Die ersten ihrer Art - Frank Patalong - E-Book

Die ersten ihrer Art E-Book

Frank Patalong

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Beschreibung

Hawkins Monster Am 10. Juni 1854 eröffnete Queen Victoria vor 40.000 Gästen den spektakulärsten Freizeitpark des 19. Jahrhunderts: 1700 Musiker spielten auf, als der Crystal Palace Park seine Pforten öffnete. Seinen Besuchern bot er Dinge, die im Sinne des Wortes noch nie ein Mensch zuvor gesehen hatte. Denn am südlichen Ende des Parkes hatte der Bildhauer Benjamin Waterhouse Hawkins 33 lebensgroße Statuen prähistorischer Tiere errichtet - die ersten räumlichen Darstellungen ausgestorbenen Lebens weltweit. Sie brachten den Traum vom ultimativen Monster in die Welt: den Dinosaurier - und und sie bereiteten den Boden für die Evolutionslehre, die Charles Darwin erst sechs Jahre später veröffentlichen sollte. Hawkins Statuen stehen noch immer - seltsam schräge, halb vergessene, aus der Zeit gefallene und vom Erkenntnisfortschritt überholte Monumente menschlichen Wissensdranges. Dies ist der erste Führer in deutscher Sprache zu den Monumenten, mit denen Hawkins unsere Vorstellung der Welt veränderte. Statue für Statue, Spezies für Spezies: Willkommen auf der Reise zurück ins 19. Jahrhundert - zu den Anfängen der Naturwissenschaften und zum Moment der Erkenntnis.

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Seitenzahl: 84

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Inhalt

Vorab

Was Crystal Palace zu etwas Besonderem macht

Erleben: Die „Monster“ des Dinosaur Court

Hinkommen

Dicynodon

Labyrinthodon

Plesiosaurus

Ichthyosaurus

Teleosaurus

Megalosaurus

Iguanodon

Hylaeosaurus

Pterodactyl

Mosasaurus

Palaeotherium

Anoplotherium

Megatherium

Megaloceros

Verstehen

Hawkins Monster, Hawkins Zeit

Copyright: Patalong

Vorab

Betonmonster im Park:

Was Crystal Palace zu etwas Besonderem macht

Mein Schwager Marcus lebt mit seiner Familie im Süden von London.

„Kennst Du eigentlich die Dinosaurier-Statuen im Crystal Palace Park?“, fragte ich ihn einmal.

„Klar“, sagte er: „Da waren wir früher immer mit den Kindern spazieren. Nicht so toll, oder?

Was hältst Du denn von den Dingern?“

Das ist eine gute Frage. Was man von den Crystal Palace Dinosauriern hält, die auf einem kleinen Areal im Crystal Palace Park im Londoner Süden um und auf künstlichen Inselchen stehen, hängt sehr stark davon ab, wie viel man über sie weiß.

Wer ihre Geschichte nicht kennt, empfindet sie – mit dem Wissen des 21. Jahrhunderts und unzähligen Medien-Auftritten aller möglicher, vermeintlich lebensechter digitaler Saurier im Hinterkopf – als naiv, ja fast kindlich.

Kennt man aber ihre Geschichte, dann sieht man sie mit ganz anderen Augen. Die 33 „Monster“ im Crystal Palace Park sind uralte Monumente einer Zeit, als man noch „Wissen schaffen“ musste, weil es schlicht noch nicht da war – sie sind künstlerische und wissenschaftliche Pioniertaten aus einer Zeit, als die Wissenschaft von der „Vorzeit“ gerade erst entstand.

Hier das wichtigste über sie im Schnelldurchlauf:

1854 aufgestellt sind Sie über 160 Jahre alt;

Sie waren weltweit die ersten je gefertigten Statuen prähistorischer Lebewesen;

Sie sind älter als die Evolutionstheorie: die veröffentlichte Darwin erst sechs Jahre später;

Sie waren auch der weltweit erste Versuch überhaupt, dreidimensionale Darstellungen von Tieren in ihrer Umwelt zu zeigen;

Es waren diese Statuen, die den Begriff Dinosaurier öffentlich bekannt und populär machten;

Zu ihrer Zeit wurden sie als perfekte Synthese von Kunst und Wissenschaft gefeiert;

Produziert wurden sie vom renommierten Bildhauer

Benjamin Waterhouse Hawkins,

der sich von

Richard Owen

beraten ließ, dem führenden Geologen und Paläontologen seiner Zeit;

Sie waren eine weltweit beachtete Sensation und für Jahrzehnte eine der beliebtesten Attraktionen im viktorianischen London

Sie lösten den ersten Dino-Boom aus.

Kurzum: Sie sind zugleich bedeutende Monumente der Wissenschaftsgeschichte und der Popkultur.

Aus heutiger Sicht sind die meisten der Rekonstruktionen aber natürlich auch „falsch“, weil fehlerhaft und vom Erkenntnisfortschritt weit überholt.

