Die Farben der Schönheit – Sophias Träume - Corina Bomann - E-Book
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Die Farben der Schönheit – Sophias Träume E-Book

Corina Bomann

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Beschreibung

Ein großes Versprechen New York, 1932. Sophia hatte nicht erwartet, je wieder glücklich zu sein. Nachdem sie in Paris ihr Kind verloren hatte, war sie verzweifelt. Doch in New York blüht sie auf: Ein Angebot von der charismatischen Elizabeth Arden bietet ihr eine unerwartete Chance. Unversehens gerät Sophia damit mitten in den "Puderkrieg", der zwischen Elizabeth Arden und Helena Rubinstein tobt. Plötzlich stehen ihre Liebe, ihre Zukunft und ihr Glück auf dem Spiel.

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Die Farben der Schönheit – Sophias Träume

Der Autor

CORINA BOMANNCorina Bomann ist eine der erfolgreichsten deutschen Autorinnen.Immer wieder begeistert sie ihre Leserinnen mit großen dramatischen Romanen und Heldinnen, die etwas Besonderes erreichen. Ihre Romane werden in zahlreiche Sprachen übersetzt und sind internationale Bestseller. Sie wohnt in Berlin.

Das Buch

New York, 1932. Sophia hatte nicht erwartet, je wieder glücklich zu sein.Nachdem sie in Paris ihr Kind verloren hatte, war sie verzweifelt. Doch in New York blüht sie auf: Ein Angebot von der charismatischen Kosmetik-Unternehmerin Elizabeth Arden bietet ihr eine unerwartete Chance. Unversehens gerät Sophia damit mitten in den »Puderkrieg«, der zwischen Elizabeth Arden und Helena Rubinstein tobt. Plötzlich stehen ihre Liebe, ihre Zukunft und ihr Glück auf dem Spiel.

Corina Bomann

Die Farben der Schönheit – Sophias Träume

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

© 2020 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAutorinnenfoto: © Nadja KlierUmschlaggestaltung: www.buerosued.de, Münchenunter Verwendung eines Bildes vonarcangel images / © Miguel SobreiraE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

ISBN 978-3-8437-2234-6

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

Leseprobe: Schwimmen mit Rosemary

Leseprobe: Die englische Gärtnerin – Blaue Astern

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1. Kapitel

1. Kapitel

1929

Schwer und bleigrau hing der Januarhimmel über dem Meer. Nur am Horizont tauchte hier und da ein schwacher rosafarbener Schein zwischen den Wolken auf. Eisiger Wind strich über mein Gesicht und kroch unter meinen Mantel.

Ich hätte warm und gemütlich in meiner Kabine sitzen können, doch die Enge dort erdrückte mich, und mir stand auch nicht der Sinn danach, mich im Salon zu vergnügen, wo sich um diese Zeit bereits die Passagiere drängten. Alles, was ich wollte, war endlich ankommen und meine Nachforschungen beginnen.

Seit beinahe einer Woche waren wir nun auf See. Beim gestrigen Abendessen hieß es, dass wir in zwei Tagen Dover erreichen würden. Von dort aus würde mich eine Fähre nach Calais bringen, bevor die Reise mit dem Zug nach Paris weiterging.

Es beeindruckte mich noch immer, dass Madame Rubinstein diesen Weg mehrere Male im Jahr hinter sich brachte. Wie hielt sie das nur aus? Ich erinnerte mich gut daran, wie ich mit ihr das erste Mal über den Ozean gefahren war. Damals hatte sie, die erfolgreiche Kosmetikunternehmerin, mir die Chance auf die Erfüllung meines Lebenstraumes gegeben: Kosmetik herzustellen und Frauen damit zu Schönheit und Selbstbewusstsein zu verhelfen. Sie hatte mich aus Paris mitgenommen, damit ich als Chemikerin in ihrer Fabrik arbeitete. Zum ersten Mal nach all der traurigen Zeit hatte ich Hoffnung geschöpft.

Seit ich vor wenigen Wochen entlassen worden war, hatte ich nichts mehr von ihr gehört. Hatte sie ihre Ehe retten können? Immerhin hatte sie, um wieder mit Mr Titus, ihrem Ehemann, zusammen sein zu können, ihre amerikanischen Anteile der Rubinstein Inc. verkauft. Ich wünschte, ich würde etwas darüber erfahren, doch an Bord eines Schiffes kamen Nachrichten unregelmäßig an. Tageszeitungen gab es nur, wenn ein Hafen angelaufen wurde. Wir befanden uns mitten auf dem Ozean, im Reich der Ahnungslosigkeit.

Meine Hand wanderte zu meiner Manteltasche. Stets trug ich den Brief bei mir, der in Schreibmaschinenschrift behauptete, dass mein Sohn noch leben würde. Durfte ich mir Hoffnung erlauben?

Meine Gedanken kreisten um die Tage im Krankenhaus nach seiner Geburt. Die Nachricht von seinem Tod, die anschließende Depression. War da etwas gewesen, auf das ich hätte achten sollen? Hatte ich Zeichen übersehen? In meiner Erinnerung klaffte ein finsteres Loch. Egal, wie sehr ich mich anstrengte, es gab nichts, was ich tun konnte, um die Dunkelheit zu erhellen.

»Ein grandioser Anblick, nicht wahr?«, fragte eine Stimme. Ich zog meine Hand aus der Tasche und blickte mich um. Der Mann, der unbemerkt hinter mir aufgetaucht war, hatte hochstehende Wangenknochen und einen stechenden Blick. Seine Augen waren dunkel wie Kohlen, die hohe Stirn ließ ihn intellektuell wirken. Auf seiner Nase saß eine Nickelbrille mit runden Gläsern.

Er war die Sorte Mann, die mich früher sicher nicht bemerkt hätte. Sein Lächeln zeigte mir deutlich, welche Absicht hinter seinen Worten stand.

»Ja, das ist es«, antwortete ich kühl. »Aber wenn Sie erlauben, genieße ich ihn lieber allein.«

Mein Freund Darren hatte mich gerade erst verlassen, die Erinnerung an den letzten gemeinsamen Abend brannte immer noch schmerzhaft in meiner Seele. Mein Herz war noch nicht wieder bereit für Annäherungsversuche.

Der Mann lachte ein wenig gekränkt auf und drehte unsicher den goldenen Ring an seinem Finger herum. Ein Ehering. Diese Geste ließ mich erschaudern. Sie schleuderte mich weit in meiner Erinnerung zurück. Auch Georg, mein Liebhaber, war verheiratet gewesen. Er hatte mir vorgegaukelt, sich von seiner Frau trennen zu wollen. Letztlich hatte er es nicht getan und mich, als ich schwanger war, sitzen gelassen.

»Sie sind mir aufgefallen«, sagte er. »Eine Frau wie Sie …«

»So?«, fragte ich ein wenig angriffslustig. »Was bedeutet das? Eine Frau wie ich?« Ich atmete tief durch. Er war ein Fremder, den ich wahrscheinlich nie wiedersah. Ich durfte an ihm nicht meinen Zorn auf Georg auslassen.

»Jung, hübsch … und, wie es scheint, mit einem starken Willen gesegnet.«

Worte wie diese hatten mich damals verleitet zu glauben, dass Georg es ernst mit mir meinte. Er, der mein Dozent an der Universität war, hatte mich benutzt und geschwängert. Ich würde denselben Fehler nicht noch einmal machen.

»Sie sind jeden Tag zur selben Zeit hier«, fuhr der Fremde fort. Offenbar hatte er nicht vor, so leicht aufzugeben. »Und auch im Speisesaal bin ich Ihnen einige Male über den Weg gelaufen, aber Sie haben wohl nie Notiz von mir genommen.«

Das hatte ich in der Tat nicht. Warum hätte ich es tun sollen? Ich war mit den Gedanken meist bei meinem Sohn. Das half mir, Darrens Ablehnung zu vergessen. Und ich war auch nicht der Typ Frau, der sich nach einer verlorenen Liebschaft gleich eine neue suchte.

Der Fremde räusperte sich, als er spürte, dass er damit nicht weiterkam. Beinahe tat er mir leid. Doch meine Unnachgiebigkeit war mein Schutzpanzer, der mich davor bewahrte, zu verzweifeln. Auch wenn ich ihn attraktiv fand, war ich nicht bereit, mich auf ihn einzulassen. Er war verheiratet. Ich würde mein Glück nicht auf dem Unglück anderer aufbauen und mich damit erneut selbst in die Tiefe stürzen.

»Vielleicht liegt es daran, dass ich gerade viel durchdenken muss«, erwiderte ich.

»Und es gibt niemanden, mit dem Sie Ihre Gedanken teilen können? Oder wollen?«

Ich blickte den Fremden an. Ich mochte ihm vielleicht aufgefallen sein, doch er mir nicht. Sein Gesicht war wie das anderer Männer gewesen: Schatten, die ich mir nicht mehr näher angesehen hatte, seit die Beziehung zu Darren zerbrochen war.

