergreifen würde. Er schüttelte sie mit festem Druck.

Rogelio hatte sich schon lange nicht mehr so verabschiedet. Die letzten Male war er weggeschlichen oder in die Dunkelheit gerannt, wenn er einen Ort verließ. Er ließ die Kinder mit einem Ruf aus der Ferne wissen, dass die Stute Paloma hieß. Die Kinder liefen zu ihr, und Paloma erwartete sie seelenruhig.

Sie begannen den Aufstieg. Die Sonne kam durch, ganz sanft, doch weil so viel Schnee lag, mussten sie ins Tal ausweichen, wo sie dem Wasserlauf folgten. Nach einiger Zeit stießen sie auf eine riesige Kuhherde.

Sie wollten an der Herde vorbei weiter flussabwärts gehen. Aber manche Tiere gingen nicht zur Seite. Standen still und glotzten. Andere wieder wichen zu ihrem Ärger betont langsam aus. Es war, als wateten sie durch tiefes Wasser. Ein Soldat schrie auf. Eine Kuh hatte ihn getreten, sonst hätte er das vereinbarte Schweigen nicht gebrochen.

Auf einmal sahen sie ein Bauernmädchen und neben ihr einen Jungen, der die Augen aufriss. Sie war vielleicht zwanzig. Er höchstens zehn.

»Hallo Kinder …«, sagte Rogelio.

Die beiden reagierten verdutzt. Sie kauerten auf dem Boden und hatten die Männer nicht bemerkt.

»Hallo …«, sagte das Mädchen.

Rogelio fragte scheinheilig, ob hier des Öfteren Rote vorbeikämen. Das Mädchen bejahte, wusste aber gleich, dass auch sie Rote waren.

»Keine Angst, wir tun dir nichts! Wir brauchen nur ein paar Informationen.«

»Ich habe keine Angst.«

Rogelio stutzte. Sonst musste er die andere Seite immer davon überzeugen, dass sie nichts Übles vorhatten. Das Mädchen aber war sehr entgegenkommend, wagte sich sogar vor, indem sie sagte:

»Hört mal, darf ich euch etwas fragen?«

»Ja, frag nur!«, sagte Rogelio.

»Kennt ihr vielleicht einen Ricardo Alonso?«

Er wollte eigentlich sofort verneinen. Doch dann ließ er sich kurz Zeit. Tat aus Achtung vor der jungen Frau so, als müsste er überlegen.

»Nein, den kennen wir nicht.«

»Er ist mein Bruder. Ich möchte wissen, ob er noch am Leben ist.«

»Hm, verstehe. Es tut mir leid, er ist uns …«

Bevor Rogelio den Satz beenden und ihr sagen konnte, dass er ihnen nicht begegnet war, erschallten Rufe von einer Anhöhe. Die Rufe, die, vor denen sie sich gefürchtet hatten.

»Ergebt euch, ihr Roten!«

Die Neunzig erschauerten. Zu allem Überfluss verteilten sie sich auch noch ungeschickt im Gelände, weil sie mit jeder Faser ihres Körpers zitterten. Der Mann setzte fort: