Die ewige Burg: Historischer Roman - Rudolf Stratz - E-Book
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Die ewige Burg: Historischer Roman E-Book

Rudolf Stratz

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die ewige Burg: Historischer Roman" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Sie lachte laut auf über das Kompliment des Waldläufers und breitete, die Flinte über die Schulter werfend, die Arme weit hinaus in den dämmernden Frühlingsmorgen. "Jetzt bin ich wirklich froh, Wegmann!" sagte sie mit einem Siegerblick auf das schwarzgrüne, metallisch glänzende Gefieder des stolzen Vogels, dessen rotumränderte Augen nun ganz erloschen waren. "Das war doch einmal ein Schuß! Sie haben mich ausgezeichnet herangebracht! Ich will Ihnen auch eine Freude machen! Wünschen Sie sich etwas von mir! Es ist bewilligt!"" Rudolph Stratz (1864-1936) war ein erfolgreicher Romanschriftsteller.

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Rudolf Stratz

Die ewige Burg: Historischer Roman

e-artnow, 2017 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-7093-7

Inhaltsverzeichnis

I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV

I

Inhaltsverzeichnis

Ein leiser, sonderbarer unnachahmlicher Ton ... allenfalls wie wenn der Schnitter an dem Wetzstein seine Sense schärft – wie wenn zwei dünne Messer sich aneinander schleifen – und doch wieder ganz anders, rätselhaft in der nächtlichen Stille der Odenwaldberge, über denen fern im Osten der erste fahle Lichtstreifen des Morgengrauens emporwuchs und zwischen den eilig treibenden Regenwolken Mondsichel und Sterngeblinzel langsam verblaßten.

Jetzt war das Wetzen verstummt. Ein anderes, schnalzendes, taktmäßig immer rascher werdendes Geräusch folgte ihm. Es endete mit einem Triller und einem kurzen »Klack!« und wieder schärfte irgendwo da oben in den Tannenwipfeln der unsichtbare Schnitter leise seine Sense.

»Da owwe hockt er, Frau Gräfin!« flüsterte der Büchsenspanner, sich dicht an seine Herrin drängend. »Könne Se 'n sehe?«

Sie verneinte. Beide liefen, das wenige Sekunden lange Balzen des Auerhahns benutzend, bis zu den Wurzeln der Tanne, auf die der Jäger gewiesen. Der Stamm des mannsdicken Baumes zitterte, wie sie ihn mit der Hand berührten, unter den Tänzen und Sprüngen des erregten, oben in seiner Krone hausenden Gastes.

»Da owwe, Frau Gräfin! Besser links ... noch mehr ... so ... sell is er ...«

Ja – jetzt erkannte sie den Vogel! Gerade über ihr, durch eine kahle Stelle im Gezweige sich undeutlich vom Himmel abzeichnend, trippelte mit vorgestrecktem Kopf und halbausgebreiteten Flügeln die dunkle, gesträubte Federmasse und drehte sich schußgerecht auf dem Aste herum. Sie hörte durch das Gebalze oben das Hämmern ihres Herzens, während sie langsam die Flinte hob und zielte. In das Sensenschleifen knallte kurz und scharf der Schuß. Es ward still. Ein schwerer Klumpen begann durch die splitternden Zweige herabzurauschen, er kam näher, er schlug mit einem dumpfen Klatsch am Boden auf und blieb krampfhaft zitternd liegen.

»Alleweil hawwe m'r dich, Alterle!« sagte der Büchsenspanner trocken und beifällig zu dem verendenden Auerhahn, schnitt von der nächsten Hecke ein Tannenreis und überreichte feierlich auf dem Deckel seiner abgenommenen Mütze nach Weidmannsbrauch den Bruch seiner Herrin, deren Wangen die Aufregung gerötet hatte.

Sie nahm lachend den Ehrenpreis von dem hübschen schwarzäugigen Burschen entgegen. »Diesmal hab' ich's doch recht gemacht, Wegmann?« forschte sie triumphierend.

»Und ob, Frau Gräfin! Do kann sich jeder Wilderer dagege verschtecke! Do leuchte Sie dem Herrn Oberförschter selbst heim!«

Sie lachte laut auf über das Kompliment des Waldläufers und breitete, die Flinte über die Schulter werfend, die Arme weit hinaus in den dämmernden Frühlingsmorgen. »Jetzt bin ich wirklich froh, Wegmann!« sagte sie mit einem Siegerblick auf das schwarzgrüne, metallisch glänzende Gefieder des stolzen Vogels, dessen rotumränderte Augen nun ganz erloschen waren. »Das war doch einmal ein Schuß! Sie haben mich ausgezeichnet herangebracht! Ich will Ihnen auch eine Freude machen! Wünschen Sie sich etwas von mir! Es ist bewilligt!«

Der schwarze Jäger schaute, am Boden neben dem erlegten Auerhahn hingekniet, zögernd zu seiner Gebieterin empor, wie sie da schlank und hochgewachsen in dem knappen Jagdloden vor ihm stand. Trotz seines deutschen Mutternamens und seiner Odenwälder Sprache trug er in dem sehnig mageren Körperbau, dem dunklen Kraushaar und dem feurigen Blick unverkennbar die Zeichen seiner neapolitanischen Abstammung zur Schau, als ein lediges Kind aus jener Zeit, da beim ersten Eisenbahnbau durch den Odenwald viele Italiener als Erdarbeiter und Steinhauer in den Tunnels beschäftigt gewesen und später wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren.

»Nun, Wegmann?« fragte sie etwas ungeduldig, und rüstete sich zum Gehen.

Er zauderte noch immer, aus Angst, seine Herrin zu erzürnen. »Ja – Frau Gräfin!« murmelte er endlich. »Frau Gräfin wisse ja, wie's zwischen mir und der Elis' is!«

»Das heißt: Ihr wollt euch heiraten!«

»... ja ... wenn ich darf, Frau Gräfin ... und wenn die Elis' weg kann. Denn Frau Gräfin müsse doch erscht e anner Kindermädche hawwe ...«

»Nun – ich will mich danach umsehen oder mich sonstwie behelfen. Meinetwegen können Sie die Elise schon nächsten Monat heiraten.«

Der Jäger war aufgestanden. »Dees is mir awwer arg lieb, zu höre, Frau Gräfin!« sagte er, die Mütze in den Händen drehend, und lachte, daß die weißen Zähne unter dem dunklen Schnurrbart blitzten. »Do dank' ich untertänigscht un ...«

Sie unterbrach ihn. »Keine Volksreden, Wegmann! Ich muß übrigens auch noch mit meinem Mann sprechen, ob er nichts dagegen hat! Und nun nehmen Sie den Auerhahn und kommen Sie!«

Es war inzwischen schon ziemlich hell geworden. Das Dämmergrau eines stürmischen Frühlingsmorgens ließ weithin das einsame, mit Eichendickicht und einzelnen alten Fichten bestandene Hochtal überschauen. Das erste Leben regte sich in seiner Stille, je lichter es drüben zwischen den sanft gewellten Kuppen des Odenwalds am Wolkengetriebe des Osthimmels wurde. Die Schwarzamsel, die Frühaufsteherin der Wälder, flötete in ihren ersten verschlafenen Tönen aus dem Gestrüpp, ein Hase schnellte entsetzt aus seinem Lager hart an dem Rain, und in der Ferne zeichneten sich zarte lichtbraune Körper mit hochgespitzten Ohren von dem welken Winterlaub des Niederholzes ab – äsendes Rehwild, das jetzt bei Tagesanbruch sich, nach allen Seiten sichernd, in seine verborgensten Gründe zurückzog.

