Die Erschöpfung der Frauen - Franziska Schutzbach - E-Book
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Die Erschöpfung der Frauen E-Book

Franziska Schutzbach

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Beschreibung

»Die Soziologin Franziska Schutzbach hat ein eindrucksvolles Buch über die heimliche Grundlage unseres Kapitalismus geschrieben: die gewissenlose Ausbeutung weiblicher Ressourcen.«Süddeutsche Zeitung »Schutzbachs Buch könnte zeitgemäßer nicht sein, hat doch die Pandemie ein Licht auf die noch immer bestehende Ungleichheit geworfen.« Tagesspiegel Frauen haben heute angeblich so viele Entscheidungsmöglichkeiten wie nie zuvor. Und sind gleichzeitig so erschöpft wie nie zuvor. Denn nach wie vor wird von ihnen verlangt, permanent verfügbar zu sein. Die Geschlechter-Forscherin Franziska Schutzbach schreibt in ihrer feministischen Streitschrift über ein System, das von Frauen alles erwartet und nichts zurückgibt – und darüber, wie Frauen sich dagegen auflehnen und alles verändern: ihr Leben und die Gesellschaft.   - Der weibliche Kampf gegen emotionale und sexuelle Verfügbarkeitserwartungen - Eine Abrechnung mit dem gesellschaftlichen Bild der ständig verfügbaren Frau - Intersektionale feministische Perspektiven auf die strukturelle Diskriminierung von Frauen und Care-Arbeit Dieses gesellschaftskritische Buch zeigt, dass die Verfügbarkeits-Ansprüche für unterschiedliche Frauen Unterschiedliches bedeuten: Ob als Mütter oder als Mädchen, ob als Schwarze oder weiße Frauen, als Migrantin, trans- oder non-binäre Person, als dicke oder lesbische Frau, ob im Dienstleistungssektor, in Pflegeberufen oder in der digitalen (Selbst)vermarktung, ob als Politikerin oder Künstlerin – die Verausgabung hat unterschiedliche Ausmaße und unterschiedliche Ursachen.   Franziska Schutzbach stellt heraus, welch vielfältigen Widerstand Frauen gegen die Ausbeutung ihrer Energie, ihrer Psyche und ihrer Körper leisten. Ein Widerstand, der zu einer treibenden Kraft für neue Arbeits- und Lebensweisen wird und die Welt verändert.   Franziska Schutzbachs Bestseller ist ein kluger, fundierter und aufrüttelnder Beitrag zu einer anhaltend aktuellen Debatte.

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Franziska Schutzbach

Die Erschöpfung der Frauen

Wider die weibliche Verfügbarkeit

Knaur eBooks

Über dieses Buch

In unserer Gesellschaft wird Weiblichkeit gleichgesetzt mit Fürsorglichkeit. Frauen sind zuständig für emotionale Zuwendung, für Harmonie, Trost und Beziehungsarbeit – für Tätigkeiten also, die unsichtbar sind und kaum Anerkennung oder Bezahlung erfahren. Sie »schulden« anderen – der Familie, Männern, der Öffentlichkeit, dem Arbeitsplatz – ihre Aufmerksamkeit, ihre Liebe, ihre Zuwendung, ihre Attraktivität, ihre Zeit.

Es sind diese allgegenwärtigen Ansprüche, die Frauen in die Erschöpfung treiben. Denn – deklariert als »weibliche Natur« – ist die geleistete Sorgearbeit meist wenig anerkannt und bleibt unsichtbar. Die Soziologin und Genderforscherin Franziska Schutzbach beleuchtet, was die Verfügbarkeitsansprüche für Frauen bedeuten, und zeigt:

Ob als Mütter oder als Mädchen, ob als Schwarze oder weiße Frauen, als Migrantin, trans- oder non-binäre Person, als dicke oder lesbische Frau, ob im Pflegeberuf oder als Unternehmerin – die Verausgabung hat unterschiedliche Ausmaße und unterschiedliche Ursachen.

Dieses Buch wendet sich gegen ein misogynes System, das von Frauen alles erwartet und nichts zurückgibt. Und es erzählt davon, welch vielfältigen Widerstand Frauen gegen die Ausbeutung ihrer Energie, ihrer Psyche und ihrer Körper leisten. Ein Widerstand, der zu einer treibenden Kraft für neue Arbeits- und Lebensweisen wird und die Welt verändert.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Vorbemerkungen

Einleitung

1  Sexuelle Verfügbarkeit

Kampf um den öffentlichen Raum

Die Objektivierung von Frauen of Color und racial battle fatigue

Wenn Frauen sich verstellen müssen

Vergewaltigungsmythen: Der Reiz des Opfers ist schuld an der Gewalt des Täters

Zweifel an der eigenen Wahrnehmung

Verlegenheitssex

Einen Mann überzeugen, Frauen nicht zu belästigen

Der öffentliche Raum: Ort der Erschöpfung und des Widerstands

2  Die Ursachen des schlechten Selbstvertrauens

Ein in mir steckendes Gefühl der Minderwertigkeit

Wie Frauen das Menschsein abgesprochen wurde

Überlebensstrategien in einer Gesellschaft der Entwertung

Frauen beziehungsweise FINTA verändern die Normen

Die Liebe der Männer zueinander und die Spaltung der Frauen untereinander

Frauenbeziehungen stärken – Subjekt werden

3  Warum Emanzipation so viel Kraft braucht

Wenn Frauen ihre Verfügbarkeit entziehen

Wo Frauenhass am weitesten verbreitet ist

Eine kurze Geschichte der Männlichkeit

Die Angst vor der Entkernung des Mannes

4  Körperscham

Fatshaming und Gewichtsstigmatisierung

Body Monitoring und die lebenslange Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper

Rebellion und Verweigerung: Wider die körperliche Verfügbarkeit

Körperfixierung und Suizidalität

5  Mutterschaft

Elternsein bedeutet radikale Pausenlosigkeit

Mütter werden gleichzeitig idealisiert und abgewertet

Die Kleinfamilie ist zu klein für das »Projekt Kind«

Das Dogma des glücklichen Kindes

Scham und Selbstzweifel

Lesbische Mutterschaft, lesbische Erschöpfung

Mutterschaft ist keine natürliche Berufung, und Schwangere sind nicht zwangsläufig Frauen

6  Emotionale Verausgabung im Beruf

Verausgabung und Geschlecht im Beruf

Die spezifische Erschöpfung von migrantischen Careworkerinnen

Ökonomisierung von Emotionen

Mantra des positiven Denkens: Optimiere dich selbst

Wider die Doktrin der guten Laune

7  Mental Load in Beziehungen und Familie

Warum Männer sich im Haushalt nicht zuständig fühlen

Wie heterosexuelle Familien Arbeit (nicht) teilen

Für eine neue Zeitpolitik

Ausblick

Dank

Für die Frauen meiner Familie

Aennie

Annemarie

Christel

Christina

Geli

Hedda

Leah

Linda

Liv

Myriam

Norga

Päivi

Roswitha

Ruth

Selma

Solveig

Vero

Vreni

One thing that does not exhaust itself is our fierce determination to confront this system of separation and isolation that feeds on our energy – Renewal is our health – Sisterhood our collective power – We are a collage of intricate knowing Our ability is vast

 

Eine Sache, die sich nicht erschöpft, ist unsere wilde Entschlossenheit, diesem System der Trennung und Isolation entgegenzutreten, das sich von unserer Energie nährt – Erneuerung ist unsere Gesundheit – Schwesternschaft unsere kollektive Kraft – Wir sind eine Collage aus komplexem Wissen Unsere Fähigkeit ist unermesslich

(Fork Burke)1

Vorbemerkungen

Das Buch ist in sieben Kapitel gegliedert. Ich habe mich bemüht, sie als eigenständige Essays zu verfassen.

