Die gestohlene Erinnerung - Ulrike Schmitzer - E-Book

Die gestohlene Erinnerung E-Book

Ulrike Schmitzer

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Beschreibung

Eine Frau und ihre Mutter brechen in die ehemaligen Siedlungsgebiete der Donauschwaben nach Nordserbien auf, um die Wurzeln ihrer Familie zu suchen. Am Telefon mit dabei: die alte Großmutter. Vor der Abreise hat sie ihrer Enkelin vom Alltag in ihrer Heimat, vom 2. Weltkrieg und der Deportation in ein sowjetisches Arbeitslager erzählt. Im Auto hören sie sich diese Aufnahme an. Nach anfänglichem Widerstand beginnt auch die Mutter über den Krieg und die Flucht zu sprechen. Ihre Tochter reiht Stück für Stück aneinander und findet allmählich eine Spur in die Vergangenheit.

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Ulrike Schmitzer

DIE GESTOHLENE ERINNERUNG

Roman

Im Pass meiner Mutter steht unter Geburtsort ein Ort, den es nicht mehr gibt. Filipowa. Mein Vater wurde in einem Ort geboren, den es nicht mehr gibt. Sentiwan. Er lag in der Nähe des Geburtsortes meiner Mutter. In einem Land, das es nicht mehr gibt.

INHALT

DIE REISE

DIE KATHI

DER BASTL

DIE SIPPSCHAFT

ALSDANN, DER VATER

WIE WAR DAS MIT DER HOCHZEIT

DAS DORF

DIE LANDWIRTSCHAFT

MEIN GROSSONKEL, DER ONKEL

DIE TANTE

DER HITLER

DER NEAMDI

DIE GROSSE WELTPOLITIK

DIE WAHRHEIT

GASTEIN

DER DRITTE BRUDER

DAS ESSEN

WIE MAN ESSEN VERSTECKT

DIE FILMVORFÜHRUNG

DIE RUSSEN

DIE VERSCHLEPPUNG

DIE TOTEN

DIE KINDER

IM GRANDHOTEL

DIE URGROSSMUTTER

ELSBETHEN

DIE KIEFER OMA

DER BRANDELIK

DIE GELDMASCHINE

STRICKEN UND STICKEN

NACH AMERIKA

VON SAM NACH ELSBETHEN

DER JUGO

ANHANG

LITERATUR

DIE REISE

Mit Mitte dreißig beschloss ich, mal da runterzufahren. Dorthin, wo alle her waren. Als Kind war ich in Jugoslawien gewesen, in dem Haus, in dem sie gelebt haben, aber ich hab alles vergessen. Vergessen war in unserer Familie nichts Ungewöhnliches. So vergaß ich zu sagen, wenn ich ein Problem hatte oder wenn ich eine besonders gute Note bekommen hatte. Ich vergaß es nicht, weil ich es nicht sagen wollte, ich vergaß es wirklich. Kaum war etwas in meinem Kopf drinnen, war es auch schon wieder draußen. In meinem Kopf war also genug Platz für die Erinnerungen der anderen. Ich beschloss, eine Reise zu machen. Nicht in meine eigene Kindheit, sondern in die Vergangenheit der anderen. Nach Serbien. In die Vojvodina.

»Ich komme mit!«, schrie meine Mutter hellauf begeistert.

»Ich auch!«, schrie meine Oma hellauf begeistert. Nur, davon war ich weniger begeistert.

»Ich muss mit«, sagte meine Mutter aufopfernd. »Das findest du sonst nie!«

Das war ein Argument. Wie sollte ich einen Ort finden, den es nicht mehr gab?

»Du wirst doch wissen, wie Filipowa jetzt heißt«, sagte meine Mutter vorwurfsvoll.

»Ja, sicher«, sagte ich. »Prigrevica!«

»Nein, das ist doch Papas Heimatort!«, schrie sie entrüstet.

»Irgendwas mit Batschka. Ich komm gleich drauf …«

»Bački Gračac!«, rief sie. »Ohne mich findest du das nie!«

Meine Oma war schon 86 Jahre alt. Sie konnte noch ganz gut gehen, aber eine lange Autofahrt wäre zu viel für sie gewesen.

»Weißt du noch, wo wir gewohnt haben?«, fragte meine Oma meine Mutter.