»Diese Menschen gibt es, ja«, antwortete ich. »Aber sie sind nicht hier auf dem Ozean. Und es gibt Gedanken, die man nicht ohne Weiteres teilt. Nicht mal mit seinen Freunden.«

»Und mit einem Fremden?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ein Fremder würde es nicht verstehen.«

Mit Kate, der Haushälterin meines Vermieters, hatte ich einige Gedanken geteilt, am Küchentisch, als wir darüber sprachen, ob ich der Behauptung des Briefes nachgehen sollte. Doch Darren gegenüber hatte ich mein Kind und die Narbe, die seit der Geburt meinen Körper verunstaltete, verschwiegen und damit alles kaputt gemacht.

Ein Fremder würde mich sicher verurteilen für das, was geschehen war. Für meine Leichtgläubigkeit, meine Naivität. Am Tod meines Kindes trug ich keine Schuld, wenngleich ich es mir dennoch nicht verzeihen konnte. Falls mein Sohn überhaupt gestorben war.

Der Mann setzte wieder sein leicht gekränktes Lächeln auf. »Nun, vielleicht überlegen Sie es sich irgendwann einmal. Ich habe immer ein offenes Ohr für interessante Geschichten. Auch wenn ich Sie nicht kenne, glaube ich, dass in Ihnen etwas ruht, das erzählt werden sollte.« Er machte eine kurze Pause, dann fügte er hinzu: »Wenn Sie es sich überlegen sollten, fragen Sie nach James Joyce. Wir werden ja noch ein paar Tage miteinander verbringen, nicht wahr?«

Damit wandte er sich um und ging auf die andere Seite des Schiffes.

Ich schaute ihm nach. Möglicherweise war er ein Schriftsteller, den vielleicht auch Mr Titus kannte. Doch es war besser, nichts zu sagen und ihn ziehen zu lassen. Er würde mir nicht helfen können bei dem, was ich mir vorgenommen hatte.

Als es mir zu dunkel und zu kalt an Deck wurde, zog ich mich in meine Kabine zurück. Ich machte Licht, schälte mich aus meinem Mantel und wickelte mich in die raue Wolldecke, die sonst mein Bett bedeckte. Dann setzte ich mich an den kleinen Schreibtisch.

Mein Notizbuch war angefüllt mit Stichpunkten, Dingen, an die ich mich aus meiner Zeit in Paris erinnerte. Ich war auf der Suche nach Anhaltspunkten gewesen, und akribisch, als hätte ich eine Hausarbeit für meinen Dozenten erstellen müssen, hatte ich meine Erinnerungen sortiert und kategorisiert.

Da gab es Eindrücke von Orten, an denen ich gewesen war. Vor allem das Krankenhaus hatte ich genau beschrieben. Ich hatte die Straßen skizziert, die Praxis der Hebamme Marie Guerin, die ich aufgesucht hatte, um mich untersuchen zu lassen. Sie hatte meinen Namen nicht wissen wollen, aber von Adoption geredet. Da war die Pension von Madame Roussel gewesen, in der ich meine ersten Schritte in Richtung Amerika gemacht hatte. Einige Orte stufte ich als harmlos ein, andere als verdächtig. Das Krankenhaus und die Praxis von Marie Guerin waren von mir eingekreist worden.

Anschließend hatte ich die Personen aufgelistet. Flüchtige Bekanntschaften wie die Frau, die mich in das Taxi zum Krankenhaus gesetzt hatte, oder Monsieur Jouelle, der Liebhaber meiner Freundin Henny, dessen Verachtung mich völlig schuldlos getroffen hatte. Das Krankenhauspersonal: Dr. Marais, Schwester Sybille, Aline DuBois, die Hebamme, sowie Schwestern, deren Namen ich mir nicht gemerkt hatte, deren Gesichter ich jedoch wiedererkennen würde, wenn ich sie sah.

Natürlich bestand auch die Möglichkeit, dass eine Fremde im Krankenhaus erschienen war und mein Kind gestohlen hatte. Dass die Klinik, weil ihr das peinlich gewesen war, mir Louis’ Tod vorgegaukelt hatte. Aber mein Gefühl sagte mir, dass es anders gelaufen war.

Als mir die Augen schmerzten, legte ich mich aufs Bett. An die Bewegungen des Schiffes hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. In der ersten Zeit war es schwierig gewesen, besonders weil die See oftmals sehr unruhig war. Eine leichte Übelkeit war mein ständiger Begleiter gewesen, anders als damals, als ich zum ersten Mal den Ozean überquert hatte. Wahrscheinlich hatte mich Madames Präsenz zu sehr abgelenkt.

Ich wünschte, sie wäre hier gewesen, um mich von den erneut in mir aufsteigenden Erinnerungen an meine Eltern abzulenken. In der kleinen, schwankenden Kabine krochen sie aus den dunklen Winkeln meines Verstandes und erfüllten mich mit derselben Wut und Enttäuschung, die ich damals schon gefühlt hatte. Schon so lange hatte ich keinen Kontakt mehr zu ihnen. Nicht einmal dann, als ich ihnen vom Tod meines Kindes berichtete, hatten sie sich gemeldet.

Es wäre ein Leichtes, von Paris aus mit dem Zug nach Berlin zu fahren und nach ihnen zu sehen. Kurz überlegte ich ernsthaft, das zu tun, aber dann pfiff ich mich zurück. Es war sinnlos, verschwendete Zeit. Ich würde mich ganz auf die Suche nach Louis konzentrieren.

2. Kapitel

Paris schien sich nicht verändert zu haben. Das Gewimmel auf den Straßen war nicht mit dem in New York zu vergleichen, doch es fühlte sich vertraut an. Auch wenn Winter herrschte, wirkten die Häuser immer noch strahlend und elegant. Die Farben waren größtenteils verschwunden, aber ich wusste, dass sie zurückkehren würden, sobald die Sonne wieder höher stand und der Frühling einkehrte. Die Blumenbeete in den Vorgärten würden ebenso wie die Balkone neu bepflanzt werden, und aus den offen stehenden Fenstern würden bunte Gardinen wehen.

Bei all dem Vertrauten, das ich während der Taxifahrt entdeckte, fiel mir auf, wie sehr ich mich selbst verändert hatte, seit ich an der Seite von Madame Rubinstein an Bord des Fährschiffes nach Dover gegangen war.

In abgetragenen und viel zu weiten Kleidern war ich in die neue Welt aufgebrochen. Aus der Studentin aus gutem Hause war eine Mittellose geworden, die nur dank der Hilfe ihrer Freundin in Paris überleben konnte.

Nur knapp zwei Jahre später war zumindest äußerlich von dem schicksalsgebeutelten Mädchen nichts geblieben. Die Sachen, die ich trug, fielen nicht mehr durch ihre Schäbigkeit auf. Ich war zu einer Frau geworden, die man wahrnahm. Die Narben darunter sah niemand und würde, wenn es nach mir ging, auch niemand mehr zu sehen bekommen.

Während ich die Menschen betrachtete, an denen der Wagen vorbeifuhr, breitete sich ein Gefühl von Vorfreude in meiner Brust aus. Ich würde Henny wiedersehen, meine Freundin, meine Retterin nach der Katastrophe mit Georg! Sie hatte mich bei sich aufgenommen, als mich mein Vater verstoßen hatte. Mit ihr war ich nach Paris gegangen. Sie hatte eine wunderbare Karriere gemacht und es mir ermöglicht, durchzuhalten.

Neben all der Ungewissheit, die in mir tobte, war das ein Lichtblick, der mein Herz mit Wärme erfüllte. Wie mochte es ihr ergangen sein? Unsere Korrespondenz war weniger geworden, aber das bedeutete wohl nur, dass sie viel zu tun hatte und von ihrem Verlobten gänzlich eingenommen wurde.

Als die Gegend schäbiger wurde, wurde mir klar, dass wir uns der Rue du Cardinal Lemoine näherten. Die Straße wies noch mehr Schäden auf als früher, einige Pflastersteine waren herausgebrochen und an den Rändern aufgestapelt worden. Obwohl der Chauffeur sich bemühte, die Schlaglöcher zu umfahren, wurde ich kräftig durchgeschüttelt.

Ich hätte ein Hotel nehmen können, doch ich wollte bei Menschen sein, die ich kannte. Henny wohnte hier schon seit einer Weile nicht mehr, aber Genevieve und Madame Roussel. Auch auf sie freute ich mich.

Einige Minuten später machte das Taxi vor der Pension halt. Die Fassade sah noch immer wie damals aus, abgesehen von ein paar neuen Rissen, die unterhalb der Fenster hinzugekommen waren. Madame Roussel schien eine Renovierung noch nicht für notwendig zu halten.

Ich bezahlte und nahm mein Gepäck in Empfang. Während der Wagen davonfuhr, schritt ich in den Innenhof und blickte mich um. Von irgendwo über mir ertönte Musik. Wahrscheinlich hatte einer der Gäste in den besseren Zimmern ein Grammophon mitgebracht. Ein wenig erinnerte mich das an den Herrn Kommerzienrat im Haus meiner Eltern. Doch ich drängte den Gedanken rasch beiseite und umfasste den Griff meines Koffers. Die Haustür war, wie meistens, offen, obwohl Madame Roussel stets allen Gästen erklärte, dass sie sie zum Schutz vor Dieben verschlossen halten sollten.