Trotzdem markieren sie auch den Beginn eines unfassbaren Erkenntnisschritts: Weg von religiös-magisch geprägten Vorstellungen der Schöpfung und hin zu einem durch systematische Wissenschaften erklärten Weltbild. Sie sind der in Beton gegossene, erste Blick hinter die Kulissen der Entwicklungsgeschichte des Lebens.

Erst mit dem vom Glauben losgelösten Wissen um die Entstehung des Lebens und der Arten begannen wir zu begreifen, wer wir wirklich sind und wie die Welt beschaffen ist, in der wir leben. Wenn man so will, sind die seltsamen Statuen im Crystal Palace Park Zeugnisse unserer Selbsterkenntnis als Teil einer dynamischen, sich fortlaufend verändernden Lebenswelt. Zu sehen, das große, beeindruckende Wesen diesen Planeten bevölkerten, lang bevor unsere Existenz begann, muss die Menschen zutiefst erschüttert haben. Es relativierte alles.

Die Saurier-Inseln im Crystal Palace Park sind nur ein kleiner, aber magischer Ort, mit einer sehr überschaubaren Ausstellung großer, von der Zeit überholter Beton-Lebewesen. Doch die sind viel mehr als nur irgendwelche Kuriositäten oder halb lustige Artefakte eines Vergnügungsparks des 19. Jahrhunderts. Sie sind Denkmäler unseres Wissensdurstes und eines Punktes in unserer Geschichte, den man als einen Moment der Welt- und Selbsterkenntnis bezeichnen kann.

Ich habe die Figuren im Februar 2015 zusammen mit meiner Frau besucht. Sie hat eigentlich kein Interesse an Paläontologie.

Ihr Urteil: „Die sehen aus wie schlechte Skulpturen aus den 1970ern.“

Das stimmt, aber für mich sind sie trotzdem wunderschön. Ich erklärte ihr, was mich an den Figuren fasziniert, wo und auf welche Weise sie vom aktuellen Wissensstand abweichen und auch, wie es überhaupt dazu kam, dass man sie einst aufstellte.

„Und warum erfährt man das alles hier nirgendwo?“ fragte sie und fand das tatsächlich empörend: Selbst die meisten Londoner, denen die Statuen im Park vertraut sind, wissen nicht, was sie da eigentlich vor sich haben.

Woher auch? Die kleinen Schautafeln an den Dinosaurier-Inseln verraten sehr wenig. Und der aktuellste Führer, den es in englischer Sprache zum „Dinosaur Court“ und seiner Geschichte gibt, ist von 1994 und nicht mehr im Buchhandel erhältlich.

Immerhin: Restexemplare von „Crystal Palace Dinosaurs: The Story of the World’s First Prehistoric Sculptures“ von Steven Mc-Carthy und Michael Gilbert kann man noch über die Webseite der „Friends of Crystal Palace“ für 6,95 Pfund kaufen:

www.cpdinosaurs.org/learn/books-and-more

Die „Friends“ bieten auch Faksimiles historischer Führer von Richard Owen (herausgegeben 1854) und einen Parkführer von Samuel Phillips von 1856 an. Aus denen erfährt man freilich nur das, was man damals über die dargestellten Wesen wusste.

Das war es schon. In deutscher Sprache gab es bisher nicht einen einzigen Führer zu der kleinen Ausstellung: Bis Mai 2015 hatte noch nicht einmal die deutschsprachige Wikipedia einen Eintrag zum Thema, obwohl der „Dinosaur Court“ in mehreren Einträgen erwähnt wird.

Ich habe diesen kleinen Band, den Sie nun als Taschenbuch oder Ebook in der Hand halten, geschrieben, weil diese Figuren es verdient haben, verstanden zu werden. Wissen verändert den Blick - und macht den Besuch des „Dinosaur Court“ erst zu einem Erlebnis.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß mit diesen Pionierleistungen aus Beton, mit diesem schrägen, aber beeindruckenden Zeugnis menschlicher Findigkeit – lesend, und hoffentlich auch in Natura im Londoner Crystal Palace Park.

Frank Patalong

Mai 2015

Copyright: Patalong

Teil 1: Erleben

Hinkommen

Der Crystal Palace („Kristallpalast“) war das gigantische, gläserne Bauwerk, in dem 1851 die erste Weltausstellung stattfand. Ursprünglich im Hyde Park errichtet, baute man das riesige Glashaus nach der Ausstellung wieder ab und im Süden von London auf: Sowohl der Crystal Palace Park, als auch der umliegende Stadtteil von London sind nach dieser sensationellen Glashalle benannt, die 1936 in einem Feuer zerstört wurde. Was bleibt, ist der Park und an dessen südlichem Ende die Ausstellung „prähistorischer Monster“ aus dem Jahr 1854.