»Ja, sicher«, sagte sie. »In der Nähe der Kirche, und den Teich weiß ich auch noch, die wievielte Gasse war das noch mal? Wie heißt denn die jetzt?«

»So findest du das Haus nie!«, rief meine Oma entsetzt, um aufopfernd anzufügen: »Ich fahre mit!«

Sie blieb aber trotzdem daheim.

»Ihr müsst alles fotografieren und mich jeden Tag anrufen, sonst!«, sagte meine Großmutter und hoffte, dass sie vielleicht doch noch mitfahren konnte. Meine Mutter sah mich fragend an.

»Machen wir«, versprach sie hoch und heilig.

Wir bekamen ein Kreuz auf die Stirn gezeichnet und die genaue Adresse auf einen kleinen Zettel notiert. Sie gab meiner Mutter noch einen Crashkurs in Erinnerung: Sie ging mit ihr im Kopf die Straßen durch, zeigte ihr, wo die Kirche stand und wo man in die Gasse abbiegen musste, welches das richtige Haus war.

Meine Oma war nicht wie andere. Sie war der Boss. Alle taten immer, was sie wollte. Immer schon.

DIE KATHI

Gleich neben der Tür hing ein Bord mit den Schlüsseln. Schlüssel mit roten, gelben, blauen Plastikanhängern. Schlüssel mit einem dicken bunten Wollfaden, einer Schnur, an der ein Karton mit einer Zahl befestigt war. Schlüssel mit Heiligenfiguren aus Medjugorje oder aus Lourdes oder von Maria Plain. Wenn sie einen Schlüssel nahm, griff sie blind zum Brett, erst wenn sie den Schlüssel in der Hand hielt, führte sie ihn nah vors Auge, um sich zu vergewissern, dass zwar ihr Augenlicht nachließ, aber nicht ihr Verstand. Dann schob sie den Schlüssel in die rechte Tasche der Kittelschürze.

Manchmal geschah es, während sie Kaffee trank. Manchmal, während sie das Geschirr in der kleinen Spüle mit kreisrunden Bewegungen reinigte. Manchmal aber auch, während sie in der Wohnung herumwirbelte. Dann blieb sie plötzlich stehen oder hielt ihre Bewegung an, spitzte ihre Ohren.

Ich konnte kein Geräusch hören.

Doch sie hatte ihr Opfer ausgemacht – in einer Mischung aus übersinnlichen Fähigkeiten und purem Jagdinstinkt. Sie verharrte einige Sekunden, mir kamen sie vor wie Minuten. Gleich einem Täuschungsmanöver setzte sie ihre Arbeit fort – spülte Geschirr, trank ihren Kaffee oder wischte mit einem feuchten, grauen Putzfetzen über den Boden. Dabei ließ sie plötzlich eine Unruhe und Fahrigkeit erkennen, die ihre sonst so strammen Bewegungen zufällig erscheinen ließen.

Leise öffnete sie die Tür zum Stiegenhaus, ging hinaus und ließ sie angelehnt – der Fluchtweg musste offen bleiben.

Ihre Patschen1 schwebten geräuschlos durch das Stiegenhaus zu einer der vermieteten Wohnungen. Die Hand in der Kittelschürze, den Schlüssel ins Schloss, hinein in das Reich des anderen. Eine Wolke aus Alkohol, abgestandenem Rauch und Essensresten. Der erste Weg führte zum Fenster. Sie riss es auf, die dunkelgraue Gardine zog sie mit einer Handbewegung zur Seite. Sie drehte sich um und begann zu suchen. Manchmal suchte sie das Geld für die Miete, die er ihr noch schuldig war. Manchmal suchte sie nach einem Kontoauszug, um zu sehen, ob er noch Arbeit hatte. Manchmal sah sie einfach nur den Stapel ungeöffneter Briefe durch, die er auf dem Tisch ablegt hatte, und nahm ihn mit. Er saß dann in ihrer Küche und sah zu, wie sie einen Brief nach dem anderen öffnete. Während sie Erlagscheine und Mahnungen sortierte, trank er mit großen Schlucken ihr Bier. Er war sehr gesprächig und nahm alle Vorschläge an. Denn er wusste, solange das Gespräch andauerte, würde das Bier fließen. Sie verhalf ihm so zu Notstandshilfe, Wohnbeihilfe und zu Umschulungsmaßnahmen. Er konnte mit seinen fünfzig Jahren wieder als Tischler arbeiten. Sie fand eine Firma, die ihn nehmen wollte. Bis dahin musste allerdings sein Alkoholproblem gelöst werden. Sie schimpfte ihn wie einen kleinen Buben aus, wenn er betrunken nach Hause kam. Am nächsten Tag kam er zu ihr und entschuldigte sich. Doch das war noch nicht genug. Sie wusste, dass er Hilfe brauchte, und meldete ihn zum Alkoholentzug an. Danach war er trocken. Meistens zumindest. Und er war Tischler.

