Die erste Bindung - Nicole Strüber - E-Book

Die erste Bindung E-Book

Nicole Strüber

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Beschreibung

Das menschliche Gehirn ist dafür verantwortlich, wie wir fühlen und wie wir uns verhalten. Aber warum tickt das Gehirn bei jedem unterschiedlich? Warum kann der eine gut mit Stress umgehen und der andere nicht? Dieses Buch erklärt, wie Gehirn und Persönlichkeit eines Menschen durch seine Gene und seine vorgeburtlichen und frühkindlichen Erfahrungen geprägt werden und warum vor allem die frühen Bindungserfahrungen so wichtig für die weitere Entwicklung sind. - Dauerstress schadet der Entwicklung des kindlichen Gehirns. Nimmt die Mutter das schreiende Kind in die Arme, wird das Hormon Oxytocin freigesetzt, das den Stress wieder abbaut. - Auch bei werdenden Vätern kommt es zu hormonellen Veränderungen. Sie werden fürsorglicher, aggressives Verhalten und Imponiergehabe nehmen ab. - Nicht die frühe Krippenbetreuung fördert die soziale Kompetenz kleiner Kinder, sondern sichere Bindungsbeziehungen lassen das soziale Gehirn reifen.

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Nicole Strüber

Die erste Bindung

Wie Eltern die Entwicklung des kindlichen Gehirns prägen

Mit einem Vorwort von Gerhard Roth

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Zeichnung von Anne-Rose Tietje

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98058-5

E-Book: ISBN 978-3-608-10039-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort von Gerhard Roth

1 Einleitung: Was wollen wir?

2 Das Gehirn und das Ich: Ein Überblick

2.1 Gene und Erfahrungen beeinflussen die Hirnentwicklung

Gene und Erfahrungen arbeiten zusammen

2.2 Emotionales Fundament, flexibler Aufbau

Die untere limbische Ebene

Die mittlere limbische Ebene

Die obere limbische Ebene

Die kognitiv-sprachliche Ebene

2.3 Kapitel 2 in Kürze

3 Erste Schritte in Richtung Persönlichkeit

3.1 Wie prägen die Gene das Kind? Was bringt das Kind mit?

Dopamin-Rezeptor-Gen: Belohnung und Risiko

Serotonintransporter-Gen: Angst

Oxytocin-Rezeptor-Gen: Bindung und Empathie

3.2 Wie prägt die Schwangerschaft das Kind?

3.3 Wie prägt das Geschlecht das Kind?

Sind Mädchen und Jungen gleich?

Was macht Mädchen und Jungen unterschiedlich?

3.4 Wie prägt die Geburtserfahrung das Kind?

Vorbereitung der Geburt und das Grande Finale

Medizinische Interventionen

Nach der Geburt: Prägung in der Ruhe nach dem Sturm

3.5 Wie prägt Muttermilch das Kind?

3.6 Kapitel 3 in Kürze

4 Das kindliche Gehirn: Wie Bindung die Persönlichkeit reifen lässt

4.1 Grundsteinlegung: Bildung innerer Modelle von Bindung und Vertrauen

4.2 Wie beeinflusst Bindung das kindliche Gehirn?

Die Bindungsperson wird mit Belohnung assoziiert

Das Stresssystem wird gehemmt und das Lernen gefördert

Das Bindungssystem und das Stresssystem werden programmiert

Das Kind lernt seine Gefühle kennen und benennen

Oxytocin und das soziale Gehirn: Eine Übersicht

4.3 Temperament und Bindung: Entstehung der kindlichen Persönlichkeit

Entstehung des frühen Temperaments: Eine Zusammenfassung

Das Temperament beeinflusst den Aufbau der Bindung

Das Temperament beeinflusst die Wichtigkeit der feinfühligen Fürsorge

Die Bindungsbeziehung prägt die Persönlichkeit

4.4 Kapitel 4 in Kürze

5 Das elterliche Gehirn: Auf Bindung eingestellt

5.1 Sind Frauen und Männer unterschiedlich?

Welche Bedeutung hat die unterschiedliche Hirnchemie für das Verhalten?

5.2 Was passiert im Gehirn der Mutter in der frühen Eltern-Kind-Interaktion?

Das mütterliche Gehirn wird an die neuen Lebensumstände angepasst

Das Kind wird mit Belohnung assoziiert

Die Aufmerksamkeit wird auf soziale Reize ausgerichtet

Das Verständnis und das Mitfühlen von Emotionen werden gefördert

5.3 Was passiert im Gehirn des Vaters in der frühen Bindungsbeziehung?

Väter müssen sich auf das Vatersein einstellen

Väter fördern die Erkundung ihrer Kinder

5.4 Individuell unterschiedlich: Die Persönlichkeit der Eltern

Das Individuum Mutter

Das Individuum Vater

Engelskreise und Teufelskreise: Von einer Generation an die nächste

5.5 Kapitel 5 in Kürze

6 Was bedeutet das alles für uns Eltern?

6.1 Lernen, Eltern zu sein?

6.2 Kaum eine Kindheit ist perfekt

6.3 Über schreiende Kinder und verzweifelte Eltern

Wie geht man mit einem schwierigen kindlichen Temperament um?

Wie geht man mit schwierigen Eltern um?

6.4 Wer betreut? Die Mutter, der Vater, die Oma oder die Krippe?

Der Vater

Die Oma

Die Krippe

Benötigt ein Kind die frühe Krippe, um soziale Kompetenz zu erwerben?

Benötigt ein Kind die frühe Krippe, um frühe Bildung zu erhalten?

6.5 Kapitel 6 in Kürze

7 Ausblick: Das Bedürfnis des Gehirns nach Bindung und die Gesellschaft

Vereinbarkeit

Und was sagen die Kinder dazu?

Kann sich die Gesellschaft Bindung kaufen?

Wertschätzung von Fürsorge

Mit Toleranz zur Entlastung

Väter

Von der Wertschätzung zur Veränderung

8 Anmerkungen

9 Literatur

Ein großes Dankeschön

Vorwort von Gerhard Roth

Dieses Buch handelt vom wichtigsten Abschnitt unseres Lebens, nämlich den 9 Monaten vor und den ersten Jahren nach unserer Geburt. Wie neueste gesicherte Erkenntnisse belegen, werden in dieser Zeit die Grundlagen unserer weiteren körperlichen und geistig-psychischen Entwicklung geschaffen. Nicole Strüber, Neurobiologin, Psychologin und Mutter von Zwillingen, hat hierüber nun ein wunderbares Buch geschrieben.

Lange Zeit hat man die Vorgänge innerhalb dieser Entwicklungsperiode gar nicht verstanden oder sie als biologisch-natürlich und von Reflexen und Instinkten beherrscht angesehen. Im Rahmen der paternalistischen Familien- und Erziehungsideologie wurden sie nur als Vorbereitung auf das Erwachsensein gesehen. Einen absoluten Tiefpunkt erlebte die Beschäftigung mit der Kindheit in Form des 1934 erstmals erschienenen Buches »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« aus der Feder der Lungenärztin Johanna Haarer, das sich als Anleitung zur Erziehung des Kindes zu Härte, Disziplin und unbedingtem Gehorsam gegenüber dem Nationalsozialismus verstand und in keinem damaligen deutschen Haushalt fehlen durfte. Sinnigerweise galt es bis weit in die 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in »leicht gereinigter« Form als Standardwerk der deutschen Kindererziehung.

Seit einigen Jahrzehnten wächst nun die wissenschaftlich fundierte Einsicht darüber, wie Elternschaft und Kindeserziehung auszusehen haben. Den größten Beitrag hierzu hat zweifellos die Bindungsforschung geleistet. Die von John Bowlby in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts und später von Mary Ainsworth entwickelte Vorstellung, dass die frühkindliche Bindungserfahrung prägend auf die Persönlichkeitsentwicklung wirkt, hatte es allerdings anfangs schwer, sich durchzusetzen. Heute ist der Begriff »Bindung« aus keinem Psychotherapiekonzept mehr wegzudenken. Ergänzt wurde dies durch die Ergebnisse der Säuglings- und Kleinkindforschung sowie durch die Erkenntnis, dass der Säugling schon kurz nach der Geburt ein aktives, kommunikatives und bindungsorientiertes Wesen ist, und dass die enge Interaktion zwischen Säugling und primärer Bezugsperson, in der Regel (aber nicht notwendigerweise) der Mutter, zu Prägungsvorgängen führt, die für den Säugling lebensentscheidend werden.

Erst relativ spät, vorwiegend aufgrund methodischer Schwierigkeiten, befassten sich Neurowissenschaftler mit diesen Vorgängen. Die Wachstums- und Reifeprozesse des menschlichen Gehirns lassen sich oft nur indirekt studieren und hierbei waren und sind vergleichende Untersuchungen am Tiermodell, meist an Ratten und Mäusen, unverzichtbar. In den letzten Jahren zeigten sich immer mehr die Details des Wechselspiels zwischen Genen und Genvarianten einerseits und vorgeburtlichen sowie frühnachgeburtlichen Umwelteinflüssen, deren Komplexität man bisher kaum erahnen konnte. In diesem Zusammenhang löste sich zunehmend das uralte Anlage-Umwelt-Problem auf, also die Frage: Ist menschliches Verhalten überwiegend durch Gene oder doch durch Umwelteinflüsse bestimmt?

Natürlich ist eine schlüssige Antwort auf diese Frage von großem wissenschaftlichem und gesellschaftlichem Interesse. Sind die Gene die bestimmenden Faktoren, so kann man sich viele teure diagnostische, präventive und therapeutische Maßnahmen sparen; ist es die Umwelt, so muss man äußerst sorgfältig diese Umweltfaktoren auf ihre Wirkung hin kontrollieren. Inzwischen ist aber klar, dass es beide Faktoren sind, allerdings nicht in einem Gegeneinander, sondern in engster Verflechtung. Man hat erkannt, dass genregulatorische, »epigenetische« Mechanismen bestimmen, wann welche Gene aktiviert werden, und dass diese Vorgänge höchst individuell ausfallen können. Hier – so die neue Erkenntnis – können auch vorgeburtliche und frühnachgeburtliche Einflüsse wirksam werden – erstere über den Blutkreislauf der Mutter, letztere über das Verhalten der primären Bindungspersonen. In bestimmten Fällen können sich diese Einflüsse auch dauerhaft im Erbgut verankern und über Generationen weitergegeben werden. Während der Entwicklung des Kindes durchdringen »Anlage« und »Umwelt« einander auf vielfältige Weise und es ist eine der großen Leistungen der Bio- und Verhaltenswissenschaften, dies unter Berücksichtigung der zahlreichen Fortschritte der Entwicklungspsychologie in den Grundzügen und teilweise sogar bis ins Detail aufgeklärt zu haben.

Solche Erkenntnisse haben große Bedeutung für den privaten ebenso wie den gesellschaftlichen Umgang mit der vorgeburtlichen und frühnachgeburtlichen Entwicklung des Kindes und für das Elterndasein. Die zu diesem Thema in diesem Buch zusammengestellten Befunde sind allerdings in der Regel komplex, vieles davon ist neu oder gar sehr neu und hat noch keinen Eingang in Darstellungen gefunden, die für eine breitere Leserschaft, also vornehmlich Eltern und solche, die es werden (oder werden wollen), Kinderärzte, Kinderpsychologen, Hebammen, Kleinkindbetreuerinnen und –betreuer, Politiker und eigentlich uns alle verständlich sind.

Das vorliegende Buch von Nicole Strüber genügt nicht nur höchsten wissenschaftlichen Ansprüchen, sondern ist gleichzeitig so lebensnah geschrieben, dass es die interessierte breite Leserschaft ohne Weiteres verstehen kann. Zu dieser Leistung darf man der Autorin vorbehaltlos gratulieren!

1 Einleitung: Was wollen wir?

Alles beginnt mit einem kleinen roten Streifen auf Weiß. Manchmal ist er auch lila. Aber immer zeigt er sich bereits wenige Sekunden, nachdem wir die Angelegenheit mit der Probenentnahme hinter uns gebracht haben.

Dieser banale kleine Akt verändert alles. Wir wissen nun: Wir sind der Ursprung neuen Lebens. Kaum fassen können wir das. Wir werden Eltern sein! Mutter. Vater. Wie es wohl wird, das Kleine? So wie ich? So wie mein Partner? Wie wird sich mein Leben ändern? Werde ich eine gute Mutter sein? Ein guter Vater? Wir sind aufgeregt und wollen gut vorbereitet sein. Gleich von Anfang an alles richtigmachen. Kaum ist der Teststreifen getrocknet, beginnt es zu rattern. Zumindest für die werdenden Mütter unter uns. Was muss ich bedenken und vor allem, welche Konsequenzen hat es für das Kind, wenn ich etwas bedenke? Oder nicht bedenke? Entscheidungen stehen an, Fragen tauchen auf. Wie muss ich mich in der Schwangerschaft verhalten? Beeinflusst das, was ich tue, mein Kind?

Und werden wir als Eltern nach der Geburt alles bewältigen können? Wir wissen, dass die Fürsorge unseres Babys mehr benötigt als die bloße Nahrungszufuhr und ein wenig Licht und Ruhe. Kinder sind keine Topfpflanzen. Kinder brauchen Liebe. Liebe, Nähe und Zeit. Wie werden wir alles zeitlich managen? Wo stehen wir beruflich? Können wir so weitermachen wie bisher? Oder wird einer zu Hause bleiben? Wenn ja, wer? Aber vielleicht können wir unser Kind ja auch früh in die Krippe geben? Schon bald nach der erstmaligen Betrachtung des rot-lila Streifens drängt sich diese letzte Frage immer mehr und immer beharrlicher in unser Bewusstsein. Schließlich will das Thema ja bereits während der Schwangerschaft geklärt sein. Der Arbeitgeber möchte es wissen und der Anmeldebogen für die Krippe würde auch schon gerne auf dem Stapel der ersten Eingänge liegen.

Ein wenig Angst haben wir vielleicht auch, vor all dem, was kommt. Was, wenn nicht alles so gut läuft wie geplant? Wenn wir es doch nicht schaffen, uns während der Schwangerschaft den Stress auf Abstand zu halten, die Geburt nicht optimal verläuft, es mit dem Stillen nicht so recht klappen will? Wird dies unser Kind unwiederbringlich negativ beeinflussen? Das wollen wir nicht.

Vielleicht kriegen wir auch ein Schreibaby. Himmel, nein. Kinder schreien, Kinder schlafen schlecht. Zumindest manche. Wir sind nicht die erste Generation, in der Kinder dies so handhaben. Erst hieß es, man dürfe sich keinen kleinen Despoten heranziehen, der bereits im Säuglingsalter die Familie zu tyrannisieren weiß. Heutzutage haben wir mehr Verständnis für die Bedürfnisse des Kindes. Gleichzeitig werden wir aber mit der Notwendigkeit konfrontiert, auf allen Ebenen perfekt zu sein. Perfekte Mutter, lieb und fürsorglich; perfekte Arbeitnehmerin, zuverlässig, wach und strukturiert; perfekte Ehefrau, gutaussehend, rückendeckend und sportlich. Ach ja, kochen sollen wir auch noch können. Und zwar vom Bio-Babybrei bis zum Rindercarpaccio für die Gäste. Und für den Vater gilt all dies inzwischen ebenso. Wo bleibt da das schreiende Kind? Wie lernt ein Kind, vernünftig und im Einklang mit seiner Umwelt zu agieren? Und vor allem wann? Und wie können wir unser Kind darin unterstützen, eine hohe Bindungsfähigkeit aufzubauen und gute Stressbewältigungsstrategien sowie eine hohe soziale Kompetenz zu entwickeln?

All diese Fragen wollen beantwortet sein und hierfür soll dieses Buch Denkanstöße liefern. Denkanstöße, die auf der aktuellen psychologischen Forschung und der Bindungstheorie beruhen, ebenso wie auf dem Wissen um ein Organ, das all den beschriebenen Fragen, überhaupt jeglichem menschlichen Verhalten, zugrunde liegt: dem Gehirn.

Es wird darum gehen, dass sich diese geheimnisvolle Struktur, die gerne Schokolade mag und sich vor Spinnen fürchtet, die Liebe fühlt und wütend werden kann, aus einem einfachen kleinen Zellhaufen entwickelt. Darum, dass sich das Gehirn während seiner Entwicklung an seine Umwelt anpasst, in einer stetigen Wechselwirkung mit den Genen des dazugehörigen Menschen. Ich werde darauf eingehen, dass es die tief im Gehirn erzeugten Emotionen sind, die über die Ausschüttung chemischer Substanzen unbewusst und mächtig unser Handeln anleiten und deren frühe Prägung unser dauerhaftes emotionales Erleben und unsere spätere Bindungsfähigkeit beeinflusst. All dies in Kapitel 2, dem Kapitel über Prinzipien der Hirnentwicklung.