 

Zudem möchte ich darauf hinweisen, dass ich teilweise u.a. sexistische, rassistische Aussagen/Quellen zitiere. Auch wenn ich versuche, sparsam mit solchen O-Tönen umzugehen, ist es aus meiner Sicht manchmal notwendig, die Drastik mancher Einstellungen direkt zu zeigen und für sich sprechen zu lassen.

 

Ich verwende den Begriff »Frauen« nicht als eine feste homogene Kategorie, denn es gibt nicht die Frauen. Der Titel des Buches ist selbstverständlich eine polemische Verallgemeinerung. »Frau« und »weiblich« verstehe ich als historische, in Verbindung mit sozialen, kulturellen und biologischen Dimensionen entstandene Zuschreibungen und Konstrukte und nicht als feststehende Identität oder »Natur«. Aus diesem Grund müssten Begriffe wie »Frau«, »Mann«, »weiblich« usw. eigentlich in Anführungszeichen gesetzt werden.

Auch deshalb, weil Geschlechtsidentitäten weitaus vielfältiger sind. Nicht alle Menschen verstehen sich ausschließlich und immer als Frau oder als Mann. Nicht alle, die weiblich sozialisiert und zugeordnet wurden, identifizieren sich als »Frau«. Umgekehrt sind viele Menschen Frauen, die bei der Geburt nicht so zugeordnet wurden. Ich will mit »Frauen« nicht definieren, wie, was und wer Frauen sind, sondern ich verwende diese Kategorie, um zu zeigen, wie »Frausein« in unserer Gesellschaft normativ gefüllt und definiert wurde und wird. Und wie auf dieser Grundlage Menschen, die dieser Kategorie zugeordnet werden und sich mit ihr identifizieren, entwertet, diskriminiert, ausgebeutet werden und ihnen Gewalt zufügt wird.

Natürlich reproduziere ich, wenn ich die Kategorien »Frauen« beziehungsweise »weiblich« benutze, ein Stück weit die binäre patriarchale Einteilung. Es ist ein Dilemma. Wenn wir Kategorien kritisieren und dekonstruieren, ihre Funktionsweisen analysieren und politisieren wollen, müssen wir gleichzeitig darauf rekurrieren. Dabei verwende ich »Frauen« durchaus auch kritisch-affirmativ, das heißt strategisch und als politischen (nicht ontologischen) Einsatz, um geteilte Erfahrungen sichtbar zu machen und ebenso die politischen Strategien, die aus diesen Erfahrungen erwachsen sind und erwachsen können.

Das Label »Frau« ist schwierig, weil es im Patriarchat entwickelt wurde, gleichzeitig wurde und wird es genutzt, um Widerstand und Kämpfe zu organisieren. Dabei ging und geht es in diesem Widerstand immer auch darum, die Bedeutung »Frau« nicht erneut mit festen Definitionen auszufüllen, sondern auch umzudeuten, zu erweitern, neu zu füllen, zu hinterfragen. Es gibt nicht die eine richtige Politik. Sondern eine lang anhaltende Diskussion darüber, wie wir »Frau« jetzt und in Zukunft benutzen und politisieren. Wir müssen das derzeitige Spannungsfeld aushalten zwischen der fortdauernden Notwendigkeit, über »Frauen« zu sprechen, und der Skepsis gegenüber normierender Zweigeschlechtlichkeit.

Einleitung

Ich erinnere mich, wie ich vor vielen Jahren, ich glaube, es war 2008, einmal die Frauen in meiner Familie und in meinem Freundeskreis fragte: »Kennt ihr dieses Gefühl, es allen recht machen zu wollen? Woher kommt das?« Ich erhielt viele Antworten, per Mail, in Gesprächen. Ich wollte einen Text daraus machen. Aber ich war: zu erschöpft.

 

Kürzlich habe ich in die Texte hineingeschaut, die mir einige Frauen damals zuschickten. Eine Frau berichtet, sie habe als Kind mit ihrer Freundin ein »Fehler-Tagebuch« geführt. Dort schrieben die beiden penibel auf, was sie aus ihrer Sicht falsch machten. Eine andere schreibt: »Ich denke, dass ich in den vielen Jahren meiner Mutterschaft und Ehe versucht habe, einem Ideal nahe zu kommen.« In Bezug auf ihre Migrationsgeschichte erzählte eine weitere Frau: »Das Leben in einem anderen Land forderte mich enorm, und ich hatte stets das Gefühl, es allen recht machen zu wollen, denn nur dann würde ich akzeptiert und geliebt sein.« Und weiter: »Es gab viele Probleme, Schwierigkeiten oder Extremherausforderungen – ich suchte die Fehler immer bei mir.« Eine weitere Stimme aus meiner Sammlung sagt: »Ich hatte durch alle Widrigkeiten hindurch immer das Gefühl, die Starke sein zu müssen. Dieser Druck, stark zu sein, hing wie eine dunkle Wolke am Himmel. Für mich war klar, dass ich nicht geliebt würde, wenn ich nicht stark wäre.« Und eine weitere Frau merkt an: »Frauen hinterfragen, zweifeln oder klagen sich an, suchen die Schuld bei sich.«

Ich habe das Projekt damals nicht umgesetzt und keinen Text geschrieben. Ich war eine junge Doktorandin mit zwei kleinen Kindern. Und eben: zu erschöpft.

 

Dieses Buch handelt von der Erschöpfung der Frauen. Und von der Frage, woher sie kommt, warum sie seit jeher ein selbstverständlicher Aspekt weiblicher Lebensrealität ist – und was man ihr entgegensetzen kann.

Frauen können heute berufstätig sein, Karriere machen, in die Politik gehen, sie können Sex mit verschiedenen Partner: innen haben und ein emanzipiertes Leben führen. Das bedeutet aber auch: Von ihnen wird nun Perfektion in noch mehr Bereichen erwartet. Der Druck, es allen recht machen zu müssen, und das Gefühl, anderen etwas schuldig zu sein, haben nicht abgenommen. Im Gegenteil.

Mädchen und Frauen wird heute die Fähigkeit attestiert, ihr Leben aktiv in die Hand zu nehmen und sich von Problemen nicht abschrecken zu lassen – es wird geradezu von ihnen erwartet. Das Mädchen- und Frauenbild von heute ist stark, sexy, selbstbewusst, schlau, schlank, sexuell aktiv und aufgeklärt, gut gebildet, berufsorientiert, cool, selbstständig, aber auch lieb und sozial.2

 

Eine junge Frau kann alles, soll aber auch alles. Die Politologin Katharina Debus spricht von einer Allzuständigkeit der Frauen. Denn neben den emanzipierten Rollenbildern sind auch die traditionellen Erwartungen unhinterfragt wirksam: Mädchen sollen ihre kleinen Geschwister hüten, sie sollen im Haushalt helfen, und auch heute wird ihnen permanent vermittelt, dass sie dereinst Mütter sein werden. Von erwachsenen Frauen wiederum wird erwartet, dass sie Karriere machen, aber dabei nicht »vermännlichen« und nicht etwa ihre Familie oder Beziehung hintanstellen.

Frauen sind auch heute mit anderen Anspruchshaltungen konfrontiert als Männer. Sie müssen perfekter im Job sein, immer toll aussehen, und wenn ein Kind Probleme hat, werden diese auf die Mutter zurückgeführt. Frauen werden nicht einfach als Menschen betrachtet, von ihnen wird nach wie vor erwartet, dass sie gebende Menschensind3. Sie schulden anderen unterschiedliche Arten von Unterstützung, auch solche, die über die Familien- und Hausarbeit hinausreicht: Bewunderung, Liebe, Wohlwollen, Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Mitgefühl. Oder Sex.

