Die faktualen und fiktionalen Texte Jiri Weils - Marie Brunova - E-Book

Die faktualen und fiktionalen Texte Jiri Weils E-Book

Marie Brunova

0,0
26,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Mit dem vorliegenden Band legt Marie Brunová die Ergebnisse langjähriger Recherche und Forschung zu Leben und Werk von Jiří Weil (1900–1959) vor. Der kommunistisch orientierte Schriftsteller jüdischer Herkunft verfasste Reportagen, Erzählungen und Romane; er wurde sowohl von den Nationalsozialisten als auch vom kommunistischen Regime schikaniert und unterdrückt. Auf der Basis der Fiktionalitätstheorie unternimmt Brunová eine Klassifikation und textkritische Beschreibung der Prosatexte Weils, die auf viele Sachverhalte in der Werkgenese und auch Biographie Weils ein neues Licht wirft und überraschende Perspektiven aufzeigt. Das Buch stellt die bislang detaillierteste und ausführlichste Würdigung von und Auseinandersetzung mit Weils Schaffen dar.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 732

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Danksagung

1. Forschungsgegenstand und Forschungslage

1.1 Forschungsgegenstand

1.2 Forschungslage

2. Theoretische Grundlage

2.1 Zum Begriff der Fiktion

2.2 Die Grundthesen

3. Textkritische Beschreibung

3.1 Einleitung

3.2 Faktuale Texte

3.2.1 Journalismus im Werk Jiří Weils

3.2.2 Exkurs I: Literatura faktu

3.2.3 Reportagen

3.2.3.1 Einleitung

3.2.3.2 Tschechoslowakei/Most und die Bergarbeiterbewegung

3.2.3.3 Tschechoslowakei/Zlín

3.2.3.4 UdSSR

3.2.3.4.1 UdSSR/Erste Reise 1922

3.2.3.4.2 UdSSR/Zweite Reise: Polen und Ukraine 1928

3.2.3.4.3 UdSSR/Dritte Reise: Moskau und Zentralasien 1933–1935

3.2.3.5 Exkurs II: Jiří Weil versus Julius Fučík

3.2.3.6 Schweiz

3.2.3.7 Polen

3.2.3.8 Frankreich

3.2.3.9 Übersichtstabelle der Reportagen

3.2.3.10 Fazit

3.3 Fiktionale Texte

3.3.1 Erzählungen

3.3.1.1 Einleitung

3.3.1.2 In Sammelbänden publizierte Erzählungen

3.3.1.2.1 Sammelband Barvy (1946)

3.3.1.2.2 Sammelband Mír (1949)

3.3.1.2.3 Sammelband Vězeň chillonský (1957)

3.3.1.2.4 Sammelband Hodina pravdy, hodina zkoušky (1966)

3.3.1.2.5 Exkurs III: Weil und die Kinderzeichnungen aus Theresienstadt

3.3.1.3 Lediglich in der Presse publizierte Erzählungen

3.3.1.4 Nicht publizierte Erzählungen

3.3.1.5 Übersichtstabelle der Erzählungen

3.3.1.6 Fazit

3.3.2 Romane

3.3.2.1 Einleitung

3.3.2.2 Publizierte Romane

3.3.2.2.1 Moskva – hranice (1937/1991/2021)

3.3.2.2.2 Dřevěná lžíce (1992)

3.3.2.2.3 Makanna. Otec divů (1945/1948)

3.3.2.2.4 Život s hvězdou (1949/1964/1967)

3.3.2.2.5 Harfeník (1958)

3.3.2.2.6 Na střeše je Mendelssohn (1960/1965/2013)

3.3.2.3 Nicht publizierte Romane

3.3.2.3.1 Perrotina, mašina chlebozlodějská

3.3.2.3.2 Špitálská brána

3.3.2.3.3 Tiskařská romance

3.3.2.3.4. Zde se tančí Lambeth-walk

3.3.2.3.5 Zlatý bengál

3.3.2.4 Übersichtstabelle der Romane

3.3.2.5 Fazit

4. Transformationen

4.1 Einleitung

4.2 Paratextuelle Ebene

4.3 Textinterne Ebene

4.4 Text-Montage: Žalozpěv za 77 297 obětí

5. Fazit

6. Literaturverzeichnis

6.1 Primärliteratur

6.1.1 Romane, Erzählungen und Reportagen

6.1.2 Journalistische Texte

6.1.3 Wissenschaftliche Texte

6.1.4 Vorworte und Nachworte

6.1.5 Übersetzungen

6.1.5.1 Übersetzungen in den Zeitschriften

6.1.5.1.1 Aus dem Russischen

6.1.5.1.2 Aus dem Polnischen

6.1.5.1.3 Aus dem Japanischen

6.1.6 Nicht publizierte Texte

6.1.7 Rundfunksendungen

6.2 Sekundärliteratur zu Jiří Weil

6.3 Sekundärliteratur zu Fiktionalität

6.4. Sonstiges

6.4.1 Nicht publizierte Quellen (Bachelor-, Magister-, Diplomarbeiten, Dissertationen):

6.4.2 Filmographie

6.4.3 Internetquellen

Literatur und Kultur im mittleren und östlichen Europa

Impressum

ibidem-Verlag

Danksagung

Mein Dank gebührt vielen Personen, die an mich geglaubt haben und ohne die diese Arbeit nicht hätte entstehen können. An erster Stelle gilt mein Dank meinem Hauptbetreuer Herrn Prof. Peter Deutschmann für seine zahlreichen und unermüdlichen fachlichen Gespräche, Ratschläge und Anmerkungen, die mich zur Fertigstellung meiner Arbeit gebracht haben. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Eva Hausbacher, die diese Arbeit durch ihre Förderung erst möglich machte, sowie Herrn Prof. Jiří Holý für seine wissenschaftliche und menschliche Unterstützung. Ebenfalls möchte ich mich bei Herrn Prof. Pavel Janoušek dafür bedanken, dass er mir die Gelegenheit gegeben hat, meine Arbeit fertigzustellen.

Für wissenschaftlichen Austausch bin ich meinen Kolleginnen Dr. Anja Burghardt, Dr. Mariya Donska und Dr. Lucie Antošíková, Ph.D., sehr dankbar. Meiner Kollegin vom The Centre for the Study of the Holocaust and Jewish Literature, Hana Hříbková, möchte ich für die freundliche Bereitstellung vieler Unterlagen danken. Sehr dankbar bin ich auch Frau Sigrid Klonner für ihren großen Einsatz beim Korrigieren dieser Arbeit.

Ein besonderer Dank kommt ebenfalls meiner Familie für ihre Geduld und Zuversicht zu.

1. Forschungsgegenstand und Forschungslage

1.1 Forschungsgegenstand

Jiří Weil (1900–1959) ist ein tschechischer Schriftsteller, Journalist, Übersetzer, Wissenschaftler und Intellektueller jüdischer Herkunft. Er gehört zu den Autoren, die vorwiegend aufgrund ihrer politischen Einstellung von den herrschenden totalitären Systemen jahrzehntelang verfolgt und diffamiert wurden.

Das relativ umfangreiche Œvre von Jiří Weil umfasst eine Vielzahl von Texttypen1. Den größten Teil der Werke bilden Prosatexte: Romane, Erzählungen, Reportagen, journalistische sowie wissenschaftliche Artikel und Essays. In seinem frühen Schaffen findet man jedoch auch einzelne Gedichte. Neben Prosa finden sich in Weils Nachkriegsschaffen noch zwei Theaterstücke und ein Drehbuch. Die Theaterstücke, die mit „Transport“ (Der Transport) und „Filoktet“ (Philoktetes) betitelt sind, wurden nie aufgeführt.2 Bei dem Drehbuch zum Film „O korunu a lásku“ (Um die Krone und die Liebe) handelt es sich um die überarbeitete Erzählung Weils über die streikenden Bergarbeiter im Gebiet um Most in den 1930er Jahren.

Der Großteil seiner Texte wurde bereits publiziert, wobei die Publikationsgeschichte vieler seiner Werke kompliziert und verwickelt ist. Es gibt allerdings noch einige Texte, die bislang nur als handschriftliche Fassung bzw. Typoskripte vorliegen und die teilweise unvollendet blieben. Es handelt sich vor allem um Romane bzw. Romanfragmente wie „Tiskařská romance“ (Die Druckerromanze), „Perrotina“ (Die Perrotine), „Zde se tančí Lambeth-walk“ (Hier wird Lambeth-walk getanzt), „Špitálská brána“ (Das Spitaltor) oder „Zlatý bengál“ (Das goldene Bengalo). Alle diese Texte werden im Nachlass von Jiří Weil im Literární archiv Památníku národního písemnictví (Literarisches Archiv des Denkmals für nationales Schrifttum) in Prag aufbewahrt.3

Betrachtet man Weils Texte chronologisch, zeichnen sich dort folgende Phasen ab: sein Vorkriegsschaffen in den 1920er und späten 1930er Jahren, eine durch den Zweiten Weltkrieg erzwungene Pause, sein Nachkriegsschaffen vom Ende des Krieges bis zum Jahr 1950 und schließlich sein Schaffen der 1950er Jahre bis zu seinem Tod 1959.

Sein Vorkriegsschaffen ist vor allem durch die Arbeit als Journalist und Übersetzer geprägt. Weil hat in den bedeutendsten tschechischen Journalen, Zeitungen und Zeitschriften der damaligen Zeit wie Tvorba (Schaffen), Přítomnost (Gegenwart), Pestrý týden (Bunte Woche), Rozpravy Aventina (Gespräche des Aventinums), Avantgarda (Avantgarde), Čin (Tat), Literární noviny (Literarische Zeitung), Panorama (Panorama), Útok (Angriff), Nové Rusko (Neues Russland), Kmen (Stamm), U-Blok, Magazin DP, Proletkult oder Levá fronta (Linke Front)4 Dutzende von Artikeln veröffentlicht; von Oktober 19325 bis Juni 19336 war er Chefredakteur der Zeitschrift Tvorba. Diese kommunistisch orientierte Wochenzeitschrift für Politik, Literatur und Kunst, an deren Leitung und Herausgabe unter anderem auch Weils Freund Julius Fučík jahrelang beteiligt war, nimmt in der publizistischen Tätigkeit Weils eine besondere Stellung ein. Denn hier hat er in den Jahren 1935–1936 einen Reportagezyklus über seine Reisen in die Sowjetunion, vor allem nach Zentralasien, veröffentlicht, der ihm später als Grundlage für sein Reportagenbuch Češi stavějí v zemi pětiletek (Die Tschechen bauen im Land der Fünfjahrespläne)7 diente. Den Höhepunkt seines Vorkriegsschaffens, das thematisch von einer Auseinandersetzung mit der Sowjetunion im Wandel der 1930er Jahre bestimmt ist, bilden seine zwei Romane Moskva – hranice (Moskau – die Grenze) und Dřevěná lžíce (Der Holzlöffel). Weil schrieb beide Texte unmittelbar nacheinander, wenn nicht teilweise zeitgleich, und es ist lediglich den historischen Umständen geschuldet, dass nicht beide Texte in den späten 1930er Jahren publiziert wurden8. Vor allem im Text Dřevěná lžíce (1992) geht Weil erneut auf einige Ereignisse und Motive ein, die er in dem bereits erwähnten Zyklus von Zeitungsartikeln sowie in den Reportagen und Erzählungen verwendet hat. Zu diesem Thema kehrte Weil auch nach dem Krieg zurück, und zwar in einem der Erzählstränge des unvollendeten Romans „Zlatý bengál“.