In Kapitel 3 werde ich die zuvor beschriebenen Prinzipien der Hirnentwicklung mit Inhalten füllen, werde erläutern, wie die Gene, die wir als Mütter und Väter unseren Kindern mitgeben, seine kleine Persönlichkeit beeinflussen und welche Bedeutung vorgeburtliche Erfahrungen dafür haben. Dabei geht es nicht darum, ob das Baby Mozart oder Avicii, Coldplay oder Adele hört, sondern um Stresserfahrungen. Darum, wie Stresshormone vom Blut der Mutter in den Kreislauf des Kindes wandern und dort die kindliche Entwicklung prägen. Es geht auch um die Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen und darum, ob es überhaupt Unterschiede gibt und wenn ja, was es ist, das Mädchen mädchenhaft und Jungen jungenhaft macht. Geboren werden sie wiederum alle. Wie das abläuft, ob natürlich oder als geplanter Kaiserschnitt, kann das Baby und sein Temperament auch langfristig erheblich beeinflussen. Ebenso wie die Muttermilch. Wobei vermutlich nicht nur die Muttermilch selbst von Bedeutung ist, sondern auch das Kuscheln und die Nähe beim Stillen. Denn das Gehirn wird dadurch von einem Stoff überschwemmt, der uns das ganze Buch hindurch begleiten wird: dem Oxytocin.

Eben schwamm das Baby noch im körperwarmen und schützenden Fruchtwasser, nun ist es draußen, in der kalten Welt – für die es eigentlich noch viel zu klein, viel zu schwach und unreif ist. Es braucht Nahrung, Wärme und Liebe, eine sensible und zuverlässige Fürsorge, damit sich die Nervenzellen optimal vernetzen können und das innere chemische Milieu ein ausgewogenes Gleichgewicht findet. Sobald das Baby mobil wird und beginnt, seine Umwelt zu erkunden, benötigt es darüber hinaus ein sicheres Band, das es mit seinen Bezugspersonen verbindet und ihm Schutz und Geborgenheit in der unvorhersehbaren Umwelt gewährleistet. Ist das Band, die Bindungsbeziehung, sicher und stark, versetzt dies das Gehirn in einen optimalen Lernzustand. Stressfrei kann das Baby alles über die Gesetzmäßigkeiten seiner neuen Umwelt lernen. Es lernt, dass Dinge von oben nach unten fallen, wenn man sie loslässt, es lernt, dass sich sein Verhalten innerhalb bestimmter Grenzen bewegen muss, man die gefüllte Salatschüssel nicht einfach loslassen darf, damit sie von oben nach unten fällt. Es lernt seine eigene innere Welt kennen. Es lernt, das große Repertoire menschlicher Emotionen auseinanderzuhalten, zu benennen und zu identifizieren. Und es lernt die Bedeutung des sozialen Miteinanders, von Rücksicht, Empathie und Vertrauen kennen. Es entwickelt sich zu einer emotional stabilen, bindungsfähigen und sozial kompetenten Persönlichkeit. Wie wird all dies im Gehirn realisiert? Welche Substanzen und Netzwerke sind daran beteiligt? Und vor allem: Wie prägen Eltern diese Netzwerke? Darum wird es in Kapitel 4 gehen. Aber auch darum, dass manchmal nicht alles so einfach ist.

Nicht immer läuft es so, wie wir es gerne hätten: Wir setzen einen großen Topf auf den Herd, geben eine wunderbare und stressfreie Schwangerschaft hinein, eine natürliche Geburt, erfüllende Stillerfahrungen, eine feinfühlige und aufopfernde Mutter, einen sensiblen und sorgsamen Partner. Wir rühren kräftig um, streuen eine gute Portion Liebe drauf und warten, bis alles gebunden ist. Wann läuft es denn so optimal, nun mal ehrlich? Manchmal kommen Kinder mit einem Temperament auf die Welt, das es den Eltern schwermacht, immer feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen. Oft ist dies der Fall, wenn die Schwangerschaft von erheblichem Stress überschattet und die Geburt dramatisch war. Das Stillen will nicht funktionieren, das Baby schreit ununterbrochen und das eigene Belohnungssystem überlegt vorübergehend, ob eine Tafel Schokolade in der Badewanne nicht einfacher gewesen wäre, als gleich ein Kind zu bekommen. Wenn es auch schwierig ist, scheint es dennoch so zu sein, dass insbesondere diese reizbaren Kinder mehr als andere eine feinfühlige und verlässliche Bezugsperson benötigen. Gelingt es ihnen, eine sichere Bindung aufzubauen, können sich gerade diese Kinder ausgesprochen gut entwickeln.

Die wichtigste, wenn auch nicht die einzige Quelle von Liebe, Schutz und Geborgenheit ist für das Kind zunächst die Mutter. Sie lernt das Kind bereits während der Schwangerschaft kennen, an ihrer Brust wird es gestillt. Im mütterlichen Gehirn ist alles auf die Zeit mit dem Baby vorbereitet. Dort sprudelt es vor Oxytocin. Dieser Stoff hilft ihr, die Signale des Babys zu lesen, mit ihm zu fühlen und angemessen zu reagieren. Doch was passiert genau im weiblichen Gehirn, wenn es zum mütterlichen Gehirn wird? Wie passt sich das Gehirn an die neue Rolle an? Und was ist mit den Vätern? Abgesehen von dem unglücklichen Umstand, dass Väter rein technisch nicht stillen können, gibt es weitere Unterschiede zwischen Frau und Mann, zwischen Mutter und Vater. Oder gibt es sie nicht? Sind Männer mit ihrem mit Testosteron angereicherten Blut ebenso gut in der Lage, auf die Bedürfnisse kleiner Kinder einzugehen wie Frauen? Auf diese Fragen werde ich in Kapitel 5 eingehen. Ich werde erklären, dass sich die Natur für die Väter einen ganz besonderen Mechanismus einfallen lassen hat – der allerdings nicht bei jedem gleich gut funktioniert.

Die Feststellung, dass nicht alle Mütter, nicht alle Väter gleich sind, ist grundsätzlich enorm wichtig. Mütter und Väter werden in ihrem Verhalten und in ihren Fähigkeiten von ihren eigenen Genen und ihren eigenen Erfahrungen geprägt. Dies kann manchmal eine problematische Bedeutung bekommen, nämlich dann, wenn Eltern ihre eigenen Traumatisierungen noch nicht verarbeitet haben oder unter erheblichem chronischen Stress leiden. Schlimm wird es, wenn negative Auswirkungen früher Erfahrungen über epigenetische Mechanismen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Teufelskreise generationsübergreifender Störungen können entstehen. Glücklicherweise gibt es auch Engelskreise, in denen sich die Fähigkeit zu fürsorglichem und liebevollem elterlichen Verhalten von einer Generation auf die nächste überträgt. Auch dies wird Thema von Kapitel 5 sein.

Was bedeuten die psychologischen Befunde und die Erkenntnisse aus der Hirnforschung für die Eltern? Für all die zu treffenden Entscheidungen? Wie lange soll die Mama zu Hause bleiben? Kann der Vater ein Mutterersatz sein? Oder ist und bleibt ein Vater ein Vater? Wann geben wir unser Kind in die Krippe? Kann eine Krippenbetreuerin ein Mutterersatz sein? Sind Krippen gut für die Kinder, gut, um soziale Kompetenzen zu erlernen, um möglichst frühzeitig das Gehirn auf die schwierigen sozialen Manöver vorzubereiten, mit denen es auch später konfrontiert sein wird? Oder benötigt das Baby hierfür seine Mama? Seinen Papa? Uns schwant die tiefgreifende Bedeutung dieser Entscheidungen und wir haben doch nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Um uns herum, das merken wir, gibt es verschiedene Meinungen. Und in uns drinnen, dort, wo die Intuition zu Hause ist, ebenso. Wir wollen doch alles richtigmachen. Für uns, für unsere kleine Familie und für unser Ungeborenes. Kapitel 6 soll mit Denkanstößen aus Hirnforschung und Psychologie die Beantwortung dieser Fragen erleichtern.