Ich trat ein und ließ meinen Blick über die Treppe wandern, die ich so oft hinauf- und hinabgestiegen war. Dann vernahm ich das Klappen einer Tür.

Madame Roussels Schritte erkannte ich sofort.

Als sie mich sah, stockte sie überrascht.

»Du meine Güte, du bist schon hier?«, fragte sie.

Ich hatte in meinem Telegramm nur eine vage Ankunftszeit angegeben. Man konnte nie wissen, wie das Wetter auf See war, und wir hatten Winter, und es traten jetzt häufiger Stürme auf.

»Ja, die See war ruhiger, als ich es erwartet hatte«, sagte ich und reichte ihr die Hand. Madame Roussel ignorierte sie und umarmte mich. Der Duft von Rosenseife strömte in meine Nase.

»Schön, dass du wieder da bist, Mädchen! Und sieh, wie du dich rausgemacht hast! Amerika hat dir Glück gebracht, wie?«

Das hatte es. Doch dieses Glück fühlte sich ungewiss an. Alle Wege vor mir lagen im Nebel, und es war an mir, den richtigen zu finden. Meinen Sohn zu finden.

»Haben Sie vielleicht noch das alte Zimmer frei, in dem Henny und ich gewohnt haben?«, fragte ich.

»Da oben ziehst du mir nicht wieder ein!«, sagte sie. »Komm mit! Ich habe etwas Besseres.«

Wenig später führte sie mich zu den »nobleren« Quartieren im Gebäude nebenan. Das Grammophon war mittlerweile verstummt.

»Wohnt Genevieve noch hier?«, fragte ich, als wir die Treppe hinaufstiegen.

»Hin und wieder lässt sie sich blicken, ja«, antwortete Madame Roussel. »Aber ihre Profession hat sie wohl aufgegeben. Seit Monaten taucht nur ein und derselbe Mann bei ihr auf.«

Hatte meine damalige Zimmernachbarin Genevieve ihr Glück gefunden? Ich wünschte es ihr und brannte darauf, mich endlich wieder mit ihr zu unterhalten. Sie hatte mir damals, als ich neu in Paris war, sehr geholfen und mir auch beigestanden, nachdem mein Kind gestorben war. Sie hatte mir die Ärztin empfohlen, die mich davor bewahrt hatte, von der Dunkelheit meines Herzens verschlungen zu werden.

»Hier«, sagte Madame Roussel und deutete auf die Tür vor uns. Sie war wie alle anderen in diesem Aufgang rotbraun angestrichen und mit einer kleinen Nummer versehen. Wir standen vor der Neun.

Die Hauswirtin zog ihr Schlüsselbund aus der Tasche und schloss auf. Das Zimmer war überraschend geräumig. Anstelle eines schlichten Metallbettes wie in unserem alten Zimmer gab es ein Himmelbett. Einige Pflanzen standen auf dem Fensterbrett, und es war genügend Platz für einen Schreibtisch und einen Kleiderschrank vorhanden.

»Für gewöhnlich nehme ich fünf Franc pro Woche für dieses Zimmer. Du bekommst es für drei«, erklärte sie und eilte zu den Fenstern, um sie zu öffnen. »Natürlich bist du auch hier nicht sicher vor den Ausdünstungen des Latrinenwagens, aber die Fenster schließen besser. Und du kriegst mehr Luft.«

»Danke, Madame Roussel, das ist sehr freundlich von Ihnen.« Ich blickte mich um. Der Raum brauchte den Vergleich mit meinem Zimmer in New York nicht zu scheuen. Und es war ein Palast gegenüber der engen Kammer, die ich zusammen mit Henny bewohnt hatte.

»An die Regeln erinnerst du dich sicher noch?«

»Natürlich«, gab ich zurück. Doch wahrscheinlich würde ich wie alle anderen vergessen, die Tür zum Innenhof abzuschließen.

»Die Frauen in der Nachbarschaft haben übrigens gefragt, wann du mal wieder Creme machst. Ich habe ihnen erzählt, dass du in Amerika bist, bei dieser Helena Rubinstein, und dass sie die Cremes hier im Kaufhaus bekommen, aber sie fragen trotzdem immer wieder.«

»Ich mache momentan keine Cremes«, sagte ich.

»Nein, was dann? Parfüm?«

»Ich arbeite nicht mehr für Madame Rubinstein. Sie … sie hatte Eheprobleme und verkaufte ihre amerikanische Firma. Viele haben ihre Arbeit verloren, auch ich.«

Madame Roussel blickte mich entgeistert an. »Und was hast du jetzt vor?«

»Das weiß ich noch nicht. Erst einmal bin ich hier, weil ich das hier erhalten habe.« Ich zeigte ihr den Brief des anonymen Absenders.

»Sie kennen mich nicht, und wahrscheinlich werden wir uns nie treffen«, las sie laut vor. »Ich will Ihnen nur eines sagen: Ihr Sohn lebt. Ich weiß nicht, wohin man ihn gebracht hat, aber er hat gelebt und geatmet, als ich ihn das letzte Mal sah. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen.«

Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund. »Das hatte es also zu bedeuten!« Sie überlegte kurz, dann fragte sie: »Glaubst du wirklich, dass da etwas dran ist? Dass dein Kind noch lebt?«

»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Aber ich muss herausfinden, woher dieser Brief stammt. Ich muss wissen, ob damals in dem Hospital etwas geschehen ist, was mir verheimlicht wurde.«

Madame Roussel nickte. »Es wird schwierig werden, denn wenn jemand einen Fehler gemacht hat, wird er es nicht zugeben. Aber ich wünsche dir viel Glück dabei.«

»Danke, das weiß ich zu schätzen.« Ich lächelte Madame Roussel zu, die mich einen Moment lang nachdenklich ansah.

»Wenn du die Küche brauchst, sag mir einfach Bescheid, ja?«, sagte sie dann und wandte sich um.

»Natürlich, Madame Roussel«, gab ich zurück und schloss die Tür. Ich würde mich kurz ausruhen und dann Henny einen Besuch abstatten.

3. Kapitel

Eine gute Stunde später stand ich vor der Adresse, die Henny auf ihren Briefen als Absender angegeben hatte. Das elegante Mietshaus war im Jugendstil gehalten, mit reizenden kleinen Balkons, die im Sommer durch bunte Blumenkästen verschönert wurden. An einem von ihnen waren Tannenzweige befestigt, wahrscheinlich Reste der Weihnachtsdekoration, obwohl Weihnachten nun schon mehr als einen Monat zurücklag.

Man sah nicht nur dem Haus an, dass hier wohlhabende Pariser lebten. Die Umgebung wirkte gepflegt, und obwohl es Winter war, waren die Vorgärten sehr ordentlich. Die Blütenpracht im Frühjahr musste einfach überwältigend sein.

Henny schien es tatsächlich geschafft zu haben. Sie war nun keine kleine Tänzerin mehr, die in schäbigen Absteigen oder Hinterhofzimmern leben musste. Sie war eine gemachte Frau, jedenfalls solange Monsieur Jouelle in sie vernarrt war.

Ich persönlich mochte den Assistenten des Geschäftsführers des Folies Bergère nicht. Er hatte mich schon von Anfang an wie Dreck behandelt und Henny in den Ohren gelegen, dass ich sie nur ausnutzen würde. Schmarotzerin hatte er mich genannt und versucht, meine Freundin von mir wegzutreiben. Henny hatte es nicht zugelassen. Zu gern hätte ich sein Gesicht gesehen, als sie ihm erzählte, dass ich in Amerika ein neues, erfolgreiches Leben begonnen hatte.

Die Aussicht, ihm zu begegnen, machte mich dennoch nervös.

Um diese Uhrzeit würde Hennys Verlobter normalerweise im Theater sein, dennoch scheute ich mich ein wenig davor, die Klingel zu betätigen.

Schließlich erklomm ich trotzdem die Treppe zur Eingangstür und suchte die Namensleiste ab. Jouelle fand ich in der Mitte. Ich atmete tief durch und drückte den Klingelknopf.

Mit pochendem Herzen wartete ich auf Antwort. Ich blickte nach oben, konnte aber nicht sagen, hinter welchem Fenster Henny wohnte.

Ein Knacken ertönte. »Hallo, wer ist da?«, fragte eine Stimme auf Französisch. In den vergangenen zwei Jahren hatte Henny sehr dazugelernt, den Akzent hörte man aber immer noch heraus.

»Henny?«, fragte ich erleichtert.

Die Stimme am anderen Ende verstummte. Hatte ich mich geirrt?

»Ich bin’s, Sophia«, antwortete ich. »Ich bin hier, in Paris!«

Henny schwieg. Hatte ich mich vielleicht vertan? Dass Henny nichts sagte, verwirrte mich.

Im nächsten Augenblick ertönte der Summer an der Tür, und das Schloss sprang auf.