Er lebte unten. Unten bedeutete, dass er eine Kellerwohnung hatte, eine Wohnung mit Fenstern, durch die man von unten direkt in den Himmel schauen konnte. Rein theoretisch zumindest. Denn meist rankten sich Rosen vor den Fenstern. Rosen, die sie in mühevoller Arbeit gezüchtet hatte und die ihr ganzer Stolz waren.

Die jungen Mieter, die Schüler der nahegelegenen HTL – der Höheren Technischen Lehranstalt – und die Studenten hatten keine Augen für ihre Rosenzucht. Sie lernten alle bis spät in die Nacht und gingen in der Früh zeitig los. Das Geld von den Eltern reichte gerade für das kleine Zimmer mit Klo am Gang. Die Studenten blieben meist nicht lange. Denn sie erachtete es als ihre Pflicht, die Kinder auf den rechten Weg zu bringen. So kam es schon vor, dass sie ins Zimmer stürzte, das Fenster auf- und die Buben aus dem Schlaf riss, weil es ihrer Meinung nach längst Zeit war, aufzustehen. Wenn gerade niemand da war, hinterließ sie Zettel mit knappen Anweisungen, »Putzen!« oder »Mist wegbringen!«. Nicht allen gefiel das.

Auch als alle anderen Mieter gingen, blieb er im Keller. Er schlich sich von Zeit zu Zeit unbemerkt in eines der oberen Stockwerke und ließ sich eine Badewanne auf dem Etagenbad ein. Fast jeden Sonntag saß er in der Früh auf dem Bett, das Badetuch in der Hand, die Seife in der anderen, und wartete. Und lauschte. Sobald die Tür ins Schloss fiel, hatte er eine Messe lang und zwei mal 15 Minuten Gehweg Zeit zu baden. Auf den Pfarrer war im Grunde Verlass, denn der Pfarrer sprach nie frei. Er hatte Angst vor Menschen. Diese Angst wurde immer schlimmer, je älter er wurde. Aber er fand eine einfache Lösung. Er ließ andere die Fürbitten oder aus dem Evangelium lesen. Singen wollte er schon lange nicht mehr. Eine alte Frau mit einer schrillen Stimme übernahm alle Gesangspartien. Meine Großmutter betete eifrig mit, sie ging auch zum Rosenkranzbeten am Nachmittag und zum Kirchenflohmarkt.

Am Monatsende kam er meist, um Geld auszuleihen, das er nach dem Ersten sofort zurückzahlte. Er verschlang bei dieser Gelegenheit ihre selbst gemachten Kipferl. Die Kipferl waren eines der vielen Dingen, die sie an daheim erinnerten. Wenn der Backofen heiß war und der Kipferlduft sich durch die Küche, das Vorzimmer und schließlich durch das ganze Haus zog, wurde ihr warm ums Herz.

Sie gewöhnte es sich an, wieder zwei Portionen zu kochen. Eigentlich hatte sie nie aufgehört, für zwei zu kochen. Man kann nicht sechzig Jahre lang für zwei kochen, und dann geht der eine einfach, sagte sie vorwurfsvoll. Er war nicht gegangen, sondern gestorben. Sie weigerte sich, das in der Küche zur Kenntnis zu nehmen und kochte weiterhin für zwei. So hatte sie immer eine Portion übrig, und die brachte sie in den Keller. Wenn sie den Teller wieder holte, war er abgewaschen. Seine Zigaretten warf sie in den Müll.