In die Periode vor dem Krieg fallen die Anfänge einer zweiten inhaltlichen Linie, die sich in Weils Schreiben abzeichnet – die Arbeiterbewegung. Im Jahr 1932 veröffentlichte Weil in fünf Nummern der Zeitschrift Tvorba eine Reihe von Artikeln unter dem Titel „Sociální objednávka Jos. Kajetána Tyla“ (Der soziale Auftrag von Josef Kajetán Tyl), die als eine Studie zu einem umfangreicheren Werk zur Arbeiterbewegung angekündigt war. In diesen Artikeln legt Weil die Ansichten Josef Kajetán Tyls dar, eines der bedeutendsten tschechischen Dramatikers des 19. Jahrhunderts, und deutet dessen Arbeiten, vor allem die über den zentralen Dichter der tschechischen Romantik, Karel Hynek Mácha, im Rahmen des sogenannten sozialen Auftrags.9 Weil behauptet, Tyl würde Máchas Gedichten mangelnden Patriotismus vorwerfen. Laut Weil kommt Tyl immer dann zu Wort, wenn die tschechische „kleinbürgerliche Bourgeoisie“ ihre Interessen zu schützen und zu verteidigen sucht. In dieser Skizze beweist und kritisiert Weil, dass Tyl sich nicht für die Arbeiter einsetze, sondern ihnen Gehorsamkeit und Demut empfehle. Bereits hier spricht Weil ein Thema an, mit dem er sich später ausführlich auseinandersetzt – die Lage der Textilarbeiter und Drucker im 19. Jahrhundert, die durch die beginnende maschinelle Produktion ihre Arbeitsstelle verlieren. Dieses Thema, das sich in den 1930er Jahren in seinem Schaffen eher sporadisch abzeichnet, konnte er erst nach dem Krieg in seinen bis heute unpublizierten Romanen „Tiskařská romance“, „Špitálská brána“ oder „Perrotina“ fortsetzen.10 Der einzige veröffentlichte Text diesbezüglich ist der 1958 erschienene historische Roman Harfeník (Der Harfenist), in dem Weil das Sujet der Arbeiterbewegung mit dem des Judentums verknüpft.

Der zweite Schwerpunkt aus dem Bereich der Arbeiterbewegung ist Weils Auseinandersetzung mit der Streikwelle der Bergarbeiter in Most im Jahr 1932, die in die tschechische Geschichte als „Velká mostecká stávka“ (Der große Streik in Brüx) eingegangen ist und von der Weil als Journalist selbst Zeuge war.11 In seinem Nachlass finden sich auch Texte anderer Schriftsteller (z. B. Julius Fučík, Géza Včelička oder Vašek Káňa), die die Begebenheiten in Most dokumentieren und meistens in Tvorba veröffentlicht wurden.12 Darunter ist auch der Text „Jiskra z Koh-i-nooru“ (Der Funke von Koh-I-Noor), in dem die tragischen Schicksale der bei dem Unglück im Schacht Kohinoor umgekommenen Bergmänner geschildert werden. „Jiskra v Koh-i-nooru“ fungierte später als Untertitel zu einer Version von Weils Filmerzählung „O korunu a lásku“13, welche die Geschichte des Streikführers Venca Marat beschreibt. Auf Grundlage dieser Erzählung fertigte Weil nach dem Krieg ein Drehbuch. Wie wichtig ihm dieses Thema war, bezeugt unter anderem die Tatsache, dass er bereit war, das Drehbuch mehrere Male zu überarbeiten,14 um die Anforderungen der kommunistischen Zensur zu erfüllen. Zur filmischen Realisierung ist es trotzdem nie gekommen. Der gesamte Bereich der Texte mit der Thematik der Arbeiterbewegung ist in der Forschung bislang vollkommen unbeachtet geblieben, was wahrscheinlich der Tatsache zuzuschreiben ist, dass die Mehrheit der „großen“ Texte unpubliziert in Weils Nachlass liegt und daher unbekannt ist.

Die Zeit während des Protektorats (1939–1945) bedeutete für Weil ein langes Schweigen, denn als Jude unterlag er dem Publikationsverbot. Obwohl er während dieser Zeit um sein Leben bangen musste (im Jahr 1945 konnte er sich im letzten Augenblick durch einen fingierten Selbstmord vor der Deportation ins Ghetto Theresienstadt retten), war er literarisch nicht untätig. Noch 1939 und 1940 wurden in Literární noviny drei seiner Erzählungen veröffentlicht, allerdings schon unter dem Pseudonym Jan Hajdar.15 Bereits in den frühen 1940er Jahren hat Weil versucht, seinen historischen Roman über einen falschen Propheten aus Zentralasien, Makanna. Otec divů (Makanna. Der Wundervater), zu publizieren. Dies gelang jedoch nicht, und der Roman durfte erst nach dem Krieg erscheinen. Die bittere Erfahrung eines im Protektorat der Kriegsjahre lebenden Juden hat ihm als Inspiration für seine späteren Texte gedient. Aus der Zeit seiner Beschäftigung im Jüdischen Museum in Prag (das während des Protektorats durch die Nationalsozialisten in das Jüdische Zentralmuseum16 umgewandelt wurde) schöpft er in seinen Romanen mit der Holocaust-Thematik Život s hvězdou (Leben mit dem Stern) und Na střeše je Mendelssohn (Mendelssohn auf dem Dach).

Dem Judentum und der Shoah wandte sich Weil in seinen Werken der Nachkriegszeit zu. Dieser dritte inhaltliche Bereich in Weils Schaffen ist in der Forschung am besten aufgearbeitet. Aufgrund der Tatsache, dass Jiří Weil während des Protektorats als Jude keine Möglichkeit hatte, seinem Beruf als Journalist und Schriftsteller nachzugehen, lässt sich hier das ansonsten für Weil typische Verfahren von den eher kürzeren faktualen Texten, die in größere fiktionale Prosaarbeiten eingingen, nicht nachweisen. Erste publizierte Texte, in denen sich Weil mit der Erfahrung der Shoah auseinandersetzt, sind die Erzählungen im Sammelband Barvy (Die Farben), der bereits kurz nach dem Krieg (1946) publiziert wurde. Drei Jahre nach dem Erscheinen des Erzählbandes, 1949, folgte Weils berühmter Roman Život s hvězdou. Obwohl Weil nach dem Kriegsende seine journalistische Tätigkeit fortsetzte – 1946 wurde er zum Redakteur17 von Literární noviny, einer der prominentesten tschechischen Zeitungen für Literatur und Kultur –, findet man in der Nachkriegszeit kaum journalistische Artikel, die sich dem Thema Judentum bzw. Shoah widmen. Allerdings beschränkte sich Weil auch bei diesem Thema nicht auf die fiktionale Literatur, vielmehr wurde der Themenkomplex zum Gegenstand einiger seiner wissenschaftlichen Arbeiten, vorwiegend historische Abhandlungen,18 die großteils ab Mitte der 1950er Jahre in der Zeitschrift Židovská ročenka (Jüdischer Almanach) veröffentlicht wurden und die Weil während seiner Anstellung als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Židovské muzeum (Jüdisches Museum)19 in Prag verfasste. Dieser Posten hat Weil zudem eine, wenn auch eingeschränkte, Publikationsmöglichkeit eröffnet, als er 1950 mit dem Ausschluss aus dem Svaz československých spisovatelů (Verband der tschechoslowakischen Schriftsteller)20 aus dem literarischen und öffentlichen Leben verbannt wurde, was möglicherweise das geringere Erscheinen journalistischer Arbeiten in dieser Zeit erklärt. Hinsichtlich Weils journalistischen Schaffens in der Nachkriegszeit muss angemerkt werden, dass er seine Tätigkeit als Reporter, wenn auch im viel geringerem Maße als vor dem Zweiten Weltkrieg, fortsetzte. Davon zeugen seine Reportagen aus Most, Polen, Frankreich oder aus der Schweiz. Gerade im Komplex der Reportagen und Erzählungen aus dem letztgenannten Land zeichnet sich der Transformationsprozess von einem faktualen zu einem fiktionalen Text gut ab.

Eine signifikante Rolle in Weils Auseinandersetzung mit der Shoah spielte seine Beteiligung an der Ausstellung der Kindergedichte und -zeichnungen aus Terezín (Theresienstadt): Motýla jsem tu neviděl. Dětské básně a kresby z Terezína (Ich habe hier keinen Schmetterling gesehen. Kindergedichte und -zeichnungen aus Theresienstadt). Auf seine Veranlassung wurde die Ausstellung 1955 zuerst in Prag als ein Begleitprogramm der Spartakiáda (Spartakiade)21 gezeigt; ab 1956 ging sie mit großem Erfolg um die Welt. Weil arbeitete zusammen mit Hana Volavková, Direktorin des Jüdischen Museums, und dem Regisseur Miro Bernát auch an dem Kurzfilm Motýli tady nežijí (Schmetterlinge leben hier nicht). Sein Schaffen über die Shoah schloss Weil Ende der 1950er Jahre mit dem gattungsübergreifenden Werk Žalozpěv za 77 297 obětí (Elegie für 77 297 Opfer) und dem Roman Na střeše je Mendelssohn (Mendelssohn auf dem Dach) ab, der jedoch posthum erschien.