 

Kein Mensch kann all diesen Erwartungen gleichzeitig entsprechen, und ihre Widersprüchlichkeit führt zu Überforderung, Erschöpfung und einer dauernden Angst vor dem Scheitern. Der Kulturwissenschaftlerin Angela McRobbie zufolge hat sich die Emanzipation ein Stück weit in eine Fratze verwandelt: Was wir heute unter Frauenemanzipation verstehen – ökonomisch unabhängig, erfolgreich, leistungsstark, selbstbestimmt, individuell –, ist nicht nur für die meisten Frauen kaum zu erreichen, es ist vor allem nicht kompatibel mit dem, was sich trotz allem nicht verändert: dass sie ständig verfügbar sein sollen für die Bedürfnisse anderer, für emotionale Arbeit, Hausarbeit, Pflege, Beziehung; für die Herstellung von Harmonie, Gemütlichkeit und Glück, dafür, dass andere sich von der harten Welt erholen können.

 

Dieses Buch ist aus einem langwierigen Bestreben heraus entstanden, feministisches intersektionales Wissen und Forschung in die Gesellschaft hineinzutragen. Auch älteres feministisches Wissen, mit dem die Bibliotheken und Archive gefüllt sind, das aber zu »seiner Zeit« kaum den Weg in eine breite Öffentlichkeit fand. Denn eines ist klar: Wir stehen auf den Schultern von Ries:innen. Was heutige Frauen schaffen und leisten, haben sie auch vorherigen Generationen zu verdanken, die bis zur Erschöpfung und oft unter prekären Bedingungen geforscht, gekämpft und nicht selten ihr Leben, ihre Freundschaften, Beziehungen und ihre Lebensfreude aufs Spiel gesetzt haben.

 

Wir sollten das nicht vergessen. Wir sollten nicht vergessen, dass es eine Geschichte gibt und dass ein maßgeblicher Teil der Erschöpfung dadurch entsteht, dass diese Geschichte immer wieder vergessen und marginalisiert wird und neue Generationen von Frauen beziehungsweise FINTA (Frauen, inter, non-binäre, trans und agender Menschen)4 deshalb immer wieder von vorne beginnen. Wenn feministisches Wissen nicht zum Kanon gehört, müssen die Frauen jeder Generation immer wieder mühselig und auf sich allein gestellt Wissen suchen, um ihre Situation und Erfahrungen zu verstehen, um sie politisch einzuordnen und sich zu ermächtigen, für ihre Belange einzustehen.

 

Dieses Buch analysiert die Erschöpfung der Frauen als eine geteilte und systematische Geschichte. Und es macht – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – den Reichtum feministischer intersektionaler Ideen und Kritiken sichtbar. Damit wir nicht immer wieder auf erschöpfende Weise von vorne beginnen. Denn es wurden vielfältige Werkzeuge zur Einschätzung der Lage der Frauen und anderer minorisierter Menschen entwickelt. Trotzdem ist die Logik der individualisierenden Ordnung, dass Menschen sich in ihren Situationen ständig als vereinzelt wahrnehmen: »Ich habe halt dieses Leben, das ist per Zufall so entstanden«, »Ich habe einfach falsche Entscheidungen getroffen«.

 

Die Erschöpfung, die viele spüren, ist aber nicht das Unvermögen von Einzelnen. Zu erkennen, dass es eine politische, ökonomische und kulturelle Systematik gibt, war schon immer die Grundlage, auf der Frauen sich ermächtigt haben, Widerstand zu leisten und gegen ihre Verfügbarkeit aufzubegehren, für ihre Emanzipation zu kämpfen.

 

Dieses Buch handelt von der Erschöpfung der Frauen. Nicht der Frauen, sondern von der Erschöpfung unterschiedlicher Frauen. Denn ob als Mütter oder als Mädchen, ob als Schwarze oder weiße Frauen, als Migrantin, trans Frau, als dicke oder lesbische Frau, ob im Pflegeberuf oder als Unternehmerin – Verausgabung und Verfügbarkeitsansprüche haben unterschiedliche Ausmaße und unterschiedliche Ursachen. Und auch das Aufbegehren gegen die verschiedenen Erfahrungen der Erschöpfung ist unterschiedlich.

 

Jedes Buch ist zwangsläufig eine Einschränkung. Die Texte in diesem Buch haben keinen Anspruch, dem Thema »objektiv« und in all seinen Facetten gerecht zu werden, sondern sie basieren auf meinen eigenen persönlichen Verortungen, Interessen, Lektüren, und sie sind beeinflusst von konkreten Menschen, mit denen ich arbeite, befreundet bin, denen ich in aktivistischen Zusammenhängen oder im Alltag begegne und die mir von ihren Erfahrungen erzählt haben. Als weiße cis Frau, die in der Schweiz lebt, beziehe ich mich oft auf Kontexte, an denen ich selber politisch und persönlich teilhabe. Gleichzeitig versuche ich, die Perspektive auf unterschiedliche Erfahrungen der Erschöpfung zu lenken, auch auf solche, von denen ich selbst nicht betroffen bin.

Dieses Buch ist kein Ratgeber und kein psychologisches Buch. Es geht nicht um Burn-out oder Depression im klinischen Sinne. Sondern um das Phänomen Erschöpfung als ein gesellschaftlich weitverbreitetes Lebensgefühl (obwohl die Grenze zwischen klinischen Formen und einer alltäglichen Erschöpfung oft fließend ist). Es geht mir um das Gefühl einer pausenlosen Beanspruchung, das insbesondere weiblich sozialisierte Menschen aufgrund von bestimmten Rollenzuschreibungen, Erwartungen und Machtstrukturen gut kennen.

 

Erschöpfung ist kein individuelles Schicksal, sondern Ausdruck eines kollektiven Leidens, das auch gesellschaftliche und nicht zuletzt ökonomische Ursachen hat. Überforderung, Stress, Hoffnungslosigkeit und Niedergeschlagenheit sind keine »abnormalen« oder ungewöhnlichen Zustände, sondern sie sind, wie ich mit diesem Buch zeigen möchte, ein nachvollziehbarer Effekt der vorherrschenden Verhältnisse.5

 

Im Zuge der rasenden Beschleunigung sozialer und ökonomischer Prozesse hat sowohl in der Medizin als auch in der Gesellschaft insgesamt eine Entwertung von negativen Emotionen stattgefunden. Der Psychologin Anke Abraham6 zufolge wurde das Innerste zunehmend als etwas betrachtet, das uns zum Nachteil gereichen könnte, wenn es sichtbar würde, mit dem wir keinen guten Eindruck machen – und das wir aus diesem Grund versteckt halten müssen. Erwartet wird von Menschen eine bewusste Kontrolle des Körpers, der Stimmungen und Gefühle in allen alltäglichen Verrichtungen, und zwar so, dass emotionale und psychische Momente – wie etwa Niedergeschlagenheit, Berührt-Sein, Traurigkeit oder Erschöpfung – nicht nach außen dringen. Wollen wir erfolgreich sein, ist Abraham zufolge eine lückenlose Dauerüberwachung der eigenen Person erforderlich und eine Unterdrückung von Stimmungen und Gefühlen, die von anderen als unpassend erlebt werden könnten. Permanent sollen wir auf unsere Erscheinung achten, uns zivilisiert und diszipliniert verhalten. Wir dürfen nicht negativ auffallen, nicht anderen mit unseren Gefühlen auf die Nerven gehen, uns nicht angreifbar machen oder angegriffen zeigen. Deshalb schützen wir unser Innerstes, damit niemand es an die Oberfläche zerren und lächerlich machen kann.

 

Gleichzeitig und als scheinbar gegenläufige Bewegung wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine Nutzung von emotionaler Kompetenz, von sogenannten Soft Skills populär. Die Botschaft war: Emotionen – ja gern, aber nur bestimmte und nicht zu viele und nur, wenn es der Produktivität dient.7 Anders gesagt werden wir dazu angehalten, unsere Gefühle, Bedürfnisse und damit unsere Körper zu kontrollieren und zu disziplinieren (Fitness, gesunde Ernährung usw.), zugleich sollen wir Gefühle produktiv einsetzen in Unternehmen oder in endlosen Selbstinszenierungen in den sozialen Medien. Verlangt wird etwa, dass wir uns »authentisch« zeigen und ganz uns selbst einbringen. Dabei wird aber keinesfalls erwartet, dass wir tatsächlich unsere ureigenen Gefühle offenbaren, sondern vielmehr, dass wir diejenigen Seiten von uns »ganz echt« und aus vollem Herzen einbringen, die zum Beispiel im Dienste der Kreativität sind. Bis zu einem gewissen Grad dürfen wir zu diesem Zweck auch Gefühle der Unsicherheit und des Scheiterns einbringen, solange auch aus diesen am Ende ein Erfolgsnarrativ gedreht wird (Krankheit als Weg, ich bin unsicher in meinem Körper, aber habe gelernt, dazu zu stehen, yeah!).