Was bedeutet all dies für die Gesellschaft, und auch für die Politik? Darum wird es in einem Ausblick gehen. Darf ich mich als Mutter überhaupt noch entscheiden, mein Kind nicht früh abzugeben? Auf dem seit einigen Jahrzehnten von uns Frauen beschrittenen Weg zur Gleichstellung einfach stehen bleiben, mich auf dem roten Sand der Laufbahn, kurz vor dem Ziel hinsetzen, mit dem Baby auf dem Arm und dem Kochlöffel in der Schürze? Die entgegengesetzte Frage ist: Nehmen wir das kindliche Gehirn und seine Bedürfnisse ernst genug? Die Möglichkeit, unsere Kinder frühzeitig betreuen zu lassen, ist eine Chance für uns Frauen. Aber ist die Gesellschaft darauf vorbereitet? Haben wir genügend Ressourcen, damit dieser Weg den Kindern nicht schadet? Oder ist der derzeitig gegangene Weg zu kurz gedacht, zu übereilt realisiert? Ist es wirklich das, was wir selbst wollen? Wir alle?

Apropos wir alle. Die Einleitung geht an die Adresse der Eltern. Der Rest des Buches aber auch an alle anderen, die mit Kindern zu tun haben, und manchmal mit deren Eltern. Sei es als Oma, Opa, Nachbar oder große Schwester oder auch als Erzieherin, Therapeutin oder Ärztin.

Und auch an alle, die einmal Kinder waren, und sich fragen, warum sie so sind, wie sie sind. Diese Frage kann das Buch zwar nicht beantworten, vielleicht aber den einen oder anderen Impuls zum Nachdenken liefern.

Nun möchte ich aber zunächst das Gehirn vorstellen. All diejenigen, die verstehen möchten, wie sich der Mensch mit seiner individuellen genetischen Ausstattung im Einklang mit seiner Umwelt entwickelt und wie das Gehirn grundsätzlich funktioniert, möchte ich dazu einladen, sich mit den in Kapitel 2 vorgestellten Prinzipien der Hirnentwicklung vertraut zu machen.

Bevor es aber losgeht, muss ich noch eine kleine Anmerkung loswerden! Um allen Geschlechtern gerecht zu werden und dabei gleichzeitig einen angenehmen Lesefluss zu garantieren, verwende ich im ganzen Buch im willkürlichen Wechsel sowohl maskuline als auch feminine Formen, und hoffe, dass sich jeweils Menschen jeglicher Geschlechtsangehörigkeit angesprochen fühlen.

2 Das Gehirn und das Ich: Ein Überblick

Es ist beeindruckend: Aus der Vereinigung einer einzigen Eizelle und einer einzigen Samenzelle entsteht ein kleiner Mensch. Er hat Augen, eine Stupsnase und ein äußerst kompliziertes Gewebe unter seinem noch flexiblen Schädelknochen. Dieses Gewebe, sein Gehirn, verschaltet sich in einer Weise, dass es nicht nur lebensnotwendige körperliche Funktionen wie Atmung und Herzschlag kontrolliert, Informationen der Außenwelt bewertet und verarbeitet und die Bewegungen des Körpers steuert, sondern auch ein individuelles und eigenständiges Fühlen und Denken hervorbringt. Der kleine Mensch entwickelt Persönlichkeit.

Wie kann dies passieren? Woher weiß die befruchtete Eizelle, was zu tun ist, woher kennt sie die Bauanleitung für den kleinen Menschen?

Ein erster grober Entwurf ist in den Genen gespeichert. Die befruchtete Eizelle besitzt in ihrem Zellkern die gesamte Erbinformation des heranwachsenden Menschen. Sie teilt sich und gibt die genetischen Informationen an alle folgenden Zellen weiter. Die Zelle im großen Zeh des kleinen Menschen ist ebenso über die Produktionsmöglichkeiten von Kopfhaar informiert wie die Zelle in der Nasenschleimhaut oder die gemeine Nervenzelle.

Einige Informationen der Gene sind für alle Menschen gleich. Sie bestimmen etwa, in welcher Weise sich die Zellen bei der Entwicklung des Menschen vermehren oder anordnen und liefern so den erwähnten Bauplan des Menschen. Andere Gene liegen in unterschiedlichen Varianten vor und liefern Anleitungen für individuelle Merkmale, etwa die Haarfarbe, die Nasengröße oder die Form des großen Zehs.

Zurück zur befruchteten Eizelle. Sie beginnt sich zu teilen. Wieder und wieder teilt sie sich, sieht zwischenzeitlich aus wie eine Maulbeere, und schon bald, zu Beginn der dritten Woche nach der Befruchtung, zu einem Zeitpunkt, an dem wir allenfalls ahnen, gerade an der Entstehung neuen Lebens beteiligt gewesen zu sein, bilden sich bereits erste Anlagen der verschiedenen Gewebe des Körpers. Eine dieser Anlagen entwickelt sich einige Tage später zu einem 2–3 mm langen hohlen Rohr. Das hört sich banal an, kennzeichnet jedoch die Entstehung des zukünftigen Nervensystems des kleinen Menschen (s. Abb. 2.1).

Abb. 2.1: Die Entwicklung des menschlichen Gehirns vom Neuralrohr zum Organ (modifiziert nach Carter 2014).

In der Wand dieses sogenannten Neuralrohres befinden sich die neuronalen Stammzellen. Diese teilen sich und bilden Nervenzellen und Gliazellen. Vergessen sind nun die Informationen zur Herstellung von Kopfhaar, von Proteinen zum Sauerstofftransport oder von kontraktilen Muskelelementen. Man hat sich spezialisiert – Wohnort: Gehirn.

Im hinteren Bereich des Neuralrohres entsteht das Rückenmark, der vordere Teil bringt das Gehirn hervor. Milliarden von Nervenzellen bilden sich und lassen sich an dem für sie vorgesehenen Ort im Gehirn nieder. Für ihren erfolgreichen Einsatz im jungen Gehirn müssen die neu entstandenen Nervenzellen allerdings noch weitere Eigenschaften ausbilden: Sie müssen eine bestimmte Form annehmen, sich auf die Verwendung bestimmter Botenstoffe spezialisieren und vor allem müssen sie sich mit anderen Nervenzellen verbinden, denn im Gehirn geht nichts ohne Teamwork.

Bei jeder Wahrnehmung, jedem Gedanken und jeder Handlung ist ein riesiges Netzwerk von Nervenzellen aktiv. Verschiedene Strukturen unseres Gehirns sind für unterschiedliche Informationen zuständig. Der eine kümmert sich darum, dass wir senkrechte oder waagerechte Balken sehen, ein anderer codiert die Zeitabläufe von Dingen wie Fahrradfahren oder Suppe kochen und wiederum andere sind aktiv, wenn wir Angst haben, Musik hören oder unwillkürliche Laute ausstoßen. Es arbeiten bei der Verarbeitung von Informationen allerdings immer viele Bereiche zusammen. Gemeinsam sind sie dafür verantwortlich, dass wir uns bewegen, dass wir sehen und fühlen. Manche dieser Hirnstrukturen sind tief im Inneren des Gehirns gelegen, andere gehören zur Hirnrinde. Die Hirnrinde (womit ich in diesem Buch immer die Großhirnrinde und nicht die Kleinhirnrinde meine), bezeichnet die eingefaltete graue Schicht von Nervenzellen, die wie ein Mantel die tiefer gelegenen Hirnstrukturen umgibt und die uns auf typischen Hirnbildern wie eine Walnuss erscheint. Die Hirnrinde gilt als Ort besonders komplexer Verarbeitung. Mit ihrer Hilfe können Bilder, Töne, Sprache, Zusammenhänge und Emotionen detailliert erfasst und verarbeitet werden. Dazu später mehr.