Weils Vor- und Nachkriegsschaffen, innerhalb dessen sich, wie bereits erwähnt, drei große Themenbereiche abzeichnen: die Sowjetunion, die Arbeiterbewegung und die Shoah, stellen den Forschungsgegenstand dieser Arbeit dar. Da bei den ersten zwei Bereichen der Übergang von früheren faktualen zu späteren fiktionalen Texten nachweisbar ist, wird davon ausgegangen, dass die faktualen Texte eine Default-Einstellung zu den fiktionalen Texten bilden. Bei dem dritten Bereich lässt sich keine vergleichbare Umgestaltung nachweisen, man findet jedoch auch hier faktuale Texte, die inhaltliche Überschneidungen mit den fiktionalen aufweisen. Anhand des Übergangs von einem rein faktualen Text wie der Reportage bis zu den fiktionalen Texten wie der Erzählung und dem Roman als Höhepunkt soll die Herausbildung von Weils Poetik untersucht werden.

1.2 Forschungslage

Trotz der Tatsache, dass nach Weils Tod mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen ist, existiert bislang keine Monographie, die sein Werk und Leben in seiner Komplexität untersuchen würde. Der einzige Text, der sich mit Weils Leben befasst, ist der 2014 erschienene Memoirentext seiner Freundin Slávka Vondráčková Mrazilo – tálo. O Jiřím Weilovi (Es fröstelte – es taute. Über Jiří Weil). Der Text ist keine wissenschaftliche Aufarbeitung von Weils Leben, die sich die Aufklärung von einigen „blinden Flecken“ in seiner Biographie zum Ziel macht, jedoch liefert die Autorin, die eine enge Freundschaft mit Jiří Weil und seiner Frau verband, wertvolle Erkenntnisse über das Leben des Schriftstellers. Auch in den Erinnerungstexten einiger seiner Freunde und Bekannten findet man vereinzelt Erinnerungen an Weil und Hinweise auf sein Werk, etwa bei den Schriftstellern Nikolaj Terleckij, Jan Vladislav, Zdeněk Kalista, Vítězslav Nezval, Ilja Bart oder Josef Hiršal und Bohumila Grögerová, den kommunistischen Literaturkritikern Ladislav Štoll und Josef Rybák sowie dem Direktor des Verlags Československý spisovatel (Der tschechoslowakische Schriftsteller), Jan Pilař, oder dem deutschen Verleger Klaus Wagenbach. Die Darstellung von Weils Leben in der Sekundärliteratur wies lange Zeit mehrere Irrtümer, Unklarheiten und Ungenauigkeiten auf, die nach 1989 allmählich beseitigt werden konnten. Dies ist zum einen dem Umstand zu verdanken, dass nach der Wende Weils Werk wieder zum Gegenstand literaturwissenschaftlicher Untersuchungen geworden ist und bis heute das Interesse an ihm und seinen Werken anhält. Zum anderen hat der Wandel der politischen Verhältnisse in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion den Zugang zu den früher gesperrten Archiven22 ermöglicht. Federführend ist hier der tschechische Historiker Prof. Miroslav Kryl, der durch Recherchen in den tschechischen und russischen Archiven23 einige bislang unbekannte Stellen im Leben von Weil selbst und in dem der außerliterarischen Vorlagen seiner Protagonisten klären konnte. Sein Verdienst ist es, dass Weils Aufenthalt in der Sowjetunion und vor allem in Zentralasien in den Jahren 1933–1935 genauer datiert und die verwickelten politischen Hintergründe seiner Reise nach Kirgisien erläutert werden konnten.24 Beispielsweise trug er dazu bei, dass die Mitteilung widerlegt werden konnte, Weils Protagonistin Ri – in Wirklichkeit Helena Glasová – sei infolge der Veröffentlichung des Romans Moskva – hranice verurteilt und erschossen worden. Indem die tschechische Literaturkritikerin und Historikern Alena Hájková die eidesstattliche Erklärung von Jiří Weil bezüglich seiner Tätigkeit und seines Aufenthaltes während des Krieges entdeckte und veröffentlichte,25 konnte ein in der Sekundärliteratur lang tradierter Irrtum beseitigt werden, nämlich, dass er sich vor der Deportierung ins Konzentrationslager bereits ab 1942 verstecken musste. Die Forscherin Hana Hříbková konnte in Weils Nachlass im Židovské muzeum in Prag einige Evidenzkarten finden, die belegen, dass er dort bis 1945 angestellt war. Sie hat ebenfalls nachweisen können, dass sich Weil erst ab Februar 1945 vor der Gestapo versteckt hatte und in den Untergrund gegangen war. Bis 1945 war er nämlich durch seine Ehe mit der Nicht-Jüdin Olga Frenclová vor der Deportation geschützt.

Obwohl in der Forschungsliteratur allgemein verbreitet ist, dass Jiří Weil in einem Arbeitslager in Kasachstan inhaftiert war, ergaben meine eigenen Recherchen, dass er dieses Lager als Häftling nie erreichte: Aus den Unterlagen des Central'nyj gosudarstvennyj archiv Kirgizskoj Respubliki (Das staatliche Zentralarchiv der Kirgisischen Republik) geht hervor, dass Weil nach dem 7. September 1935 die tschechoslowakische Kommune Interhelpo in Kirgisistan verließ, wohin er im März 1935 aus Moskau geschickt worden war. Über seinen späteren Aufenthaltsort bis Ende November 1935, als er in die Tschechoslowakei zurückkehrte, herrscht Ungewissheit. Man kam wahrscheinlich aufgrund seines Romans Dřevěná lžíce, der im Arbeitslager am Balchašsee spielt, zu der Annahme, dass dieser auf Weils persönlicher Erfahrung basiere. Die Anfrage im Archiv der Stadt Balchaš, das die Dokumente des Karagandinskij ispravitel'no-trudovoj lager' (Karagandisches Erziehungs- und Arbeitslager, genannt auch „Karlag“ oder „Kazulon“) aufbewahrt, ergab, dass es dort keinerlei Informationen zur Person Jiří Weil (auf Russisch Jurij Karlovič Vajl oder auch Vejl) gibt.26 Ich gehe davon aus, dass die Antwort auf die Frage, was tatsächlich passiert ist, in einem von Weils Texten liegt und überraschend einfach ist. In seinem Artikel „Cesta zpátky“ (Die Rückreise), veröffentlicht in Nummer 4/1937 der Zeitschrift Panorama, dem Informationsbulletin des Verlags Družstevní práce (Die Genossenschaftsarbeit), schreibt Weil anlässlich der Veröffentlichung seines Reportagenbuchs Češi stavějí v zemi pětiletek über seine Rückkehr in die Tschechoslowakei Folgendes:

Vracel jsem se zpět do své země, ale ještě dlouho jsem to nevěděl, dověděl jsem se to až v Moskvě. Ale opouštěl jsem Asii, kde jsem žil půl roku. […] Avšak na stanici, která je teprve nedávno na mapách, stanici jménem Emba, která leží uprostřed kazachstanské pouště, jsem si vyvrtl nohu a přetrhl žíly. […] Řekl jsem lékaři, že vystoupím v Kujbyševě, lékař tam telegrafoval do železniční ambulatoře. […] Do kočáru mne naložil starý přítel Hlom, český dělník jeden z nejlepších lidí na světě a Kupa mne uvítal teprve v továrně (o Kupovi píši ve své knížce). Ležel jsem u něho tři týdny a týden jsem chodil po Kujbyševě, bývalé Samaře u velké řeky Volhy. A pak jsem se konečně dostal do Moskvy, kde padal již sníh a začínaly mrazy. Přijel jsem do Moskvy, abych z ní za měsíc odejel.27

So wie Weil es beschreibt, hat sich seine Rückreise nach Moskau aufgrund einer Knöchelverletzung um einen Monat verzögert. Er verbrachte diese Zeit bei seinem Freund Kupa, dem Direktor einer Holzfabrik. Erst danach kam er nach Moskau, wo er noch einen Monat blieb, um dann endgültig in die Tschechoslowakei zurückzukehren. Somit kann eindeutig gesagt werden, dass Weil nicht in Kasachstan im Arbeitslager gefangen gehalten wurde.

Eine Sensation innerhalb der Weil-Forschung stellt die Entdeckung eines Interviews zwischen dem russischen Bohemisten Oleg Malevič und der Witwe des Schriftstellers, Olga Weilová, dar. Die Aufzeichnung wurde im Nachlass von Oleg Malevič gefunden und mir von seinem Sohn Michail Malevič zur Verfügung gestellt. In diesem Gespräch erläutert Olga Weilová vor allem Weils Leben während der Kriegsjahre – sein Leben in der Illegalität, seinen fingierten Selbstmord, seine Widerstandstätigkeit und weitere bislang unbekannte oder wenig bekannte Ereignisse aus dem Leben des Schriftstellers.

Da diese neuen Entdeckungen in den letzten Jahrzehnten Licht in einige unbekannte Abschnitte von Weils Leben bringen konnten, haben sie auch wesentlich zum besseren Verständnis seines Werks beigetragen. Obwohl viele tschechische Institutionen, die Dokumente zu Jiří Weil aufbewahren, wertvolle Unterlagen zugänglich gemacht haben, tauchen immer wieder neue Informationen auf. Auf ihre Entdeckung warten zudem Dokumente in den russischen Archiven, die zum großen Teil nach wie vor gesperrt sind oder für deren Zugriff die Zustimmung aller lebenden Familienangehörigen erforderlich ist – wobei diese die Öffnung der Archive meistens nicht wünschen und ihre Zustimmung verweigern –, so etwa die Nachlässe von Weils Kollegen (vor allem von Ladislav Štoll) aus der Übersetzungsabteilung im Verlag Izdatel'skoe tovariščestvo inostrannych rabočich SSSR (Verlag der Genossenschaft der ausländischen Arbeiter in der UdSSR).

Nicht nur die Erforschung von Weils Leben, sondern auch die seines Schaffens erlebt seit 1989 eine Renaissance. Obwohl in der Sekundärliteratur viele Rezensionen bzw. Studien zu einzelnen Werken vorliegen, fehlt nach wie vor eine Arbeit, die sein Schaffen nicht nur in Ansätzen analysiert. Betrachtet man die Forschungsliteratur näher, wird deutlich, dass sie nach ihrem Untersuchungsgegenstand in zwei Hauptbereiche zerfällt: Auf der einen Seite wird Weils Vorkriegsschaffen untersucht, mit besonderem Augenmerk auf den stalinismuskritischen Roman Moskva – hranice, wobei die Fortsetzung, der Roman Dřevěná lžíce,in der Literaturwissenschaft kaum rezipiert wurde und wird; auf der anderen Seite werden seine Werke aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert, in denen er sich mit der Shoah literarisch auseinandersetzt, vor allem sein Roman Život s hvězdou (Leben mit dem Stern) liegt im Fokus der Forscher. Seine journalistischen und wissenschaftlichen Arbeiten, seine Übersetzungen – sowohl aus dem Russischen als auch aus dem Polnischen – sowie seine nicht publizierten Werke sind bislang kaum erforscht worden. Weils journalistische Arbeiten erwecken zwar immer wieder in das Interesse vor allem junger Forscher28, addato gibt es jedoch keine wissenschaftliche Arbeit, die sich um eine umfassende Bestandaufnahme seiner journalistischen Texte und deren Analyse bemühen würde. Eine Schwierigkeit besteht darin, dass keine komplette Bibliographie zu Weils Werk vorliegt, die seine in diversen tschechischen Periodika publizierten Artikel versammelt, die teilweise unter einem Pseudonym (Jan Hajdar) oder nur mit Kürzeln (-jw-, j.w., J.W., w.j., -jl-)29 versehen gedruckt wurden. Der große Teil dieser Texte ist letztlich nur vor Ort in Prag zugänglich.

