Die falsche Witwe - Ulrike Schmitzer - E-Book

Die falsche Witwe E-Book

Ulrike Schmitzer

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Beschreibung

Eva muss zum neuen Freund ihrer Mutter „Onkel" sagen. Doch wer ist dieser Mann, der ihr so bekannt vorkommt? - Jahrzehnte später wird durch den Tod des Onkels das Geheimnis gelüftet: Auf dem Grabstein steht sein richtiger Name. Die überraschende Wahrheit hat ein gerichtliches Nachspiel: Die Witwe wird wegen schweren Betruges angeklagt. Warum wurden die Kinder belogen? War der Onkel ein Verbrecher, der der Entnazifizierung entging? Das Schweigen bestimmt das Leben der ganzen Familie. Ulrike Schmitzer zeigt in ihrem neuen Buch vielschichtig und sensibel, wie eine einzige Lüge alle anderen unbedeutend werden lassen kann.

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Ulrike Schmitzer

DIE FALSCHE WITWE

Roman

© Edition Atelier, Wien 2011www.editionatelier.atLektorat, Satz: Angela HeideUmschlaggestaltung: Julia Kaldoriunter Verwendung des Fotos Steckdose von view7/PHOTOCASEISBN 9783902498410

Die Personen und Handlungen dieses Romans sind frei erfunden. Mögliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.Das Buch ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten, insbesondere für Übersetzungen, Nachdrucke, Vorträge sowie jegliche mediale Nutzung (Funk, Fernsehen, Internet). Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder weiterverwendet werden.Mit freundlicher Unterstützung des Bundesministeriums für Unterricht, Kunst und Kultur.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1

Ein Brief vom Gericht. Ein Rsa-Brief. So schnell hat sie ihn nicht erwartet. Sie muss ihn bei der Post abholen. Sie schlüpft aus den Gartenschuhen in die Stadtschuhe, zieht sich eine Jacke über. Die Benachrichtigung in der Tasche, fährt sie mit dem Rad zur Post. Ihr kräftiges, weißes Haar gerät durcheinander. Grüß Gott. Die Schalterbeamtin greift zum abgegriffenen Karton und fingert ihren Brief heraus, noch bevor sie den gefalteten Benachrichtigungszettel aus der Tasche nehmen kann. So, sagt die Beamtin und legt den Brief zur Unterschrift vor. So, wiederholt sie automatisch. Keine Fragen, kein neugieriger Blick. Zu oft kommen Briefe vom Gericht, das allein macht noch niemanden verdächtig.

»Was bist du doch für ein Idiot«, hat sie ihn angeschrien. »Ich plage mich jahrzehntelang, und du machst im Suff alles zunichte. Ich hab dir gesagt, geh nicht mehr zum Stammtisch, der Krallinger ist ein boshafter Mensch. Aber nein, du musst ständig dorthin rennen und unser ganzes Leben zerstören.«

Ein Wort habe das andere ergeben. Sie hätten über den Tod geredet und dann habe er gesagt, dass er schon tot sei, offiziell zumindest. Das sei aus ihm herausgekommen. In dem Moment habe er gewusst, dass es ein Fehler war. Der Krallinger habe zu bohren begonnen, erst auf lustig und dann sei ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen und er habe sich furchtbar aufgeregt, dass es keinen Anstand mehr gebe und dass nicht nur die Afrikaner ihn aussaugen wollten, sondern auch die eigenen Leute, und dann sei er volltrunken auf die Polizei gegangen und habe ihn angezeigt.

Was hätte ich denn tun sollen, fragte er. Sie konnte nicht mehr antworten, ihr Schluchzen erdrückte ihre Stimme. Er versuchte sie zu trösten, dass so eine Anzeige noch nicht bedeute, dass deshalb die ganze Wahrheit ans Licht komme. Es sei einfach eine Anzeige wegen Betrugs und sonst gar nichts. Sie solle sich nicht so aufregen. Das werde schon wieder. Zwei Tage später war er tot.

Das Begräbnis ist erst in zehn Tagen. Der Pfarrer hat vorher keine Zeit. Er muss drei Orte betreuen und zurzeit wird viel gestorben, sagt er. Und dann sind auch noch zwei Taufen und eine Hochzeit, und die könne man keinesfalls verschieben. Die haben es eilig, sagt er.