Sie schritten rasch den schmalen Saum zwischen Gestrüpp und Tannenforst dahin – voraus der schwarze Jäger mit der Beute – hinter ihm, ihn wohl um Kopfhöhe überragend, die junge Herrin des weiten Waldgebiets, elastisch, mit federndem Gange, das mit dem grünen Ehrenreis geschmückte Haupt weit zurückgebogen, als wolle sie aus tiefster Brust den Hauch des Frühlings schlürfen.

Rings um sie her im Brausen des Bergwinds, im Sprühen des warmen Regens und dem Wolkenflug am Himmel, in dem weiß und würzig der feuchten Erde entquellenden Brodem lebte der Frühling. Nicht jener liebliche Lenz, von dem die Lieder singen, mit Blaublümelein und Lämmergehüpfe auf grünen Wiesen – nein, als das unheimliche, gewaltige Rätsel, das jedes Jahr sich erneut, wenn die Erde ihre Opfer zurückgibt, wenn der Tod lebendig wird, wenn überall ein unbegreifliches Leben, eine grimme, rücksichtslose Daseinsfreude sich lachend aus dem Schoß der Tiefen nach Luft und Licht emporringt.

Der Sturm, der da donnernd durch den Bergwald ging, hier eine Rieseneiche vor sich niederkrachen ließ, dort einen Abhang von Stangenholz gleichgültig wie ein Spielzeug umwarf, das Schäumen der Wildwasser, die in langen Silberstreifen niederschossen und da und dort in milchig kochenden Strudeln wie zurückgebliebene Schneeflecken durch das laublose Geäst des Hochwalds blinkten, die eilends am Himmel fliegenden Wolken, klagender Raubvogelschrei aus unbekannten Höhen – das alles war ein einziges brünstiges Aufschauern der Natur, ein Wehen und Werden, ein Drängen und Treiben zu neuem Leben und zu neuem Tode.

Sie atmete tief auf. In ihrer Seele schwang das alles mit, Sturm, Bangen und Ringen der erwachenden Erde.

»Welchen Tag haben wir heute, Wegmann?« fragte sie plötzlich.

»Den einundzwanzigsten März, Frau Gräfin!«

Die Tag- und Nachtgleiche! Frühlings Anfang! Sie blieb einen Augenblick stehen und schaute um sich. Es war jetzt, während sie auf einem beschwerlichen Holzpfad langsam bergabwärts stiegen, voller Tag geworden. Grau und warm. Der Regen sprühte unregelmäßig, wie der Südwest ihn trieb, über den rauschenden Wald. Rings dampfte alles von Feuchtigkeit und spann sich in weißem Spinngewebe von einem kahlen Baum zum anderen. Auf jedem Zweig, auf jedem Grashalm perlte das befruchtende Naß und immer neue Wolken zogen fern von der unsichtbaren Rheinebene her, um neue Fluten auszugießen.

»Was hat denn mein Mann heute mit Ihnen vor?«

»Ich denk', der Herr Graf geht uff'n Mittag mit mir 'naus, 's Damwild und die Karpfe im Park zu füttere! Sell macht dem Herrn Grafe so viel Bläsier!«

»Sagen Sie 'mal: schießt er denn wirklich niemals auf ein Tier?«

»Ah bah, Frau Gräfin! Dees widersteht dem Herrn Grafen. M'r hawwe ja die Gewehre mit, damit wir net ausgelacht werre, aber gelade sin sie net. Der Herr Graf hot's verbotte! Wie oft hawwe m'r uns scho an e Hersch angebürscht oder die Rehböck' beim Blatte anschpringe lasse und hawwe se uns angeschaut und nach 'ere Weil' in die Händ' geklatscht. Do hawwe se gemacht, daß se wegkumme sind. Awwer ich mein', sie kenne uns bald schon und bleibe stehe und denke sich: ›Du klatschst mir lang gut!‹ ...«

Sie ging weiter und betrachtete mit verstohlenem Triumph den Auerhahn, der auf dem Rücken des vorausschreitenden Jägers schaukelte. »Glauben sie denn auch, Wegmann,« fragte sie, »daß es nicht recht ist, solch einen Vogel zu schießen?«

Der schwarze Jäger räusperte sich. »Do möcht' ich net dischkoriere, Frau Gräfin!« sagte er nach kurzem Überlegen diplomatisch. »Ich schieß' und ich schieß' net, wie mir's geheiße wird.«

»Und wenn Sie die Wahl hätten?«

Da drehte er den Kopf herum und zeigte die Zähne. »Zehn Auerhähn' tät' ich schieße, Frau Gräfin, fuffzig. Soviel 's 'ere hot. Dazu sind die Schoote da!«

Sie stimmte unwillkürlich in seine Heiterkeit ein, mit einem hellen kraftvollen Lachen, das gut zu den kühnen Linien ihres Gesichtes stand. Aber dann fiel ihr ein, daß sie sich ja eigentlich mit dem Büchsenspanner gegen die Meinung ihres eigenen Gatten verbündete, und sie wurde wieder ernst, wenn es auch zuweilen noch um ihre Mundwinkel zuckte.

»Ja, wir sind nun einmal die einzigen Mörder hier im Walde, Wegmann!« sagte sie nach längerem Schweigen in zerknirschtem Ton.