Nur wenige wissen heute noch, dass Weil auch wissenschaftlich tätig war, und zwar während seiner Anstellung im Židovské muzeum in Prag in den Jahren 1943–1958. Pionierarbeit in der Erforschung dieses Lebensabschnitts hat in den letzten Jahren Hana Hříbková geleistet. Sie hat jahrelang in den Unterlagen des Museums recherchiert und Weils wissenschaftliche Arbeit verfolgt. Sie konnte wertvolle Informationen über die genaue Anstellungsdauer30 sowie über seine Beteiligung an der Vorbereitung der Ausstellung der Kindergedichte und -zeichnungen aus Terezín gewinnen und so mit ihrem Artikel „Jiří Weil: A Scientist and Initiator of Exhibitions of Children's Drawings from Terezín“31 eine Lücke in der Forschung zumindest teilweise schließen.

Auch Weils Übersetzungen stießen bislang kaum auf Interesse. Der Gesamtumfang derselben ist bis heute nicht erfasst worden. Vor allem die zwei Jahre in Moskau, in denen er im Verlag Inostrannyj rabočij als Übersetzer unter anderem an den Schriften von N. K. Krupskaja und V. I. Lenin gearbeitet haben soll, bleiben im Dunkeln, denn nach seinem Ausschluss aus der Kommunistischen Partei und seiner Verbannung nach Zentralasien wurde sein Name als mitwirkender Übersetzer höchstwahrscheinlich nicht angegeben. Es ist ebenfalls kaum bekannt, dass Weil nicht nur aus dem Russischen, sondern auch aus dem Polnischen (und zwar vor allem Gedichte) übersetzt hat. Auch mit diesem, fast unbekannten Gebiet von Weils Tätigkeit hat sich die tschechische Forscherin Hana Hříbková32 beschäftigt. Eine Ausnahme in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinen Übersetzungen aus dem Russischen bilden die Artikel von Stanislav Cita, in denen er Weils Übersetzung von Majakovskij mit denen anderer tschechischer Schriftsteller vergleicht.33 Abgesehen davon, dass der Gesamtumfang von Weils Übersetzungstätigkeit nicht erfasst wurde, sind bislang auch die Auswirkungen seiner Tätigkeit als Übersetzer – vor allem seine Übersetzungen sowjetischer LEF-Autoren wie Majakovskij oder Aseev – auf seine eigene Schreibtätigkeit nicht untersucht worden.34 In der vorliegenden Arbeit wird unter anderem die These vertreten, dass ein Verständnis von Weils Poetik und ihrer Entwicklung ohne Berücksichtigung der sowjetischen Literatur und ihrer Normen in den 1920er Jahren, vor allem der Gruppe LEF, nicht möglich ist. Gerade die sog. literatura faktu (Literatur des Faktums) und die Verbindung von Kunst und Gesellschaft durch den „sozialen Auftrag“, die LEF akzentuierte, findet hauptsächlich in seinem Vorkriegsschaffen ein Echo. Als promovierter Slawist35 war Jiří Weil aufgrund seiner mehrfachen Aufenthalte in der Sowjetunion ein ausgezeichneter Kenner der modernen sowjetischen Literatur und Kultur. Dies zeigen vor allem seine unzähligen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, in denen er die tschechischen Leser über neue sowjetische Bücher, Filme und Theaterstücke sowie über aktuelle Diskussionen der sowjetischen Kulturszene informierte. Im Jahr 1932 stellte er eine Anthologie moderner sowjetischer Dichtung zusammen, zu der er auch ein Vorwort verfasste.36 Tatsächlich war Weil einer der wenigen tschechischen Literaten und Künstler der Vorkriegszeit, der gut russisch konnte und der sich Übersetzungen aus dem Russischen widmete. Daran erinnert sich in seinem Memoirentext Z mého života (Aus meinem Leben) auch einer der bedeutendsten Dichter der tschechischen Avantgarde, Vítězslav Nezval:

Mezi lidi, se kterými jsem se tehdy stýkal, chodíval také Jiří Weil, jenž jediný z nás uměl rusky a překládal nám první Majakovského. Ukazoval nám různé sovětské avantgardní revue, které později, když je dostával Teige, měly velký vliv na typografickou úpravu našich avantgardních časopisů.37

Der größten Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft erfreuen sich Weils fiktionale Texte,38 vor allem seine Romane. Einige Werke sorgten bereits nach ihrer Veröffentlichung für starke Resonanz, die vor dem Hintergrund des aktuellen geschichtlichen und politischen Kontextes allerdings häufig sehr negativ ausfiel39 und die dann auch Konsequenzen für Weils Leben hatte. Nach Weils Tod, 1959, wovon die tschechische Presse kaum Notiz nahm, war es jahrelang still um ihn. In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren lässt sich ein wachsendes Interesse an seinen Werken beobachten, das der Lockerung der politischen Verhältnisse in der damaligen Tschechoslowakei zu verdanken ist. An tschechischen Universitäten durften zu dieser Zeit einige Diplomarbeiten zu seinem Werk entstehen40, und es kam sogar zur Veröffentlichung einiger seiner Texte: 1966 publizierte Jiří Opelík eine Auswahl von Weils Kurzerzählungen im Sammelband Hodina pravdy, hodina zkoušky (Die Stunde der Wahrheit, die Stunde der Prüfung). In der Zeitschrift Host do domu (Gast ins Haus) kam 1964 unter dem Titel „Bez triumfů“ (Ohne Triumphe) ein Auszug aus seinem unvollendeten Roman über Milena Jesenská und ihren Mann, Jaromír Krejcar, heraus.41 Vier Jahre später, 1968, wurde im heute fast vergessenen Sammelband Česká povídka 1918–1968 (Tschechische Erzählung 1918–1968) seine Erzählung „Hodina v Nyonu“ (Eine Stunde in Nyon) veröffentlicht.42 Aus den Unterlagen in Weils Nachlass geht hervor, dass für das Jahr 1969 die Herausgabe seines Romans Moskva – hranice43 und für 1970 dann die Fortsetzung Dřevěná lžíce44 im Verlag Československý spisovatel geplant war. Zu der Publikation ist es nicht gekommen, der Satz der Bücher wurde abgelegt. Diese beiden Romane konnten dann letztendlich 1969 aufgrund des Einsatzes der Literaturwissenschaftlerin Růžena Grebeníčková im Verlag Laterza auf Italienisch als ein Doppelroman erscheinen. Im Westen machte Andreas W. Mytze 1976 Weils Vorkriegsroman Moskva – hranice in seinem Verlag Europäische Ideen im Heft 14–15, gewidmet dem Exil in der Sowjetunion, bekannt, in dem er einen Auszug aus dem Roman nach der italienischen Ausgabe ins Deutsche übersetzte.

Während der Zeit der Normalisierung wurde Weils Werk aus der Öffentlichkeit verbannt, seine Werke konnten lediglich in den Samizdat-Editionen erscheinen: Sein Roman Dřevěná lžíce erschien im Jahr 1978 in der Edition Kvart und zwei Jahre später in der Edition Expedice. Auch der Memoirentext Mrazilo – tálo von Weils Freundin Slávka Vondráčková wurde in der maschinellen Fassung im Jahr 1979 in der Edition Kvart veröffentlicht. Das Interesse an Weil wächst seit der Wende 1989 wieder: Gleich 1990 erschienen in einer Doppelausgabe seine Shoah-Romane Život s hvězdou und Na střeše je Mendelssohn. 1992 wurde zum ersten Mal die Fortsetzung seines Vorkriegsromans Moskva – hranice, der Roman Dřevěná lžíce, publiziert. 1999 wurden die beiden Shoah-Romane um den Klagesang Žalozpěv za 77 297 obětí ergänzt und erneut veröffentlicht. Seit 2021 werden im Verlag Triáda Weils gesammelte Schriften herausgegeben.

In der neueren Weil-Forschung gibt es nicht nur historische Studien, die sich mit seinem bewegten Schicksal befassen, sondern auch zahlreiche literarische Analysen seiner Werke, vor allem der Romane. Eine der ersten, die diesen Zugang gewählt hat, war Růžena Grebeníčková, die bereits in den 1960er Jahren eine Reihe von Analysen zu Weils Prosa veröffentlichte.45 Sie war auch diejenige, die auf seine Verbindung zu LEF und zur literatura faktu aufmerksam gemacht hat. Um die Publikation von zahlreichen Texten Weils hat sich der tschechische Literaturkritiker Jiří Opelík verdient gemacht, der ebenfalls als erster auf die Nähe zwischen einigen faktualen und fiktionalen Texten Weils hingewiesen hat.46 Literaturwissenschaftliche Untersuchungen von Weils Werken, vorwiegend im Shoah-Kontext, führt auch Jiří Holý durch.47 Sowohl mit ihren historischen Studien als auch mit literaturwissenschaftlichen Analysen ist in der tschechischen Weil-Forschung Eva Štědroňová vertreten48. Auch Alice Jedličková befasste sich jahrelang mit dem Schriftsteller. Sie trug wesentlich dazu bei, dass der Roman Dřevěná lžíce in den 1990er Jahren überhaupt publiziert wurde.

