Die flammende Welt - Genevieve Cogman - E-Book

Die flammende Welt E-Book

Genevieve Cogman

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Beschreibung

Irene Winters ist Agentin der unsichtbaren Bibliothek, in der es Zugänge zu den unterschiedlichsten Welten - und damit auch zu den seltensten Büchern - gibt. Als Bibliothekarin ist es ihr Job, diese Bücher zu beschaffen. Ihr neuester Auftrag führt sie in eine Welt, die Frankreich zu Revolutionszeiten ähnelt. Ein gefährlicher Ort, um Bücher zu stehlen. Besonders, wenn plötzlich der magische Rückweg in die Bibliothek versperrt ist. Was erst wie ein Zufall erscheint, stellt sich als heimtückischer Angriff heraus. Ein Angriff, der die ganze Bibliothek zerstören könnte ...

Ein Muss für alle Fans von Ben Aaronovitch und Kai Meyer

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Seitenzahl: 576

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INHALT

CoverÜber die AutorinTitelImpressumÖffentliche Warnungen an Reisende der BibliothekAktuelle WarnhinweiseWelt A-215: Status – Im KriegWelt A-594: Status – ChaosbefallWelt B-12: Status – MachtkonfliktWelt B-474: Status – Persönlicher RachefeldzugWelt G-133: Status – Polizeiliche ErmittlungenWelt G-522: Status – PortalausfallPrologErstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes KapitelAchtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelZwischenspiel – Vale und SilverFünfzehntes KapitelSechzehntes KapitelSiebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes KapitelFünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelDanksagung

ÜBER DIE AUTORIN

Genevieve Cogman hat sich schon in früher Jugend für Tolkien und Sherlock Holmes begeistert. Sie absolvierte ihren Master of Science (Statistik) und arbeitete bereits in diversen Berufen, die primär mit Datenverarbeitung zu tun hatten. Mit ihrem Debüt Die unsichtbare Bibliothek sorgte sie in der englischen Buchbranche für großes Aufsehen. Genevieve lebt im Norden Englands.

GENEVIEVE COGMAN

Aus dem Englischenvon André Taggeselle

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2016 by Genevieve Cogman

Titel der englischen Originalausgabe: »The Burning Page«

Originalverlag: Tor, an imprint of Pan Macmillan, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textreadaktion: Frank Weinreich, Bochum

Titelillustration © Bridgemanart.com: Guildhall Library; © shutterstock: Extezy | KUCO

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-2952-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

ÖFFENTLICHE WARNUNGEN AN REISENDE DER BIBLIOTHEK

Aktuelle Warnhinweise

Die folgenden Portale oder Durchgänge zwischen der Bibliothek und den Welten befinden sich bis auf weiteres nicht in Benutzung. Ausnahmen treten nur in Kraft, wenn der reisende Bibliothekar eine schriftliche Erlaubnis eines der leitenden Bibliothekare vorweisen kann.

· · ·

Welt A-215: Status – Im Krieg

Die Parallelwelt wird derzeit von einem globalen thermonuklearen Krieg verwüstet, in dessen Verlauf von beiden Seiten mehrmals Atomwaffen eingesetzt wurden. Im Interesse der persönlichen Sicherheit raten wir allen Bibliothekaren davon ab, diese Welt zu betreten – und zwar mindestens für die nächsten zwei Jahre. Für weitere Informationen nehmen Sie bitte Kontakt über das E-Mail-System der Bibliothek zu Vasilisa auf.

Welt A-594: Status – Chaosbefall

Welt B-12: Status – Machtkonflikt

Diese Parallelwelt ist bis auf weiteres Schauplatz eines Machtkonflikts zwischen den Drachen und den Elfen. Betreffende Informationen sind kaum verlässlich, fest steht jedoch, dass Vertreter beider Seiten versucht haben, das Osmanische Reich, das den Großteil dieser Welt beherrscht, unter ihre Kontrolle zu bringen. Um unsere Neutralität zu wahren, halten wir uns zum jetzigen Zeitpunkt aus dem Konflikt und aus der Welt heraus. Jeder, der schon einmal dort war und Informationen zur politischen Situation liefern kann (egal, wie alt diese sind), wird gebeten, mit Chandidas über das E-Mail-System der Bibliothek Kontakt aufzunehmen.