»Ja, wenn dees wär', Frau Gräfin! Awwer 's is net. Die Wilderer treibe 's bees. Do möcht' m'r zehn Füß' hawwe, um hinner dene herzusein.«

»Da sind natürlich wieder die Leute vom Grenzhof an der Spitze?«

»Dees sind die Aergschte, Frau Gräfin. Besonders der hergeloffene Franzos, der Bazaine! Die denke: ›Wenn der Herr Graf net schießt, no schieße wir!‹ Ich haww's dem Herrn Grafe schon oft gesagt. Heut will er jetzt 'mal hin uff den Grenzhof und mit 'em Stabhalter redde. Awwer ob's helfe werd ...?«

»Selber muß man sich helfen, Wegmann!« sagte die junge Jägerin, warf mit einem energischen Ruck das Gewehr auf die andere Schulter und verdoppelte, sich wohlig im Regen schüttelnd, ihren Schritt. »Wenn ich ein Mann wäre, ... Herrgott ... ich legte denen am Grenzhof das Handwerk. Und überhaupt ...«

»Jo ... überhaupt ...« sprach der schwarze Jäger vor sich hin. Aber er wagte den Satz nicht zu vollenden.

Wieder gingen sie eine Weile stumm durch den immer stärker strömenden Regen.

»Also morgen wird die Eisenbahn unten eröffnet?« fragte sie endlich, um die Langeweile des Wegs zu kürzen.

»Morge um zehn Uhr, Frau Gräfin! 's is e großes Fescht! Die Fawrik gibt auch frei.«

»Die Eisenbahn ist von Nutzen für die Fabrik – was?«

»Dees will ich meine, Frau Gräfin. Die Fawrik is ja norr desweege hierher gebaut worre. Und dees rentiert sich, Frau Gräfin. Dees sieht m'r jetzt schon!«

»Und sagen Sie mal – ich verstehe davon nichts – könnten nicht auch wir – ich meine die Gutsverwaltung auf dem Schloß, das doch jetzt dicht an der Eisenbahn liegt, daraus Nutzen ziehen?«

»Aus der Eisebahn? – Sell wohl, Frau Gräfin! Ich hör' ja, was so die Leut' hin und her redde – im Wirtshaus oder annerswo ... M'r muß bloß die Holzhändler höre, Frau Gräfin! Was schteckt e Geld in dene Wälder – sage die. Wann m'r jetzt den Hochwald schlägt und Eichenschälung anpflanzt – für die Gerbereien, ... awwer's gehört halt Lust dazu. Wann ich jetzt mit dem Herrn Grafe ginge, do derft' ich gar net von so was zu redde anfange. Der Herr Graf und die alte Herre – die möge von der Fawrik und von der Eisenbahn nix höre und sehe.«

»Ja – ich weiß«, sagte sie kurz, und nach einer Weile setzte sie, als bereue sie es, über diese geschäftlichen Fragen mit dem Büchsenspanner gesprochen zu haben, hinzu: »Und die Herren haben ganz recht. Das alles mag anderswo passen! Aber hier bei uns nicht!«

»Jo, Frau Gräfin!« Der Jäger wechselte sofort seine Meinung. »Dees macht bloß Schmutz und Arweit – m'r sieht's ja do unne in der Fawrik – und die Auerhähn' – die sagte bald Adje, wann 'emol die Wirtschaft im Wald losgehn tät'.«

Sie erwiderte nichts. Die beiden waren jetzt aus dem Forst getreten. Vor ihnen öffnete sich das Tal mit seinen zerstreuten, weithingestreckten Hütten und Häusern des Dorfes und an dessen Endpunkt dem Sandsteinbau der Fabrik, die als ein rotleuchtender, ganz unwahrscheinlicher Riesenkasten funkelnagelneu in dem verlorenen Waldwinkel stand. Ihr hoher Schlot dünstete und ließ eine schwarze qualmende Rauchwolke sich schwer durch die Luft hinwälzen, dem ebenfalls wie aus der Schachtel gepackten blitzblanken Stationsgebäude zu, dem vorläufigen Endpunkte der Seitenbahn durch den Odenwald, deren Weiterführung durch einen Tunnel neben der Burg erst beginnen konnte, wenn der schwebende Prozeß mit dem Schloßherrn entschieden war.

Starr und ungefüg, ein grauer Riese, mit seinem verwetterten Turmgewirr der Zeit trotzend, mit seinen zerbröckelnden Mauern wie mit langen Spinnenarmen den Raum weithin umklammernd, stand da oben hoch über dem Tal und seinem Treiben Schloß Wodenstein.

Der Efeu umstrickte es von unten bis oben. Sein Zischeln und Surren im Winde war die ewige Musik für die Insassen wie für die Bewohner einer Insel das Rauschen der Wellen. Er war der bleibende Herr der Burg. Ihre Besitzer, die Grafen von Wodenstein, kamen und gingen. Oben in der Kapelle taufte man beim zitternden Klang des Glöckchens den Neugeborenen, unten in der Gruft bettete man bei dem gleichen, frommen Klagen vom Turm den müden Kämpen zur letzten Ruhe in den Steinsarg und meißelte immer wieder auf die Grabplatte: » Hic jacet Pius ab Wodenstein miles.« Der Efeu aber wucherte weiter. Mit seinen knotigen, haarigen Armen klammerte er sich von einer Fuge der altersmorschen Quadern in die andere und kroch immer höher empor, bis sein finsteres Grün alles umher, Türme, Zinnen und Mauern, umkleidete.

So war er das ewige Gewand für die ewige Burg in der Waldeinsamkeit. So hatte in der Erinnerung der jetzt Lebenden die Burg gestanden von alters her. Sie war immer dagewesen! Längst war das Gedächtnis an jene Zeit geschwunden, da hier flachsmähnige riesige Germanen zum erstenmal ihren ungeschlachten Ringwall aus Feldsteinen aufgetürmt, da später die siegreichen römischen Legionen daraus eines ihrer festen Kastelle geschaffen hatten – Wunderwerke in Sumpf und Wald, vor denen die Barbaren in düsterem Grauen standen. Dann waren die Mannen des Cäsar im Staub verweht, die Völker wanderten, wieder hausten in dem verwüsteten Gemäuer gleich gierigen Wölfen alemannische Edelinge, die sich der Abstammung von Wodan, dem Herrn des Wodenwaldes, rühmten. Und mählich entstanden neue Türme und Mauern. Welsche Männer in härenen Kutten wiesen dem Häuptling Plan und Maß und führten ihn eines Tages hinab zum Bach, daß er sich taufen lasse und dem Kloster Lorsch an der Bergstraße für immer Treue und Lehnspflicht gelobe.

Und weiter rollten die Zeiten. Sie sahen die Herren von Wodenstein aus dem immer fester gediehenen Schlosse mit andächtig erhobenen Armen zum Kreuzzug in das gelobte Land reiten und ihre Nachkommen in endlosem Schädelspalten mit ihresgleichen und den Städtern mit Trunk und Sauhatz ihre Tage vertun, sie sahen das Geschlecht sich immer über neue Schlösser und Burgen im Odenwald ausbreiten, bis der Schrecken des Dreißigjährigen Krieges alles zu Asche brannte und seine Kraft und Größe für immer brach; sie sahen es seitdem immer matter und schlaffer werden und endlich still und wunschlos dahinträumen, von einem Jahrhundert in das andere, im gleichgültigen Rollen der Generationen durch den efeuumsponnenen, weltverlorenen Bergsitz.