Etwas unsicher trat ich ein. Das Treppenhaus erinnerte mich stark an mein früheres Zuhause, auch wenn es etwas enger war.

Die Bastmatten auf den Treppenstufen dämpften meine Schritte, sodass das Pochen meines Herzens beinahe das einzige Geräusch war, das ich wahrnahm.

Henny erwartete mich an der Tür des Appartements im zweiten Stock. Sie trug einen schwarzen Morgenmantel mit eingewirkten dunkelroten Rosen. Ihre Frisur war zerzaust, und ihr Gesicht wirkte verschlafen.

»Sophia, du meine Güte, was machst du denn hier?«, fragte sie. Sie schien tatsächlich erst wach geworden zu sein, denn ihre Stimme klang noch ein wenig schleppend.

»Ich … ich hatte dir geschrieben. Ist der Brief nicht angekommen?«

Meine Arme fühlten sich merkwürdig taub an. Vor mir stand meine Freundin. Ich hatte allen Grund, ihr in die Arme zu fallen. Aber Henny hatte sich verändert. Früher hatte sie nicht so abwesend gewirkt. Nicht mal dann, wenn ich sie tatsächlich aus dem Schlaf geschreckt hatte.

»Ja … ja, natürlich!«, sagte Henny, und auf einmal ging ein Ruck durch ihren Körper, und das altbekannte Lächeln flammte auf ihrem Gesicht auf. Sie kam zu mir geflogen und legte ihre Arme um mich.

Ich atmete tief durch, die Anspannung verließ mich augenblicklich. Möglicherweise hatte sie tatsächlich nicht mit mir gerechnet. Vielleicht hatte sie auch gedacht, ich würde später eintreffen, sie später besuchen.

Trotzdem wurde ich den Verdacht nicht los, dass Monsieur Jouelle einen Einfluss darauf hatte, ob sie ihre Post las.

»Wie geht es dir?«, fragte Henny, während sie mit ihren Händen über meine Wangen strich. Ich drückte sie erneut an mich. Es fühlte sich so gut an, sie zu sehen!

»Komm doch herein!«, sagte sie und zog mich am Arm in den Flur ihrer Wohnung. Ein süßlicher Geruch schwebte in der Luft. Sie erklärte: »Räucherstäbchen. Das ist der neueste Schrei hier in Paris. Den Frauen kann es nicht exotisch genug sein. Das ist doch bei euch sicher auch so, nicht?«

»Nein, bis jetzt noch nicht«, gab ich zurück. »Aber die Mode kommt sehr langsam über den Ozean. Viele Frauen tragen noch immer die alten Frisuren. Einschließlich mir.« Ich fuhr über den Knoten in meinem Nacken. Mir einen modischen Bubikopf schneiden zu lassen, hatte ich bislang noch nicht über mich gebracht.

»Du hängst ja so sehr an deinen Haaren, von daher wundert es mich nicht«, meinte Henny, und je länger ich sie ansah, desto mehr wurde mir klar, dass sie sich nicht verändert hatte – jedenfalls nicht mir gegenüber.

»Wo ist dein Verlobter?«, fragte ich.

Henny zuckte mit den Schultern. »Im Theater. Ich bin am Vormittag meist allein. Aber komm doch erst einmal richtig an!«, fügte sie hinzu. »Kann ich dir einen Kaffee anbieten? Oder Tee? Maurice liebt Tee.«

»Was auch immer für dich bequem ist.«

»Dann Kaffee«, sagte sie. »Nimm doch einfach im Wohnzimmer Platz. Ich ziehe mir nur schnell was über und gehe dann in die Küche.«

Ich tat wie geheißen, während Henny hinter einer der Türen verschwand. Das Wohnzimmer wirkte wie ein exotischer Salon. Es gab eine Sitzgruppe aus Leder und große Topfpflanzen. Die Tapete war dunkelrot und wurde von rosafarbenen Rosen und zarten Blätterranken bedeckt. Der feine Duft von Zigarrenrauch hing in der Luft. Wahrscheinlich hielt er sich auch in den schweren Samtvorhängen.

In hohen Bücherregalen reihten sich ledergebundene und goldverzierte Bände. Ein Globus neben einem der Fenster enthielt möglicherweise eine Bar. Als ich mit meinen Eltern bei einem von Vaters Geschäftsfreunden zu Besuch gewesen war, hatte ich etwas Derartiges gesehen. Man konnte die Oberseite des Globus herunterklappen, und zum Vorschein kamen verschiedene Flaschen.

Ich trat an das Fenster, das einen wunderbaren Ausblick auf die Stadt und den Jardin du Luxembourg bot.

Der gesamte Raum atmete den Geist von Monsieur Jouelle. Nur Henny spürte ich hier nirgends.

Wäre es allein Hennys Wohnung gewesen, wäre ich herumgelaufen und hätte mich ein wenig näher umgeschaut. Doch der Gedanke, dass Monsieur Jouelle zurückkehren und mich hier sehen könnte, machte mich beklommen. Natürlich würde Henny ihm davon erzählt haben, dass ich in Amerika arbeitete. Aber ich hatte immer noch sein wutentbranntes Gesicht vor mir, als er mir ans Herz legte, aus Hennys Leben zu verschwinden.

Ein Klappern in der Küche holte mich aus meiner Betrachtung fort. Ich folgte dem Geräusch, bis ich in einer geräumigen Küche stand. Monsieur Jouelle hatte offenbar die gesamte Etage des Hauses gemietet.

Die Küche war lichtdurchflutet und wunderschön eingerichtet. Die Möblierung war hell gehalten, passend dazu schmückten Delfter Fliesen die Wände. Der blank geschrubbte Tisch erschien viel zu groß für eine Wohnung wie diese.

»Die Haushälterin kommt erst gegen Abend wieder«, erklärte Henny, während sie Kaffeepulver in eine Kanne gab. »Aber damals in Berlin hatten wir ja auch kein Dienstmädchen, nicht wahr?«

»Nein, das hatten wir nicht«, bestätigte ich.

Mir fiel auf, dass Henny ein wenig unwohl wirkte. War es möglich, dass sie mit dieser Wohnung nicht ganz glücklich war? All die Jahre, seit sie das Heim ihrer Eltern verlassen hatte, hatte sie allein und in engen Zimmern gelebt. Sie war nun schon eine ganze Weile bei Jouelle, aber sie schien sich noch nicht so recht daran gewöhnt zu haben, den Haushalt nicht ausschließlich selbst versorgen zu müssen.

»Setz dich doch, der Kaffee ist bald fertig«, sagte sie und stellte den Kessel auf den Herd, dem eine wohlige Wärme entströmte.

»Wie geht es dir hier?«, fragte ich und nahm auf der langen Bank am Tisch Platz.

»Gut«, antwortete sie mit einem Schulterzucken. »Und was ist mit dir? Du hast in deinem Telegramm nur geschrieben, dass du nach Paris kommen wirst. Gibt es einen bestimmten Grund? Wirst du vielleicht einen Salon hier übernehmen? Die Mädchen im Theater reden ständig davon, dass neue Schönheitssalons eröffnen.«

»Nein, ich eröffne keinen Salon«, sagte ich. »Und ich arbeite auch nicht mehr für Madame Rubinstein. Ich bin hier, um meinen Sohn zu suchen.« Ich erzählte ihr von dem Brief, und Henny schaute mich erschrocken an.

Hatte sie meinen Brief dazu nicht bekommen? Hatte Jouelle ihn vielleicht zurückgehalten?

Am liebsten hätte ich sie direkt gefragt, doch ich wusste, dass dieses Thema schnell zum Streit führen konnte. Außerdem schien er sie wirklich gut zu behandeln. Dass er mich nicht mochte, war eine Angelegenheit zwischen ihm und mir.

Das Pfeifen des Kessels hallte durch den Raum. Henny erhob sich und goss den Kaffee auf. Dann brachte sie die Kanne zum Tisch und schenkte uns ein.

»Es ist schön, mal wieder Deutsch zu sprechen«, sagte sie ganz unvermittelt. »Mir hat das in den vergangenen Jahren sehr gefehlt. Manchmal habe ich schon mit mir selbst geredet, um es wieder zu hören. Hin und wieder hatte ich Angst, dass ich es verlernen würde.«

Ich griff nach ihrer Hand und spürte, dass ihre Haut eiskalt war. Ihre Finger zitterten ein wenig.

»Was ist mit dir?«, fragte ich.

»Nichts«, antwortete sie. »Ich bin einfach nur manchmal ein bisschen nervös. Der Arzt meint, dass es von der Konkurrenz unter den Tänzerinnen im Folies käme. Es kratzt meine Nerven an.«

»Haben sie sich denn immer noch nicht an dich gewöhnt?« Sorge stieg in mir auf.

»Doch, das haben sie«, antwortete Henny. »Aber es ist etwas anderes, ein Neuling zu sein oder die Verlobte von Maurice.« Sie hielt kurz inne, dann strahlte sie mich an. »Aber das braucht uns nicht die Laune zu verderben, nicht wahr? Du wirst doch zu unserer Hochzeit kommen?«

»Natürlich«, antwortete ich, mit einem Kloß im Hals. Würde Jouelle es gefallen, wenn ich die Brautjungfer war? Wenn ich überhaupt erschien?