Jiří Weil und sein Werk stießen auch bei den Literaturwissenschaftlern im Ausland auf Interesse. In Deutschland sind es vor allem Urs Heftrich und Bettina Kaibach, die einerseits Weils Texte ins Deutsche übertrugen, andererseits sich mit ihnen auch wissenschaftlich auseinandersetzten bzw. sie als Herausgeber den deutschsprachigen Lesern vermittelten.49 In den Niederlanden wird der Bohemist Kees Mercks als anerkannter Weil-Experte und -Übersetzer angesehen, der den Shoah-Roman Život s hvězdou, aber auch andere Texte ins Niederländische übersetzte und einige Studien über sein Werk verfasste.50 Im Osten gilt das Gleiche für den 2013 verstorbenen Literaturwissenschaftler Oleg Malevič, der über seine Forschung zu Jiří Weil sowie über seine Erinnerungen an die Treffen mit dessen Frau Olga häufig in den tschechischen Medien berichtete. In Italien befasste sich der namhafte Slawist Angelo Maria Ripellino mit Weil, der den 1970 auf Italienisch erschienenen „Doppelroman“ Weils mit einem Kommentar versehen hat, sowie der Bohemist Alessandro Catalano, indem er Weil ein Kapitel in seinem 2008 erschienenen Buch über die tschechische Literatur der Nachkriegszeit Rudá záře nad literaturou (Der rote Schein über die Literatur) widmete. Nicht nur das Interesse bereits renommierter WissenschaftlerInnen im Ausland an Jiří Weil wächst, auch unter den StudentInnen sind seine Werke zum Thema einiger Arbeiten geworden.51

Wie oben dargestellt, gibt es zu Leben und Werk Jiří Weils zahlreiche Studien, in denen jedoch nur bestimmte Texte und partielle Phänomene untersucht werden. Obwohl seit der Wende im Jahr 1989 die Weil-Forschung (vor allem aufgrund der Öffnung von tschechischen und sowjetischen Archiven) einen Boom erlebt hat und viele neue grundlegende Erkenntnisse gewonnen werden konnten, existiert bislang keine umfassende Arbeit, die sich mit Weils Gesamtwerk befasst. Diese Lücke soll mit dieser Arbeit nun geschlossen werden, indem Weils Werke in der Perspektive der Interrelation von Faktualität und Fiktionalität untersucht werden.

1 An dieser Stelle vermeide ich absichtlich den Begriff „Gattung“, da ich bei Weil nicht nur das klassische Gattungskonzept von Lyrik, Prosa und Drama meine, sondern weil ich auf den Reichtum an Texttypen (Reportage, wissenschaftlicher Artikel, Zeitungsartikel, Essay, Romane, Erzählung etc.) überhaupt hinweisen möchte.

2 Bei „Filoktet“ handelt es sich um eine politische Satire, die Weil 1957 für Jan Werich und das Theater ABC schrieb. Von dem Dreiakter „Transport“ befindet sich in Weils Nachlass nur der erste Akt, der 1943 in einem Krankenhaus in Prag spielt. Ob Weil das Stück je vollendete, ist nicht bekannt.

3 Weils Nachlass wird unter der Nummer 32/C geführt.

4 Da es bislang keine vollständige Bibliographie von Weils Werk gibt, erhebt auch diese Liste der tschechischen Periodika keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

5Tvorba, Nummer 42.

6Tvorba, Nummer 25.

7 Das Buch wurde 1937 im Verlag Družstevní práce (Genossenschaftsarbeit) publiziert, wo zum Ende des gleichen Jahres auch sein bekannter Roman Moskva – hranice erschien.

8 Roman Dřevěná lžíce konnte erst nach der Wende, im Jahr 1992, erscheinen.

9 Auf Russisch „obščestvennyj zakaz“ oder „social'nyj zakaz“, auf Tschechisch dann „sociální objednávka“.

Darunter wird eine bestimmte Engführung von Kunst und Gesellschaft verstanden. Laut Osip Brik ist der Dichter nur ein „Mittler“, ein „Handwerker“, der die Themen für seine Werke nicht erfindet, vielmehr übernimmt er diese aus seiner Umwelt und erfüllt dadurch einen „sozialen Auftrag“. Siehe Brik, Osip M. 1923: „T. n. ‚formal'nyj metod‘“, in: Eimermacher, Karl (Hg.): LEF I. Nachdruck der Hefte 1–4 (1923). München: Fink, I/213–215.

10 Weil hat die Manuskripte im Laufe der 1950er Jahre an den Verlag Mladá fronta (Junge Front) geschickt, sie wurden jedoch abgelehnt. Er hat einige Motive von diesen nichtpublizierten Texten im Roman Harfeník verwendet.

11 Dies belegen unter anderem einige Fotografien aus Weils Nachlass, auf denen er mit dem Streikführer Venca Marat (genannt auch Rudý Marat – Der rote Marat) abgelichtet ist.

12 Diese sind (wahrscheinlich durch Weil) so geordnet, dass sie zusammen mit seinen Texten einen dokumentarischen Zyklus bilden.

13 Diese Erzählung wurde in den Sammelbänden Mír (1949) und Vězeň chillonský (1957) gedruckt.

14 Das Drehbuch gibt es in drei Versionen, die gravierende Unterschiede aufweisen; von der ursprünglichen Geschichte von Venca Marat wird immer weiter abgerückt und die Rolle der kommunistischen Partei immer stärker akzentuiert. Einige der Versionen benannte Weil „Jiskra z Koh-i-nooru“ (Der Funke von Koh-I-Noor).

15 „Ve městě Mešhedu“, in: Literární noviny 1939/12:4, 57–60; „Aukce“, in: Literární noviny 1940/13:1, 1–2 und „Stráň“, in: Literární noviny 1940/13:9, 193–195.

16 Das im Jahre 1942 durch die Nationalsozialisten errichtete Jüdische Zentralmuseum sollte zur Sammlung der aus den liquidierten jüdischen Gemeinden und Synagogen Böhmens und Mährens beschlagnahmten jüdischen Gegenstände dienen. Weil war dort von Juli 1943 bis Anfang Februar 1945 in einer Kommission tätig, welche die beschlagnahmten Gegenstände zu katalogisieren hatte. Zu Weils Beschäftigung im Jüdischen Museum siehe die Studie Hříbková, Hana. 2012: „Jiří Weil: A Scientist and Initiator of Exhibitions of Children's Drawings from Terezín“, in: Holý, Jiří (Hg.): The Representation of the Shoah in Literature, Theatre and Film in Central Europe: 1950s and 1960s/Die Darstellung der Shoah in Literatur, Theater und Film in Mitteleuropa: die fünfziger und sechziger Jahre. Praha: Akropolis, 51–64.

17 Diese Anstellung behielt er bis 1949.

18 Z. B. „Literární činnost v Terezíně“ (Literarische Tätigkeit in Theresienstadt), „Pražské ghetto na počátku 19. století“ (Prager Ghetto am Anfang des 19. Jahrhunderts), „Současníci o Mordechajovi Mayzlovi“ (Die Zeitgenossen über Mordechaj Mayzel), „Ghetto a hranice“ (Ghetto und die Grenze) oder „Povstání v ghettu“ (Der Aufstand im Ghetto).

19 Weil war im Jüdischen Museum zuerst von 1943 bis 1945 als Mitglied der Kommission angestellt, die eingetroffene jüdische Artefakte katalogisierte. Seine zweite Anstellung fällt in die Jahre 1949–1958, in denen er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig war.

20 Über die Einzelheiten zu Weils Ausschluss aus dem Schriftstellerverband am 10.11.1950 berichtet Michal Bauer in seinem Artikel: „J. Weil und K. J. Beneš, dva problémoví spisovatelé“. Laut Protokoll der 10. Versammlung der tschechischen Sektion des Verbands wurde Weil vor allem der unveröffentlichte Roman Dřevěná lžíce zum Verhängnis. Siehe Bauer, Michal. 1999: „J. Weil a K. J. Beneš, dva problémoví spisovatelé“, in: Tvar 1999/10:16, 14–15.

21 In seinem Artikel „Jak vznikl film Motýli tady nežijí“ schreibt Weil, dass die Ausstellung damals zwar eine beträchtliche Resonanz gefunden hat, jedoch nicht so große, wie sie es verdient hätte. Anlässlich der Spartakiade haben die Ausstellung an die 10.000 Besucher besichtigt.

22 Im Rahmen dieser Arbeit wurden Anfragen an folgende Institutionen gerichtet bzw. direkt vor Ort geforscht: Národní knihovna v Praze (Nationalbibliothek in Prag), Ústav pro českou literaturuAkademie věd v Praze (Institut für die tschechische Literatur der Akademie der Wissenschaften in Prag), Památník národního písemnictví v Praze (Denkmal des nationalen Schrifttums in Prag), Muzeum dělnického hnutí v Praze (Museum der Arbeiterbewegung in Prag), Židovské muzeum v Praze (Jüdisches Museum in Prag), Národní archiv v Praze (Nationalarchiv in Prag), Archiv Univerzity Karlovy v Praze (Archiv der Karls-Universität in Prag), Národní filmový archiv v Praze (Nationales Filmarchiv in Prag), Moravský zemský archiv v Brně (Mährisches Landesarchiv in Brünn), Archiv Hlavního města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag), Státní okresní archiv v Táboře (Staatliches Bezirksarchiv in Tábor), Husitské muzeum v Táboře (Hussitenmuseum in Tábor), Český rozhlas (Tschechischer Rundfunk), Pohřební ústav Strašnice (Bestattungsinstitut, Prag Strašnice), Central'nyj gosudarstvennyj archiv Kirgizskoj Respubliki (Staatliches Zentralarchiv der Kirgisischen Republik), Gosudarstvennyj archivgoroda Balchaš (Staatliches Archiv der Stadt Balchaš) sowie Krajanský spolek Nazdar v Biškeku (Landsmannsverein Nazdar in Biškek), Literaturarchiv der Akademie der Künste in Berlin, Meanjin (Australische Zeitschrift, Melbourne University Publishing), Gedenkstätte Mauthausen, International Tracing Service in Bad Arolsen.

Des Weiteren wurden über Jiří Weil und sein Schaffen folgende Personen befragt: Hana Hříbková (Mitglied des Centrum pro studium holokaustu a židovské literatury, Autorin einiger Studien über Jiří Weil), Klaus Wagenbach (Verleger, Augenzeuge), Lenka Matušíková (Národní archiv v Praze), Zdena Škvorecká Salivarová (Schriftstellerin, Augenzeugin), Oleg Michajlovič Malevič (Bohemist und Übersetzer, Augenzeuge), Michail Olegovič Malevič (Verwalter des Nachlasses von Oleg Malevič), Jiří Gruntorád (Gründer der Samizdat- und Exil-Bibliothek Libri Prohibiti), Kateřina Čapková (Historikerin und Autorin der Publikation Češi, Němci, Židé?), Alessandro Catalano (Bohemist und Autor der Publikation Rudá záře nad literaturou), Gianlorenzo Pacini (Übersetzer der Romane Moskva – hranice und Dřevěná lžíce ins Italienische), Markéta Kittlová (Bohemistin und Autorin der Diplomarbeit „Jiří Weil mezi Ruskem a Čechami“), Alice Jedličková (Mitglied des Ústav pro českou literaturu und Autorin einiger Studien über Jiří Weil), Daniel Řehák (Mitglied des Ústav pro českou literaturu und Verfasser von Weils Bibliographie 1919–1959), Horymír Žmolil (Chronist und Historiker der Stadt Týnec nad Labem), Andreas W. Mytze (Journalist, Kulturvermittler und Übersetzer), Jarmila Schreiberová (Sprecherin des Verbandes ELK), Kees Mercks (Bohemist und Übersetzer von Weils Werken ins Niederländische), Vladimir Hedeler (Historiker, Autor einiger Publikation zum Straflager Karlag).