 

Anke Abraham zeigt, dass Gefühle und Verhaltensweisen wie Schüchternheit, Ängstlichkeit, Niedergeschlagenheit oder lang anhaltende Trauer sozial stigmatisiert werden und immer stärker in Gefahr geraten, als Phobien oder Depressionen pathologisiert zu werden (auch mit der prekären Folge, dass die tatsächlich Hilfsbedürftigen nicht mehr gesehen und angemessen begleitet werden).

Es geht mir mit diesem Buch um einen Diskurs, der Emotionen wie Erschöpfung und Verletzlichkeit nicht pathologisiert und nicht individualisiert, sondern wertschätzt. Der ihnen eine Legitimität gibt und sie ernst nimmt, anstatt sie einzudämmen. Die relevante Frage dabei ist nicht, welche individuellen Maßnahmen wir gegen die Erschöpfung ergreifen können, sondern vielmehr, wie wir an der Anerkennung dieser Erfahrung arbeiten können. Und wie dies zu einem Ausgangspunkt für politisches Handeln werden kann.

 

Mein Anliegen ist es, die Gefühle mit einer kritischen Analyse der Gesellschaft zu verbinden (viele andere haben das bereits getan, wie etwas Ann Cvetkovich, Audre Lorde, Sara Ahmed, Iris von Roten und andere, deren Schriften mich geprägt haben). Dabei sollen Frauen nicht mit neuen Work-Life-Balance-Tipps unter Druck gesetzt werden. Denn für die in diesem Buch beschriebenen Ursachen der Erschöpfungen reichen individuelle Strategien nicht aus. Es gibt kein Zwölf-Stufen-Programm und keine neue Diät gegen das ausbeuterische System, das der weiblichen Erschöpfung zugrunde liegt. Dies ist kein weiteres Buch, das Frauen nahelegt, was sie eigentlich tun sollten. Vielleicht finden es einige hilfreich, immer wieder gesagt zu bekommen, was sie tun müssten, und manche Vereinfachungen für den Alltag habe auch ich schon beherzigt. Aber die Erschöpfung geht davon nicht weg. Wir spüren sie, ob wir nun fünf Stunden oder zwölf Stunden schlafen. Ob wir unsere Atemübungen machen oder nicht.

 

Dies ist kein weiteres Buch, das den ohnehin riesigen Perfektionsdruck, der auf Frauen lastet, noch befeuert. Das Dogma der Perfektion ist erschöpfend. Dieses Buch ist vielmehr ein Aufruf zur Imperfektion. Denn es ist nicht das Bestreben, alles richtig zu machen, das Veränderung ermöglicht. Menschen sind fehlerhaft, und nicht selten sind es genau ihre »fehlerhaften« Eigenschaften, die »speziellen«, »schwierigen« und »problematischen« Seiten – und nicht die angepassten, umgänglichen und netten –, die Frauen in der Geschichte dazu befähigt haben, sich zu wehren. Wut, Empörung, Selbstzweifel, Zerrissenheit und Hadern – und nicht ausgeglichene Gefühlslagen – sind der Ausgangspunkt für Aufbegehren und Veränderung.

 

Es ist nicht unsere »falsche« Art zu leben, die uns in die Erschöpfung treibt. Ich bin der Überzeugung, dass wir die Erfahrung von Erschöpfung nur bedingt individuell wegoptimieren können. Eine solche Überzeugung bedeutet nicht, individuelle Gefühle nicht ernst zu nehmen. Im Gegenteil. Vielmehr sollten wir sie präzise durcharbeiten und zu einem gesellschaftlichen, politischen und feministischen Thema machen. Meine Hoffnung ist, dass daraus vielleicht eine neue Kraft entsteht. Eine Kraft, die nicht auf die einsamen Versuche der Frauen reduziert ist, Dinge noch perfekter zu machen. Dieses Buch will nicht die Frauen verändern, sondern die Gesellschaft. Dazu gehört auch zu zeigen, dass Frauen schon in der Vergangenheit gegen ihre Verfügbarkeit und Erschöpfung rebellierten, dass sie Widerstand leisteten gegen die Ausbeutung ihrer Energie, ihrer Psyche und ihrer Körper.

 

Erschöpfung bedeutet nicht selten Entfremdung. Erschöpft zu sein heißt, sich selbst fern zu sein, keinen Bezug mehr zu haben zu Dingen, zu Menschen, zur Welt und zu sich selbst. Deshalb beinhaltet die Auseinandersetzung mit Erschöpfung aus meiner Sicht auch, der Sehnsucht nach Verbundenheit, Freude und Erfüllung Raum zu geben. Ich versuche in diesen Texten, die emotionale Ebene mit der Ebene des Politischen zusammenzubringen. Aber es geht dabei nicht einfach um die Formulierung der richtigen politischen Programme und Forderungen, sondern darum, dass wir das Politische tatsächlich mit unserem Inneren verbinden, dass wir dieses »Innere« nicht verkümmern lassen. Es geht darum, unsere Sorge um die Welt, um uns selbst und um andere zu verteidigen. Erschöpfung anzugreifen bedeutet, unser Leben zu verteidigen, unsere Liebe, unsere Körper. Unsere Zeit und unsere Freude. Unsere Beziehungen und Freundschaften. Besonders die Beziehungen unter Frauen. Beziehungsweise FINTA.

 

Wenn Frauen einander als Subjekte ernst nehmen, verändert dies nicht nur ihr eigenes Leben, sondern das ganze System. Es hat eine unvorstellbare Sprengkraft, wenn Frauen ihre Orientierung an den etablierten männlichen Maßstäben durchbrechen, wenn sie den vorherrschenden Strukturen die Autorität entziehen und sich aktiv in ein Verhältnis zu anderen Frauen und anderen minorisierten Menschen setzen. Und zwar durchaus auch kritisch und konfliktreich. Es geht nicht darum, eine solidarische Einheit zu bilden, nicht darum, neue Kategorien oder fixe Gruppen zu bilden (»die Frauen« gibt es nicht, diese kollektivierende Fehlannahme ist gerade eine Folge patriarchaler Geschichtsschreibung).

 

Es geht darum zu versuchen, vielstimmige Bezugs- und dadurch neue Wertesysteme zu schaffen. Eine mögliche Entgegnung auf Erschöpfung ist Beziehung und nicht Vereinzelung. Die Künstlerin und Autorin Bini Adamczak schreibt, dass die bisherigen Befreiungsbewegungen sich zunächst auf Gleichheit und Freiheit bezogen haben. Die »Brüderlichkeit« – oder eben Solidarität und Beziehungen sind bisher zu kurz gekommen. Aus diesem Grund ist auch die Sorge(arbeit) in den männlich dominierten Revolutionsangeboten vernachlässigt worden.8

 

Eine feministische Arbeit gegen die Erschöpfung ist eine Arbeit an Beziehungen. Wenn Menschen ihre Sehnsucht nach Bezogenheit und ihre Bedürftigkeit nach Umsorgung ernst nehmen, wenn sie zueinander in Beziehung stehen, können sie sich einander verletzlich zeigen – und auch erschöpft. Wenn Menschen in Beziehung stehen, können sie ohne Angst verschieden sein.9

 

Franziska Schutzbach

Basel, Juni 2021

1Sexuelle Verfügbarkeit

Der öffentliche Raum wird für Frauen zur täglichen Strapaze und Quelle der Erschöpfung. Belästigung und Catcalling lenken ihre Aufmerksamkeit weg von sich selbst und versetzen sie nicht selten in eine permanente Habachtposition. Frauen müssen ständig Situationen richtig einschätzen und immer wieder abwägen, ob eine Situation »nur« unangenehm oder schon gefährlich ist. Gleichzeitig nutzen Frauen ebendiesen Raum, um sich politisch gegen sexuelle Verfügbarkeitsansprüche zu wehren. Gerade die Anonymität der Großstadt ist zugleich ein Ort der Freiheit, denn die Offenheit und Vielfalt städtischer Lebensformen lockert die familiären Zwänge und die patriarchale Beanspruchung.