»Das ist schön!«, sagte sie fröhlich, aber auf eine Weise, die so gekünstelt schien, dass sie nicht zu Henny passte.

»Wäre auch dein Verlobter damit einverstanden?«, fragte ich skeptisch.

»Warum denn nicht? Ich habe ihm viel von dir erzählt. Er freut sich, dass es dir in Amerika gut geht.«

»Habt ihr schon einen Termin festgelegt?«, fragte ich, denn wenn es um Jouelle ging, fühlte ich mich, als würde ich mich auf dünnem Eis bewegen.

»Bis jetzt nicht, aber wir werden es tun.« Sie nickte, als müsste sie sich selbst versichern, dass es passieren würde. »Wir werden. Und dann wirst du die Erste sein, die es erfährt.«

»Du weißt, dass der Brief eine ganze Weile braucht, bis er mich erreicht, nicht wahr?«

Sie lächelte und entgegnete: »Ich werde niemandem davon erzählen, bis er bei dir ist!«

Ich wusste, dass sie dieses Versprechen nicht halten konnte. Die Mädchen würden es herausbekommen, vielleicht durch Jouelle. Doch das war in Ordnung. Henny hatte ihr neues Leben, und ich hatte meines, wie auch immer es in Zukunft aussehen würde.

Wieder schwiegen wir eine Weile, und ich konnte förmlich sehen, dass die Gedanken hinter Hennys Stirn herumwirbelten. Gleichzeitig bemerkte ich, dass sie ihre Lippen zusammenpresste, um ja keinen von ihnen entwischen zu lassen.

»Und wo willst du nun mit deiner Suche beginnen?«, fragte sie, ein wenig zu schrill und zu gezwungen. Es war, als wollte sie höflich sein. Das war wieder etwas, das ich von ihr nicht kannte.

»Im Krankenhaus. Ich werde versuchen, mit den Schwestern zu sprechen, vielleicht auch mit dem Arzt.«

»Wenn einer von denen dahintersteckt, werden sie dir kaum die Wahrheit sagen.«

»Aber irgendwo muss ich beginnen!«

Henny nickte, sagte darauf aber nichts. Warum fühlte sich die ganze Situation plötzlich so seltsam an? Früher hatten wir über alles reden können, jetzt kam ich mir wie ein Störkörper vor.

»Oh, wie die Zeit vergeht«, rief Henny plötzlich aus. »Ich will nicht unhöflich sein, aber ich fürchte, du musst gehen«, sagte sie nach einem Blick auf die Uhr. »Maurice wird bald zurück sein.«

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. Wir hatten doch gerade erst ein paar Minuten zusammengesessen? Der Kaffee in meiner Tasse war noch nicht einmal kalt. »Ist er denn nicht bis zum Abend im Theater?«

»Er kommt zwischendurch immer heim, um mich zu sehen.«

Ich verstand. Auch nach diesen zwei Jahren würde er mich hier nicht dulden. Selbst dann nicht, wenn ich eine gemachte Frau wäre.

Ich nickte und senkte den Kopf. »In Ordnung.« Ich versuchte, mir meine Enttäuschung nicht anmerken zu lassen.

Die alte Henny hätte mich an der Hand genommen, und wir wären gemeinsam durch irgendeinen Park spaziert, wie damals in Berlin.

Ich erhob mich. »Danke für den Kaffee.«

Sie griff nach meiner Hand. »Ich hoffe, du findest, was du suchst.«

»Danke.« Einen Moment lang sahen wir uns an, dann schloss ich sie in meine Arme. Sorge loderte in mir. War sie nur deshalb so seltsam, weil mein Besuch ihr unangenehm war, oder verbarg sie etwas vor mir? »Sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe, melde ich mich bei dir.«

»Ja, tu das.« Sie lächelte und schaute dann über meine Schulter, als fürchtete sie, dass Jouelle jeden Augenblick hinter mir auftauchen würde.

Sie begleitete mich zur Tür. »Pass auf dich auf«, sagte ich zu ihr und strich ihr ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. »Und wenn du etwas auf dem Herzen hast, sag Bescheid. Ich wohne bei Madame Roussel.«

»Mach es auch gut«, entgegnete sie knapp. »Bis bald.«

Mit diesen Worten löste sie sich von mir und schloss die Tür.

Ihr Verhalten verwirrte mich dermaßen, dass ich mich nicht von der Stelle rühren konnte. Was war das eben? Warum hatte sie es so eilig gehabt, mich loszuwerden, und wieso war der Abschied nicht herzlicher ausgefallen? Ich dachte an früher zurück, doch selbst wenn wir uns einmal gestritten hatten, war sie nie so merkwürdig kühl gewesen.

Unten ging die Haustür. Ich zuckte zusammen. War es wirklich Jouelle? Einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken, eine Treppe höher zu steigen und mich dort zu verstecken, doch dann entschied ich mich dagegen. Wenn Jouelle kam, sollte er wissen, dass ich Henny besucht hatte.

Langsam stieg ich die Stufen hinunter. Tatsächlich erschien ein Mann vor mir, doch es war nicht Jouelle. Der ältere Herr mit dem grauen Schnurrbart grüßte höflich und schritt an mir vorbei.

Erleichtert legte ich die restlichen Stufen zurück. Wieder auf der Straße, atmete ich tief durch. Ich fühlte mich angespannt und ängstlich. Was, wenn es Henny nicht gut ging? Lag es wirklich an der räumlichen und zeitlichen Entfernung, dass wir uns irgendwie fremd geworden waren?

Die Gedanken rasten in mir. Henny hätte es mir doch gesagt, wenn sie Hilfe bräuchte, oder etwa nicht? Hatte Jouelle sie wirklich in einen anderen Menschen verwandelt?

In der Nacht lag ich wach und starrte an die Decke. Ein wenig erwartete ich, den Latrinenwagen zu hören. Doch ich wusste, dass es noch zu früh war.

Meine Füße schmerzten, aber mein Kopf arbeitete weiterhin. Er zeigte mir Bilder aus der Vergangenheit. Er zeigte mir Henny, wie ich sie früher gesehen hatte und vor ein paar Stunden. Und ich spürte deutlich, wie das Gewicht der Sorge auf mich niedersank. Mein Kind konnte irgendwo dort draußen sein. Henny hatte sich verändert. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn ich nach Amerika zurückkehrte.

Aber ich sagte mir, wenn ich erst mal Klarheit über das Schicksal meines Sohnes hatte, würde ich meinen Weg kennen. Schon wie damals, als ich vor dem Schaufenster mit den Kinderkleidern stand, brannte in mir der Wille, es zu schaffen. Und das würde ich, sobald ich ihn entweder in meine Arme schließen konnte oder seine Seele im Himmel wusste.

4. Kapitel

Am nächsten Morgen ließ ich mich von einem Taxi zum Hôpital Lariboisière bringen. In meiner Handtasche trug ich den Brief. Was in ihm gesagt wurde, war schwerwiegend. Wenn mein Sohn noch lebte, konnte es nur bedeuten, dass er bewusst oder unbewusst vertauscht worden war. Das wäre ein furchtbarer Skandal.

Doch stimmte die Behauptung? Ich wünschte mir so sehr, dass der Verfasser den Mut gehabt hätte, seinen Namen oder zumindest einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort zu hinterlassen.

In der engen Gasse vor dem steinernen Eingangstor des Hospitals hielt der Fahrer. Ich bezahlte ihn und stieg aus. Während der Wagen wendete und davonfuhr, gestattete ich mir einen Moment der Betrachtung und spürte gleichzeitig meinen Gefühlen nach.

In meinen Träumen hatte ich diesen Ort des Öfteren aufgesucht, stets auf der Suche nach meinem Sohn. Die Erinnerung an das, was geschehen war, ließ nicht lange auf sich warten. In meiner Brust erwachte der alte Schmerz. Den Verlust meines Kindes würde ich wahrscheinlich nie verwinden. Aber ich fand auch Hoffnung in meinem Herzen. Egal, was geschehen war – wenn Louis lebte, gab es vielleicht einen Weg, zu ihm zu finden.

Ich durchschritt das Steintor und betrat den Innenhof der Klinik. Er war bevölkert mit Spaziergängern in dicken Mänteln, einige in Begleitung von Krankenschwestern, die sich mit langen, dunklen Umhängen warm hielten. Die Pracht des Sommers während meines Aufenthalts hier war verschwunden.

Ich betrat das Gebäude, in dem die Geburtsstation untergebracht war. Obwohl ich den Weg auf Anhieb fand, erschien mir die Einrichtung fremd. Als ich damals angekommen war, hatte ich nicht auf die Details geachtet, und als ich die Klinik wieder verließ, war ich damit beschäftigt gewesen, den Schmerz in meiner Brust in den Griff zu kriegen.