Der nunmehr einzige Mieter brachte mal einen schweren Kartoffelsack, mal eine Packung Mehl oder ein paar Flaschen Mineralwasser. Er sprach mit ihr über das, was sie am Vorabend im Fernsehen gesehen hatte. Sie wusste über alles Bescheid. Sie verfolgte alle Konsumentensendungen und informierte ihn über die neue Pensionsalterregelung oder über Rückholaktionen für Autos. Die interessierten ihn besonders, obwohl er sich nie ein Auto hatte leisten können. Sie regte sich über die Gauner in der Regierung auf, und vor allem regte sie sich über die Fernsehserie »Reich und Schön« auf. »Reich und Schön« war ihr Zeitmesser. Wenn »Reich und Schön« lief, gab es keine Außenwelt mehr. Das Telefon läutete so lange, bis der Anrufer aufgab. Sie hörte es nicht einmal. Der Besuch wurde um Punkt zwei in der Küche sich selbst überlassen, sie verschwand im Wohnzimmer. Für Arzttermine war sie zur Sendezeit nicht verfügbar, auch wenn sich wichtige Labor- oder Röntgentermine dadurch um eine Woche verschoben. Da war nichts zu machen. Wenn »Reich und schön« vorbei war, kam sie kopfschüttelnd und mit einem glückseligen Blick aus dem Wohnzimmer und sagte: »Was denen alles einfällt.« Wenn ich fragte: »War es nicht schön?«, fragte sie: »Warum?«

Die Serie in Zweifel zu stellen, war nicht angebracht. Und am nächsten Tag saß sie wieder davor. Der Mieter teilte ihre Leidenschaft für die Reichen und Schönen nicht. Er starb vor ihr. Raucherlunge, Trinkerleber, Herzinfarkt. Das also war meine Oma. Für andere hieß sie Kathi.

1 Patschen: Hausschuhe

DER BASTL

Bastl war der Mann, der »Rock« zu seinem Sakko und »Augengläser« zu seiner Brille sagte. Der immer von daheim sprach, und damit erst Jugoslawien und dann Serbien meinte. Der eine Schraubensammlung, eine Schnüresammlung und eine Nagelsammlung in seiner Werkstatt auf dem Dachboden hatte und dort Stunden verbringen konnte, bis ihn meine Großmutter holte. Sie holte ihn nicht, sondern sie rief ihn. Sie schrie von ganz unten nach ganz oben, und es war, als ob sie neben ihm stehen würde, so ein lautes Organ hatte sie. Opa tat nicht immer, was sie wollte, schon aus Prinzip nicht. So kam es, dass seine Sturheit eines Tages für beide gefährlich wurde. Lebensgefährlich. Sie schickte ihn in den Keller, er sollte die schweren Blumenkübel vors Haus stellen. Die Pelargonien und Oleander in dunkelblauen Baustellenkübeln wurden jedes Jahr schwerer. Opa hätte ihr natürlich aufs Wort gehorcht, wäre ihm auf der ersten Kellerstufe nicht eingefallen, dass er auf dem Dachboden bei seiner Schnursammlung einen Spagat hatte, mit dem er die Blumen gleich binden könnte, und als er die Schachtel mit den vielen Schnüren aufmachte, fiel ihm ein Nagel entgegen, der dort gar nichts zu suchen hatte, und so musste er die Nagelsammlung durchsuchen, und dabei fiel ihm ein, dass er eine Schraube für den Klodeckel brauchte, und so verlor er sich in seiner Kramurisammlung. Das wäre unbedeutend gewesen, wenn nicht zeitgleich im Keller ein Einbrecher eingestiegen wäre und die leerstehenden unteren Mietwohnungen durchstöbert hätte. Meine Oma schimpfte »Opa« von der Küche aus, wo ihre Hände den Strudelteig kneteten, was er wieder zerschlage, und dass sie ihm dann schon helfen kommen werde. Als mein Opa aus der Kramurisammlung endlich wieder auftauchte und in den Keller ging, war der Einbrecher weg, und mit ihm das Geld des Mieters. Die Blumen standen jedenfalls noch da.

Opa war der Mann, der eine silberne Vespa in der Garage stehen hatte, auf der er früher Oma mit ihrem Kopftuch und schräg sitzend und einem Anhänger voller Baumaterialien durch die halbe Stadt zur Baustelle gefahren hatte.

Opa war aber auch der Mann, der Hendln im Akkord den Kopf abschlagen konnte und sie kopflos durch den Hof rennen ließ, bis er sie mühelos wieder einsammeln konnte.

Er hatte ein kleines Loch über der Lippe. Selbst die Bartstoppeln konnten das Loch nicht verdecken. Ich habe auch so ein Loch, aber auf der Handfläche. Das ist nicht genetisch bedingt, sondern kommt daher, dass mir mein Bruder erklären wollte, dass eine dicke Nadel wie ein Degen funktioniert. Stimmt. Die Nadel steckte tief in meiner Handfläche, es blutete aber gar nicht. Jedenfalls hatte mein Opa ein ähnliches winziges Loch im Gesicht. Er hatte eine spitze Nase und große lang gestreckte Nasenlöcher. Er sprach schon immer wenig, und am Schluss sprach er gar nicht mehr. Das war dann die Zeit, als er Almdudler in die Kaffeetasse goss und mit der Gabel umrührte.