Welt B-474: Status – Persönlicher Rachefeldzug

Wir gratulieren Alastor herzlich, dass er das handgeschriebene, unveröffentlichte Manuskript der Fortsetzung von Frankenstein ergattert hat. Es stammt aus der Privatbibliothek des Elfen, der unter der Bezeichnung Oberster Richter bekannt ist. Leider hat der Oberste Richter dies zum Anlass genommen, etwas bekanntzugeben: Er nimmt sich vor, jeden Bibliothekar zu töten, der ihm in den nächsten fünf Jahren in die Quere kommt. Da der Diebstahl in B-474 stattfand, wird dem Bibliothekspersonal dringend geraten, sich bis auf weiteres von dieser Welt fernzuhalten. Alastor selbst verbleibt die nächsten fünf Jahre in der Bibliothek. Er stellt sich daher gerne allen Neulingen und Bibliothekarsgesellen zur Verfügung, die eine Unterweisung zum Thema Empfindliche Zielpersonen und die realistische Einschätzung von Gefahrensituationen wünschen.

Welt G-133: Status – Polizeiliche Ermittlungen

Der Durchgang zu dieser Welt ist wenigstens für die nächsten paar Monate nicht zu benutzen. Die Polizei des Deutsch-Französischen Reiches hegt im Moment ein zu großes Interesse an dem Ort, an dem sich das Portal befindet. Wir möchten an dieser Stelle zudem darauf hinweisen, dass die Bibliothek unter keinen Umständen für den Transport von Dinosauriereiern geeignet ist. Sollte ein Bibliothekar oder eine Bibliothekarin diese Regel missachten, ist sicherzustellen, dass dabei jegliches Aufsehen seitens der dortigen Behörden um jeden Preis vermieden wird. Wir möchten in diesem Zusammenhang außerdem daran erinnern, dass es unsere Aufgabe ist, Bücher zu sammeln, nicht Dinosaurier. Den Agenten, die Schwierigkeiten haben, beides auseinanderzuhalten, wird ein Auffrischungskurs in Grundlagen der Bibliothekslehre empfohlen.

Welt G-522: Status – Portalausfall

Dieser Zugang ist von seltsamen Begleiterscheinungen betroffen und hat sich bei Ekakes Versuch, ihn zu benutzen, als nicht funktionsfähig erwiesen. Wir suchen aktuell nach Gründen für die Störung. Bis dahin wird von einer Reise in diese Parallelwelt abgeraten. Ekake befindet sich derzeit in ärztlicher Behandlung in der Bibliothek. Weitere Auskünfte zur Lage können wir erst geben, wenn er wieder bei Bewusstsein ist und uns Genaueres sagen kann.

PROLOG

Absender: Peregrine Vale, 221b Baker Street

Empfänger: Inspektor Singh, New Scotland Yard

Singh,

um Himmels willen, können Sie mir nichts Anspruchsvolleres geben? London ist ein abgestandener Tümpel, seine Kriminellen sind unbedeutend, einfallslos und fad. Ich bin in den vergangenen Wochen vor Langeweile fast umgekommen. Da gibt es nichts, das meine Zeit oder meine Aufmerksamkeit auch nur im Geringsten wert wäre. Selbst meine eigenen Recherchen erscheinen mir als vergebliche Liebesmüh. Ich brauche einen richtigen Fall, der mich voll in Anspruch nimmt, sonst, so fürchte ich, wird die Maschine, die sich mein Gehirn nennt, außer Kontrolle geraten.