Bis dann endlich doch die neue Zeit kam ...

Erst wenige Männer in Wasserstiefeln und Schlapphüten, von lattentragenden Gehilfen begleitet, die an den Hängen auf und nieder stiegen und maßen und rechneten, daß die Hirschkühe in dröhnenden Sprüngen bergaufwärts flohen und die Wildkatze sich mißtrauisch im Buchenwipfel verbarg – dann Arbeiter zu Dutzenden und zu Hunderten, derbe, rauflustige Bayern, kauderwelschende Italiener, selbst Polen und anderes Volk, das man nie in diesem Erdenwinkel geschaut. Da ward es lebendig in der stillen Waldwelt. Die Axt krachte und würgte unter den Baumriesen, Schutt und Geröll häuften sich auf dem sammetgrünen Grund des Wiesentals, es dröhnte dumpf in den Eingeweiden der Berge, und Pulverdampf quoll aus ihrem geöffneten Schlund. Allüberall begann es zu hämmern und zu pochen. Zwei schmale Eisenstreifen auf einem endlos sich schlängelnden Erdkörper, um den, wie um eine tote Natter die Ameisen, geschäftig das schwarze Gewimmel der Arbeiter wogte, drangen unerbittlich vor. Sie glitten durch die Wälder hin, sie wühlten sich wie Maulwürfe durch das Innere des Sandsteins, sie flogen auf Steinpfeilern frei über die Schluchten. Nun waren sie bis dicht unter das Schloß gekommen, und von unten her sandte im Pfiff der Lokomotive das zwanzigste Jahrhundert seinen Gruß zu der ewigen Burg empor ...

Der schrille Laut weckte die Jägerin aus ihrem Nachdenken. Sie richtete sich auf und schritt weiter, aber langsamer und weniger elastisch wie bisher. Sie wußte selbst nicht, warum seit einiger Zeit der Anblick des vermorschten Gemäuers von Wodenstein in ihr eine seltsame Schwermut erzeugte, ein Gefühl von Altern und Sterben und dann wieder eine Schwalbensehnsucht: Hinaus – hinaus in blaue Weite – solang' es Zeit ist! Hinaus in ein Land, wo die Sonne scheint, und die Menschen lachen und jung sind und leben!

Von den Erkerzimmern da oben hatten wohl schon viele Schloßfrauen vor ihr hinuntergeschaut in das Tal, ob nicht endlich um die Ecke das Glück geritten kam – junge Edeldamen in schweren altdeutschen Gewändern, blasse Nonnen unter schwarzem Kopftuch, müde Greisinnen in der Witwenhaube; sie alle hatten nun, wenn nicht das Glück, doch den Frieden gefunden und lagen still in der Gruft unter steinernen Platten, auf denen die Fußtritte späterer Geschlechter schon halb die eingemeißelten Wappenzeichen, die verschnörkelten Tiere, die Balken und Streifen, die Sterne und Schwerter verwischt hatten.

Wera war ernst geworden. Das immer gewaltiger aufsteigende Schloß kam ihr wie ein Kerker vor, der mit seinen dicken Quadern im Leben wie im Tod alles, was darin war, festhielt. Mit gesenktem Kopf eilte sie zwischen den alten Ulmen des Parks hin der Eingangspforte zu und trat in die dämmerige, mit Hirschgeweihen und verdunkelten Bildern geschmückte Treppenhalle.

Und da verklärte plötzlich ein sonniges Mutterlächeln ihre Züge. »Wulfi!« jauchzte sie dem kleinen Blondkopf zu, der oben auf den Stufen stand, und stürmte hinauf, um ihn zu umfangen. »Wulfi, was machst du denn, mein Herz?«

Der Kleine antwortete nichts und nahm auch nur wenig Anteil an den Liebkosungen seiner Mutter, die, in ihren nassen Jagdkleidern neben ihm kniend, die Flinte noch über der Schulter, nicht müde wurde, das blasse Gesichtchen zu küssen und die langen goldseidenen Locken zu streicheln. Seines stillen Wesens gewohnt, war sie eine Weile ganz in die Bewunderung ihres zweiten Selbst vertieft. Aber dann wurde sie doch etwas unruhig.

»Was hat denn Wulfi heute?« fragte sie vom Boden aus das hinter ihr stehende Kinderfräulein. »Ich finde, Elise, er ist heute ganz besonders in sich gekehrt. Es fehlt ihm doch nichts?«

Die Bonne, eine zarte hübsche Person mit feinen Zügen, fühlte sich, aus einem Lehrerhause stammend und von den Nonnen drüben im Taubergrund sorgfältig erzogen, als etwas »Besseres« und sprach im Verkehr mit ihrer Herrschaft immer ein leidliches Hochdeutsch. »Ich weiß nicht, Frau Gräfin!« sagte sie. »Mir gefällt der Kleine heute auch gar nicht.«

»Hat er denn Appetit gehabt?«

»Nein, Frau Gräfin. Er hat nicht einmal seine Milch trinken wollen. Und spielen auch nicht. Ich fürchte, er fiebert ein wenig.«

Wera sprang auf und legte ihre Hand wie schützend um das Kind. »Ist schon nach dem Doktor geschickt?« fragte sie rasch.

»Nein, Frau Gräfin.«

»Aber, Elise – wie können Sie das unterlassen?«

»Ich hab' ja schicken wollen, Frau Gräfin. Aber der Herr Graf hat gesagt: Nein! Man brauche den Doktor nicht immer für nichts und wieder nichts heraufholen zu lassen. Er liebe das nicht!«

»So – das hat mein Mann gesagt?« Sie wandte sich ab, um vor der Dienerin den Ausdruck von Trotz und Hohn zu verbergen, der rasch wie eine Wolke über ihre Züge flog.