Opa war ein Feigling und ein Held. Das muss man mal schaffen, und zwar mit einer einzigen Tat. Opa war in der NS-Zeit Wehrdienstverweigerer. Er versteckte sich vor den Nazis auf einem Bauernhof in Ungarn. Meine Großmutter wurde verhört und verhört, aber sie wusste nicht, wo mein Großvater geblieben war. »Weg ist er«, sagte sie zu den Offizieren. »Und ich bin mit den zwei Kindern allein!« Opa, der Schuft. Die Brüder waren bei der Waffen-SS und fanden das gar nicht mutig. Doch sie hatte ein Machtwort gesprochen. »Niemals Waffen-SS!« lautete die ausgegebene Parole. Nur über meine Leiche, sagte sie. Opa gehorchte. Besser sie als Befehlshaber als jemand anderen. Als die Nazis weg waren, kam er wieder. Zu früh. Die Russen kamen und nahmen ihn mit. Gefragt haben sie nicht, ob er auf Hitlers Seite war, sagt sie. Wehrkraftzersetzung, Wehrdienstverweigerung. Ein Kämpfer für die Menschlichkeit. Opa, der Held! Vielleicht auch nur ein Kämpfer für »ein Mensch«? Der Bastl hat immer »das Mensch« gesagt. Das Mensch ist eigentlich richtiger als der Mensch.

DIE SIPPSCHAFT

Das also sind meine Großeltern. Beziehungsweise, das waren meine Großeltern.

Die Sippschaft ist fast komplett ausgestorben. Über Tote zu schreiben, ist keine leichte Angelegenheit. Sie spuken in meinem Kopf herum, sind nur Gespenster. Was bleibt von ihrer realen Existenz? Ist nicht alles reine Fantasie? Oder sehen manche einfach mehr als andere?

Es ist genauso wie damals, als ich meinen Bruder an einem ungewöhnlichen Ereignis teilhaben lassen wollte. Es war ein Sommertag, und ich rannte im Garten auf und ab, ich rannte ums Haus, und ich rannte die ganze Straße ab. Ich hatte eine magische Kraft in mir, ich wurde nicht müde, und ich rannte mindestens dreimal so schnell wie sonst. Ich konnte auch extrem hoch springen. Ich sprang so hoch, dass ich fast die Äste der Bäume berühren konnte. Das war offensichtlich. Mein Bruder konnte es nicht sehen. »Du spinnst«, sagte er. Plötzlich war die magische Energie weg! Ich hab sie seitdem nicht mehr gespürt. Was hätte ich alles damit machen können!? Ich hätte Marathonläuferin, sogar Triathlonwettkämpferin werden können. Ich hätte Weltmeisterin im Stabhochspringen werden können, ich hätte die Wüste durchlaufen können.

So geht es mir nun mit den Gespenstern. Ich sehe sie strickend auf der Couch sitzen, ich sehe sie als Junge auf dem Feld arbeiten und ich sehe sie als Alte Kipferl backen. Sehe wirklich nur ich ihre Schatten? Heute vermute ich, dass ich eine Aura hatte. So was gibt’s, wenn man einen Migräneanfall hat. Festnageln lass ich mich jetzt aber nicht, ob ich danach oder überhaupt je einen Migräneanfall hatte. Darum geht’s hier doch gar nicht!

Die Vorbereitungen zur Reise waren schnell abgeschlossen. Oma hat irgendwann eingesehen, dass sie nicht mitfahren konnte. Dafür mussten wir ihr nochmals versprechen, sie telefonisch am Laufenden zu halten. Im Ort selbst gab es kein Hotel, aber in einer der Nachbarstädte – in Apatin. Dort haben wir gebucht. Direkt an der Donau.

Ich dachte mir, es ist eine gute Idee, wenn ich ein Interview mit Oma mache, bevor wir fahren. Dann weiß ich mehr über das Leben da unten. Sie setzte sich an ihren Küchentisch und erzählte, als ob sie ihr ganzes Leben nur darauf gewartet hätte, dass sie jemand fragt. Nicht, dass ich nicht alles schon tausendmal gehört hätte. Aber richtig zugehört habe ich davor noch nie.