Ich muss mit euch reden, hat sie am Telefon gesagt. Sie zupft an ihrem Pullover, drückt mit der flachen Hand ihre weißen Locken im Nacken nach oben. Anna und Eva sitzen am Küchentisch.

»Das ist mein Platz«, sagt Eva grinsend und verweist Anna auf die Längsbank. Zwei Kinderseelen im Körper von fast 60jährigen Frauen.

»Watsche?«, fragt sie ganz wie in alten Zeiten und Anna tut, als ob sie zusammenzucken würde und Angst hätte – genauso wie damals. Eva sieht Anna nicht oft.

»Da bin ich gespannt«, sagt Anna. »Wahrscheinlich informiert sie uns über das geheim gehaltene Vermögen.«

»Da würde ich nicht nein sagen«, sagt Eva.

Anna war sein Liebling. Sie sitzen am Küchentisch und warten. Ihre Mutter verschiebt die Dosen auf der Küchenkredenz um ein paar Zentimeter, wischt mit der bloßen Hand Brösel weg und öffnet die Lade, während sie sagt, dass es ein Problem gibt. Sie holt ihre Brille und einen Brief aus der Schublade.

»Der ist vom Gericht«, sagt sie.

Anna schaut sie erschrocken an. »Um was geht’s denn? Ist es wegen dem Erbe vom Onkel?«, fragt sie.

»Nein. Lies.«

»Lies laut«, sagt Anna zu Eva.

Eva überfliegt den Brief »… Staatsanwaltschaft erhebt Anklage … Paragraph 147, Abs. 3 StGB … schweren Betruges begangen … Täuschungshandlung … mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren zu bestrafen … Gesamtsumme von fast zwei Millionen Schilling.«

»Was heißt Paragraph 147?«, fragt Anna.

»Schwerer Betrug«, sagt Eva und schaut die Mutter an.

»Schwerer Betrug«, wiederholt sie.

»Ich verstehe überhaupt nichts.« Annas Stimme bricht. »Das muss doch eine Verwechslung sein, oder?«

Die Mutter schweigt. Sie ist dünn und alt geworden. Sie hat dunkle Augenhöhlen. Ihre Hand, in der sie die Brille hält, zittert.

»Was ist passiert?«, fragt Eva.

»Das Ganze ist doch schon gar nicht mehr wahr. Das ist schon gar nicht mehr wahr! Ich weiß gar nicht, was die jetzt wollen.«

Eva trinkt einen Schluck Kaffee, schenkt Anna nach. Sie bemerkt es gar nicht.

»Ich habe zu viel Pension bekommen. Und da sind sie jetzt draufgekommen. Das hätte ich melden müssen«, sagt die Mutter.

»Was? Und deshalb wollen sie dich einsperren?«, fragt Anna hysterisch.

»Eingesperrt wird hier niemand«, sagt Eva.

»Aber wieso bringen sie eine alte Frau vor Gericht? Das gibt’s doch gar nicht. Das müssen sie doch selber kontrollieren, dafür gibt’s doch diese ganzen Beamtenburgen!«

»Anna, bitte, reg dich nicht so auf«, sagt Eva. Sie spürt, dass das nicht die ganze Wahrheit ist. Sie schaut ihre Mutter an.

»Das kann ich doch nie im Leben zurückzahlen. Irgendwann war es zu spät, versteht ihr. Irgendwann wusste ich, dass der Geldbetrag schon zu hoch ist, um alles in Ordnung bringen zu können. Wenn ich es gemeldet hätte, wären wir ruiniert gewesen«, sagt sie und ihr Blick bittet um Zustimmung. Anna schüttelt den Kopf.

»Aber so schlecht ist es uns doch gar nicht gegangen«, sagt Anna.

»Eben«, sagt die Mutter. »Kind, du warst so klein. Du hast das doch alles gar nicht richtig mitbekommen. Das war auch richtig so. Wir wollten euch doch nicht mit Geldsorgen belasten. Ich hab es einfach laufen lassen.«

»Und das ist alles?«, fragt Anna.