Allen diesen Personen und Institutionen möchte ich hiermit für ihre Hilfe, wertvollen Ratschläge sowie für die Beantwortung meiner Fragen danken.

24 Siehe auch Kryl, Miroslav. 2008: „Jiří Weil – jeden český židovský osud“, in: Randák, Jan/Koura, Petr (Hg.): Hrdinství a zbabělost v české politické kultuře 19. a 20. století. Výběr příspěvků ze stejnojmenné konference, která proběhla ve dnech 25.–27. října 2006. Praha: Dokořán, 245–269.

25 Hájková, Alena. 2000: „Dokument přinášející vysvětlení“, in: Terezínské listy. Sborník památníku Terezín 2000/28, 114–115. Weitere Informationen zu diesem Lebensabschnitt von Weil sind in folgendem Artikel zu finden: Hříbková Hana. 2006: „Jiří Weil se vrátil“, in: Židovská ročenka na rok 5767 (2006/07), 138–157.

26 Die Tatsache, dass dort keine Aufzeichnungen über J. Weil gefunden wurden, muss nicht zwangsläufig heißen, dass er dort nicht gewesen ist, denn viele der Unterlagen gingen im Laufe der Jahre verloren oder die Akten wurden nicht ordentlich geführt. Die Absenz der Unterlagen unterstützt jedoch die Annahme, dass er dort keinesfalls als Häftling war. Auch die Dauer seines vermeintlichen Aufenthalts in Karlag – ca. zwei Monate – spricht ebenfalls dafür, dass er dort nicht den Status eines Häftlings gehabt haben kann.

27 „Cesta zpátky“, in: Panorama 1937/4, 101f. (Ich sollte in meine Heimat zurückkehren, ich wusste das jedoch noch nicht, ich erfuhr es erst in Moskau. Ich verließ jedoch Asien, wo ich ein halbes Jahr lebte. […] In der Zugstation Emba, die erst vor kurzem auf den Karten erschien, in der Station, die in der kasachischen Wüste liegt, verstauchte ich mir den Knöchel und riss mir die Bänder. […] Ich sagte dem Arzt, ich würde in Kujbyšev aussteigen, der Arzt rief in der Eisenbahnambulanz an. […] In die Kutsche half mir mein alter Freund Hlom, ein tschechischer Arbeiter – einer der besten Menschen auf der ganzen Welt –, und Kupa hieß mich erst in der Fabrik willkommen [über Kupa schreibe ich in meinem Buch]. Ich lag bei ihm drei Wochen und eine Woche lang bummelte ich in Kujbyšev, der ehemaligen Stadt Samara an dem großen Fluss Wolga. Und dann traf ich endlich in Moskau ein, wo schon Schnee fiel und der erste Frost einsetzte. Ich kam nach Moskau, um es nach einem Monat zu verlassen.)

28 In den späten 1960er Jahren ist an der Karls-Universität in Prag eine Diplomarbeit zu Weil als Journalist entstanden: Dana Novotná: „Novinář Jiří Weil“ (Der Journalist Jiří Weil). Von den neueren Arbeiten wären die Diplomarbeit „Jiří Weil mezi Ruskem a Čechami“ (Jiří Weil zwischen Russland und Tschechien) von Markéta Kittlová zu nennen, die Weils journalistische Arbeiten in Bezug auf sein Verhältnis zur Sowjetunion untersucht, sowie die Diplomarbeit „Sovětský svaz 30. let očima české levice a předválečná tvorba J. Weila“ (Die Sowjetunion der 1930er Jahre in den Augen tschechischer Linke und das Vorkriegsschaffen von J. Weil) von Jana Ševčíková. Beide Arbeiten beschränken sich allerdings auf Weils Vorkriegsschaffen. Im Jahr 2021 ist ein Sammelband von Weils Reportagen und Artikeln aus den Jahren 1920–1933 erschienen: Weil, Jiří. 2021: Reportáže a stati 1920–1933. Praha: Triáda, herausgegeben von Michael Špirit.

29Janáček, Pavel. 1998/2011: „Jiří Weil“, in: Slovník české literatury. [http://www.slovnikceskeliteratury.cz/showContent.jsp?docId=902, zuletzt aufgerufen am 11.11.2020]

30 Von Juli 1943 bis zu Februar 1945 war Weil im durch die Nationalsozialisten gegründeten Jüdischen Zentralmuseum tätig. Er sortierte und katalogisierte die dort eingelangten beschlagnahmten Gegenstände. Nach dem Krieg war er für die Rettung der jüdischen Bücher zuständig. Er war auch einer der ersten, die das Konzentrationslager Terezín besichtigte (im Mai 1945). 1946 verließ Weil das Jüdische Museum. Er war danach im Verlag ELK tätig. Nach seinem Ausschluss aus Svaz československých spisovatelů und ELK im Jahr 1949 kehrte er in das Jüdische Museum zurück.

31 Hříbková 2012, 51–64.

32 Für mehr Informationen siehe ihren Artikel: Hříbková, Hana. 2017: „The Shoah in Poland in the Work of Jiří Weil: Translation and Literary Reference“, in: Poznańskie Studia Slawistyczne. Recepcja literackich i artystycznych dzieł o Szoa 2017/12. Poznań: Wydawnictwo Poznańskiego Towarzystwa Przyjaciół Nauk, 139–152.

33 Cita, Stanislav. 1985: „K prvním českým překladům básní Vladimíra Majakovského (Jiří Weil a František Kubka)“ (Zu den ersten tschechischen Übersetzungen der Gedichte von Vladimir Majakovskij [Jiří Weil und František Kubka]), in: Československá rusistika 1985/30:2, 56–61 und „Dílo Vladimíra Majakovského v českých překladech“ (Das Werk von Vladimir Majakovskij in den tschechischen Übersetzungen), in: Sovětská literatura 1983/7, 126–137.

34 Die bereits erwähnte Diplomarbeit von Markéta Kittlová widmet sich ansatzweise Weils Übersetzungen aus dem Russischen.

35 Er promovierte 1928 an der Karls-Universität in Prag, seine Dissertation verfasste er zum Thema „Gogol a anglický román 18. století“ (Gogol und der englische Roman des 18. Jahrhunderts).

36 Der Sammelband wurde 1932 unter dem Titel Sborník sovětské revoluční poesie (Sammelband der sowjetischen Revolutionsdichtung) im Verlag Karel Borecký veröffentlicht, wo Weil eine Zeit lang selbst als Redakteur tätig war.

37 Nezval, Vítězslav. 1978: Z mého života. Praha: Československý spisovatel, 94. (Unter den Menschen, mit denen ich mich damals getroffen habe, war auch Jiří Weil, der als einziger von uns russisch konnte und der für uns als erster Majakovskij übersetzte. Er zeigte uns verschiedene sowjetische Avantgardezeitschriften, die später, als Teige sie bekam, einen großen Einfluss auf die typografische Gestalt unserer Avantgardezeitschriften hatten.)

38 An dieser Stelle sollte vor allem das Nachwort erwähnt werden, das der tschechische Literaturkritiker und Regisseur Jan Grossman zu Weils Roman Život s hvězdou verfasste und das in vielerlei Hinsicht die Richtung späterer Studien zu Weils Werk vorzeichnete. Siehe 1949: „Doslov“, in: Weil, Jiří: Život s hvězdou. Praha: ELK 1949, 211–214 sowie „Doslov“, in: Weil, Jiří: Život s hvězdou. Praha: Mladá fronta 1964, 155–159.

39 Vor allem die Romane Moskva – hranice und Život s hvězdou erfuhren eine negative Kritik.

40 Hier können folgende Diplomarbeiten genannt werden: Jaroslava Novotná: „Problematika osamocení v české židovské literatuře po roce 1945“ (Die Problematik der Vereinsamung in der tschechischen jüdischen Literatur nach 1945), Dana Novotná: „Novinář Jiří Weil“ (Der Journalist Jiří Weil), beide entstanden 1967 an der Karls-Universität in Prag, sowie Jaromíra Vyvozilová: „Próza Jiřího Weila“ (Die Prosa von Jiří Weil), entstanden 1967–68 an der Universität in Olmütz.

41 „Bez triumfů“, in: Host do domu 1964/9:40, 40–47.

42 Die Herausgeberin dieses Sammelbandes war Květa Drábková, die Lektorin und Korrektorin von Weils Texten. In ihrem Nachlass im LA PNP befinden sich Weils Schriften Češi stavějí v zemi pětiletek und Dřevěná lžíce, die sie lektorierte.

43 Aus dem Vertrag zwischen der Witwe und dem Verlag vom Mai 1968 geht hervor, dass die zweite Ausgabe des Romans in 10.000 Exemplaren für spätestens April 1969 geplant wurde. (Siehe LA PNP, Fundus Jiří Weil)

44 Bei Dřevěná lžíce wäre das die erste Ausgabe gewesen. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum im Vertrag die Anzahl der Exemplare nicht spezifiziert wurde. Mit dem Schreiben des Verlags vom 29. Oktober 1969 wird der Witwe bekannt gegeben, dass der Roman nicht publiziert wird. (Siehe LA PNP, Fundus Jiří Weil)

45 Die Artikel „Jiří Weil a moderní román“ (Jiří Weil und der moderne Roman), „Jiří Weil a normy české prózy po patnácti letech“ (Jiří Weil und die Normen der tschechischen Prosa nach fünfzehn Jahren), „Weilův žalozpěv“ (Weils Klagegesang) und „Weilova Moskva – hranice“ (Weils Moskau – die Grenze) wurden 1962–68 in diversen tschechischen Periodika abgedruckt. 1995 erschienen sie dann im Sammelband Literatura a fiktivní světy (Die Literatur und die fiktiven Welten).

46 Siehe beispielweise die Studien „Vypravěč ve vývoji české prózy třicátých let“ (Der Erzähler in der Entwicklung tschechischer Prosa der 1930er Jahre), in: Česká literatura 1968/16:3, 297–303 oder „Hodina pravdy, hodina zkoušky“ (Die Stunde der Wahrheit, die Stunde der Prüfung), in: Weil, Jiří: Hodina pravdy, hodina zkoušky. Praha: Československý spisovatel 1966, 191–206.