»Was ist das für eine Kassette?«, fragt meine Mutter im Auto. Sie hat die Straßenkarte auf dem Schoß und ist schon sehr aufgeregt.

»Die hab ich mit Oma aufgenommen«, sage ich und lege sie ein.

Das klingt jetzt, als ob das schon lange her ist. Aber in einem alten Auto ist eben ein alter Kassettenrekorder, und der bleibt da auch, solange ihn niemand gegen einen MP3-Player austauscht.

»Als erstes erzählt sie von den 1960er-Jahren«, sage ich.

Wir sind ins Haus reingekommen. Es war alles fremd und auch wieder nicht. Wie soll ich sagen: Jeden Stein, jedes Pflaster hab ich gekannt, durch und durch. Die Granitsäulen, und im Ganghäusl, da war der Name: Kühn Sebastian. Eingemeißelt, das hat man nicht rausmachen können. Wir haben ihnen den Pass gezeigt und gesagt, dass das unseres gewesen ist, und wir wollen nur nachschauen. Wir möchten nichts. Und dann ist einer gekommen, der hat gesagt, es haben schon drei Familien drin gewohnt. Das Haus war ja groß. Und das erste, was ich gefragt hab, war: Wer hat das Wohnzimmer gekriegt? Weil ein Wohnzimmer war das! Da ist ein Pfarrer gestorben, und die Großmutter hat das ersteigert. Es gab einen Fauteuil und eine Dreiersitzbank, und die Kredenz, eine ganz moderne und eine gedrechselte Stellage dazu. Und ich hab gleich gefragt, wo das geblieben ist. Da haben sie gesagt, das hat der Načelnik2 mitgenommen. Der Chef. Und sein Bruder hat das eine Schlafzimmer mitgenommen. Das andere ist ihnen geblieben.

Dann bin ich von einem Raum zum anderen gegangen und hab geschaut. In dem einen Zimmer, da war noch die Malerei. Wir haben so eine Lüftlmalerei3 gehabt, im Vorhaus überall. Heiligenbilder in jedem Raum. Bei uns hat man den Brautkranz4 und den Brustkranz5 eingefasst in ein Bild und an die Wand gehängt. Ich schau gleich im Schlafzimmer nach, ob das Bild noch dort hängt, aber dann war der Tito dort gehangen. Na, sag ich, was sucht denn der da herinnen? Sagt der Bastl: Sei doch ruhig, das ist doch ihr Chef!

Dann bin ich bis zum Keller, in die Speis. Der Bastl ist auf den Dachboden gegangen. Ich bin weitergangen zum Stall und hab gesehen, die haben den ganzen hinteren Teil, den großen Bau, den wir im 42er-Jahr gebaut haben, das haben sie alles weggerissen. Ich hab gefragt, warum sie das gemacht haben. Da sind zwei Häuser aufgebaut worden von dem Material. Und dann bin ich durchgegangen durch das Türl und hab in den Garten geschaut. Die ganzen Weinreben, alles rausgehackt. Dann haben sie gesagt, sie haben das machen müssen, die Weinreben haben sie alle rausmachen müssen und die Bäume, sie haben das Holz gebraucht. Aber der Birnbaum, der im Hof gestanden war, den haben sie gelassen, daneben ist ein wilder Baum rausgewachsen, den haben sie stehen gelassen, das war ein wilder Quittenbaum.

Und dann bin ich in die Sommerküch’ gegangen. Zuerst hab ich im Garten geschaut, wo die Blumen waren, zum Brunnen bin ich gegangen und hab Wasser getrunken, weil das so gut war, das Wasser war immer sehr gut, obwohl der Misthaufen fünf Meter weiter weg war, aber das Wasser war sehr gut. Und dann hab ich die Rosen dort angeschaut, die haben alles hingemacht! Die haben alles hingemacht, hab ich gesagt.