 

»Now, I spend most of my time in my room naked,

alone and in my element.

I ignore phone calls, text messages and emails

that require me to be everywhere and do everything.

I take time to be here, present with myself, my thoughts and my feelings.«

(Taicha Morin)10

 

»Ich möchte in der Lage sein, auf freiem Feld zu schlafen,

nach Westen zu reisen, nachts frei zu gehen …«

(Sylvia Plath)

Kampf um den öffentlichen Raum

Im Jahr 1903 besuchte Leoti Blaker, eine junge Touristin aus Kansas, New York. Als sie in einer Postkutsche durch die Stadt fuhr, saß neben ihr ein Mann. Dieser ließ sich vom wackelnden Wagen gegen die junge Frau drängen und legte bald auch seinen Arm um ihre Taille. Blaker zückte daraufhin ihre Hutnadel und stach auf den Aggressor ein. Der Mann floh. In der folgenden Zeit berichteten Zeitungen über ähnliche Vorfälle im ganzen Land, bei denen Frauen sich gegen öffentliche Belästigungen mit Hutnadeln zur Wehr setzten, und bald schon wurde hitzig darüber debattiert. Während Frauenrechtlerinnen für das Tragen von Hutnadeln zur Selbstverteidigung eintraten, berichteten verschiedene Zeitungen von der »Hatpin Perril« (»Die Hutnadelgefahr«)und erklärten den öffentlichen Raum zur Gefahrenzone für Männer.

Diese Ereignisse fielen in eine Zeit, in der Frauen in den urbanen Zentren sich zunehmend das Recht erkämpften, sich frei und vor allem alleine in der Öffentlichkeit zu bewegen und sich nicht mehr auf den ihnen zugewiesenen privaten Raum zu beschränken. In der europäischen und US-amerikanischen bürgerlichen Gesellschaftsordnung wurde die Öffentlichkeit historisch als ein männlicher Raum definiert, während der private Raum weiblich konnotiert war. Das Ideal vom trauten Heim unter der Obhut der bürgerlichen Hausfrau galt als ein Gegenmodell zu den vermeintlichen urbanen Gefahren, dem »Schmutz« und der »Sittenlosigkeit« der modernen Großstadt. Frauen, die ihr Leben auf die private Sphäre beschränkten, galten dementsprechend als ehrenwert und gut, während Frauen, die sich ohne männliche Begleitung oder Begleitung von Familienangehörigen im öffentlichen Raum aufhielten, als anrüchig, unkontrollierbar oder als »leichte Mädchen« betrachtet wurden.

Solche Vorstellungen waren lange Zeit vorherrschend und installierten und verfestigten Klassengrenzen, rassistische und gar homosexuellenfeindliche Zuschreibungen – die gute Hausfrau war als eine bürgerliche, heterosexuelle, weiße beziehungsweise europäische Figur konzipiert. Während der europäische beziehungsweise weiße Mann als Flaneur auf der Suche nach Erlebnissen und Kontakten durch die Stadt streifen durfte, war eine Frau allein in der Großstadt eine »Versucherin, Prostituierte, gefallene Frau, eine Lesbierin«, wie die Kulturwissenschaftlerin Elizabeth Wilson schreibt.11 Oder aber sie wurde als »gefährdete Unschuld« betrachtet, die des Schutzes bedurfte.

Die zunehmende Teilnahme der Frauen am öffentlichen Leben war für viele Männer eine Provokation, beim Anblick von »unbeaufsichtigten« Frauen verhielten sie sich wie sogenannte Mashers – so wurden übergriffige Männer damals bezeichnet. Die Freiheit der Frauen im öffentlichen Raum wurde durch regelmäßige Übergriffe immer wieder bedroht und eingeschränkt. Doch anstatt diese Übergriffe ins Zentrum der Debatte zu rücken und einzudämmen, wurde um 1909 die Hutnadel zur internationalen Gefahr stilisiert, auch Polizeichefs in den europäischen Metropolen wie Hamburg, Paris und London versuchten, die Länge von Hutnadeln zu regulieren. Nan Davis, eine Frauenbeauftragte, die während der Verhandlungen zum Hutnadelverbot in Chicago einige Frauenklubs vertrat, richtete sich mit kämpferischen Worten an die Politiker: »No man has a right to tell me how I shall dress and what I shall wear. / Kein Mann hat das Recht, mir vorzuschreiben, wie ich mich kleide und was ich trage.« Weiter forderte sie: »If the men of Chicago want to take the hatpins away from us, let them make the streets safe. / Wenn die Männer von Chicago uns die Hutnadeln wegnehmen möchten, müssen sie erst die Straßen sicher für uns machen.«

Ihr Appell wurde nicht gehört. In Chicago und vielen anderen Städten verabschiedete man Gesetze gegen Hutnadeln, während kaum etwas gegen die Belästigungen und Übergriffe unternommen wurde. An manchen Orten kam es deshalb zu Protesten, in Sydney wurden sechzig Frauen inhaftiert, weil sie sich weigerten, Strafe dafür zu zahlen, dass sie Hutnadeln getragen hatten. Auch in London gab es Proteste gegen das Hutnadelverbot.

Trotz der mangelnden Unterstützung für die Frauen und ihren Kampf um den öffentlichen Raum veränderte sich das öffentliche Leben. Die Hutnadelkämpferinnen waren Vorreiterinnen für die Mobilität der Frauen, die trotz schwieriger Umstände im Laufe des 20. Jahrhunderts stetig zunahm. Dass Frauen allein reisten, Sport trieben, in Bars, Universitäten, Schwimmbädern oder anderen öffentlichen Orten unterwegs waren, wurde immer selbstverständlicher. Doch das änderte nichts an der Gefahr durch Übergriffe. Bis heute gibt es kaum eine Frau, die in der Öffentlichkeit nicht verbal oder physisch belästigt oder angestarrt worden wäre. Manche Männer haben offenbar auch heute den Eindruck, der öffentliche Raum gehöre grundsätzlich ihnen, eine Frau allein unterwegs erweckt bei ihnen die Assoziation, es handle sich um ein »leichtes Mädchen«, das ohne männliche Begleitung und Obhut, ohne Vater oder Ehemann allen gehört und frei verfügbar ist. Und so hören auch heute Frauen Sätze wie: »Hallo, Baby, bist du noch auf der Suche nach Begleitung? So einem Arsch würde ich überallhin folgen.« Oder: »He, hast du mich nicht gehört, bist du verklemmt?«

Es sind solche oder ähnliche Szenen, die, folgt man verschiedenen Befragungen, über 90 Prozent aller Frauen in ihrem Leben erleben.12 Für diese Art der Belästigung wird seit einigen Jahren der Begriff »Catcalling«verwendet. Catcalling stehtfürsexuelle Äußerungen, Gesten oder Blicke, die den Körper oder das Aussehen einer anderen Person kommentieren.13 Es handelt sich dabei nicht einfach um einen missglückten Flirtversuch oder das Zeigen von Interesse. »Ey, Blondie« oder »Hey, Blackie« (zur Verbindung von Catcalling mit Rassismus und/oder Transfeindlichkeit komme ich noch), »Schnecke, komm doch mal rüber«, Kuss- und Pfeifgeräusche oder anzügliche Gesten sind keine Komplimente, sondern sie sind ein Ausagieren von Macht und Dominanz. Männer – es sind meistens Männer – demonstrieren mit Catcalling ihren Anspruch auf Frauen, auf deren Aufmerksamkeit und Beachtung.