Die Mutter geht aus der Küche. Ihre Augen sind rot unterlaufen, ihre eingefallenen Wangen dunkelrot vor Aufregung. Sie will nicht, dass ihre beiden Kinder sie weinen sehen.

Anna nimmt die Kaffeetasse, stellt sie jedoch, ohne einen Schluck zu trinken, wieder weg.

»Was soll das alles heißen«, fragt sie. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

2

Er ist es. Da ist sie sich ganz sicher. Sie sagt es zuerst Anna. »Plemplem«, ist die Antwort der kleinen Schwester. Sie sagt es ihrer Mutter. Aber die lacht nur. Es ist ein eigenartiges, lautes Lachen. Und dann ist die Mutter ganz ernst und sagt: »Sei still. Dein Papa ist im Himmel, das weißt du.«

Während die Mutter ins Dorf einkaufen fährt und er im Stall arbeitet, durchsucht Eva den Schrank. Dort sind die Fotos. Es gibt ein Album und die bunte Schachtel. Im Album sind vergilbte Schwarzweißfotos von den Urgroßeltern, den Urgroßtanten und den Urgroßcousinen. Nichts. Kein Bild von Papa. In der Schachtel sind die Fotos, die nicht eingeklebt werden. Aber zum Wegwerfen zu schade, sagt die Mutter immer. Sie sieht jedes Foto einzeln durch. Und noch einmal. Sie muss etwas übersehen haben. Mutter als junges Mädchen. Doch es gibt kein Foto, auf dem ihr Vater zu sehen ist. Einmal seine Strickweste auf der Sitzbank, einmal ein Hausschuh quer im unteren Bildrand auf dem Teppich. Eva als Baby, mit einer großen Torte, in der Mitte eine Kerze. Eva auf der Hängeschaukel, zwei Kerzen, mit dem Dreiradler, drei Kerzen. Ihr vierter Geburtstag fehlt. Und dann ist Anna immer auf den Fotos.

Ich werde von Papa träumen, nimmt sie sich vor.

»Geht’s dir nicht gut?«, fragt die Mutter.

»Nein«, sagt Eva.

»Hast du Fieber?«, fragt sie, während sie ihr auf die Stirn greift.

»Ich gehe heute besser früher ins Bett«, sagt Eva und versucht so wenig wie möglich zu sprechen. Zu viel sprechen ist immer verdächtig.

»Schlaf dich gesund«, sagt die Mutter und beobachtet sie noch aus dem Augenwinkel, während sie den Küchentisch abräumt.

Es ist noch hell. Sie schlüpft unter die Decke, damit es dunkler wird.

»Was machst du da?« Anna krabbelt in ihr Bett. Eva dreht sich so schnell, dass Anna ihre Füße im Bauch hat.

»Geh weg!«, schreit sie, »lass mich in Ruhe«.

Anna dreht beleidigt ab. Eva versucht sich zu konzentrieren. Sie hat schon öfter von ihrem Vater geträumt. Einmal war er bis kurz vor dem Aufwachen da und sie hat seine weiche, große Hand in ihrer gespürt. Sein Gesicht hat sie aber noch nie gesehen. Eva hat nichts im Kopf, sagt die Mutter. Eva geht einkaufen und vergisst, dass sie Milch bringen soll. Sie fährt mit dem Rad ins Dorf und weiß dann nicht mehr, wo sie es abgestellt hat. Sie kann sich nicht erinnern, wie das dritte Kätzchen ausgesehen hat, das gleich bei der Geburt gestorben ist.

»Du bist dumm!«, sagt Anna und zeichnet ihr das Fell der Katze auf. »Es war gefleckt mit einer Viertel schwarzen Nasenspitze«, sagt Anna. Dabei kann sie gar nicht wissen, was ein Viertel ist.

Eva kann nicht einschlafen. Sie denkt an die Kätzchen. Zwei durfte sie behalten. Wenn ich erwachsen bin, lasse ich alle Katzenbabys leben, überlegt sie. Egal wie viele. Sie dreht und dreht und dreht sich. Endlich, der Schlaf. Er kommt in Form einer großen Kugel auf sie zu, auf einer riesigen Fläche. Ein großer Raum, er wird enger und enger. Dieses Gefühl kennt sie nur vom Einschlafen. Normalerweise versucht sie die Kugel zurückzudrücken, heute aber nicht. Das Bett kracht. Es ist finster, mitten in der Nacht. Sie dreht das Licht auf. Anna wetzt neben ihr im Bett. Sie darf nicht vergessen, was sie geträumt hat. Zu spät. Morgen will sie sich Zettel und Stift zum Bett legen. Ich werde es ab jetzt jede Nacht versuchen, nimmt sie sich vor. Aber sie braucht noch einen anderen Plan, einen Ersatzplan.