Ich ging zu dem Empfangsschalter, hinter dem eine verschleierte Schwester saß. Sie war schon etwas älter, ein paar graue Haarsträhnen waren unter ihrem Schleier hervorgerutscht.

»Kann ich etwas für Sie tun, Madame?«, fragte sie freundlich.

»Ich … ich möchte auf die Wöchnerinnenstation.«

»Wollen Sie dort jemanden besuchen?«, fragte die Schwester.

»Ich möchte mit einer der Schwestern sprechen. Sybille war ihr Name, wenn ich mich richtig erinnere. Und vielleicht auch mit Dr. Marais und Aline DuBois, der Hebamme. Sie haben mich betreut, als mein Kind hier zur Welt kam.«

Die Schwester musterte mich kurz, dann nickte sie. »Mademoiselle DuBois arbeitet hier nicht mehr.«

Das verwunderte mich ein wenig. Warum war die Hebamme gegangen? Hatte es einen Vorfall in der Klinik gegeben? Oder hatte sie gar etwas gewusst?

»Und ich bin nicht sicher, ob Sybille gerade da ist, aber Sie können es gern versuchen«, fuhr die Schwester fort. »Erinnern Sie sich noch an den Weg?«

Ich nickte. Und ob ich mich an den Weg erinnerte!

Die Wöchnerinnenstation war hell und lichtdurchflutet, und das ferne Wimmern von Neugeborenen drang an mein Ohr, als ich die hohe Flügeltür öffnete. Mein Herz krampfte sich zusammen. Früher war es anders gewesen, aber mittlerweile nahm ich Frauen, die ihre Kinderwagen an mir vorbeischoben, nur noch beiläufig wahr, und gegen das Weinen von Babys verschloss ich erfolgreich die Ohren.

Doch hier war es, als würde eine gerade verheilte Wunde wieder aufreißen. Meine Brust fühlte sich auf einmal roh und geschunden an, wie damals, als ich aus dem Weinen nicht herausgekommen war.

Im nächsten Augenblick jedoch fasste ich mich wieder und eilte den Flur entlang. Ich musste endlich herausfinden, was mit Louis geschehen war! Einige Krankenzimmer standen offen. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen Blick auf die Vorhänge, die die Betten voneinander trennten. Ich vernahm Stimmen, aber zum Glück sah ich niemanden.

Am Schwesternzimmer klopfte ich gegen die weiß gestrichene Tür.

Wenig später ertönten Schritte auf den knarzenden Dielen. Die Frau, die mir öffnete, trug wie alle Schwestern hier eine weiße Haube, doch das Gesicht war mir unbekannt.

»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich. »Mein Name ist Sophia Krohn. Ich war vor zweieinhalb Jahren Patientin auf Ihrer Station.«

Die Schwester zog die Augenbrauen hoch. »Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern Schwester Sybille sprechen. Sie hat mich damals betreut.«

Die Schwester warf mir einen verwunderten Blick zu, nickte dann aber. »Warten Sie einen Moment, ich schaue nach, wo sie ist.«

Sie deutete auf die Klappstühle an der Wand. Auf einem davon ließ ich mich nieder. Unruhig knetete ich meine Hände. Ich wusste nicht genau, wie ich anfangen sollte. Es wäre vielleicht nicht der beste Weg, gleich irgendwelche Beschuldigungen auszusprechen.

Die Zeit verging nur schleppend. Offenbar war Schwester Sybille nicht so leicht aufzutreiben oder beschäftigt. Ich wandte mich zur Seite und blickte aus dem Fenster. Ein paar Krähen zogen ihre Kreise durch die kahlen Baumkronen. Meine Gedanken wanderten zurück zu der Zeit meiner Schwangerschaft. Es war nicht leicht gewesen, zusammen mit Henny in dem kleinen Zimmer zu hausen, immer mehr hungrig als satt. Die meiste Zeit hatte ich auf Ämtern gesessen, mich nutzlos gefühlt und darüber vergessen, dass ich für mich hätte sorgen sollen.

Später hatte ich mir oft Vorwürfe gemacht, dass ich besser auf mich und mein Kind hätte achten müssen. Aber welcher Arzt hätte eine mittellose Schwangere betreut? Und bessere Nahrung hatte ich mir von dem wenigen, das wir besaßen, nicht leisten können. Es war schon viel gewesen, dass ich ein Dach über dem Kopf hatte und nicht auf das Obdachlosenasyl angewiesen war.

Und dann die Geburt … Ich erinnerte mich noch gut, wie ich in der Nationalbibliothek zusammengebrochen war und in einer Fremden eine Helferin gefunden hatte.

»Madame?«, fragte eine Frauenstimme.

Ich wandte mich um. Alle Gedanken verschwanden augenblicklich.

Schwester Sybille blickte mich fragend an. Offenbar erinnerte sie sich nicht an mich. Das war nicht verwunderlich, hatte sie doch in den vergangenen Jahren sicher Hunderte Frauen betreut.

»Ich bin Sophia Krohn«, stellte ich mich vor. »Ich war vor zweieinhalb Jahren hier und habe am 2. August entbunden. Sie … Sie waren so freundlich zu mir.«

Auch mein Name sagte ihr sichtlich nichts.

»Mein Sohn … Er ist gestorben.«

»Oh«, sagte sie. »Das tut mir leid. Aber ich … ich erinnere mich nicht mehr an Sie.«

»Das macht nichts«, sagte ich und verbarg meine Enttäuschung. »Ich habe nur eine Frage.« Ich blickte zur Seite. Die Schwester, die Sybille geholt hatte, stand immer noch an der Tür. Was wir zu besprechen hatten, schien sie sehr zu interessieren.

»Können … wir irgendwohin gehen, wo wir allein sprechen können?«, fragte ich. »Es wären nur ein paar Minuten. Ich möchte Ihnen bloß etwas erzählen. Ganz kurz.«

Sybille sah mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Doch dann nickte sie. »In Ordnung.«

Ich folgte ihr in einen ruhigen Gang. Auch hier gab es Türen, hinter denen jemand lauschen konnte, deshalb senkte ich meine Stimme, während ich den Brief aus der Tasche zog.

»Ich kann verstehen, dass Sie sich nicht an mich erinnern«, erklärte ich. »Sie haben so viele Frauen hier, und es ist ein tägliches Kommen und Gehen …«

»Was wollen Sie?«, fragte Sybille ein wenig ungeduldig.

»Ich habe gehört, dass die Hebamme nicht mehr hier arbeitet. Aline DuBois.«

»Sie ist letztes Jahr von hier weggegangen, weil sie geheiratet hat. Warum wollten Sie sie sprechen? Und warum mich?«

Jetzt war es so weit. »Diesen Brief habe ich vor Kurzem erhalten«, sagte ich. »Schauen Sie.«

Ich zog das Schreiben aus dem Kuvert und reichte es ihr. Meine Finger zitterten wie Espenlaub.

»Es … Ich frage mich, wer mir das geschrieben haben könnte.«

Sybilles Augen wanderten über die Zeilen, wieder und wieder. Mein Herz klopfte so stark, dass ich meinte, es würde gleich aus meinem Brustkorb brechen.

»Das ist … Das muss ein grausamer Scherz sein«, sagte sie schließlich und faltete das Blatt wieder zusammen. »Wenn Ihr Kind hier gestorben ist, ist das sehr bedauerlich, aber ich fürchte, ich kann daran nichts ändern. Und es gibt daran auch nichts zu rütteln.«

»Haben Sie ihn denn gesehen?«, fragte ich und spürte, wie mir die Verzweiflung fast den Atem raubte. »Wie können Sie denn sicher sein, dass es so ist, wenn Sie sich nicht einmal mehr an mich erinnern?«

Meine Augen füllten sich mit Tränen, die das Bild der Schwester verschwimmen ließen.

Sybille starrte mich an. Mir schien, als würde sie beim Anblick meines Gesichts die Erinnerung suchen, aber nicht finden.

»Sie haben doch sicher Akten über Ihre Patientinnen«, fuhr ich fort. »Vielleicht wäre es möglich … Wenn ich nur einmal hineinschauen könnte. Wenn ich sicher sein könnte, dass er … tot ist.«

Das Gesicht der Schwester verhärtete sich. Sie überlegte eine Weile, dann sagte sie: »Ich verstehe, dass Sie Schmerz empfinden. Vielen Frauen geht es so. Aber ich kann Ihnen keinen Zugang zu den Akten gewähren. Ich weiß nur, dass Ihr Sohn tot ist. Sein Grab befindet sich auf dem Cimetière de Montmartre. Dort werden alle Kinder begraben, die nicht lange genug gelebt haben.«

Ich starrte sie an. Warum war sie so unfreundlich? Ich hatte die Schwester ganz anders in Erinnerung. Damals war sie mir sehr verständnisvoll erschienen.

Ich räusperte mich. »Beschreiben Sie mir bitte, wo sich das Grab befindet.«

Schwester Sybille nannte mir die Parzelle und erklärte mir, wie ich am besten dorthin gelangte.