Der einfachste Weg dorthin führt über den Crystal Palace Bahnhof, der direkt am Park liegt. Er wird zurzeit von vier Bahn- und sechs Buslinien bedient.

Aus dem Zentrum von London führt die Bahnlinie von Victoria nach Sutton über Crystal Palace (30–40 Minuten), sowie die Linie von London Bridge nach Beckenham Junction (ca. 25 Min.). London Overground bedient den Bahnhof von Highbury & Islington aus (ca. 40 Min.), die bekannten roten Busse fahren den Bahnhof mit den Linien 157, 249, 358, 410, 432 und N3 an (Richtung London S/SE).

Genauso nah kommt man dem Park und seinen „Monstern“ von der Penge West Station aus. Bedient wird der Bahnhof von London Overground, East London Line ab Highbury & Islington, sowie per Bahn ab Victoria.

Rund um den Park gibt es außerdem weitere Bushaltestellen der Linien 3, 122, 202, 227, 322, 363, 417, und 450.

Prinzipiell kommt man auch per Auto dorthin, folgt dabei ab Innenstadt meist der notorisch überfüllten A3. Man kann aber fast nur davon abraten, außer man hat vor, weiter Richtung Süden zu fahren: Google Maps berechnet die zehn Kilometer von Westminster zum Park mit rund 33 Minuten, hat aber keinen Schimmer von den realen Verhältnissen – man darf da gut und gern vom Dreifachen ausgehen.

Immerhin ist Parken dort etwas unproblematischer, als man das aus London sonst kennt: Sowohl am Stadion im Park, als auch am angrenzenden Sports-Komplex gibt es Parkmöglichkeiten (Navi-Einstellung: Ledrington Road, London).

Die „prehistoric Monsters“ findet man exakt südlich des Stadions auf den Inseln im See (hier tiefschwarz markiert).Karte: © OpenStreetMap-Mitwirkende

Der Park selbst ist etwa 80 Hektar groß und fällt von Norden nach Süden ab. Beide Bahnhöfe liegen ebenfalls an diesem Südende und nur wenige Gehminuten von den „Saurierinseln“ entfernt. Am südlichsten Ende liegt der Bootssee und darin mehrere Inseln, um die herum Wanderwege führen.

Zusammen nennt man die drei Inseln den „Dinosaur Court“, den Hof der Dinosaurier. Die Laufrichtung, in der man sich das kleine Gebiet erschließt, ist dabei nicht willkürlich: Hawkins stellte sich vor, dass man den kleinen Weg am westlichen Parkrand von der Höhe herab kommen solle. Tatsächlich ist das die schönste erste Begegnung mit den Statuen: Man sieht sie dann vom Westen her aufgereiht vor und unter sich liegen.

Karte: © OpenStreetMap-Mitwirkende

Auf den zwei westlichen Inseln (1) steht das Gros der Hawkins-Statuen, einige weitere im Wasser um und zwischen den Inseln. Auf der benachbarten Insel (2) findet man frühe Säugetiere und eiszeitliche Fauna.

Unten angekommen, ergibt sich aus der Laufrichtung eine kleine Zeitreise, die auch nach heutigen Erkenntnissen noch prinzipiell korrekt ist: Zuerst sieht man Amphibien und frühe Reptilien, bevor man auf Ptero-, Meeres- und Dinosaurier trifft. Geht man weiter, begegnet man Säugern, und auch hier zuerst vergleichsweise kleinen, bevor man – auf der dritten Insel (2) die Giganten unter ihnen entdeckt. Dieser Führer stellt die Exponate in genau dieser Reihenfolge vor.

Dicynodon

Perm bis Kreide, ca. 265 bis 99,6 Millionen Jahre

Lage und Aussehen der Statuen: Vor den Inseln stehend ganz rechts, an der Rückseite der ersten Insel. Zwei schildkrötenhafte Wesen, aus dem Wasser kriechend.

Copyright: FunkMonk/Wikipedia/Creative Commons

Richtiges und Falsches: Der Kopf mit den Stoßzähnen kommt heutigen Vorstellungen von Dicynodon nahe. Der Rest nicht: Dicynodonten waren keine „Schildkröten“, sondern reptilische Vorfahren der Säugetiere – und manche Arten besaßen schon Merkmale, in denen sich das andeutete.

Wissenswertes: Im Jahr 1844 fand der Geologe Andrew G. Bain bei Straßenbauarbeiten 450 Meilen nördlich von Kapstadt zwei seltsame fossile Schädel, die er wegen ihrer prominenten Stoßzähne „Bidentale“, also „Zweizähner“ nannte. Neben diesen Schädel-Teilen aber fand er nur Fragmente der rätselhaften Tiere, einen echten Reim konnte er sich nicht darauf machen. Er beschloss, sie zur weiteren wissenschaftlichen Untersuchung an Richard Owen nach England zu schicken.