Rund um die #MeToo-Debatten wurde immer wieder Wert darauf gelegt, zwischen Belästigung und einem tatsächlichen Gewaltakt zu unterscheiden. Grundsätzlich ist das richtig und wichtig. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass das Problem dadurch auf pathologische Einzelfälle reduziert und dabei vergessen wird, wie unangenehm und bedrohlich auch Belästigungen sind. Die Sozialpsychologie zeigt seit Langem, dass Gewalt und Belästigungen in unserer Gesellschaft als normal betrachtet werden. Extreme Auswüchse der Gewalt gegen Frauen oder Gewaltbereitschaft haben ihre Wurzeln im »Normalen«, im Selbstverständlichen, und genau deshalb ist auch die anhaltende Bagatellisierung von Gewalt oder das weitverbreitete Wegsehen so gut möglich. Eine abwertende Einstellung gegenüber Frauen ist, wie unter anderen der Sozialpsychologe Rolf Pohl ausführt, eine »normale« Begleiterscheinung männlicher Sozialisation,14 auf die dann pathologische Gewalttäter in extremer Form zurückgreifen. Die weitverbreitete und als »normal« akzeptierte abwertende Sicht auf Frauen bereitet also den Nährboden für gewaltsame Übergriffe. Wie Pohl konstatiert, folgen normale und pathologische Vorgänge letztlich denselben Regeln.

Es ist deshalb wichtig, das Erschöpfende in einem misogynen und auch rassistischen System offenzulegen, das Frauen der ständigen Gefahr aussetzt, belästigt und im schlimmeren Fall vergewaltigt zu werden, und das von ihnen permanent verlangt, Situationen richtig einzuschätzen. Dazu gehört auch, zu erkennen, ob es etwa bei einer verbalen Belästigung bleibt oder ob weitere, schwerwiegendere Taten folgen.15 Die Frage, ob eine Belästigung möglicherweise eskaliert, ist implizit oder explizit Teil jeder Belästigungserfahrung. Vor allem Frauen, die sich wehren oder verweigern, machen nicht selten die Erfahrung, dann erst recht beschimpft oder angegangen zu werden. Die siebenundzwanzigjährige Mary Spears etwa wurde erschossen, weil sie sich geweigert hatte, einem Fremden ihre Telefonnummer zu geben.

Auch in (vermeintlich harmlosen) Catcalling-Situationen ist es oft so: Frauen, die nicht reagieren oder Abneigung signalisieren, wenn Männer ihnen hinterherpfeifen, werden nicht selten beschimpft. ähnlich verhalten sich User im Internet, wenn Frauen ihnen Aufmerksamkeit verweigern oder bestimmte kommunikative Erwartungen nicht erfüllen. Besonders drastisch kommt das auch bei jenen Erhebungen zum Ausdruck, denen zufolge die meisten Morde an Frauen im Moment einer Trennung verübt werden, wenn also eine Frau sich anmaßt, die Beziehungsansprüche eines Mannes nicht mehr zu erfüllen und ihren eigenen Weg zu gehen.16

Die Objektivierung von Frauen of Color und racial battle fatigue

Während Catcalling von Männern quer durch alle Schichten, Herkünfte und Bildungsstand praktiziert wird, sind Frauen unterschiedlich betroffen. Bestimmte Frauen werden häufiger und aggressiver belästigt, oft in Zusammenhang mit Transfeindlichkeit und/oder Rassismus oder Dickenfeindlichkeit. Generell trifft es Frauen of Color und besonders Schwarze Frauen am häufigsten.17 Am aggressivsten werden trans Frauen angegangen, im speziellen trans Frauen of Color sind – im Vergleich zu weißen cis-Frauen – einem hohen Risiko ausgesetzt, sogar Opfer von Gewalt und Mord zu werden.18 Frauen of Color werden oft in Zusammenhang mit exotisierenden Zuschreibungen belästigt, sie werden auch häufiger als weiße Frauen als Sexarbeiterinnen bezichtigt, und sie berichten besonders oft, dass ihre Abweisungen und Gegenwehr nicht akzeptiert werden.

Die Objektivierung von Frauen of Color hat komplexe historische Hintergründe. Zur Zeit der kolonialen Eroberungen wurde die Landnahme oft mit sexualisierten Bildern dargestellt und mit der Eroberung von Frauenkörpern gleichgesetzt. Zum Beispiel auf dem im 16. Jahrhundert in Florenz von dem flämischen Maler Jan van der Straet angefertigten Stich America. Das Bild setzt die Entdeckung der Neuen Welt als Begegnung zwischen dem Kaufmann Amerigo Vespucci und einer indigenen nackten Frau in Szene.19 Auf dem Bild wird die koloniale Landnahme als ein Akt der männlichen Bemächtigung einer unbekleideten Frau assoziiert, die als »kulturloser, der Wildnis verhafteter Körper präsentiert wird«.20

Entsprechend diesen Fantasien galt der weibliche indigene Körper als Teil des Besitzes der kolonialen Eroberer und konnte entsprechend »benutzt«, das heißt vergewaltigt und missbraucht werden. Dieser sexualisierte koloniale Anspruch gegenüber indigenen Frauen, Sklavinnen und Frauen of Color wurde in verschiedenen Variationen auch in der jüngeren Geschichte fortgesetzt, etwa als die US-Truppen in asiatischen Ländern nach dem Philippinisch-Amerikanischen Krieg, dem Zweiten Weltkrieg sowie dem Korea- und Vietnamkrieg die lokale Sexindustrie und die Ringe des Sexhandels in Gang brachten.21 Auch wurden Schwarze Frauen während der Sklaverei in den USA routinemäßig sexuell angegriffen. Missbrauch wurde als »Waffe der Herrschaft« eingesetzt mit dem Ziel, den Willen der Sklavinnen und denjenigen ihrer Männer zu brechen und sie zu demoralisieren. Die Vergewaltigung Schwarzer Frauen als weiße Machtdemonstration hielt auch nach der Sklaverei an,22 der Ku-Klux-Klan und andere Akteure setzten Vergewaltigungen als Mittel ein, um Dominanz zu signalisieren und die Minderwertigkeit der Schwarzen zu unterstreichen.

Bis heute halten die historisch gewachsenen Vorurteile und Machtansprüche gegenüber Frauen of Color an, es wird angenommen, sie stünden »zur Verfügung«, auch sind sie in besonderem Maße Gegenstand von Betrachtung und Bewertung. Die Psychologin Talia Smith beschreibt23 die bis ins 17. Jahrhundert zurückgehenden historischen Narrative, in denen der Schwarze Körper mit dem »Abnormalen«, dem »Abweichenden« verknüpft wurde, besonders der weibliche Schwarze Körper wurde oft in sogenannten Freak Shows ausgestellt.

 

Das Begutachten von Schwarzen Menschen und ganz besonders von Schwarzen Frauen in sogenannten Völkerschauen wurde noch vor hundert Jahren in Europa praktiziert. Die Südafrikanerin Sarah Baartman, ihr richtiger Name war Saartjie, war eine der populärsten Figuren des 19. Jahrhunderts, weil sie aufgrund ihrer breiten Hüften als Urtypus der Schwarzen Frau ausgestellt wurde. Der schottische Militärchirurg William Dunlop präsentierte sie auf verschiedenen europäischen Messen und Shows. Das Publikum bezahlte Eintritt, um ihren Körper zu sehen und mit einem Stock in ihr Gesäß zu stechen. Sowohl Wissenschaftler als auch Kolonialisten glaubten, ihr Körper sei »wild« und exotisch, etwas Verrücktes und Abweichendes im Vergleich zum »europäischen« Normalkörper. Die Bilder von Saartjie wurden verwendet, um rassistische und sexistische Vorstellungen über afrikanische Frauen zu entwickeln und zu verbreiten. Ein Jahrhundert später ist die Meinung immer noch weitverbreitet, dass Schwarze Frauen besonders »sexuell«, »körperlich« und »exotisch« wären und dass sie, wenn sie in engen Kleidern nach draußen gehen, sich selbst zur Schau stellen und dass sie Kommentare von Männern erwarten und akzeptieren sollten.