Und dann bin ich ins Salettl6. Das Salettl war noch schön, da war noch die große Bank, der große Tisch, wo wir im Sommer gegessen haben, und hinten dran ist noch so eine kleine Küche, die wir gebaut haben, da haben wir abgemauert und unser Zeug versteckt: die Ziehharmonika, die Ohrringe von mir und die Uhr vom Bastl und so Zeug. Das haben sie auch aufgebrochen, alles rausgeholt, das haben sie ja gebraucht. Und dann im anderen Raum, da haben sie jetzt die Hühnersteigen, da war lauter Dreck, und ich hätt am liebsten in die Ecke geschaut, wo ich die Papiere vergraben habe, die wir gehabt haben vom Haus. Wie viel Quadratmeter Grund wir gehabt haben, wie groß das Haus war, wie groß der Garten war, wie groß das eine und das andere Feld waren. Dann, wie wir weg sind, haben sie uns Schnaps gegeben, wir sollen Schnaps mitnehmen. Und ich hab ihnen Kopftücher mitgebracht, das war damals eine schlechte Zeit. Und das schöne Wohnzimmer! Es ist ja nur benutzt worden, wenn der Pfarrer mal gekommen ist, oder der Doktor oder wer. Da haben sie einen Herd drinnen gehabt und am Fenster raus einen Kamin, dabei hat das Haus schon drei Kamine gehabt. Überall Doppeltüren, und die Betten von der Großmutter, eines war noch gestanden, das andere weiß ich nicht, wo sie das hingetan haben. Sie haben gesagt, sie haben alles weggeholt, naja, es sind die meisten Häuser ja ausgeräumt worden, aber bei uns nicht, weil da der Načelnik war, bei dem ist nicht alles ausgeräumt worden.

»Stopp mal«, sagt meine Mutter laut.

Ich steige leicht auf die Bremse, sehe sie an. Dann gebe ich wieder Gas.

Ich schalte den Kassettenrekorder aus.

»Wir müssen bald rechts abbiegen. In dreißig Kilometern, das dürfen wir nicht verpassen. Da war noch meine Wiege im Garten«, sagt sie ohne Atempause. »Die haben sie auf den Misthaufen geworfen, und da ist sie dann gelegen, bis wir wiedergekommen sind. Dreißig Jahre später.«

»Ich weiß, Mutti«, sage ich.

»Aber was soll’s!«, sagt sie.

Wir haben die Notizbücher von Oma mit. Am Abend blättere ich sie durch. Es sind so viele Listen. Sie war eine Buchhalterin. Eine Buchhalterin der Schuld: 30 Hendl geköpft, 4 Stunden Ziegel gemauert, 8 Stunden Haus verputzt. Ich hab alles aufgeschrieben, hat sie immer gesagt, als ob damit jeder Einsatz eines Tages belohnt würde. Die Listen füllten sich, aber der Lohn blieb aus. Bei einem reihte sich Kolonne an Kolonne, beim anderen klafften riesige Löcher. Ich hab alles aufgeschrieben, sagte sie wieder, angesichts der ungerechten Arbeitsteilung. Ihr Notizbuch war der Garant für Gerechtigkeit. Für spätere Gerechtigkeit.

Sie liebte jede Art von Listen. Eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen war ein dickes Buch, auf dem in Gold die Aufschrift »Sippenchronik« prangte. Sie blätterte darin wie in ihrem eigenen Gedächtnis. Die Eichingers, die Hoog Anna … die Schmid, die Haumann, die Keller … ein Name reihte sich in Endlosschleife an den anderen … der Meßli Stefan, die Milla Rosina. Fiel ihr das Gesicht zum Namen nicht mehr ein, zog ihr Blick mit ihrem Zeigefinger in die zweite Reihe, wo die Hausnamen standen. In dritter Reihe standen die Namen und Geburtsdaten der Kinder und der Enkelkinder. Ich hatte also allein kraft der Geburt einen Eintrag in der Sippenchronik. Ich war Teil der Sippe, ob ich wollte oder nicht.

Jeder Enkel hatte in einem Notizbuch eine eigene Reihe. Darin trug sie die Ausgaben für Geschenke ein. Die Bilanz unter jeder Seite musste stimmen, Gerechtigkeitsfanatikerin, die sie war. Nun tat sich eines Tages die Frage auf, wenn eine Familie drei Kinder hat und die andere zwei, ob dann die zwei Enkelkinder mehr bekommen müssten als die drei. Die zwei konnten ja schließlich nichts dafür, dass bei der anderen Familie drei Kinder Geld von der Großmutter abzogen. Nix da, jedes Kind zählt gleich viel! Jedes Kind eine eigene Liste!

Sie schrieb Listen mit all den Postkarten, die wir ihr geschrieben haben. Sie machte Listen von den Kuraufenthalten, und sie schrieb ihre Medikamente auf. Sie machte Listen von den Toten, sie machte Listen von den Pfarrern, von den Klosterschwestern, vom Essen daheim, von den Handwerkern im Ort und von den Kindern auf der Gasse. Sie machte Listen von allen Produkten, die man aus Hanf herstellen kann. Und sie machte eine Liste von allem, was sie zurücklassen musste.