»Vergessen Sie diesen Brief«, setzte sie dann hinzu. »Egal, wer Ihnen diesen furchtbaren Streich gespielt hat, Sie dürfen darauf nichts geben, Ihr Sohn ist in dieser Klinik gestorben, wie es der Totenschein ja sicher auch beweist. Das tut mir leid, aber ich kann es nicht ändern.«

Ich nickte und schob das Schreiben zurück in meine Tasche. »Können Sie mir denn sagen, wo ich Mademoiselle DuBois finde?«

»Das weiß ich nicht«, gab sie schroff zurück, offensichtlich genervt, dass ich nicht bereit war, es einfach auf sich beruhen zu lassen. »Sie hat keine Adresse hinterlassen.«

Das bedauerte ich, denn Aline DuBois war einer der wenigen Menschen gewesen, die meinen Sohn lebendig gesehen hatten. Doch offenbar kam ich mit Schwester Sybille nicht weiter.

»Danke für Ihre Zeit«, sagte ich und verabschiedete mich.

Ich strebte gerade der Treppe zu, als ich im Augenwinkel etwas Weißes bemerkte. Als hätte es mir eine innere Stimme befohlen, blickte ich zur Seite und sah einen der Ärzte, der mit einer Patientenakte unter dem Arm den Gang entlangeilte.

Kein Zweifel, das war Dr. Marais, der Arzt, der mich entbunden hatte! Ich erkannte sein dunkles Haar und seine Haltung. Bevor mein Verstand die Chance, die sich mir bot, erkannte, setzten sich meine Beine bereits in Bewegung.

»Dr. Marais!«, rief ich und hob die Hand. »Bitte warten Sie einen Moment!«

Der Arzt hielt inne und wandte mir den Kopf zu, doch in seinem Blick lag keinerlei Erkennen.

»Dürfte ich Sie für einen Augenblick sprechen? Mein Name ist Sophia Krohn. Sie haben im August vor zwei Jahren meinen Sohn auf die Welt geholt, Louis.«

Dr. Marais wirkte, als müsste er ziemlich tief in seiner Erinnerung graben. Dann fragte er: »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?«

Ich zog den Brief hervor. »Vor einigen Wochen erhielt ich eine Nachricht, wegen der ich Sie gern sprechen würde.«

Der Arzt runzelte die Stirn. »Nun, dann sollten wir wohl besser in mein Büro gehen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?«

Dr. Marais führte mich einen langen Gang entlang, dann eine Treppe hinauf.

Der Schrei einer Frau ließ mich zusammenzucken. Dr. Marais erklärte: »Wir sind hier in der Nähe der Kreißsäle. Einer meiner Kollegen führt gerade eine Entbindung durch.«

Meine Kehle wurde trocken. Ich erinnerte mich noch gut an meine Zeit im Kreißsaal. Die Schmerzen und die Dunkelheit, die der Narkose folgte. Die Empfindungen waren so stark, dass mir der Schweiß ausbrach.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«, fragte Dr. Marais, als ich mich nicht von der Stelle bewegte.

»Doch, es geht schon wieder«, sagte ich, obwohl es nicht stimmte. Aber ich riss mich zusammen und kämpfte gegen das Zittern an, das sich meiner Glieder bemächtigen wollte.

Nachdem wir einen weiteren Korridor hinter uns gelassen hatten, waren die Schreie nicht mehr zu hören. Dr. Marais öffnete eine Tür und hieß mich, einzutreten.

Der Raum war recht klein, aber lichtdurchflutet. In den Regalen an den Wänden standen sauber aufgereihte Aktenordner. Außerdem entdeckte ich einige dicke medizinische Bücher. Neben einem der Fenster stand ein Skelett und grinste mich aus kahlem Schädel an. Ich wandte meinen Blick ab.

Ich musste Dr. Marais aus der Arbeit gerissen haben, denn auf der Tischplatte vor ihm lag eine aufgeschlagene Patientenakte. Diese klappte er rasch zu, als er hinter den Schreibtisch trat und Platz nahm.

»Setzen Sie sich doch, Madame«, sagte er und faltete die Hände auf dem Tisch. Eine Weile betrachtete er mich, dann atmete er tief durch.

»Ich erinnere mich an Sie«, sagte er dann. »Wir mussten einen Kaiserschnitt vornehmen, weil Ihre Fruchtblase geplatzt war.«

Dass er sich erinnerte, erleichterte mich ein wenig.

»Es war ein großer Schock für uns, dass Ihr Kind verstorben ist. Nachdem es die Geburt nur knapp überlebt hatte, waren wir hoffnungsvoll. Aber manchmal sind Gottes Wege unergründlich.«

Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte. Der Arzt wirkte so ehrlich und sympathisch. Wie konnte ich ihm vorwerfen, dass in seiner Abteilung etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen war?

Ich beschloss, mich diplomatisch zu verhalten. »Ich schätze sehr, was Sie für mich getan haben. Sie haben mein Leben gerettet.« Ich zog den Brief aus dem Umschlag und schob ihn über den Tisch. »Deshalb wende ich mich an Sie. Sie verstehen sicher, dass ich dieser Sache nachgehen muss.«

Während Dr. Marais die Zeilen überflog, vertiefte sich die zuvor kaum sichtbare Falte zwischen seinen Augenbrauen. Ich suchte nach Zeichen der Schuld in seiner Miene, doch außer einer leichten Blässe bemerkte ich nichts.

Schließlich lehnte er sich zurück und verschränkte die Arme.

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll«, begann er und blickte mich durchdringend an.

Ich spürte, wie sich mein Rücken versteifte. »Das wusste ich auch nicht. Sagen Sie mir, was ich davon halten soll.«

»Das ist ein Scherz, ein übler Scherz, nichts weiter.«

Ich atmete tief durch. »Wer soll sich diesen Scherz mit mir erlauben? Und aus welchem Grund?«, fragte ich. »Als ich nach Paris kam, kannte ich hier keine Menschenseele. Die einzigen Personen, mit denen ich näheren Kontakt hatte, waren meine Vermieterin und unsere Zimmernachbarin. Und natürlich meine Freundin. Für alle drei würde ich die Hand ins Feuer legen. Also, wer sollte sich diesen Scherz erlauben?«

»Jemand, der Geld von Ihnen will?« Dr. Marais wirkte noch immer ruhig, doch sein Blick wurde finster. Er schien im Geiste durchzuspielen, wie diese Nachricht seiner Station und auch ihm schaden könnte.

»Damals habe ich kaum einen Franc besessen. Die Rechnung für die Entbindung wurde vom Verlobten meiner Freundin beglichen. Dieser hat gewiss kein Interesse daran, dass ich hierher zurückkehre, nachdem er mich erfolgreich losgeworden ist.«

Marais schwieg. Sein Blick wurde bohrend.

Mir fiel es schwer, ein Zittern zu verbergen. Doch ich musste stark sein. Noch eine Gelegenheit, in diesem Hospital jemanden zu befragen, würde ich nicht bekommen.

»Und was soll Ihrer Meinung nach geschehen sein?«, sagte Dr. Marais schließlich. »Wollen Sie etwa andeuten, es habe … Unregelmäßigkeiten auf dieser Station gegeben?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Doch ich möchte Sie bitten, mich zu unterstützen. Ich weiß sonst nicht, an wen ich mich wenden soll …«

Eine ganze Weile schien er die Möglichkeiten gegeneinander abzuwägen.

»Hören Sie, ich möchte Ihnen davon abraten, diese Sache an die Öffentlichkeit zu bringen«, sagte er dann überraschend. »Dinge wie diese …«

»Könnten Sie in Verruf bringen?«, fiel ich ihm ins Wort. Ich konnte nicht glauben, dass er nur das Wohl der Klinik im Sinn hatte. Was war mit meinem Kind? »Nun, dann sollten Sie vielleicht daran interessiert sein, mir zu helfen.« Ich atmete tief durch. »Ich möchte Ihnen nichts unterstellen. Ich will nur Gewissheit. Wenn es ein Scherz war, wer steckt dahinter? Glauben Sie nicht, dass Sie das auch herausfinden wollten, wären Sie an meiner Stelle?«

»Sicher, aber …«

»Ich verlange nicht, dass Sie Detektiv spielen. Ich verlange nur, dass Sie ein Auge darauf haben, was auf Ihrer Station geschieht. Bevor noch ein Kind verschwindet oder für tot erklärt wird, obwohl es das gar nicht ist. Ich werde jedenfalls Nachforschungen anstellen, in jede Richtung. Darüber sollten Sie sich im Klaren sein.«

Dr. Marais mahlte mit den Kiefern. Schließlich fuhr er in die Höhe.

»Nun denn, tun Sie, was Sie nicht lassen können. Aber sollten Sie es wagen, die Klinik in Verruf zu bringen, ohne einen Beweis zu haben, werden Sie die Konsequenzen tragen müssen. Die Leitung wird sich nicht scheuen, Sie wegen Verleumdung vor Gericht zu bringen. Und jetzt guten Tag, Madame!«

Minutenlang schauten wir uns in die Augen. Wut wühlte in meinem Magen, und die Worte stauten sich in meiner Kehle. Am liebsten hätte ich sie ihm alle um die Ohren geschleudert, aber ich war mir darüber im Klaren, dass es nichts nützen würde.