Zurück zur Entwicklung. Die junge Nervenzelle (s. Abb. 2.2) hat eine wichtige Aufgabe: Sie muss ein Netzwerk mit vielen anderen bilden. Woher weiß sie, mit wem? Wie einem Erstklässler am ersten Tag in der neuen Schule stehen der Zelle viele potentielle Kameraden zur Verfügung. Mit welchen der anderen Zellen soll sich ihr informationsweiterleitender Fortsatz, ihr Axon, verbinden? Es soll ja nicht die Augenzelle mit der Nasenzelle verbunden werden, und schon gar nicht mit der des großen Zehs. Zunächst einmal bahnt sich das Axon seinen Weg durch das Gehirn und sucht sich grob das Zielgebiet, – so ähnlich, wie der Erstklässler den Gebäudetrakt mit dem Klassenraum. Dieser Vorgang wird genetisch gesteuert. Die Gene geben vor, dass an entscheidenden Stellen des sich entwickelnden Gehirns bestimmte Moleküle ausgeschüttet werden, von denen sich das Axon entweder angezogen oder abgestoßen fühlt – als würden Pfeile an der Wand den Weg weisen. Das wachsende Axon navigiert sich mit seinem vorderen Teil, dem Wachstumskegel, durch das Dickicht von Nerven- und Gliazellen und findet bald das Gebiet, in dem seine Gruppe von Zellkameraden bereits wartet.

Abb. 2.2: Bei einer beispielhaften idealisierten Nervenzelle werden die Informationen in Form elektrischer Erregung entlang des Axons in Richtung der nächsten Zelle transportiert. Chemische Moleküle wie Glutamat oder Dopamin werden in den synaptischen Spalt hinein freigesetzt, binden an passende Rezeptoren der Zielzelle und führen dazu, dass auch in der Zielzelle eine elektrische Erregung entsteht und die Information codiert.

Eine weitere sehr wichtige Eigenschaft, die ausreifen muss, ist die Auswahl eines bestimmten Botenstoffs. Nervenzellen verwenden chemische Botenstoffe, sogenannte Neurotransmitter, um Informationen von einer Zelle an die nächste weiterzuleiten. Sie sind dabei in der Regel auf die Verwendung eines oder weniger Stoffe spezialisiert. Möchte eine Zelle eine Botschaft an die nächste senden, vielleicht, weil herannahende Kissenkonturen erahnen lassen, dass eine schützende Handbewegung nach links oben erforderlich ist, dann werden schnell wirksame Transmitter1 verwendet, um die Botschaft von einer Zelle an die nächste weiterzugeben und schließlich die Handbewegung auszulösen. Darüber hinaus gibt es Neuromodulatoren, die auf größere Bereiche des Gehirns einwirken, etwa Noradrenalin, Serotonin, Dopamin und Acetylcholin. Diese Moleküle werden freigesetzt, wenn das Gehirn merkt, dass irgendein Reiz aus der Umwelt oder aus dem eigenen Körper besonders wichtig ist, etwa, weil ihm klar wird, dass es sich doch nicht um das erwartete Kirschkernkissen handelt, sondern um die zuvor nur nachlässig verschnürte Windel, die mit hoher Geschwindigkeit aus Kinderhand auf unser Gesicht zurauscht. Diese Reize erfordern, dass nicht nur einzelne Nervenzellen ihre Aktivität ändern, sondern dass der ganze Körper blitzschnell reagiert, man wachsam wird und bereit ist, sofort zu handeln. Die Stoffe werden dann von jeweils einer kleinen Gruppe Nervenzellen produziert und nicht nur an einer einzigen Synapse, sondern gleichzeitig in verschiedenen Bereichen des Gehirns freigesetzt. Ihre Wirkung kann unser gesamtes Fühlen, aber auch unser Denken, Wollen und Verhalten beeinflussen.

Nun ist die junge Nervenzelle am Ort ihrer Berufung und hat einen bestimmten Neurotransmitter, über den sie mit anderen Nervenzellen kommunizieren kann. Riesige Netzwerke miteinander verschalteter Nervenzellen bilden sich. Im letzten Drittel der Schwangerschaft beginnt eine noch weit über die Geburt hinausgehende Phase, in der die Neubildung von Synapsen besonders ausgeprägt ist. Man schätzt, dass fast 40 000 Synapsen pro Sekunde gebildet werden (Tau und Peterson 2010). Das sind 2,4 Millionen Synapsen in der Minute! Auch nach dieser Periode entstehen zahlreiche Synapsen, allerdings nicht mehr in einem vergleichbaren Umfang. Nun könnte man meinen, je mehr die Synapsen miteinander verschaltet werden, desto ausgereifter und klüger würde das Gehirn. Das ist nicht ganz richtig, denn in einem weiteren sehr wichtigen Prozess wird die Anzahl der Synapsen wieder vermindert. Einer zunächst nachlässig ausschweifenden Überproduktion folgt eine umfangreiche und strukturierte Beseitigung vieler Synapsen. So, wie der Erstklässler am ersten Schultag noch eine ganze Reihe potentieller bester Freunde begrüßt, geht auch die Zelle erst einmal Verbindungen mit allen möglichen in Frage kommenden Zellen ein, um sich dann auf einige wenige zu konzentrieren. Je nach Hirnregion tritt die Synapsenbeseitigung im Verlauf von Kindheit oder Jugend auf.

Wie im Klassenzimmer sind es die Erfahrungen, die darüber entscheiden, welche Verbindungen erhalten werden. Gemeinsam mit den Genen bestimmen sie dadurch, wie sich das Gehirn entwickelt.

2.1 Gene und Erfahrungen beeinflussen die Hirnentwicklung

In der Entwicklung des Gehirns liefern die Gene zunächst einen Bauplan für ein grobes Verschaltungsmuster der Nervenzellen. Anschließend entscheiden die Erfahrungen, welche Verbindungen aufrechterhalten werden. Die Verbindungen, die aufgrund der Erfahrungen immer wieder genutzt werden, werden stabilisiert. Ungenutzte Verbindungen werden beseitigt. Sie würden nur unnötig im Weg sein oder gar Energie verbrauchen. Use it or lose it!

Die anfänglich übermäßige Verschaltung spiegelt dabei den Umstand wider, dass das Gehirn darauf vorbereitet ist, sich in seiner Entwicklung den Bedürfnissen des Menschen in seiner ganz speziellen Umwelt anzupassen. Es werden nur diejenigen Verbindungen aufrechterhalten, die in der jeweiligen Umwelt benötigt werden.

Die Periode, in der ein übermäßig verschaltetes Netzwerk von Nervenzellen darauf wartet, entsprechend den Umwelterfahrungen stabilisiert und angepasst zu werden, stellt eine sensible Periode dar, innerhalb derer Erfahrungen einen besonders tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung haben und in manchen Fällen sogar unbedingt benötigt werden. Allerdings findet in dieser Zeit nicht ausschließlich ein Abbau von Synapsen statt. Auch zusätzliche Verbindungen werden geschaffen. Das ganze System ist vorübergehend auf Veränderung durch Nutzung, auf Lernen durch Erfahrungen, d.h. auf Plastizität ausgelegt.

Die Diskussion um sensible Perioden des Lernens brachte viele Eltern dazu, ihre Kinder möglichst früh mit allen möglichen Aktivitäten und Unterrichtseinheiten von der Violine bis zur chinesischen Sprache zu konfrontieren, um das junge und formbare Gehirn möglichst effektiv mit neuen Informationen zu füttern. Ob dies aus neurobiologischer Sicht sinnvoll ist, werde ich später diskutieren (6.4).

In dieser frühen Zeit der Herausbildung von Nervenzellnetzwerken ist nicht nur wichtig, wer sich auf der Ebene der Hirnrinde mit wem verschaltet, sondern auch, wie diese Verschaltung zukünftig von den Neuromodulatoren beeinflusst wird. Ist in der Umgebung etwas besonders wichtig, dann sind sie es, die uns im Angesicht einer nachlässig verschnürten fliegenden Windel wachsam machen oder uns motivieren, etwas zu unternehmen (»unbedingt vorsichtig fangen!« oder »ducken!«). Frühe Erfahrungen können Einfluss darauf nehmen, in welchem Ausmaß Nervenzellen, die diese Stoffe freisetzen, ihre Fortsätze in andere Hirnbereiche senden und ob auf den Zielzellen eine hohe oder geringe Anzahl von Bindungsstellen für diese Stoffe ausgebildet wird. Bei dem einen wirken die Stoffe, beispielsweise Stresshormone, daraufhin mehr, bei dem anderen weniger. Der eine läuft im Angesicht eines Berges von Herausforderungen zu Hochtouren auf, der andere wird nervös, sobald er im Supermarkt sein Früchtemüsli nicht findet. Bei anderen Stoffen wie Serotonin oder Oxytocin funktioniert es genauso. Auch sie können mehr oder weniger intensiv wirken. Über einen solchen prägenden Mechanismus können frühe Erfahrungen ganz erheblich unser späteres Verhalten beeinflussen.