»Iss das Brot«, sagt die Mutter.

»Ich hab keinen Hunger«, sagt Eva.

»Aber du wirst einen bekommen.« Die Mutter steht an der Küchenanrichte und beschmiert das Brot dick mit dunkelgelber Butter.

»Warum soll ich dann jetzt essen?«, fragt Eva.

Der Onkel sitzt auf der Eckbank und lacht. Aber nur so lange, bis sich die Mutter von der Anrichte zu ihm dreht.

»Sei nicht frech«, sagt die Mutter.

Der Onkel ist nicht streng. Er war nur einmal sehr böse, als der Nachbar herüberkam. Eva hatte vergessen, das Tor zum Hof zuzumachen.

»Hallo?«, hat der Nachbar gerufen. Und noch einmal: »Hallo, Frau Lienbacher!«

Er war schon bei den Fahrrädern mitten im Hof und rief wieder. Eva lief ihm entgegen.

»Hallo«, sagte sie.

»Ist die Mutter nicht da?«, fragte der Nachbar.

Er hatte einen grauen verschmierten Arbeitsmantel an. Er roch nach Öl.

»Doch, die ist hinten im Gemüsegarten.«

»Geh, sag ihr, wenn sie Gurken will, soll sie rüberkommen, ich habe heuer ganz große und viel zu viele.«

»Mm«, sagte Eva. Sie hatten doch selber Gurken. Aber das sagte sie nicht.

»Und«, setzte er neugierig an, »wie geht’s denn dem Onkel?« Er betonte das Wort Onkel eigenartig. Er war früher öfter hier gewesen. Manchmal war er mit der Mutter in der Küche gesessen, bis Anna und Eva ins Bett gehen mussten. Eva hörte sie dann laut lachen. Aber seit der Onkel da war, war er nicht mehr gekommen.

Auf dem Boden lag eine tote Biene. Eva schob sie mit dem Fuß hin und her.

»Gut.« Dann wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte und er fragte auch nichts.

»Dann geh ich wieder«, sagte er.

Eva gab der ausgetrockneten Biene einen Fußkick und lief in die Küche.

»Das Tor zum Hof war doch immer offen«, sagte sie zu ihrer Verteidigung. Und da knallte es schon. Als ob ein Teppichklopfer direkt auf ihrer Wange gelandet wäre.

»Schon lange nicht mehr«, brüllte er.

Eva sah Anna an, sie weinte.

»Wieso weinst du, wenn ich eine Watsche kriege?«, fragte sie und wunderte sich, dass sie noch sprechen konnte.

Sie hat einen neuen Plan. Größeres Hirn, besseres Gedächtnis.

»Was liest du da?«, fragt Anna und setzt sich neben Eva auf die Bank vor dem Haus.

»Nichts«, sagt Eva, während sie in einem großen Buch mit Ledereinband blättert.

»Das ist doch das Namenslexikon«, deutet Anna auf das Buch auf Evas Schoß.

»Warum fragst du dann, wenn du es weißt?«

»Was machst du denn damit?«, fragt Anna.

»Ich lerne Namen auswendig«, sagt Eva.

Anna lacht. »Wozu denn das? Du spinnst doch!«

»Ich brauche das für die Schule.«

Anna schweigt. Die Schule flößt ihr Ehrfurcht ein.

»Du wirst mich prüfen«, sagt Eva.

Normalerweise ist Eva die Lehrerin. Sie steht an der Holztafel, die ihnen der Onkel gemacht hat, und Anna tut so, als ob sie die Worte abschreiben könnte, die ihr Eva auf der Tafel vorschreibt.

»Du prüfst mich, aber nur heute«, sagt Eva streng.

Anna ist ganz begeistert. »Wir spielen Schule und ich bin die Lehrerin!«, brüllt sie.