»Ja – und dann hat der Herr Graf noch gesagt: Er glaube gar nicht, daß der Herr Doktor überhaupt was verstände. So ein Kassenarzt aus der Fabrik bringe höchstens die Leute um, und wenn es nötig sei, müsse man lieber anspannen lassen und über den Neckar herüber den Kreisphysikus aus der Stadt holen! – Jetzt, Frau Gräfin, wenn ich reden darf – ich meine, daß der Doktor unten viel mehr versteht wie der alte Physikus. Das meint jeder hier. Es kommt jeder zu ihm. Er hat doch eben erst ausgelernt, und der andere ist schon seit vierzig Jahren aus der Lehr' und sitzt im Wirtshaus und trinkt einen Schoppen übern andern aus ...«

Ihre Herrin unterbrach den Redeschwall. Sie war wieder ganz ruhig. »Ich werde selbst mit meinem Manne reden!« sagte sie. »Ist er schon beim Frühstück?«

»Jawohl! Auch die drei alten Herren sind da. Aber wissen denn Frau Gräfin schon von gestern abend – unten in der Fabrik?«

»Hat es da wieder ein Unglück gegeben?«

»Ja – die Frau von dem Maschinenmonteur ist in eine Luke gefallen ...«

»Meine frühere Kammerjungfer?«

»Jawohl, Frau Gräfin – und hat sich innerlich verletzt. Man hat sie gleich nach Hause gebracht, und der Doktor ist zu ihr.«

»Und was sagt er denn?«

»Es wäre nicht lebensgefährlich – aber fest liegen müsse sie ein paar Wochen.«

Sie zog ihr Kind an sich und schüttelte mißmutig den Kopf. »Das kommt nun von den Liebesheiraten ...« sagte sie. »Eine Kammerjungfer bei mir hat es doch gut genug. Nein – da muß sie diesen Menschen, den Irion, heiraten – einen Menschen, der sicher noch im Gefängnis enden wird...«

»Ach ja, Frau Gräfin – das ist einer von den ganz Roten. Mit dem ist's ein Kreuz! Aus dem Kriegerverein hat er auch herausgemußt. Jedesmal, wenn der Gendarm ins Dorf kommt, fragt er zuerst nach dem Irion...«

»Nun eben! Und die arme Frau muß den ganzen Tag in der Fabrik an irgendeiner Maschine stehen! Das kommt davon! Übrigens, Elise – da fällt mir ein –« sie drehte sich um, um zu sehen, ob der Jäger mit ihrer Beute schon verschwunden sei. »... ich hab' Wegmann gesagt: Meinetwegen könnt ihr nächsten Monat heiraten!«

»Ach, Frau Gräfin...«

»Ist's Ihnen recht?«

»Ach, Frau Gräfin – da wäre ich so froh...«

»Ich auch!« sagte die junge Frau ziemlich nachdrücklich. »Und bis dahin, Elise... wenn Sie meinen Rat hören wollen – ich habe die Empfindung, als ob jemand hier im Schlosse Sie mit besonderen Augen ansieht...«

Das hübsche Kinderfräulein hielt unbefangen ihren prüfenden Blick aus, aber ihre blassen Wangen röteten sich doch merklich. »Ich habe nichts bemerkt, Frau Gräfin«, flüsterte sie, anscheinend ganz erschrocken.

»Nun – um so besser! Denn Wegmann hat ein hitziges Blut in den Adern. Er ist jähzornig und rachsüchtig – ganz wie ein richtiger Italiener. Sie dürfen ihm auch nicht einen leisen Vorwand zur Eifersucht geben!«

»Nein, Frau Gräfin! Ich danke sehr. Soll man der Frau Irion etwas an Wein oder an Lebensmitteln schicken?«

»Richten Sie etwas. Ich will es ihr selbst nach dem Frühstück bringen und nach ihr sehen. So wie ich bin! Zu Fuß. Was meinen Sie? Ich würde noch mehr naß? Meinetwegen! Ich kann das langweilige Kutschieren im Regen nicht vertragen! Komm, Wulfi!«

Mit einem elastischen Schwung hob sie den Kleinen auf den Arm und sprang mit ihm die Treppe hinab. Die feuchten Kleider rauschten in schweren Falten um ihre schlanke Gestalt, die Schuhnägel knirschten auf den Steinfliesen, und von den grauen Wänden hallten ihre festen sicheren Schritte durch das Schweigen ringsum wieder. An einer Türe blieb sie stehen und horchte. Innen rührte sich nichts als zuweilen ein leises Klappern oder das Knistern einer Zeitung. Sie saßen also wie gewöhnlich wieder stumm und matt beieinander! Wie die Mumien! Wie die Gespenster am lichten Morgen!

Sie konnte sich nicht entschließen, gleich einzutreten. Das Kind auf dem Arm, blickte sie zu der Hallenwölbung empor, wo hinter einem erblindeten Fenster eilig die Frühlingswolken vorbeistrichen, und ihr Gesicht verfinsterte sich in einem harten, feindseligen Trotz.

II

Inhaltsverzeichnis

In dem großen Saal, dessen altersgeschwärztes Eichenschnitzwerk und zerschlissene Gobelins in dem grämlichen Morgenlicht verschwammen, war alles still. Die drei alten Herren, die von dem lautlos auftretenden und schweigsamen schottischen Kammerdiener versorgt, um den halb abgeräumten Frühstückstisch saßen, hatten sich nichts zu sagen.

Drei Brüder am Ende ihres Lebens. Da ist, was zu besprechen war, längst besprochen, und was nicht zur Rede kam, das bleibt auf immer ein Geheimnis des einen vor dem anderen. Ein langer Daseinslauf hatte sie einander entfremdet – von jenen fernen Tagen ab, wo die Knaben mit flatternden blonden Locken wie ein Rudel übermütiger Füllen durch den Schloßpark tollten, bis zu diesem fahlen Märzmorgen, wo die Greise stumm und fröstelnd, die Zeitung in der Hand, einander zugähnen.

Oben am Tisch der römische Priester, geistvolle Habichtszüge unter kalt forschenden Augen, um die schmalen Lippen jenes feine Lächeln, das in dem menschenergründenden Vatikan sich allmählich wie eine Maske über dem eigentlichen, inneren Antlitz versteinert.

Seine wachsartig weißen, mageren Hände blätterten in dem »Osservatore Romano« und der »Voce della Verita«, und zuweilen warf er auch bei dem Wenden der Seiten einen flüchtigen Blick hinein. Ob er wirklich darin las, war nicht zu erkennen. Und ebensowenig, woran er dachte, wenn er, die Jesuitenblätter sinken lassend und sich das schwarze Käppchen auf dem kahlen Haupte zurechtrückend, hinaus in die Wälder schaute. Es war, als sehne der verzärtelte Römling sich nach dem Süden zurück, als sei er ein Fremdling hier im Schlosse seiner Väter und dort an dem Tiber zu Hause, wo einst das Collegium Germanicum seine Pforten hinter dem Jüngling geschlossen und wo ihn jetzt aus dem tausendfach verschlungenen Treppen- und Zimmergewirr, den Kapellen, Museen, Gärten und Kasernenstuben der Papststadt jenseits der Engelsbrücke ein leichter Fieberanfall in das Mutterland gerufen hatte, das er nicht mehr kannte und nicht mehr liebte, dessen Sprache selbst nur ungelenk über seine Lippen floß.