Die Anpassung des Nervenzellgerüsts an die jeweilige Umwelt beginnt beim Menschen bereits vor der Geburt. Gelegentlich betonen Medienberichte diese vorgeburtliche Prägung und beziehen sich dabei auf Vorlieben im Bereich der klassischen Musik oder der Muttersprache. Viel wesentlicher sind aber emotionale Erfahrungen – und zwar die der Mutter. Angst oder auch Stress der schwangeren Mutter können langfristige Auswirkungen auf das Ungeborene und sein späteres Verhalten haben (s. 3.2). Ob nun vor der Geburt oder früh nach der Geburt – unsere speziellen frühen Erfahrungen beeinflussen gemeinsam mit unseren Genen unsere Gehirnentwicklung und unser späteres Verhalten. Zusammen legen diese beiden Faktoren fest, wie wir auf die Umwelt reagieren und wie wir unseren inneren Zustand regulieren können. Aber wie können Gene und Erfahrungen im Gehirn zusammenarbeiten?

Gene und Erfahrungen arbeiten zusammen

Menschen sind verschieden. Sie haben unterschiedliche Eigenschaften, Gewohnheiten und Empfindlichkeiten. Die einen sind ängstlich, die anderen draufgängerisch. Aber ist der Mensch nun ängstlich, weil er in der frühen Kindheit ängstigende Erfahrungen machte? Oder hat er diese Eigenschaft aufgrund seiner Gene? Ist der Mensch klug, weil er die Gene seiner klugen Mutter erbte, oder weil er von seinen klugen Eltern erzogen und ausgebildet wurde? Sind die Gene oder die jeweilige Umwelt für die Entwicklung des Einzelnen, für die Reifung seines Gehirns und die Ausbildung einer Persönlichkeit von größerer Bedeutung?

Diese Frage gehört zu den großen Menschheitsfragen und beschäftigt bereits seit vielen Jahrhunderten zahlreiche große Denker und Forscher. Es ging hin und her, man spekulierte und debattierte. Noch in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wurden in den verschiedenen Disziplinen sehr einseitige Positionen vertreten, in der Lernpsychologie z.B. durch den Psychologen John B. Watson.

Zitat: »Man gebe mir ein Dutzend gesunder Säuglinge und eine von mir gestaltete Umwelt, um sie aufzuziehen, und ich würde garantieren, dass ich jeden trainieren könnte, zu jeder beliebigen Spezialität – Arzt, Anwalt, Künstler, Händler und, ja sogar Bettler und Dieb, unabhängig von seinen Talenten, Tendenzen, Fähigkeiten, Berufungen und der Rasse seiner Vorfahren« (Watson 1930; Übersetzung nach Asendorpf 2007).

In heutiger Zeit weiß man, dass der Mensch nicht ein solch unbeschriebenes, und vollständig durch Erfahrungen gelenktes Blatt ist. Ebenso wie es verschiedene Ausprägungen der Gene für die Haarfarbe gibt, die den einen Menschen blond und den anderen brünett aussehen lassen, treten auch die Gene für Moleküle des Hirnstoffwechsels in verschiedenen Varianten auf. Diese wiederum können ebenfalls das emotionale Erleben und das soziale Verhalten eines Menschen beeinflussen.

Inzwischen hat sich aufgrund zahlreicher Studien die Ansicht durchgesetzt, dass die menschliche Persönlichkeit das Ergebnis von Genen und Umwelt ist.

Aus der Forschung: Es ist manchmal schwierig, die verschiedenen Einflüsse sauber herauszuarbeiten. Wird etwa beobachtet, dass liebevolle Eltern selbstbewusste Kinder haben und deshalb darauf geschlossen, dass Selbstbewusstsein Folge einer positiven Umwelt ist, könnten theoretisch auch die gleichen Gene, welche Eltern liebevoll erscheinen lassen, beim Kind zu Selbstbewusstsein führen. Ebenso kann das antisoziale Kind einer wenig feinfühligen Mutter deren Gene geerbt haben und deshalb antisozial sein.Eine häufig verwendete Methode zur differenzierten Untersuchung der Einflüsse von Genen und Umwelt sind Zwillingsstudien. Wachsen etwa eineiige Zwillinge (mit gleichen genetischen Informationen) und zweieiige Zwillinge (mit unterschiedlichen genetischen Informationen, wie bei normalen Geschwistern) in derselben Umwelt auf, kann man aus dem Ausmaß ihrer Ähnlichkeit in einem bestimmten Merkmal auf den genetischen Einfluss schließen. Ist die Übereinstimmung bei den eineiigen Zwillingen größer als bei den zweieiigen, wie es etwa für die Nasengröße oder die Haarfarbe gegeben ist, dann folgert man daraus, dass die Gene ausschlaggebend sind. Sind sich aber eineiige und zweieiige Zwillinge in einem bestimmten Merkmal gleichermaßen ähnlich, dann kombiniert man, dass der genetische Einfluss nicht so stark ist und das Merkmal eher durch Umwelteinflüsse gelenkt wird. Dies wird etwa für Bindungssicherheit (s. Kapitel 4) angenommen: Zwillinge haben oft das gleiche Bindungsmuster. Das Ausmaß der Übereinstimmung ist für eineiige Zwillinge nur geringfügig höher, so dass hier ein erheblicher Umwelteinfluss vermutet wird (O’Connor und Croft 2001).

Diskutiert wird allerdings noch immer über den Anteil, den die Gene und die Umwelt an der Entstehung einer bestimmten Eigenschaft, etwa Intelligenz, Gewissenhaftigkeit, Verträglichkeit oder Aggressivität, haben. Aufgrund der Ergebnisse der Zwillingsstudien schätzt man, dass bei fast allen menschlichen Eigenschaften 40–60 % der Unterschiede in dieser Eigenschaft durch Vererbung erklärt werden können (Bakermans-Kranenburg und Van IJzendoorn 2015).2

Heutzutage weiß man auch, dass der Mensch nicht die Summe seiner Gene und der Umwelt ist, sondern dass verschiedene Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Faktoren auftreten. Das bedeutet einerseits, dass Gene beeinflussen, welche Auswirkungen Erfahrungen haben. Andererseits können Erfahrungen festlegen, welche Gene wirksam werden. Diesen Zusammenhang werde ich auf den nächsten Seiten als Prinzip erläutern. In Kapitel 3 und 4 werde ich an Beispielen verdeutlichen, wie in einer Wechselwirkung der Gene und der Umwelt die kindliche Persönlichkeit entsteht.

Gene beeinflussen die Auswirkungen von Erfahrungen

Gene beeinflussen nicht nur emotionale und soziale Eigenschaften eines Menschen, also ob er ängstlich oder mutig, in sich gekehrt oder extravertiert ist, sondern auch, wie empfindlich der Mensch auf Erfahrungen reagiert – bei einigen Menschen ist der Einfluss von Erfahrungen auf die Persönlichkeit höher als bei anderen. Wichtig ist dies insbesondere dann, wenn die Umwelt nicht optimal ist.

Diese Theorie stellte der Psychologe Jay Belsky 1997 vor. Er nannte sie »Hypothese der differentiellen Beeinflussbarkeit« (differential susceptibility hypothesis).3 Hiernach werden Individuen abhängig von ihren Anlagen in einem unterschiedlichen Ausmaß von den Erfahrungen mit ihrer Umwelt beeinflusst – und zwar im Guten wie im Schlechten. Kinder mit einer besonders beeinflussbaren Veranlagung können mehr als andere von positiven Erfahrungen profitieren, leiden aber auch mehr als andere unter einer negativen Umwelt. In Kapitel 3 werde ich darauf zurückkommen und deutlich machen, welche Veranlagungen dies sind. In Kapitel 4 wird es darum gehen, dass diese Kinder mehr als andere auf sichere Bindungsbeziehungen angewiesen sind.