Nach einer halben Stunde haben beide genug. Das geht viel zu langsam, denkt Eva.

»Gummibandl, Strumpfbandl, Zigaretten, Schoklad!«, ruft ein Mann vor dem Hof. »Gummibandl, Strumpfbandl, Zigaretten, Schoklad!« Die Kinder laufen hinaus. Es ist zwar schon finster, aber noch nicht Schlafenszeit. Anna hat bereits ihren Pyjama an. Der Mann hat einen dicken Rucksack auf den Rücken geschnallt und zieht einen Leiterwagen hinter sich her.

»Komm rein!«, ruft die Mutter, nachdem sie dem Onkel einen Blick zugeworfen und er sich zurückgezogen hat. »Wir werden schon ins Geschäft kommen.«

Der fremde Mann kommt in die Küche. Er stinkt nach Schweiß. Eva starrt auf die dicken schwarzen Ränder unter seinen Fingernägeln. Er packt aus: Nadeln, kleine Seier, Schuhcreme. »Ah, die Zünder«, sagt die Mutter. Sie deutet als nächstes auf die weißen Papierbriefchen und sagt, dass sie davon auch fünf nimmt. »Ein bissl Saccharin macht das Leben gleich viel süßer«, sagt der Mann und grinst Eva an. Er gibt den Kindern jeweils eine Tablette. Eva lässt sie langsam auf der Zunge zergehen. Ein bleiener Geschmack bleibt in ihrem Mund zurück. Die Mutter holt einen Sack Kartoffeln, Gemüse und Butter. »Die Kurgäste im Tal kaufen wie verrückt«, sagt der Mann, »als ob es in Wien gar nichts geben würde. Habt ihr mehr Butter. Die wäre mir lieber als das Gemüse. Ich hätte dann auch Dosen mit Fisch, Corned Beef – die amerikanischen Sachen. Oder den Cheddar. Wenn ihr den wollt? Der wird euch sicher schmecken«, meint er.

Die Mutter sucht sich einen großen Seier und Nadeln aus. Er sieht Eva an und schenkt beiden Mädchen eine ganze Reihe von einer aufgebrochenen Tafel Schokolade. Anna hüpft vor Freude den ganzen Weg zum Tor und begleitet den Mann singend hinaus. Eva hört, wie der Onkel sagt, dass die Schleichhändler immer teurer werden, obwohl doch alles von den Amerikanern kommen würde.

»Ich will nicht, dass wir von den Hilfslieferungen kaufen«, schimpft der Onkel.

»Da fressen wir lieber unser eigenes Zeug. In der Not zeigt sich der wahre Charakter. Die Hilfslieferungen stehlen und dann den Armen um teures Geld verkaufen, da mach ich nicht mit!«

»Jetzt hab ich eine ordentliche große Nadel«, ignoriert ihn die Mutter. »Mit der kann ich jetzt für Anna eine Jacke aus der alten Decke nähen.« Und dann sagt sie noch: »Sei du lieber ganz ruhig.«

»Sie treffen sich noch immer«, sagt er, »in dem kleinen Stüberl in der Alpenstraße«. Die Mutter schält weiter die Kartoffeln ohne sich umzudrehen. Sie deutet mit dem Messer auf Eva und sieht ihn an. Eva tut so, als ob sie mit einem Buch beschäftigt wäre.

»Ich möchte da hingehen«, sagt er.

»Kind, geh doch in den Stall und hol mir ein bisschen Milch für das Kartoffelpüree!«

Das ist eindeutig ein als Bitte getarnter Befehl. Eva geht aus der Küche, bleibt allerdings noch im Vorzimmer stehen. Sie kann die Mutter gut verstehen, weil sie schreit.

»Bist du verrückt? Was fällt dir denn ein?«, hört Eva die Mutter zum Onkel sagen. »Was glaubst du, warum ich das alles gemacht habe? Nicht genug damit, dass du in die Stadt willst, wo dich jemand erkennen könnte. Nein! Der Herr will zu der vertrottelten Kameradenpartie gehen! Was denkst du dir bloß? Willst du mit den alten Kameraden anstoßen und über alte Zeiten plaudern? Woher wissen die überhaupt, dass du da bist?«