Vor diesem Hintergrund kann nicht oft genug daran erinnert werden, dass wichtige Proteste gegen sexualisierte Gewalt – lange vor den medialen Durchbrüchen von #MeToo – von Schwarzen Frauen wie Tarana Burke, Rosa Parks und Recy Taylor initiiert wurden. Der Slogan »Me Too« etwa geht auf Tarana Burke zurück, die sich seit den 1990er-Jahren für die Rechte junger Schwarzer Frauen und gegen sexualisierte Gewalt engagiert. Im Jahr 1997 saß ein dreizehnjähriges Mädchen Burke gegenüber und vertraute ihr an, dass es sexuell missbraucht worden war. Burke war sprachlos: »Ich hatte keine Antwort und konnte nicht einmal sagen: ›Auch ich [engl. Me, too!] habe so etwas erlebt.‹« Dieses Erlebnis beschäftigte Burke; es war die Geburtsstunde ihrer Me Too-Idee. Sie gründete die Jugendorganisation Just Be Inc. mit dem Ziel, nichtprivilegierten Kindern und Jugendlichen of Color eine Möglichkeit zu geben, über ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt in geschützter Atmosphäre zu sprechen. Innerhalb dieser Jugendorganisation startete sie die Kampagne Me Too.24

Frauen mit dunkler Hautfarbe erleiden auch heute häufiger sexualisierte Übergriffe als weiße Frauen, dabei kommt hinzu, dass es eine Doppelmoral hinsichtlich ihrer Behandlung als Opfer gibt: Die Strafen, die ihre Angreifer erhalten, sind weniger schwerwiegend als die von Männern, die weiße Frauen angreifen. Eine Studie der Brandeis University ergab, dass es Unterschiede in der Behandlung von Fällen sexueller Übergriffe gibt, je nachdem, welche Hautfarbe die Opfer haben.25 An einem Ort stellten die Forscher fest, dass Staatsanwälte in 75Prozent der Fälle, in denen eine weiße Frau angegriffen wurde, Anklage erhoben. Waren die Opfer jedoch Schwarz, erhoben Staatsanwälte in nur 34Prozent der Fälle Anklage.

Ferner erfahren Frauen of Color im Unterschied zu weißen Frauen im öffentlichen Raum »Racial Profiling« durch die Polizei beziehungsweise das sogenannte Polizieren, wie die Soziologin Vanessa E. Thompson die historisch gewachsene und institutionelle Praxis nennt,26 Schwarze Menschen im öffentlichen Raum aufgrund von Vorurteilen zu kriminalisieren oder als »störend« zu betrachten. Racial Profiling ist ein tiefschürfender Erschöpfungsfaktor für Schwarze und andere rassistisch deklassierte Menschen. Es bedeutet, in öffentlichen Räumen dem kriminalisierenden Blick der Polizei und einem andauernden Stress ausgesetzt zu sein, aufgrund der Hautfarbe kontrolliert, besonders brutal behandelt oder gar umgebracht zu werden. Thompson beschreibt die Erfahrung, nicht atmen zu können (»I can’t breathe«) als eine Grunderfahrung von Menschen of Color. Das ständige Gefühl, dass ihnen die Bewegungsfreiheit und der Atem buchstäblich oder im übertragenen Sinne geraubt werden,27 ist eine alltägliche Erfahrung Schwarzer Menschen.

Im Zuge der Pandemie wurde deutlich, wie privilegiert jene sind, die sich durch die Covid-Krise zum ersten Mal mit der Angst vor Atemnot konfrontiert sahen und sich über Bewegungseinschränkungen (durch Quarantänen) beklagten. Thompson verweist darauf, dass die »Verunmöglichung von Atem« und Bewegungsfreiheit sich seit Langem durch die Erfahrung Schwarzer und rassistisch deklassierter Menschen zieht. »I can’t breathe« ist der Satz, den der unbewaffnete afroamerikanische Familienvater Eric Garner elf Mal wiederholte, bevor er im Sommer 2014 im Würgegriff der New Yorker Polizei erstickte. Auch die letzten Worte George Floyds, der im Mai 2020 unter dem Knie eines weißen Polizisten starb, lauteten ebenfalls: »I can’t breathe.«

Der Rassismusforscher William A. Smith prägte den Begriff »racial battle fatigue«, mit dem er den psychosozialen Stress und die Erschöpfung von rassistisch diskriminierten Menschen beschreibt, die in ihrem Alltag multiplen Mikroaggressionen, Verdächtigungen und Vorurteilen ausgesetzt sind – durch Polizeikontrollen, aber auch im Allgemeinen.28

Wenn Frauen sich verstellen müssen

Frauen sind Belästigung und Angriffen im öffentlichen Raum in unterschiedlichem Maße ausgesetzt. Manche Frauen erfahren sexistische Erschöpfung immer auch in Zusammenhang mit racial battle fatigueoder mit weiteren Dimensionen der Diskriminierung. Umso mehr haben Frauen gute Gründe, sich nicht offensiv, sondern vorsichtig zu verhalten. Manche Frauen haben die Erfahrung gemacht, dass, wenn sie ihren Regungen – etwa Wut und Ablehnung – folgen, die Situation in Aggression und Gewalt gegen sie kippt.29 Es kann also paradoxerweise lebensrettend sein, Verfügbarkeit und Freundlichkeit auch entgegen der eigenen Bedürfnisse zu signalisieren. In der englischsprachigen Traumaforschung gibt es für »nettes« Verhalten in Gefahrensituationen den Begriff »Fawning« (sinngemäß übersetzt: sich wie ein süßes Rehkitz geben). Neben weglaufen (flee), sich aktiv wehren (fight), erstarren (freeze) beschreibt »fawning« den Versuch, einer Person zu gefallen, um einen Konflikt oder Übergriff zu vermeiden. Viele Frauen versuchen präventiv, den Täter zu beschwichtigen, indem sie sich nett geben, lächeln und Dinge sagen, von denen sie annehmen, dass er sie hören will. Oder indem sie sich so verhalten, wie sie glauben, dass es dem anderen gefällt, ihn freundlich stimmt usw. Sie ignorieren dabei ihr eigenes Unwohlsein. Lächeln ist also nicht, wie Männer oft glauben, ein Signal der Zustimmung, sondern kann eine Strategie sein, Schlimmeres zu verhindern oder Belästigungen wegzumoderieren. Freundlichkeit kann der Versuch sein, Männern einige Minuten Aufmerksamkeit zu geben in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen.