Der Befund, dass manche Menschen aufgrund ihrer genetischen Ausstattung auf spezielle Erfahrungen stärker oder schwächer mit Prägungen des emotionalen Erlebens oder des Verhaltens reagieren, ist auch an der Entstehung der psychischen Widerstandsfähigkeit, der Resilienz, beteiligt. Manche Menschen wachsen unter bedauernswerten Umständen auf oder erfahren in ihrer frühen Kindheit schwere Schicksalsschläge, erholen sich jedoch schnell und sind später durchaus in der Lage, ein einigermaßen glückliches und zufriedenes Leben zu führen, ohne jemals ernsthaft psychisch zu erkranken – sie sind resilient gegenüber den Auswirkungen der frühen Erfahrungen. Das Auftreten von Resilienz wird gelegentlich als Argument dafür angeführt, dass sich der Mensch von schlimmen frühen Erfahrungen erholen kann, wenn er nur will. Frühe extrem negative Erfahrungen könnten keine späteren Verhaltensprobleme entschuldigen (»andere Leute haben auch eine schwierige Kindheit gehabt!«). Leider ist diese Schlussfolgerung ziemlich falsch, da sowohl die genetische Ausstattung als auch das Vorhandensein früher ausgleichender Erfahrungen (etwa eine positive Bindungsbeziehung zu einem Familienmitglied bei gleichzeitiger Misshandlung durch ein anderes) bestimmen, ob jemand resilient auf frühe negative Erfahrungen reagieren kann. Das ist per Willensentschluss kaum mehr zu beeinflussen.

Erfahrungen legen fest, welche Gene wirksam werden – die Epigenetik

Eben ging es darum, wie Gene die Auswirkungen von Erfahrungen beeinflussen. Die zweite Wechselwirkung zwischen Genen und Erfahrungen betrifft die andere Richtung: Erfahrungen beeinflussen die Gene, bzw. legen fest, in welchem Ausmaß die Gene zum Einsatz kommen.

Jede Zelle enthält in ihrem Zellkern den gleichen Genbestand. Welche Gene benötigt werden, unterscheidet sich jedoch von Zelle zu Zelle. Eine Hautzelle des großen Zehs hat andere Funktionen und Eigenschaften als eine Zelle in der Nase oder eine Nervenzelle des visuellen Systems. Und die Nervenzelle des visuellen Systems benötigt andere Proteine als eine Nervenzelle des Stresssystems. Der Körper hat deshalb ein kompliziertes System entwickelt, mit dem Gene an- und auch abgeschaltet werden können. Für jede einzelne Zelle wird präzise reguliert, welche Gene angeschaltet werden und welche Proteine daraufhin hergestellt werden. Das stellt sicher, dass am großen Zeh keine Nasenschleimhaut und von der Nervenzelle keine Hornhaut produziert wird.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Erfahrungen in diesen Prozess eingreifen können. Sie können ebenfalls Gene an- oder abschalten, und zwar langfristig.

Im Detail: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Aktivität der Gene langfristig einzustellen. Eine davon ist die sogenannte Methylierung. Bei diesem Prozess bringen Proteine chemische Markierungen (Methylgruppen) an bestimmte Bereiche der DNA an. Als würden Seiten des Buches geschwärzt oder ein Kaugummi die Seiten der Tageszeitung verkleben. Die DNA kann aufgrund dieser Markierungen nicht mehr abgelesen werden. Die Gene sind abgeschaltet.4

Durch diesen Mechanismus wird die Funktion der Gene modifiziert, ohne dass die Gene selbst verändert werden. Man spricht deshalb von einer epigenetischen Regulation. In den vergangenen Jahren wurde in zahlreichen Studien belegt, dass verschiedene Umweltbedingungen, von frühen negativen Erfahrungen wie Missbrauch bis hin zu einer fettreichen Ernährung oder Luftverschmutzung, dazu führen können, dass epigenetische Markierungen hinzugefügt oder entfernt werden. Gene werden dadurch an- oder abgeschaltet.

Aus der Forschung: In einem Tiermodell war das Ausmaß epigenetischer Markierungen abhängig vom Grad der mütterlichen Fürsorge. Bei intensiv bemutterten Rattenjungen war ein Bereich der DNA, der für die Herstellung bestimmter Bindungsstellen für Stresshormone wichtig ist, kaum markiert. Bei wenig umsorgten Jungen war er dagegen häufig markiert, und es konnten weniger Bindungsstellen produziert werden. Die Tiere reagierten daraufhin anders auf Stress als die Tiere, die eine intensive Fürsorge erhalten hatten (Weaver et al. 2004).

Inzwischen glaubt man, dass epigenetische Veränderungen unter Umständen von einer Generation an die nächste weitergegeben werden können, nämlich dann, wenn sie in die Keimzellen geraten. Auswirkungen von Erfahrungen mit der Umwelt können über diesen Mechanismus an die Kinder vererbt werden.

Aus der Forschung:Lernen Mäuse, dass einem bestimmten Geruch immer ein leichter Schmerz folgt, dann reagieren sie mit Furcht, sobald sie den Geruch wahrnehmen. Interessanterweise fürchten sich auch deren Nachfahren vor dem Sinneseindruck – ohne jemals selbst die Erfahrung gemacht zu haben, dass dieser Geruch Gefahr bedeutet.

Die Furcht vor diesem Geruch wird von vererbten epigenetischen Veränderungen begleitet: Das Gen für einen bestimmten Geruchsrezeptor ist bei den furchtsamen Mäusen vermindert markiert – und zwar bereits im Spermium der männlichen Tiere (Dias und Ressler 2013). Diese Veränderung scheint die Grundlage für die Weitergabe der Furcht vor dem speziellen Geruch zu sein. Die Information über die schmerzhafte Erfahrung muss auf irgendeine noch unbekannte Weise in den Hoden der Maus, dem Aufbewahrungsort für die Keimzellen, gelangt sein und dort die Genveränderung ausgelöst haben. Daraufhin war die Information im Spermium gespeichert, dass es in dieser speziellen Umwelt besser ist, das entsprechende Gen zu aktivieren und mehr von dem Geruchsrezeptor zu produzieren. Dies führte dann dazu, dass nach der Befruchtung, im Zuge der Zellteilung und der Entstehung neuen Lebens, das Gen tatsächlich aktiviert wurde. Die Nachkommen wiesen eine erhöhte Anzahl dieser Geruchsrezeptoren in der Nase auf und reagierten empfindlicher auf den Geruch.

Diesen Prozess der Weitergabe der veränderten Geninformation an die nächste Generation könnte es auch beim Menschen geben – zumindest legen neue Erkenntnisse, etwa aus der Untersuchung von Holocaust-Überlebenden, dies nahe. Es wird angenommen, dass auch beim Menschen Erfahrungen, die Eltern vor der Schwangerschaft machten, über eine Weitergabe der epigenetischen Informationen die Hirnfunktion und das emotionale Erleben der Kinder beeinflussen. Durch diesen Mechanismus könnten negative Auswirkungen von Stress von einer Generation an die nächste übertragen werden.

Aus der Forschung: Menschen, deren Vorfahren infolge der Konfrontation mit dem Holocaust eine posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) entwickelten, haben ein größeres Risiko, selbst an der PTSD oder Depressionen zu erkranken. Zudem ist bei ihnen die Stresshormon-Freisetzung verändert.

Nun wurde gezeigt, dass sowohl bei den Holocaust-Opfern als auch bei deren Nachkommen ein für das Stresssystem wichtiges Gen epigenetisch markiert war. Darüber hinaus stand die Gen-Veränderung bei den Nachkommen in einem Zusammenhang mit dem Ausmaß der Stresshormon-Freisetzung. Die Wissenschaftler folgern, dass der elterliche Stress vor der Schwangerschaft das Stresssystem der Nachkommen dauerhaft beeinflusst hat und dass dieser Einfluss in Form epigenetischer Markierungen gespeichert wird (Yehuda et al. 2015).

Aus evolutionärer Sicht ist die Beeinflussung der Genaktivität durch Erfahrungen ein sinnvoller Mechanismus zur schnellen Anpassung eines Organismus an seine spezielle Umwelt. Eine Generation kann so Informationen über die wichtige Bedeutung bestimmter Umweltreize an die nächste weitergeben, so dass diese mit ihren Reaktionen optimal vorbereitet ist. Diese epigenetische Anpassung des Menschen und seiner Nachkommen an die Reize seiner speziellen Umwelt umfasst verschiedene Bereiche von der Anpassung an die Verfügbarkeit der Nahrung bis hin zur Einstellung des Stresssystems als Antwort auf eine Umwelt mit hohen oder nur niedrigen Anforderungen. Wird eine belastende Umwelt prophezeit, muss das Stresssystem besonders leistungsfähig sein. Wie dargestellt, kann dies andererseits aber auch bedeuten, dass beim Auftreten extrem negativer Erfahrungen, z.B. Misshandlungen oder auch Naturkatastrophen, nicht nur die Traumatisierten selbst, sondern auch ihre Nachkommen die Auswirkungen dieser Belastungen zu spüren bekommen. Die generationsübergreifende Weitergabe epigenetischer Informationen kann daran beteiligt sein, dass gewisse psychische Erkrankungen oder Verhaltensstörungen häufig von einer Generation an die nächste weitergegeben werden und z.B. antisoziales Verhalten in manchen Familien hartnäckig fortbesteht (s. 5.4).