47 Siehe die Studien „Roubíček versus Dějiny“ (Roubíček contra Geschichte), in: Holý, Jiří: Možnosti interpretace: Česká, polská a slovenská literatura 20. století. Olomouc: Periplum 2002, 211–232, „Židé a šoa v české a slovenské literatuře po druhé světové válce“ (Juden und Shoah in der tschechischen und slowakischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg), in: Holý, Jiří/Málek, Petr/Špirit, Michael/Tomáš, Filip (Hg.): Šoa v české literatuře a v kulturní paměti. Praha: Akropolis, 7–65 oder seinen Kommentar in der Ausgabe von Weils Texten Život s hvězdou. Na střeše je Mendelssohn. Žalozpěv za 77 297 obětí. Praha: Nakladatelství Lidové noviny 1999, 481–505 in einem Buch bzw. den Text, publiziert auf den Seiten des Centrum pro studium holokaustu a židovské literatury (Zentrum für Studium des Holocausts und der jüdischen Literatur), „Jiří Weils Roman Život s hvězdou und seine kritische Rezeption“ (http://cl.ff.cuni.cz/ holokaust/wp-content/uploads/jiri-holy-jiri-weils-roman-zivot-s-hvezdou.pdf, zuletzt aufgerufen am 10.05.2019). Zu Weils Vorkriegsschaffen siehe Holýs Artikel „Moskva – hranice“ (Moskau – die Grenze), in: Literární noviny 1991/2:38, 5 oder „Die Namen auf den Mauern der Pinkas-Synagoge in Prag“, in: Hanshew, Kenneth/Koller, Sabine/Prunitsch, Christian (Hg.): Texte prägen. Festschrift für Walter Koschmal. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2017, 415–432.

48 Siehe die Studien „Jiří Weil – jeden lidský a umělecký osud české literatury“ (Jiří Weil – ein menschliches und künstlerisches Schicksal der tschechischen Literatur), in: Literární měsíčník 1989/18, 81–85, „Dialektika umělecké metody a reality v díle Jiřího Weila“ (Dialektik der künstlerischen Methode und Realität im Werk von Jiří Weil), in: Česká literatura 1990/38:2, 126–140, „Weilova ‚Moskva – hranice‘. Významný román české literatury“ (Weils „Moskau – die Grenze“. Ein bedeutender Roman der tschechischen Literatur), in: Weil, Jiří: Moskva– hranice. Praha: Mladá fronta 1991,269–280, und „Jiří Weil“, in: Pavlát, Leo (Hg.): Českožidovští spisovatelé v literatuře 20. století. Sborník přednášek z cyklu uvedeného ve Vzdělávacím a kulturním centru Židovského muzea v Praze od září 1999 do června 2000. Praha: Židovské muzeum 2000, 70–79.

49 Bettina Kaibach übersetzte einige Erzählungen von Weil ins Deutsche und veröffentlichte sie dann 2008 zusammen mit Urs Heftrich in dem Sammelband Sechs Tiger in Basel. Als weitere Studien sind zu nennen: Kaibach, Bettina. 2006: „Guilty While Innocent. The Concept of the Tragic in Jiří Weil’s Novel ‚Mendelssohn is on the Roof‘“, in: Grüner, Frank/Heftrich, Urs/Löwe, Heinz-Dietrich (Hg.): Zerstörer des Schweigens. Formen künstlerischer Erinnerung an die nationalsozialistische Rassen- und Vernichtungspolitik in Osteuropa. Köln: Böhlau,242–263 oder Heftrich, Urs. „Weilův Život s hvězdou a evropská literární tradice“ (Weils Leben mit dem Stern und europäische literarische Tradition), in: Česká literatura na konci tisíciletí. Příspěvky z 2. kongresu světové literárněvědné bohemistiky, Praha 3.–8. července 2000. Band 2, Praha: Ústav pro českou literaturu AV ČR, 525–535 sowie sein Nachwort zu der deutschen Ausgabe des Romans Das Leben mit dem Stern: „Der Unstern als Leitstern: Jiří Weils Werk über Holocaust“, in: Weil, Jiří: Leben mit dem Stern. München – Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 2000, 360–386.

50 Siehe Mercks, Kees. 1995: „Zur Rezeption des Romans ‚Das Leben mit dem Stern‘ von Jiří Weil. Sinn und Unsinn“, in: Russian Literature 1995/37:4, 561–578.

51 Vgl. z. B. die Magisterarbeit von Andrea Daniela Schutte „Die jüdische Thematik im Werk Jiří Weils“ (Bonn, 2004) oder die Dissertation von David Thomas Lightfoot „Travel and Transformations: Rereading the Prose of Jiří Weil“ (Toronto, 2002), betreut von der Bohemistin Veronika Ambros, die ebenfalls mehrere Studien zu Weil verfasst hat. Lightfoot sieht Weil als einen Vertreter der tschechischen Avantgarde an, bemüht sich bei der Re-Lektüre von Weils Werk „to remove the red star under which Weil’s work was published“ sowie „to look at Weil free from the yellow star of Holocaust literature“ (Lightfoot 2002, 249).

2. Theoretische Grundlage

2.1 Zum Begriff der Fiktion

Das Phänomen der Fiktion ist in der heutigen Welt nahezu omnipräsent. Gerade die Sphäre der Kultur ist von Fiktion geradezu durchdrungen: Sie ist in verschiedensten Medien vorhanden, wird im alltäglichen Sprachgebrauch bewusst oder unbewusst verwendet. Diese Allgegenwärtigkeit von Fiktion bezeichnet J. Alexander Bareis als eine Zeit des „Panfiktionalismus“,1 in der die heutige abendländische Zivilisation lebe. Demnach kann also der Terminus „Fiktion“ sehr breit aufgefasst werden. In der vorliegenden Arbeit wird lediglich auf die Fiktion und ihre Auswirkungen im Medium des Textes, also auf die sogenannte „Fiktionalität“, eingegangen. Als Korpus für die praktische Analyse dienen die Texte des tschechischen Schriftstellers Jiří Weil, dessen Œuvre ausschließlich aus geschriebenen Texten besteht.

Die Frage nach der „Fiktionalität“ der Texte beschäftigt Denker bereits seit Jahrtausenden. Unter diversen Aspekten betrachtet und modifiziert zieht sie sich seit der Antike bis in die Gegenwart. Die Ursprünge dieser theoretischen Diskussion sind traditionell mit der ontologischen Perspektive verknüpft und lassen sich bis zu Plato und Aristoteles zurückverfolgen.2 Mit deren unterschiedlichen Auffassungen des Seinsbegriffs sind zwei Kunstkonzeptionen der Mimesis verbunden. Während für Plato die Kunst eine Nachahmung der wirklichen Welt darstellt, ist sie für Aristoteles als Schaffung einer neuen Welt zu verstehen.3 Diese zwei Konzepte haben auch weitreichende Auswirkungen auf das Verständnis von Fiktion in literarischen Texten, wobei vor allem zwei Aspekte von besonderer Bedeutung sind: Erstens Platos Vorwurf, die Dichter seien Lügner4, und zweitens Aristoteles’ Unterscheidung zwischen Dichtung und Historiographie. Vor allem der aristotelische Gedanke zur Unterscheidbarkeit von Dichtung und Historiographie ist hier von besonderer Relevanz, denn, so Aristoteles,

ein Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin, dass sie mit oder ohne Versmaß schreiben [...], der Unterschied liegt vielmehr darin, dass der eine darstellt, was geschehen ist, der andere dagegen, was geschehen müsste. [...] Die Dichtung nämlich stellt eher etwas Allgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar.5

Dass die Frage nach der Fiktionalität der Texte immer noch hoch aktuell ist und die modernen literaturwissenschaftlichen Diskussionen prägt, belegen zahlreiche Publikationen, die vorwiegend ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind.6 Diese neuzeitlichen Fiktionalitätstheorien lassen sich thematisch in mehrere Bereiche ordnen: Klauk und Köppe teilen sie in textbezogene, produktionsbezogene, rezeptionsbezogene sowie kontextbezogene.7 Zipfel spricht außerdem von der Gruppe der sogenannten institutionalisierten Ansätze,8 die jedoch mit der Gruppe der kontextbezogenen Theorien im Sinne Klauks und Köppes weitgehend übereinstimmt. Jeder dieser Bereiche rückt eine andere Perspektive in den Vordergrund.