»Dann werden Sie mir also nicht helfen?«, fragte ich ruhig.

Dr. Marais atmete schwer. Jetzt schien er derjenige zu sein, der sich nur schwerlich beherrschen konnte.

»Ich sehe nicht, inwiefern ich das könnte. Der Brief ist ein Hirngespinst. Und jetzt gehen Sie, ich habe zu tun!«

Die Worte trafen mich wie Ohrfeigen und sorgten dafür, dass ich mich für eine Weile nicht bewegen konnte. Irgendwann verließ ich das Büro des Arztes, doch alles ringsherum wirkte verschwommen. Ich konnte nicht einmal sagen, wann und wohin er verschwunden war.

5. Kapitel

Die Wolken über dem Cimetière de Montmartre schienen tiefer als anderswo in Paris zu hängen, aber zwischen ihnen zeigte sich kühles Blau. Der Wind raunte durch die Bäume und an den Gruften vorbei, doch ansonsten war es still. Ich trat durch das hohe Steintor und schaute mich um.

Ich war schon lange nicht mehr auf einem Friedhof gewesen. In Deutschland hatte ich bestenfalls am Totensonntag die Gräber meiner unbekannten Großeltern besucht. Bevor mein Sohn gestorben war, war ich nicht direkt mit dem Tod konfrontiert worden.

Damals hatte ich es nicht über mich gebracht, hierherzukommen. Zu übermächtig war der Schmerz gewesen, und zu sinnlos war es mir erschienen, denn mein Sohn würde dort kein eigenes Grab haben, sondern nur eines von vielen Kindern sein, denen es verwehrt geblieben war, ein Leben zu beginnen.

Doch jetzt wollte ich sehen, wo er lag – wenn er denn überhaupt hier war.

Der Sand knirschte unter meinen Stiefeletten, Schwester Sybille hatte mir den Weg beschrieben. Ich musste mich beeilen. Zu dieser Jahreszeit kam die Dunkelheit früh, und ich wollte mich nicht auf einem stockfinsteren Gottesacker verirren. Die in grauem und beigefarbenem Sandstein gehaltenen Gruften mit ihren traurigen Engeln wirkten nicht besonders einladend.

Wie mochte wohl das Grabmal für die Kinder aussehen? Hatten sie überhaupt eines?

Im Vorübergehen streifte mein Blick kleinere Grabsteine. Meist waren es einfache Leute, die unter einem Kreuz oder einer Steinplatte ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Bei einigen war eine Fotografie in den Stein eingelassen. An einem blieb ich stehen.

Das Grab gehörte zu einer jungen Frau namens Nicole Blanchard. Sie war seit acht Jahren tot, doch das Bild oberhalb ihres Namens wirkte, als wäre es erst vor Kurzem aufgenommen worden. Sie war knapp zwanzig, hatte schwarzes Haar und trug eine Brille. Möglicherweise bildete ich es mir ein, aber die Ähnlichkeit zu mir war frappierend. Woran mochte sie in so jungen Jahren gestorben sein?

Dann entdeckte ich unter ihrem Namen einen weiteren. Marie. Nur eine Jahreszahl stand dort, aber es war dieselbe wie bei Nicole.

War sie bei der Geburt gestorben? Oder im Wochenbett? War die Kaiserschnitt-Operation nicht so verlaufen, wie es sich die Ärzte gewünscht hatten?

Traurigkeit senkte sich schwer auf meine Brust. Die Frau war in einem ähnlichen Alter gewesen wie ich, als sie starb. Das Kind hatte es ebenfalls nicht überlebt.

Es hätte mir genauso ergehen können. Ich hätte sterben können. Wäre ich dann mit meinem Sohn begraben worden? Und wenn er überlebt hätte, was wäre dann aus ihm geworden?

Ich schüttelte den Gedanken ab. Es hatte eine Zeit gegeben, in der ich mir gewünscht hatte, an der Stelle meines Sohnes zu sein. Dass er hätte leben dürfen. Doch es war anders gekommen. Ich stand vor dem Grab dieser fremden Frau. Und auf mich wartete das Grab meines Kindes.

Stumm verabschiedete ich mich von der Unbekannten und setzte meinen Weg fort, vorbei an Statuen und Gruften. Die Namen, die an den Sockeln oder über den Türen eingemeißelt waren, sagten mir nichts.

Je weiter ich ging, desto größer wurde meine Beklommenheit. Doch es kam nicht infrage, jetzt kehrtzumachen.

Nach einer Weile erreichte ich ein fein ziseliertes eisernes Kreuz. Es stand mitten auf einer kleinen, mit weißen Kieseln ausgestreuten Fläche, auf der hier und da ein Blumenstrauß verwitterte. Namen waren nicht zu finden, nur ein Hinweis auf das Krankenhaus, in dem alle diese Kinder zur Welt gekommen waren, die unter den weißen Steinen ruhten.

Mein Herz wummerte in meiner Brust. Gleichzeitig fühlte es sich an, als würde jemand eine Klinge über meine Haut ziehen.

Wenn Louis wirklich hier war, wäre ich ihm so nahe wie nie. Wo mochten sie ihn bestattet haben? Die genaue Stelle war unter den Steinen nicht zu erkennen.

Ich presste die Hand auf den Mund. Tränen kullerten über meine Wangen auf die Steine. Ich hatte geglaubt, dass der Schmerz vergangen sei, doch jetzt meldete er sich zurück wie ein wildes Tier, dem es gelungen war, den Kerker, in den man es gesperrt hatte, zu sprengen.

Mit einem Klagelaut sank ich auf die Knie. Die Steine waren kalt, und eine Windböe zerrte an meinem Rücken. Ich hatte das Gefühl, zu fallen. Doch das tat ich nicht. Stattdessen weinte ich aus vollem Herzen und tränkte den Boden mit meinen Tränen.

Als ich mich wieder ein wenig beruhigt hatte, erhob ich mich und wischte mir trotzig übers Gesicht. Meine Haut brannte und meine Schläfen hämmerten. Der Schmerz pochte wild in meinem Bauch. Es war, als wäre die Narbe, die ich dort trug, wieder aufgerissen.

Doch es war nicht mehr nur Trauer, die ich fühlte. Es war Zorn, der in mir aufstieg. War Louis überhaupt hier? Und was, wenn nicht? Wenn man mich wirklich betrogen hatte?

Ich war Dr. Marais überaus dankbar für mein Leben, aber das Gespräch mit ihm erzeugte nun Wut in meiner Brust. Dass er meine Worte einfach so abgetan hatte … War es denn so unwahrscheinlich, dass ein Kind vertauscht oder von einer Station entführt wurde?

Kein Arzt hatte Überblick über seine gesamte Station. Auch keine Schwester. Es gab sicher Momente, in denen die Kinder allein waren und eine fremde Person sie aus ihren Betten heben konnte.

Ich wollte einfach nicht daran glauben, dass jemand sich hier einen Scherz mit mir erlaubte, auch wenn die mutmaßliche Wahrheit mir das Herz herausriss.

Ich würde zur Polizei gehen! Ich würde mir andere Hilfe holen. Wenn Dr. Marais wirklich nichts wusste, hatte er auch nichts zu befürchten. Und letztlich galt meine Sorge nicht ihm, sondern meinem Kind! Wenn er Schuld auf sich geladen hatte, musste er dafür geradestehen. Ich aber wollte meinen Sohn sehen! Ich wollte einfach nur wissen, ob es ihm gut ging.

Noch einmal blickte ich auf das Grabmal und versuchte, Louis nachzuspüren. Doch ich fühlte nichts.

»Ich werde dich finden«, murmelte ich leise und ballte die Fäuste. Dann wandte ich mich um und stapfte entschlossen in Richtung Tor. Es gab eine geringe Hoffnung, dass mein Sohn hier nicht begraben lag. Daran wollte ich mich festhalten.

Zurück in der Pension, fühlte ich mich ausgelaugt, als hätte ich einen anstrengenden Arbeitstag hinter mir. Die Luft war noch kälter geworden, und die Dunkelheit sorgte nicht gerade dafür, dass meine Gedanken heller wurden. Ich schritt durch den Torbogen, damit beschäftigt, den Schlüssel aus meiner Tasche zu ziehen.

»Na, sieh mal einer an, wer sich in dieses Rattenloch verirrt hat.«

Eine nur allzu bekannte Frauenstimme ließ mich aufblicken.

Meine ehemalige Zimmernachbarin Genevieve stand vor mir, in einem pflaumenfarbenen Mantel und mit einem pinken Topfhut auf dem Kopf. Aus ihrer Handtasche zog sie ein Schlüsselbund und lächelte mich breit an.

»Genevieve!« Ich ging zu ihr und schloss sie in meine Arme. »Wie schön, dich wiederzusehen!«

»Das Vergnügen ist ganz meinerseits. Was führt dich nach Paris, meine Liebe? Offenbar haben es alle versäumt, mir Bescheid zu sagen!«