Hausinventar

Zimmer 1

3 Betten mit Wandschoner

1 Kasten7

1 Pendeluhr

1 Tisch

4 Sessel

1 Schubladenkasten

1 Sofa (Samt)

1 Kachelofen

Zimmer 2

1 Sofa (Plüsch)

4 Fauteuil (Plüsch)

1 Tisch

1 Glaskredenz

1 Kompott-Stellage

1 Kleiderstange

1 Kinderwiege

Zimmer 3

2 Betten

2 Schifonerl8

1 Toilettenspiegel

1 Tisch

2 Fauteuils

6 Sessel

1 Schuhstellage

Zimmer 4

1 Bett

1 Kochherd

1 Abwasch

1 Waschtisch

1 Tisch

7 Sessel

Zimmer 5

2 Betten

1 Kasten

1 Tisch

4 Sessel

1 Nähmaschine

1 Radio mit Tischerl

1 Sofa

1 Kachelofen

Zimmer 6

1 Herd

1 Kasten

1 Tisch

2 Sessel

1 Bett

Sommervilla/Salettl

Zimmer 1

1 Herd

1 Bett

1 Tisch

2 Sessel

1 Uhr

Zimmer 2

1 Lehnenbank

1 Tisch

Waschküche

1 Herd

1 Tisch

1 Bank

1 Schrank

2 Kupferkessel

1 Multer9

Fleischkammer

500 kg Selchfleisch

100 kg Schweinefett

70 kg Honig

1 Ledersitz

1 Dutzi10

Keller

130 l Schnaps

9.000 l Wein

Pferdestall

4 Pferde von 2–6 Jahren

2 Pferde, 1-jährige

Kuhstall

5 Kühe

3 Rinder

Kleine Kammer

3 Paar Pferdegeschirr (neu)

1 große Dezimalwaage

1 Bett

1 Schlachtmulter

Fässer-Kammer

23 Fässer von 50–820 l

1 Bottich mit 3.500 l

1 Bottich mit 1.200 l

1 Bottich mit 850 l

5 Stellfässer von 300–600 l

1 Weinmühle

1 Weinpresse 250 l

3 Rebenspritzen (Kupfer)

1 Fahrrad

1 Leiterwagerl

1 Radlbock11

Wagenschupfen12

2 lange Wägen (neu)

1 kurzer Wagen (neu)

1 Sämaschine (M. Melchar)

1 Mähmaschine (Marke Fatt)

1 Gras- und Handmaschine

(Marke Fatt)

1 Hackpflug

1 zweischariger Ackerpflug

(M. Eberhart)

1 einschariger Regolpflug

(M. Eberhart)

1 Schlupfer-Pflug

1 Eisenegge

1 Holzegge

1 Walze

1 Häckselmaschine

1 Rübenmaschine

2 Ackerwagen

Schweinestall

3 Mutterschweine

7 fette Schweine

7 Läuferschweine

120 Hühner

40 Enten

15 Gänse

12 Truthühner

10 Schwarm Bienen

12 Schafe

Werkzeuge

5 Sensen

2 große Rechen

2 kleine Rechen

5 Mistgabeln

1 Windmühle

1 Winde

1 Schleife

1 Maisriebler13

Getreide

22 t Weizen

20 t Mais

6 t Sonnenblumenkerne

6 t Gerste

3 t Hafer

1 ½ t Hirse

1 t Hanfsamen

6 t fertiger Hanf

3 t Werk

48 t Rohhanf

15 ½ t gerezter Hanf14

13 t Wiesenheu

10 t Kleeheu

120 t Stroh

»Weiter geht’s«, sagt meine Mutter.

Sie hat in einem der Notizbücher geblättert.

Ich war tanken und habe an der Grenze die Autobahnvignette für Serbien gekauft.

Meine Mutter holt zwischen den Notizbüchern ein Foto vom Haus hervor.

Das Handy läutet. Oma ist dran. Nein, wir sind noch nicht da. Ja, wir fahren vorsichtig.

»Hoffentlich finden wir es«, sagt meine Mutter. »Ohne Bilder brauchen wir nicht nach Hause zu kommen. Schalt mal die Kassette wieder ein.«