Neben ihm, von Frivolität das ganze rötlichgedunsene, mit einem pechschwarz gefärbten und aufgedrehten Schnurbart geschmückte Antlitz strahlend, der Jüngste der drei, der berühmte Pariser Lebemann, jetzt eine gefallene, unter Kuratel befindliche Turfgröße, ein ausgebrannter Krater von Unvernunft, Leidenschaft und Leichtsinn. Seine Bewegungen waren noch von einer gewissen zitterigen Elastizität, und wenn er des Nachmittags und oft die Nächte hindurch an seiner Lieblingsbeschäftigung in dem Mönchsdasein eines freudlosen Alters, an seinen Memoiren schrieb, dann zuckte es mit tausend Schlängelchen um die Lippen des alten Elegants, und ein dankbar gerührtes Lächeln verklärte das welke Gesicht. Gott sei Dank... er hatte doch etwas vom Leben gehabt! Seine Memoiren umfaßten vielleicht einen engen Ausschnitt des Daseins, aber den wenigstens hatte er mit dem Blick des vielerfahrenen Weltmanns in allen seinen Höhen und Tiefen ausgemessen. Er hatte Epochen in seinem Dasein gehabt, wo er sich in den Sensationen des Turfs völlig in einen Engländer verwandelte, er hatte dann eine Zeitlang an dem verschwiegenen Treiben gewisser kleiner deutscher Höfe Geschmack gefunden, bis die Liliputanerhaftigkeit dieser Ausschweifungen inmitten eines friedlichen Residenzleins ihm grotesk und widerwärtig erschien, und er war endlich in dem großen Hafen der Boulevards vor Anker gegangen, Jahrzehnte hindurch, mehr und mehr sich zum spöttischen und blasierten Pariser Klubmann wandelnd, bis endlich alles, Jugend, Geld, Gesundheit, dahin war. Da hatte er, nur gezwungen und wehmütig, ein Kreuz über ein Leben am grünen Tisch und auf dem grünen Rasen geschlagen, das ihm nichts weniger als verfehlt schien, und sich im Heimatsschloß verkrochen, das all die lange Zeit hindurch im Rauschen der Wälder, fern im Odenwald geduldig auf ihn wie auf so viele vor ihm gewartet. Und dank seiner Chamäleonsnatur blieben ihm auch diese düsteren Räume nicht lange fremd. Wie vordem Brite und Pariser, wurde er jetzt plötzlich deutsch, vertiefte sich im Archiv in die Geschichte seines Stammes und arbeitete in seinen ernsteren Mußestunden, wo er keine Lust empfand, die Skandalchronik der sechziger und achtziger Jahre von Petersburg bis Madrid in seinen Lebenserinnerungen zu mumifizieren, an einer Erweiterung und Fortsetzung der von einem Heidelberger Professor um die Mitte des Jahrhunderts verfaßten Geschichte des Hauses Wodenstein.

Der ernste, strenge Mann neben ihm mit dem gefurchten Gesicht, dem weißen Schnurrbart und dem nach Art des alten Kaisers Wilhelm ausrasierten Vollbart, hatte dafür keinen Sinn. Er fühlte sich als preußischer General in allererster Linie. Im Jahre 1870, am blutigen Tage von Mars-la-Tour, als die »Todesritte« klaffende Lücken in die Reihen des deutschen Uradels rissen, und er, seiner Schwadron weit voraus, als erster in die feindliche Batterie hineinfegte, da hatte er den kriegerischen Mut seiner Ahnen glänzend bewährt und verdankte ihm eine rasche Friedenskarriere darauf. So war ihm, der mit seinem Blut und mit dem Eisen in der Faust an dem neuen Deutschen Reiche kitten geholfen, das alte Heilige Römische Reich Deutscher Nation, in dessen Dämmerschatten sein Stammbaum sich aufwärts verlor, nur noch ein leerer abgestorbener Begriff. Sein Leben gehörte der Gegenwart, seine Heimat war der Exerzierplatz, und als er gebrochenen Herzens vor einem Jahr von seiner Kavalleriebrigade Abschied genommen, weil seine Gesundheit es ihm verbot, noch weiter ein Pferd zu besteigen, da war ihm sein ferneres Leben völlig gleichgültig geworden. Er wußte, daß es nutzlos war, und wartete still in der Odenwaldburg, die so viele Krieger hatte vor ihm kommen und gehen sehen, auch das Ende seiner Tage ab.

Nach außen war er immer gleichmäßig ruhig, ernst und höflich. Aber in einsamen Abend- und Nachtstunden kam zuweilen eine tiefe Wehmut über ihn. Es dünkte ihn wie ein Traum, daß er, der eisgraue Hagestolz vor langer Zeit einmal eine Familie besessen hatte.

Vor langer, langer Zeit. Sie waren sehr glücklich miteinander gewesen. Er und seine Frau. Ein Jahr hindurch. Dann kam das Kind und starb. Zwei Tage nach ihm die Mutter.

Er hatte nicht wieder geheiratet. Er konnte es nicht. Denn er fürchtete sich jetzt vor dem Schicksal. Einmal hatte er es durchgemacht. Mit dem ewigen Grauen vor einem zweiten solchen Schlage wollte er kein neues Glück erkaufen.

Schließlich gewöhnt man sich an alles. Er saß ruhig, beinahe heiter am Tisch und studierte die Berliner »Kreuzzeitung«, wie der Roué ihm gegenüber den Pariser »Gil Blas« und der Jesuit da oben die italienische »Voce della Verita«.

Stille. Tiefe Stille. Nur die drei Zeitungen rascheln einander zornig an, draußen stöhnt der Wind, eintönig tickt die Wanduhr, und der hagere Schotte schleicht vorsichtig wie in einem Sterbezimmer am Büfett hin und her. Was sollten sich die drei Greise auch sagen – der alte Priester, der alte General, der alte Roué? Mochte sich auch der eine als Römer, der andere als Preuße, der dritte als Pariser fühlen, sie kannten sich doch zu genau und zu lange. Ja, sie wußten, daß sie sogar in diesem Augenblick des Schweigens miteinander eins waren, in einer Art Herbststimmung, einer tiefen Melancholie am Abschluß des Lebens.

Von den Wänden schauten die Toten auf die Lebenden, viele Generationen im Laufe der Jahrhunderte. Trotzige krummstabbewehrte Kirchenfürsten, langgelockte gravitätische Abenteurer des dreißigjährigen Kriegs und wohlwollend lächelnde feiste Duodeztyrannen und Wüstlinge aus der Jammerzeit des achtzehnten Jahrhunderts. Frauen dazwischen, jung und alt, schön und häßlich, viele mit einem rätselhaften Messalinalächeln trotz Reifrock und gepudertem Haarturm, dem Zeichen des unbändigen, durch alle die Jahrhunderte kochenden und siedenden Bluts.

Das Blut lebte auch noch in ihnen. Das wußte der Priester, der es in beinahe übermenschlicher Askese bezwungen, der Offizier, den es warm und rot bis zu den Sporen hinab bei Mars-la-Tour umrieselt, der Lebemann, der jetzt noch, siech und alt, plötzlich, wenn draußen der warme Frühlingssturm stöhnte, einen unbändigen Drang empfand, sich von neuem in ein Leben voll toller Genüsse und Ausschweifungen zu stürzen.

Jawohl, die Toten da oben, die Lebenden da unten waren eins. Sie kamen und gingen, immer neu und immer doch gleich, wie eine Eiche immer wieder Frühlingssprossen treibt, wenn ihre letzten Winterblätter fallen. Aber innen in der Eiche sitzt ein Wurm. Der heißt die Zeit und nagt und bohrt, bis alles Mark in Moder sich gelöst hat. Wohl steht der Baum noch starr und unversehrt. Aber plötzlich bricht er, der die Stürme der Jahrhunderte überdauert, vor einem spielenden Sommerlüftchen zusammen. Seine Zeit ist um. Er hat ausgegeben, was an Lebenskraft und Mark in ihm war.

Unten am Tisch saß Graf Pius, der Herr des Schlosses, und frühstückte, schweigsam und zerstreut lächelnd, wie das seine Art war, besonders in Gegenwart der drei Greise, in der er sich gedrückt und befangen fühlte. Er hatte die Empfindung, als sähen sie ihn zuweilen mißbilligend, mit trüben Blicken an, und war sich doch keiner Schuld bewußt. Er hatte nie jemand etwas zuleide getan, selten überhaupt das Schloß, wo Mutter und Tanten zärtlich seine Kindheit gehegt, verlassen. Hier fühlte er sich am wohlsten, in einem träumerischen Behagen, wie ein Knabe, der zur Ferienzeit durch die Wälder streift, Käfer sammelt und dem fernen Kuckucksschlage horcht. Und doch wußte er, daß er hier einsam war und die Bewohner des Schlosses ihm fremd, wie die grimmen Kriegsmänner, die schlangenklugen Priester, die gottverlassenen Abenteurer oben an den Wänden, denen er auch äußerlich nicht ähnelte. Wohlgebaut, mit kleinem Schnurrbart, offenen Zügen und freundlichem Blick, war er das Bild eines bescheidenen und dienstfertigen jungen Mannes, eher von untergeordneter Stellung als gräflicher Förster etwa oder Verwalter denn als Besitzer und Gebieter der weitausgedehnten Herrschaft.

Früher hatte er wohl mit seinen Oheimen gestritten, wenn ihm einer in leisem Vorwurf andeutete, daß er sein Leben tatenlos im Schlosse verträume. Es könne doch nicht jeder eine Eminenz im roten Kleid werden oder ein General oder ein ganz wilder, verlorener Geselle, den schließlich bei den Cowboys oder Goldgräbern eine Revolverkugel ereile, wie das alles schon in der Familiengeschichte dagewesen. Er wolle einfach seine Ruhe, wie er auch die anderen Leute in Ruhe lasse, und die finde er hier und habe keine Lust, sich im Staatsdienst abzumühen, sich auf dem Exerzierplatz schuhriegeln zu lassen oder in fremden Ländern und Meeren herumzutreiben.

Die Alten pflegten darauf wenig zu antworten. Sie lächelten nur seltsam vor sich hin. Er hätte ihre Wehmut ja doch nicht verstanden, daß dies alte Helden- und Priestergeschlecht in solch einem blassen blonden Dutzendmenschen auslief. Seit seiner Ehe war überhaupt von derlei nicht mehr die Rede. Die alte und die neue Generation gingen stumm nebeneinander her.

Stille ringsum. Nur der Roué pfiff leise vor sich hin und lächelte, ein greiser, müde gewordener Mephisto. Wozu sich auch aufregen und ärgern und sorgen? » Pas de zèle!« hatte ihm Talleyrand aus dem Herzen gesprochen. Es ging ja alles hin, die ganze Erde wie dies kleine, seit Jahrhunderten in Wodensteins Mauern absterbende und sich erneuernde Häuflein wappentragender Menschen. Draußen raschelte der Efeu, die Wanduhr tickte, und in ihren Schlägen klang dem verwelkten Boulevardier immer wieder eintönig das alte Wort: » Tout passe – tout lasse – tout casse...«

Auch dies Geschlecht! Der alte Stamm hatte seine Kräfte aufgezehrt. Was jetzt noch von ihm fiel, war taube Frucht.

Aber schließlich – noch war das Ende ja nicht da!

Es klopfte ungestüm mit dem Fuß an die Türe, der Diener flog, sie zu öffnen, und die drei Grauköpfe schauten gleichzeitig mit einem neugierigen, nachsichtigen Lächeln nach dem Eingang, der jungen Jägerin zu, die lachend, mit geröteten Wangen, ihr Kind in beiden Armen hoch emporhaltend, über die Schwelle trat.

»Guten Morgen!« rief sie. »Seid ihr wirklich schon alle auf? Ich bin seit zwei Uhr aus dem Bett und draußen in den Bergen und habe einen Auerhahn geschossen, einen Kerl von gewiß zehn Pfund...«

»Bei dem Wetter?« fragte aufstehend der General.

»Herrlich war's draußen! Ich hab' den Sturm gern. Einen schönen Gruß vom Frühling, und er wär' unterwegs!«

Sie setzte den Kleinen zu Boden und schüttelte sich, daß die Wassertropfen sprühten. Ein kalter frischer Waldhauch ging von ihr aus, und an der Stelle, wo sie stand, lagen ein paar welke Blätter und Tannennadeln am Boden.

»Da!« sagte sie herausfordernd und deutete auf den Fichtenzweig an ihrer Mütze, die sie unbekümmert auf dem Kopf behielt. »Das Siegeszeichen! Wegmann hat es mir ritterlich überreicht und behauptet, ich gäbe einen kompletten Wilderer ab! Muffig ist's bei euch im Zimmer, wenn man so von draußen kommt! Komm, Wulfi – geh herum und sag Guten Tag! Nachher wirst du gleich ins Bett spediert, mein Schatz!«

Sie führte den Kleinen herum. Der alte Roué zog ihn vorsichtig, wie einen kostbaren unbekannten Gegenstand, zu sich heran und tätschelte ihm das seidene Haar, während ein gutmütiges Lächeln um die ausgemergelten, von dem schwarzglänzenden Schnurrbart beschatteten Lippen bis hinauf zu den Krähenfüßen an den ergrauten Schläfen zwinkerte. Weib und Kind! Ihm, dem Pariser Klubmann, war das Zeit seines Lebens eine Art Schreckgespenst, das unvermeidliche Anhängsel der »guten Partie«, mit der man seine zerrütteten Finanzen schließlich ordnet. Gottlob, daß er diesem Schicksal entgangen! Aber im tiefsten Herzen regte sich in ihm doch jetzt, wo er siech und alt war, eine ärgerliche Reue, wenn durch die toten Schloßräume das zärtliche Lallen und die kosenden, kindischen Mutterworte klangen – das gähnende, öde Gefühl eines verlorenen Gebens.