Die textbezogenen Ansätze fokussieren auf den eigentlichen Text und versuchen die literarischen Phänomene der Fiktionalität vor allem mithilfe von spezifischen, „empirisch überprüfbaren“ Merkmalen (Fiktionssignalen) zu erläutern.9 Sie ermitteln syntaktische und stilistische Strukturen des Textes, oder auch semantische Eigenschaften, anhand derer man die Fiktionalität nachweisen kann. Die textbezogenen Theorien, die die Fiktionalität eines Textes lediglich anhand der sprachlich-stilistischen Kriterien beschreiben, gelten heute allerdings als unzureichend.10 Für die vorliegende Arbeit sind vor allem solche textbezogene Theorien relevant, die sich mit der Beschaffenheit der sogenannten „fiktiven Welten“ befassen. Die Theorie der „fiktiven Welten“ ist eine Verbindung der in den fiktionalen Texten entworfenen narrativen Welten mit dem aus der logischen Semantik übernommenen Konzept der möglichen Welten.11 Ihre Entwicklung ist hauptsächlich dem tschechischen Literaturwissenschaftler Lubomír Doležel zu verdanken. Sein 1998 auf Englisch erschienenes Buch Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds12 zählt zu den Grundwerken dieses Konzepts. Die fiktiven Welten in der Literatur können laut Doležel als eine besondere Art der möglichen Welten verstanden werden. Weiters charakterisiert er sie als ästhetische Artefakte, die im Medium der fiktionalen Texte entstanden sind und aufbewahrt werden. Doležel führt folgende Aspekte der fiktiven Welten in der Literatur auf: Erstens gelten sie als Komplexe von nichtrealisierten möglichen Zuständen der Dinge. Dies bedeutet, dass die Entitäten in den fiktionalen Texten einen anderen ontologischen Status haben als die Entitäten in der realen Welt. Zweitens, so Doležel, sei die Menge der fiktiven Welten endlos und äußerst heterogen. Bei der Erschaffung der möglichen Welten sei die literarische Fiktion nicht auf bloße Nachahmung der realen Welt beschränkt, denn das Mögliche sei viel umfangreicher als das Reale. Drittens behauptet Doležel, dass real existierende Personen wie Autoren oder Leser Zugang zu den fiktiven Welten haben. Da die reale und die fiktive Welt jedoch einen anderen ontologischen Status haben, könne der Übergang von der einen in die andere Welt und/oder umgekehrt nur mittels semiotischer Wege und Aufarbeitung von Informationen bewältigt werden. Die durch den Autor konstruierte fiktive Welt beinhalte Instruktionen für den Leser, der diese Welt dann anhand dieser Anweisung wieder rekonstruiere. Als vierten Aspekt der Beschaffenheit der fiktiven Welten in der Literatur nennt Doležel ihre Unvollständigkeit. Diese Unvollständigkeit lasse sich relativ einfach feststellen, da nur bestimmte Fragen über die Entitäten in der fiktiven Welt beantwortet werden können. Fünftens könne die Makrostruktur der fiktiven Welten ungleichartig sein. Sehr häufig zerfalle eine fiktive Welt in zwei Bereiche, die unterschiedlichen globalen Einschränkungen unterliegen. Diese für die narrativen Welten typische Ungleichartigkeit erzeuge Spannung und somit eine geeignete Umwelt für literarische Figuren und ihre Geschichten. Als letzte Eigenschaft von fiktiven Welten in der Literatur führt Doležel ihre Entstehung durch textbildende Tätigkeit (poiesis) auf. In der realen Welt erschaffe der Autor mit der Konstruktion eines mündlichen oder schriftlichen Textes eine neue fiktive Welt, deren Eigenschaften, Struktur und Existenz von der realen Welt unabhängig seien.13 Eine fiktive Welt in der Literatur definiert Doležel also als eine kleine, mögliche, durch spezifische globale Einschränkungen gestaltete Welt, die eine endliche Anzahl von „mitmöglichen“ Individuen enthält.14 Die fiktive Welt wird im Medium des fiktionalen Textes realisiert. Die fiktionalen Texte kategorisiert Doležel als sogenannte C-Texte, auch konstruierende Texte genannt.15 Die fiktionalen Texte sind laut Doležel solche Texte, die noch vor den Welten bestehen, die also solche Welten erst entstehen lassen. Außer den C-Texten unterscheidet er noch I-Texte – also darstellende Texte –,16 die ein Abbild der realen Welt in Form von Berichten, Beschreibungen, Hypothesen etc. abgeben. Diese Charakterisierung Doležels wird für die Beschreibung des Werks von Jiří Weil herangezogen. Weils journalistische und wissenschaftliche Texte sowie Reportagen werden als I-Texte betrachtet, seine fiktionalen Texte wie Romane und Erzählungen hingegen als C-Texte. Dabei ist vor allem der Übergang von manchen I-Texten zu C-Texten vom besonderen Interesse.

Die zweite Gruppe der Fiktionalitätstheorien bilden die sogenannten produktionsbezogenen Ansätze. Sie betrachten den Text aus der Perspektive des Produzenten, die Intention des Autors steht demnach im Vordergrund. Der Text ist erst dann fiktional, „wenn er auf bestimmte Weise hervorgebracht wird“.17 Von den Fiktionssignalen fokussieren die produktionsbezogenen Ansätze lediglich die Paratexte, denn es sind hauptsächlich diese, welche die Absicht des Produzenten nahelegen. Eine der bekanntesten und meist diskutierten produktionsbezogenen Theorien ist jene von John Searle, basierend auf seiner Sprechakttheorie, die er in dem Aufsatz „The Logical Status of Fictional Discourse“18 entworfen hat. Anhand von zwei Beispielen19 – eines nicht-fiktionalen und eines fiktionalen Textes – demonstriert Searle, dass ein Text über keinerlei Merkmale verfügt, die ihn als „fiktional“ charakterisieren würden, sondern dass das Kriterium für die Zuordnung zur Kategorie der Fiktionalität bzw. Nicht-Fiktionalität lediglich in der Intention des Autors liegt.20 Laut Searle vollzieht der Autor eines fiktionalen Textes keine illokutionären Sprechakte, er täuscht sie lediglich vor.21 Die Entstehung der Fiktionalität wird – so Searle – durch ein Ensemble von außerlinguistischen, nichtsemantischen Konventionen ermöglicht.22

Die dritte Gruppe der theoretischen Konzepte, die rezeptionsbezogenen Theorien, setzen einen die Fiktionalität erkennenden Leser voraus. Die Ursprünge dieses Ansatzes lassen sich bereits bei einem englischen Dichter der Romantik, Samuel T. Coleridge, beobachten. Mit seiner viel zitierten Formel „the willing suspension of disbelief“23 meint er, dass der Leser bereit sei, freiwillig seine Ungläubigkeit auszusetzen und die Geschichte des Autors zu glauben. An diesen Gedanken knüpfen in der modernen Zeit Theoretiker wie Umberto Eco oder Kendall L. Walton an. Während Eco den Terminus „Fiktionsvertrag“ geprägt hat, wird Waltons Name vor allem mit dem Begriff „mimesis as make-believe“24 verbunden. Ecos „Fiktionsvertrag“25 stellt eine Art „Pakt“ dar, der zwischen dem Autor des Textes und dem Leser abgeschlossen wird:

Der Leser muss wissen, dass das, was ihm erzählt wird, eine ausgedachte Geschichte ist, ohne darum zu meinen, dass der Autor ihm Lügen erzählt. […] [D]er Autor tut einfach so, als ob er die Wahrheit sagt, und wir akzeptieren den Fiktionsvertrag und tun so, als wäre das, was der Autor erzählt, wirklich geschehen.26

Waltons Auffassung der Fiktionalität „kann [dagegen] als eine funktionelle Theorie der Fiktion charakterisiert werden. Alle Darstellungen (representations)27 im Sinne Waltons teilen die Eigenschaft, als Requisiten (props) in einem Make-Believe-Spiel (game of make-believe)28 zu fungieren und dabei Vorstellungen anzuleiten oder vorzuschreiben (prescribe imaginings).“29 In seinem Konzept beschäftigt sich Walton ebenfalls mit der Frage der Wahrheit in der Fiktion. Bareis hat Waltons Gedanken zur fiktionalen Wahrheit folgendermaßen zusammengefasst: „Was fiktional wahr ist in der Werkwelt, ist das, und nur das, was in jeder Spielwelt wahr ist, die mit genau diesem Objekt gespielt wird.“30 Bei einer Spielwelt (game world) handelt es sich um ein privates Make-Believe-Spiel, in dem die Teilnehmer eine Reihe von eigenen Vorstellungen generieren. Die Werkwelt (work world) ist als eine „Schnittmenge aller möglichen Spielwelten“31 zu sehen. Dieser Welt können die Rezipienten die Wahrheiten entweder „direkt“ entnehmen, d. h. diese sind im Werk direkt beschrieben, oder eben nur „implizit“.32 Das Generieren fiktionaler Wahrheit lässt sich mit folgenden Prinzipien beschreiben: mit dem Realitätsprinzip (reality principle)33 und mit dem Prinzip gemeinsamer Überzeugung (mutual belief)34. Auch die Unterscheidung zwischen einem fiktionalen und nicht-fiktionalen Text im Sinne Waltons ist rein funktional. Fiktion entsteht dann, wenn ein Artefakt als Requisit in einem Make-Believe-Spiel benutzt wird. Die Intention des Autors wird dabei ausgeblendet.35 Der Vorteil einer solchen ausgedehnten Auffassung des Fiktionsbegriffs besteht darin, dass er beinahe auf alle Kunstformen sowie auch auf einige nichtkünstlerische Phänomene36 angewendet werden kann, er eignet sich deshalb besonders für intermediale und interdisziplinäre Herangehensweisen.37

Einige der zuvor genannten Ansätze gelten als Vorläufer der institutionellenFiktionalitätstheorien, bei denen es sich „auch eher um eine bestimmte Schwerpunktsetzung im Rahmen dieser Theorien als um einen Neuansatz im eigentlichen Sinne [handelt]“.38 Diese Theorien setzen „einen Interaktionszusammenhang zwischen Autor und Leser“39 voraus, bei dem der Leser durch die vom Autor gelieferten (Fiktions-)Signale die Fiktionalität eines Textes erkennt. Die institutionelle Theorie ist aus der Verbindung von produktions- und rezeptionsorientierten Ansätzen entstanden.40 Sie ist als ein Rahmenmodell zu verstehen, das über mehrere Vorzüge verfügt: Es lässt sich gut mit anderen spezifischen Theorien kombinieren41, und man muss sich nicht auf einzelne Fragestellungen festlegen. Außerdem bietet die institutionelle Theorie Lösungen für einige grundlegende Probleme der Fiktionalitätstheorie wie für den Wechsel des Fiktionalitätsstatus eines Textes oder für die Ambition der Literatur, „Einsichten über die Wirklichkeit zu vermitteln“.42 Sie eignet sich nicht nur für literaturwissenschaftliche Untersuchungen, sondern kann auch als Grundlage für eine medienübergreifende Theorie dienen. Dieser Ansatz, eine Kombination aus rezeptions- und produktionsbezogener Perspektive, wird aufgrund der genannten Vorteile als Basis für die vorliegende Dissertation gewählt. Die Grundthese lautet demnach: Die Fiktionalität eines geschriebenen Textes43 entsteht dann, wenn sie „von Autor(inn)en intendiert, im Text durch kommunikationssteuernde Signale indiziert und (im idealtypischen Fall) von Rezipient(inn)en dem Text kointentional zugeschrieben wird“44.

Die Rezeption des Kunstwerks (in unserem Falle geschriebener Texte) wird also durch die Intention des Autors (Jiří Weil) ausgelöst, der diese im Text – oder auch teilweise außerhalb des Textes (paratextuell) – entsprechend markiert. Diese Markierungen werden als Fiktionssignale bezeichnet. Die in dem literarischen Kunstwerk entworfene und anschließend im Prozess der Lektüre durch den Leser rekonstruierte Welt wird mit Doležel als eine „fiktive Welt“ bezeichnet.

Die erste These, die in der vorliegenden Arbeit im Hinblick auf Doležel vertreten wird,45 besagt, dass Jiří Weil in seinen fiktionalen Texten, vor allem in seinen Romanen, verschiedene fiktive Welten als „mögliche“ Weltkonzeptionen entwirft, also als Welten, deren Zweck darin besteht, zu zeigen, was in der realen Welt möglich sein könnte bzw. möglich gewesen wäre.46

Die ausführlichen Recherchen und Untersuchungen zum Gesamtschaffen Weils haben zur Formulierung einer zweiten These