Eine klassische Fawning-Situation, die ich selbst mehrfach so oder ähnlich erlebt habe, geht so: Ich sitze im Zug, im Speisewagen, bei einem Kaffee. Mein Laptop ist aufgeklappt, ich bin, für alle sichtbar, im Arbeitsmodus. Ein Mann setzt sich mir gegenüber, ich nicke kurz freundlich und mache etwas Platz. Der Mann bedankt sich ein wenig zu laut und mit zu vielen Sätzen, er wolle mich sicher nicht bei der Arbeit stören, es gehe schon, ich könne die Bücher liegen lassen. Aber er versucht, ins Gespräch zu kommen, zunächst mit allgemeinen Aussagen über das Wetter, danach, als ich mich nicht auf ein Gespräch einlasse, mit direkten Fragen, wohin ich fahre, in welcher Branche ich tätig wäre (»Kultur«?). Ich lächle ab und zu gequält, lasse mich aber nicht auf ein Gespräch ein. Aus meiner Sicht signalisiere ich klar, dass ich mich auf meine Arbeit konzentrieren will. Als sein Kaffee kommt, bezahlt er seinen und meinen gleich mit. Ich protestiere und versuche, es zu verhindern, aber er kommt mir zuvor, gibt sich großzügig, ach, das mache ich doch gern, diese viel beschäftigten Frauen muss man auch mal einladen! Nun rührt er zufrieden in seinem Kaffee. Mit der Einladung hat er sich das Recht auf meine Aufmerksamkeit erzwungen. Er verhält sich nun noch direkter, fragt mich, woran ich arbeite und ob ich denn nicht freihätte, es sei schließlich nach 18 Uhr. Ich habe aus meiner Sicht zwei Optionen. Option eins: Ich gehe in die Konfrontation und sage ihm, dass ich meine Ruhe will und ich sein Verhalten nicht angemessen finde. Danach ist die Stimmung am Tisch aber ziemlich sicher so gestört, dass ich nicht weiterarbeiten und mich nicht mehr konzentrieren kann. Er wird sich vermutlich empören, er habe doch nur nett sein wollen. Oder schlimmer, er wird mich beschimpfen. Wenn ich weiterarbeiten will, bleibt mir danach nur übrig, das Feld zu räumen und einen anderen Platz zu suchen. Was im vollen ICE und mit Gepäck schwierig und ermüdend sein wird. Option zwei: Fawning. Ich versuche, freundlich zu sein, um ohne Konflikt aus der Situation herauszukommen und vielleicht doch noch meine Ruhe zu erhalten. Ich bedanke mich für den Kaffee, gebe ihm ein paar Minuten Aufmerksamkeit und sage dann, dass ich nun wirklich dringend weiterarbeiten muss. Wenn ich Glück habe, akzeptiert er es. Die Strategie besteht darin, mich »freizulächeln«, obwohl ich wütend bin und mich bedrängt fühle. Aber auch mit der Freundlichkeitsstrategie wird die Situation wahrscheinlich anstrengend bleiben, konzentriert zu arbeiten wird so oder so schwierig, vermutlich wird der Mann auch nach einer netten Abmoderation immer wieder versuchen, meine Aufmerksamkeit zu bekommen.

Ich erinnere mich, dass ich die zweite Option wählte. Tatsächlich ließ mich der Mann – einigermaßen beleidigt, aber immerhin – in Ruhe. Die Gesamtstimmung blieb jedoch unangenehm, meine Konzentration und mein Wohlgefühl waren beeinträchtigt. Es gibt sicher noch weitere Optionen, wie man eine solche Situation handhaben kann. Was ich mit diesem Beispiel vor allem zeigen will, ist, wie erschöpfend für Frauen bereits ein kurzer Aufenthalt in einem deutschen ICE-Zugrestaurant sein kann. Nicht auszudenken, wie belastend die Situation verlaufen wäre, wäre ich eine Schwarze Frau oder trans Frau. Als ich ausstieg, fühlte es sich so an, als hätte ich meine Leistungskapazität für diesen Tag bereits mehr als ausgeschöpft.

Die deutsche Studie Sexismus im Alltag (2020)30 verweist darauf, dass eine ganz andere Abwehrstrategie darin besteht, Belästigung unbewusst als »nicht so schlimm« wahrzunehmen. Vierzig Prozent der befragten Frauen gaben an, Alltagssexismus als »nicht so schlimm« zu empfinden. Gemäß der Studie gibt es, und das ist noch mal etwas anderes als Fawning, einen Schutzmechanismus, um Angriffe auf die sexuelle Selbstbestimmtheit und Würde abzuwehren. Der Selbstschutz besteht darin, sexistische Übergriffe als harmlos abzutun. Die befragten Frauen beschreiben, dass sie übergriffige Situationen nicht so »ein Ding« finden, ihre Strategie besteht im Weitergehen, Ignorieren, Ausblenden, Verdrängen, aber auch in der Bagatellisierung der Situation, um nicht Opfer zu sein. Denn, wie die Studie ausführt – und hier lässt sich an Rolf Pohl anknüpfen –, Frauen sind so regelmäßig und auf so alltägliche Weise Belästigungen ausgesetzt oder erleben durch Rollenzuschreibungen in Erwerbs- und Familienarbeit subkutanen Sexismus, dass viele dieser »softeren« Sexismus-Spielarten gar nicht mehr als empörend und abwertend empfunden werden. Laut der Studie unterschätzen Frauen unbewusst die Realität, um sich selbst zu schützen. So zeigt sich, wie beiläufig vor allem jüngere Frauen alltägliche Belästigung hinnehmen: Fast alle zeigten sich überrascht von der Frage, ob sie schon sexistische Fotos und Videos auf ihre Smartphones zugeschickt bekamen, ihre Antworten gingen alle in dieselbe Richtung: »Na klar, selbstverständlich, schon oft! Alle, die ich kenne, haben das erlebt. Das ist normal, das geht jeder so!«

Ebenso bekannt und »normal« sind für viele Frauen Situationen, in denen sie von Männern allzu lange angestarrt und unangenehm von Blicken verfolgt werden, dass auf ihre Beine oder den Busen gestarrt wird, dass im voll besetzten öffentlichen Verkehrsmittel ein Mann sich an sie drängt und Ähnliches. All das ist für einen erheblichen Teil der Frauen so alltäglich, dass sie dies spontan gar nicht mit Begriffen wie »sexistisch« oder »Belästigung« bezeichnen, sondern erst nach längerem Nachdenken. Die Alltäglichkeit solcher Erfahrungen lässt sie mit der Zeit abstumpfen. Und das bedeutet auch: Wenn sich Frauen stets aufregen und verletzt fühlen würden, wäre für manche jeder Tag ein Tag der Verletzung und Herabwürdigung. Davor schützen sich Frauen also zum Beispiel durch unbewusstes Ausblenden. In der Studie ist die Rede von einer »selektiven Unempfindlichkeit aus Selbstschutz« (ähnliche selbstschützende Abwehrstrategien gibt es auch im Zuge anderer und oft mit Sexismus gleichzeitig auftretender Alltagsdiskriminierung wie Rassismus, Homosexuellen- und/oder Transfeindlichkeit).

Zu den ermüdenden psychischen und mentalen Herausforderungen gehört neben der bereits erwähnten permanenten Notwendigkeit, Situationen richtig einzuschätzen, auch die Scham vieler belästigter Frauen und Mädchen, nicht erahnt zu haben, wo eine anfangs harmlose Kontaktaufnahme enden würde; oder die Wut über sich selbst, nicht »richtig« oder schnell genug reagiert zu haben, sich nicht klar genug geäußert oder nicht den richtigen Spruch bereitgehabt zu haben. All das birgt ein ungeahntes Erschöpfungspotenzial im Leben von Frauen, und soweit ich es überblicke, ist bislang nicht untersucht worden, wie viel Energie und emotionalen Aufwand Frauen in ihrem Leben darauf verwenden, in eindeutigen und weniger eindeutigen Belästigungssituationen zu überlegen, was sie tun sollen.

 

Es geht aber nicht nur darum, dass Frauen selbst Sexismus bagatellisieren müssen, um zu überleben. Sie fühlen sich oft unbehaglich, die Gesellschaft signalisiert ihnen aber, dass ihre Gefühle nicht stimmen. Das unterwandert das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung. Die Verharmlosung des Catcallings bestärkt zudem die Vorstellung, männliche Sexualität und männliches Verhalten wären scheinbar unkontrollierbar. Oft wird in diesem Zusammenhang gesagt: »Männer sind nun mal so.« Wenn Männer nicht anders können, bleibt es den Frauen überlassen, mit der Situation zurechtzukommen, wenn Männer nun mal so sind, dann sind sie der Maßstab, an dem alle anderen sich ausrichten und orientieren sollen. Daraus folgt im Kern, dass es darauf, wie Frauen sind und wie es ihnen ergeht, nicht ankommt. Wenn die Devise lautet, dass Männer so sind, wie sie sind, bedeutet dies, dass der Gesellschaft das Wohlbefinden und Empfinden von Frauen und Mädchen egal ist.