Take Home: In den ersten Lebensjahren geben Gene zunächst ein grundsätzliches Verschaltungsmuster vor. Anschließend bestimmen Erfahrungen, welche Verschaltungen langfristig aufrechterhalten werden. Gene legen zudem fest, welche Auswirkungen Erfahrungen haben und hiermit auch, dass nicht jeder Mensch gleichermaßen von Erfahrungen beeinflusst wird. Erfahrungen wiederum modulieren die Umsetzung der Gene und können hierdurch daran beteiligt sein, dass bestimmte Eigenschaften von einer Generation an die nächste weitergegeben werden.

2.2 Emotionales Fundament, flexibler Aufbau

Schauen wir einmal nach innen und versuchen, unser Inneres introspektiv zu erfassen. Wie würden wir das, was wir sehen, beschreiben?

In unserem Alltag erleben wir uns als denkende, schlussfolgernde, schreibende, rechnende Menschen. Vernünftig, orientiert, reflektiert. In diesem Abschnitt möchte ich das Gehirn als emotionales Wesen vorstellen. Ich möchte zeigen, dass es die tief im Inneren des Gehirns erzeugten Emotionen sind, die unsere Wahrnehmungen, unser Verhalten und unser Denken anleiten: Überraschung, Glück, Verachtung, Wut, Ekel, Furcht, Traurigkeit, Neid, Stolz, Scham und weitere.

Was sind aber überhaupt Emotionen? Definiert wird eine Emotion als ein Muster von Veränderungen im Körper, die als Antwort auf eine persönlich bedeutsame Situation erzeugt werden. Dazu gehören körperliche Reaktionen wie der Herzschlag oder der Blutdruck, bewusste Gefühle, aber auch Verhaltensantworten wie Kampf oder Flucht. Bemerkt unser Gehirn irgendeinen bedeutsamen Reiz, etwa einen Geburtstagskuchen, einen nervigen Autofahrer, ein faulig riechendes Ei oder einen Schatten hinter uns, dann werden unbewusst und automatisch tief im Inneren des Gehirns Nervenzellen aktiv und geben Anweisungen an andere Bereiche unseres Gehirns bzw. an unsere Organe. Ob wir wollen oder nicht: Ein Gefühl kommt über uns. Freude, Wut, Ekel, Angst. Wir verhalten uns entsprechend, nicht immer, aber oft. Wir wenden uns angeekelt ab, wenn die Nahrung faulig riecht und laufen verängstigt weg, wenn der Schatten seine Hände nach uns ausstreckt.

Die Gehirnbereiche, die an der Verarbeitung von Emotionen beteiligt sind, werden zusammen als limbisches System bezeichnet. Dazu gehören Nervenzellstrukturen tief im Inneren des Gehirns ebenso wie einige Nervenzellen mittiger Bereiche der vorderen Hirnrinde (s. Abb. 2.3).

Abb. 2.3: Limbisches System – nur ausgewählte Strukturen wurden bezeichnet. Erläuterungen im Text (verändert nach Spektrum/Scientific American 2004).

Erzeugt werden die den Emotionen zugrunde liegenden neuronalen Prozesse von tief im Gehirn gelegenen Strukturen, etwa der Amygdala oder dem Nucleus accumbens. Ohne dass wir es bewusst mitbekommen, entdeckt unser Gehirn die bedeutsamen Umweltreize und wirft die Maschinerie an. So geht die Amygdala online, wenn ich abends beim Lesen im Augenwinkel ein achtbeiniges, womöglich haariges Wesen auf meiner Decke ertappe. Gelingt es mir, meinen Mut zusammenzunehmen und das Ding nach draußen zu befördern, dann jubelt mein Nucleus accumbens über das Gefühl der Belohnung: Ich habe es geschafft! Dabei freut sich der Nucleus accumbens sowieso schon den ganzen Abend. Seine Aktivität begleitete den Genuss des köstlichen Abendessens ebenso wie das Hören der schönen Musik danach. Und über das Glas Rotwein konnte er sich gar nicht wieder einkriegen.

Das, was wir als Emotion, als bewusstes Gefühl wahrnehmen, ist die Abbildung des körperlichen Zustands auf der Ebene der Hirnrinde: Den emotionalen Regionen der Hirnrinde wird zurückgemeldet, was im Körper und den übrigen Hirnbereichen vor sich geht und diese Rückmeldung wird uns wohl aufgrund der ziemlich exakten Gleichzeitigkeit der elektrischen Aktivität der beteiligten Nervenzellen irgendwie bewusst. Die bewussten Gefühle erlauben uns, die Inhalte unserer komplizierten Welt im Detail zu erfassen, zu ordnen, sie miteinander in Beziehung zu setzen und unser Verhalten flexibel daran auszurichten.

Verdeutlichen kann man diesen Prozess an einem besonders gut untersuchten emotionalen System: dem Furchtsystem. Geschieht in unserer Umwelt etwas, das auf Gefahr hindeutet, wie z.B. das Erscheinen des haarigen Wesens oder eines Schattens, dann gelangen die Sinnesreize über eine Zwischenstation zur erwähnten Amygdala. Diese Struktur setzt verschiedene andere Hirnbereiche in Gang, etwa den Hypothalamus, der seinerseits das Stresssystem aktiviert und die Freisetzung von Stresshormonen veranlasst. Sofort werden wir hellwach, und unser Körper bereitet sich auf Kampf oder Flucht vor. Die Nervenzellen teilen blitzartig den verschiedenen Körperorganen mit, was zu tun ist (»@ Herz: der Körper muss möglicherweise gleich weglaufen, bitte schneller schlagen!«, »@ Augen: Ich muss jetzt alle Hinweise meiner Umgebung beachten, Pupillen bitte erweitern!«, »@ Darm: Energie wird anderweitig benötigt, Verdauungstätigkeit bitte vorübergehend einstellen!«).

Der Körper wird dadurch leistungsfähiger. Diese Anpassung des Körpers an erhöhte Anforderungen der Umwelt wird akute Stressreaktion genannt. Das was wir im Alltag gequält als Stress bezeichnen, ist hingegen unkontrollierbarer oder chronischer Stress – der Körper kann die erhöhten Anforderungen nicht mehr bewältigen oder sich von einer dauerhaft erhöhten Belastung nicht mehr erholen.

Bemerken wir die haarige Spinne, so bewirkt die von der Amygdala ausgelöste schnelle Stressreaktion, dass wir blitzschnell und ohne Nachdenken handeln. Wir weichen zurück. Wir überlegen uns nicht: »Herrje, da ist ja eine haarige und große Spinne, da weiche ich doch lieber etwas zurück, damit sie mir nicht wehtut«. Nein, wir reagieren automatisch und schnell.

Gleichzeitig wird das Bild der Spinne von den Augen über das Zwischenhirn an die Hirnrinde geschickt. Dieser Weg dauert einige Bruchteile von Sekunden länger. Nun wird uns die Bedrohung bewusst, begleitet von einem Gefühl der Furcht. Das Bild der Spinne wird auf der Ebene der Hirnrinde im Detail verarbeitet und analysiert. Es wird mit Wissen und Erfahrungen abgeglichen, so dass wir angemessen reagieren können. Bemerken wir, dass die haarige Spinne an einem Schlauch mit einem Blasebalg und einem sich vor Lachen kringelnden Kind am anderen Ende hängt, hemmt die Hirnrinde die tief gelegenen Nervenzellen. Wir erholen uns von der Furcht.

Das Gehirn hat sich mit der ersten, unüberlegten aber schnellen Reaktion auf bedrohliche Reize ein Mittel erhalten, das schon vielen Menschen das Leben gerettet hat: Für das Überleben des Menschen ist es sinnvoller, zehn Mal vor einer Spielzeugspinne oder einem kleinen Ast auf dem Boden zurückgewichen zu sein als einmal nicht rechtzeitig auf eine Giftspinne oder eine Schlange reagiert zu haben (s. Abb. 2.4).

Abb. 2.4: