0,99 €
Die Exekution und Wiederauferstehung der Anne Greene hat in mehr als einer Hinsicht Geschichte geschrieben. Ihr grausamer Fall wirft ein Schlaglicht auf eine Zeit, als man auch in Europa vorzugsweise die Opfer hinrichtete, um einflussreiche Täter zu schützen. Anne Greene allerdings blieb nicht liegen: Die 1650 erhängte Frau gilt als erste Wiederbelebte der Medizingeschichte. Mit ihr begann die Geschichte der medizinischen Lebensrettung - mit Methoden, die heute nur noch bizarr erscheinen.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 37
Veröffentlichungsjahr: 2019
Nihil verum nisi mors
Teil 1: Die Geschichte eines Beinahe-Justizmordes
Die Reads und die Greenes: manche sind gleicher
Hintergrund: Leben in Cromwells Gottesstaat
Das bestrafte Opfer
Aus dem Leben, aus dem Sinn
Die Tortur der Exekution
Medizin auf dem Weg zur Wissenschaft
Der nicht endgültige Tod der Anne Greene
Die Auferstehung
Teil 2: Die Nachwirkungen eines Nicht-Wunders
Taphephobie: Die Angst vor dem Untot
Eine hysterische Modekrankheit
Steeple Barton im englischen Oxfordshire ist mit knapp 1500 Einwohnern bis heute nicht mehr als ein großes Dorf. Als dort im Jahr 1628 ein Mädchen namens Anne Greene geboren wurde, war es ein verschlafenes Nest mit wenigen Dutzend Einwohnern.
Niemand konnte ahnen, dass dieses Kind armer Leute wenige Jahre später zu internationaler Berühmtheit kommen sollte. Kinder in Schulen schrieben Aufsätze und Spottgedichte über ihren Fall. Selbst in Gelehrtenzirkeln und an Europas Fürstenhäusern sprach man darüber.
Ihr Name stand für einen sozialen Skandal, mehr noch aber für eine ans wunderbare grenzende Rettung, die überall in der westlichen Welt unerwartet weitreichende Veränderungen einleiten sollte. Anne Greene wurde bekannt als die Exekutierte, die von den Toten auferstand.
Greenes Untot wirkte bis in die Politik hinein, veränderte die Medizin und löste eine eineinhalb Jahrhunderte andauernde Massenhysterie aus: Die hysterische Angst davor, lebendig begraben zu werden.
Das alles erkennt man allerdings erst in Rückschau. Zunächst einmal ist Anne Greenes Geschichte eine zeittypisch zynische Farce: Eine Geschichte über Macht und ihren Missbrauch.
Die Geschichte beginnt zu einer Zeit, als man im ach so zivilisierten Europa im Zweifelsfall noch eher das Opfer eines Verbrechens statt den Täter hängte, wenn man damit einen Skandal für die Reichen und Einflussreichen vermeiden konnte.
Annes Familie war weder das eine, noch das andere. Anne kam aus armen, kleinbäuerlichen Verhältnissen, viel mehr weiß man nicht über die Greenes. Damit wurde sie am unteren Ende der sozialen Trittordnung geboren – denn auch, wenn es in England seit circa 1500 keine Leibeigenschaft mehr gab, konnten Arme kaum darauf rechnen, vor dem Gesetz mit Bürgern höherer Stände gleichbehandelt zu werden.
England war zwar schon seit der Magna Carta von 1215 keine lupenreine, absolutistische Monarchie mehr. Seit 1295 wurde die Macht des Königs durch ein Parlament begrenzt, in dem neben Adeligen auch vermeintlich “normale” Bürger vertreten waren. In Wahrheit herrschte im Land nun aber neben dem Adel ein kaum minder standesbewusster Geldadel: Wenige besaßen fast alles, und sehr Viele besaßen weiterhin nichts. Die Teilhabe an der Macht aber war besitzgebunden.
So war England in Wahrheit noch sehr weit entfernt von einer parlamentarischen Demokratie, die diesen Namen wirklich verdient hätte. Das Wahlrecht war (in den meisten Aspekten sogar noch bis 1911) an Bedingungen geknüpft. Wer wählen oder gewählt werden wollte, musste
ein Mann sein
über Land- und Immobilienbesitz verfügen und
ein vorgegebenes Mindest-Grundvermögen nachweisen.
Zu Greenes Zeiten konzentrierte sich die Macht also auf eine kleine elitäre, reiche und männliche Gruppe. Eine winzige Reichenkaste regierte, während die breite Mehrheit der Bevölkerung weder Macht noch Lobby besaß. So änderte die Abschaffung der Leibeigenschaft kaum etwas an der totalen Abhängigkeit gerade der armen Landbevölkerung von ihren “Landlords“: wer nichts hatte, galt auch nichts.
In Steeple Barton galt die Familie der Reads dagegen alles. Dass die junge Anne Greene als Magd in den Dienst von Sir Thomas Read genommen wurde, wird man wohl als Glück verbucht haben. Die Reads, die adeligen Herren des Herrschaftshauses im benachbarten Duns Tew, waren über Generationen die reichste und einflussreichste Familie der Region - faktisch regierte die Familie den Bezirk.
Sonderlich beliebt waren sie allerdings nicht. Für Thomas Read war Duns Tew nur eines von mehreren Besitztümern. Die Familie stand im Ruf, sie vor allem zu nutzen, ihren Reichtum zu mehren - zu Lasten der armen Landbevölkerung und ohne auf Nachbarn viel Rücksicht zu nehmen. In die lokale Geschichte von Duns Tew schrieben sich die Reads nicht zuletzt mit
Nachbarschaftsstreitigkeiten ein. Es ist aktenkundig, dass die Familie mit mehreren vermögenden Nachbarn gerichtlich im Clinch lag.
Und doch: Die Reads waren Lokalgrößen, an denen man nicht vorbeikam. Bei ihnen Anstellung zu finden bedeutete, sich um die Sicherheit seiner Lohnzahlungen keine Sorgen machen zu müssen.