Weib und Kind! – Dem alten Priester neben ihm war das ein leerer Schall. Er hatte es nie anders aus der Nähe gesehen als auf dem Bilde der Madonna mit dem Knäblein, und etwas von dieser ewigen allgegenwärtigen Schönheit schien ihm menschgeworden in der schlanken jungfräulichen Gestalt da drüben und dem Blondkopf, den ihre weißen Hände mütterlich geleiteten.

Weib und Kind – der dritte der Brüder, der General, sah stumm vor sich auf das Band des Eisernen Kreuzes in der Klappe seines schlichten schwarzen Rockes nieder. Tausende und Abertausende hatte an jenen blutigen Augusttagen von 1870 der Tod dahingerafft. Doch an ihm war er vorbeigegangen – an ihm, der ihn suchte, weil ihn nach dem Verlust seiner Lieben nichts mehr an die Welt fesselte, und hatte ihn dem langen, einsamen Leben überlassen.

Nun war Vera mit dem Kleinen bei ihrem Mann angelangt. Graf Pius strich zerstreut mit der Linken über das Haupt des Kindes. Die beiden sahen sich schweigend an. Dann stand er auf.

»Gehst du schon auf die Tigerjagd?« fragte sie, und ein kaum versteckter Spott kräuselte ihre Lippen. Der trotzige Ausdruck, den ihr Antlitz vor dem Betreten des Zimmers getragen, trat wieder kampfbereit hervor.

Er errötete leicht, wie immer, wenn sie ihn in letzter Zeit fest anschaute.

»Ich gehe das Damwild füttern,« sagte er. »Wegmann ist doch da?«

»Ja. Übrigens ... du hast doch nichts dagegen ... ich habe ihm vorhin mitgeteilt, daß er nächsten Monat mit Elise Hochzeit halten kann.«

Der Schloßherr ging auffällig rasch nach der Türe und nickte nur. Sie folgte ihm. »Einen Augenblick noch! ... Höre, bitte! Wulfi ist nicht ganz wohl!«

»Ach – es ist nichts Besonderes!«

»Hoffentlich – aber man muß vorsichtig sein, wo unten im Dorf durch die fremden Erdarbeiter so viele Krankheiten eingeschleppt werden. Ich lasse den Doktor holen!«

»Den unten?«

»Natürlich!«

Er drehte sich um und blieb eine Weile stumm. Der Kammerdiener verließ auf einen Wink des Generals lautlos das Gemach.

»Ich mag den Kerl hier nicht!« sagte plötzlich Graf Pius ganz laut und mit einer bei ihm ungewohnten Entschiedenheit des Tons.

Sie schloß einen Augenblick die Wimpern, um sich Zeit zur Selbstbeherrschung zu lassen. »Und warum magst du den ›Kerl‹ nicht?« fragte sie dann gleichgültig.

»Du weißt es recht gut! Ich habe es dir oft genug gesagt. Er kommt ja gar nicht als Arzt. Er ist ganz einfach dein Seelenfreund! Ewig sitzt ihr beisammen. Er liest dir was vor, du singst ihm was vor – dann geht ihr zusammen spazieren und disputiert über Gott weiß was und schreibt euch schließlich noch Briefe – alle Welt spricht ja darüber.«

»Alle Welt!« Sie lachte. »Sage: wer ist denn das hier?«

»Nicht nur hier! Auch anderwo. Überall in unseren Kreisen! Frag nur deine Eltern! Sie kommen ja heute zu Besuch, um mit dir zu sprechen!«

»Auf deinen Wunsch!«

»Ja – auf meinen Wunsch – weil ich die Geschichte mit dem Doktor satt hab'. Das geht so nicht weiter! Diese wachsende Intimität seit den drei Monaten, daß er hier ist. Wo bleibe ich denn?«

»Du brauchst dich bloß zu uns zu setzen und mit uns zu gehen, statt deine Hirsche zu füttern oder stundenlang Zither zu spielen oder deine Briefmarkensammlung zu ordnen, wir haben wahrhaftig nichts vor dir zu verbergen, und du könntest viel von dem Doktor lernen!«

»Natürlich – das ist ja ein Wundermensch!«

»Gewiß – ein ganz ungewöhnlicher Mensch!« sagte sie. »Ich bin seelenfroh, daß ich den Verkehr gefunden habe. Ich war nahe daran, vor Langeweile er sterben!«

Er lächelte eigensinnig und etwas bösartig. »Ein schöner Verkehr. Der Sohn eines Butterhausierers aus der Umgegend oder was weiß ich. Solche Leute werden heutzutage Doktor.«

Da lachte sie hellauf. »Und was bin denn ich mütterlicherseits? Plebejerin vom reinsten Wasser! Aus irgend einem Steiermärker Bauernhof stamm' ich! Mein Großvater ist hinter dem Pfluge gegangen! Frage nur meine Mutter, wenn sie heute kommt! Sie erzählt ja mit Vergnügen aus ihrer Theaterzeit!«

»Das weiß ich ja alles!« sagte Graf Pius verdrießlich.

»Und du hast mich doch geheiratet, obwohl du wußtest, daß meine Mutter früher Operettensängerin war, ehe sie Freifrau von Froningen wurde. Also was hat dir denn der arme Doktor mit seiner plebejischen Abstammung getan? Was stört dich überhaupt unser freundschaftlicher Verkehr? Ihr werdet es mit dem vielen Gerede bloß dahin bringen, daß die Unbefangenheit zwischen ihm und mir aufhört. Und das wäre schade. Bisher sind wir wie zwei gute Kameraden. Und dabei soll es bleiben! Und das lasse ich mir nicht nehmen.«

»Nenn' es Kameradschaft! Meinetwegen! Ich denke ja auch an nichts anderes. An nichts Schlimmes. Aber ich sehe doch, wie du seither gegen mich bist.«

Wieder schloß sie, etwas betroffen, eine Sekunde die Augen, »Wieso hab' ich mich denn verändert?« fragte sie dann.