Als Antwort auf Ihre Fragen zum Mordfall Rotherham und dem vermuteten Spuk im Wasserwerk an der Themse lassen Sie mich sagen, dass ich annahm, es sei längst klar, dass da eine Verbindung besteht.

Es ist offenkundig, dass das Opfer zu den neuen Ultrafiltrations-Membranen im Themse-Pumphaus gelockt und dort ermordet wurde. Sein Leichnam wurde durch das System geschleust, um die Lunge mit Süßwasser zu füllen und damit die Vermutung zu stützen, dass er im Serpentine-See im Hyde Park ertränkt wurde, dem Fundort der Leiche. Sehen Sie sich die Konten von Rotherhams Nichte und ihre private Bibliothek an – ich bin sicher, dass Sie dort Hinweise auf ihre wissenschaftlichen Forschungen finden werden. Das Alibi, das der Ehemann der Nichte liefert, ist ebenfalls sehr dubios. Unter Druck wird er vermutlich bald zusammenbrechen.

Winters und Strongrock sind momentan außerhalb Londons auf Mission in einer ihrer Parallelwelten unterwegs. Wie mir Strongrock anvertraute, hat sich Winters offiziell Ärger eingehandelt, als sie ihren Posten verließ, um ihn zu retten. Der typische bürokratische Unsinn! Vielleicht hat sie mit der Art und Weise ihres Vorgehens nicht gerade ihre Arbeitgeber erfreut, aber die Ziele, die diese anstrebten, hat sie dennoch erfüllt. Wenn man mich fragt, es hätte schlimmer ausgehen können.

Geben Sie mir einen Fall, Singh. Das wird mich beschäftigen, und bei Gott, ich brauche Beschäftigung. Logisches Denken und Vernunft sind das einzige Mittel gegen meine augenblickliche Behäbigkeit, und sie ersparen mir Alternativen, die schlimmer sind.

Vale

ERSTES KAPITEL

Die Morgensonne glitzerte in den Fensterscheiben und spiegelte sich auf den Klingen der Guillotinen, die auf dem Hauptplatz standen. In der Gosse stritten sich gurrend die Tauben, hörbar nur, weil ringsum geradezu gespenstische Stille herrschte. Nur ein paar quietschende Kutschräder und das sanfte Tappen von Schritten störten das Schweigen.

Irene spürte, dass sich rings um sie und Kai ein Bereich erschrockenen Schweigens ausbreitete und dass die Passanten in der Nähe ihren Blicken auswichen, um nur nicht die Aufmerksamkeit der beiden zu erregen. Das lag natürlich an den ›geliehenen‹ Uniformen: Jeder hier lebte in Angst davor, eines Tages von der Nationalgarde wegen konterrevolutionärer Umtriebe verschleppt zu werden. Worauf der Kerker folgte, Gerichtsprozesse, und schließlich die Guillotine …

Die Uniformen waren die ideale Verkleidung, um sich unerkannt durch die Menge zu bewegen. Niemand riskierte einen zweiten Blick, wenn ihm die Nationalgarde gegenüberstand. Es konnte ja passieren, dass die Nationalgarde zurückblickte.

In zackigem Schritt bogen sie gemeinsam um die Straßenecke und folgten im Gleichschritt einem Weg, der sie außer Sichtweite der Guillotinen führte. Irene fühlte eine Erleichterung, die jeglicher Vernunft zuwiderlief, denn sie befanden sich immer noch in Gefahr. Aber wenigstens blieb ihr der Blick auf jenes Gerät erspart, das ihr möglicherweise den Kopf abhacken würde.

»Wie weit noch?«, knurrte Kai gedämpft aus dem Mundwinkel. Selbst in der schmucklosen Einheitskleidung der Nationalgarde schaffte es ihr Assistent, beinahe unwirklich gut auszusehen. Die Sonne schimmerte auf den schwarzen Haaren und verlieh seinem Gesicht den Widerschein reinster Gesundheit und Vitalität. Sein Gang glich eher dem eines Aristokraten oder eines Raubtiers als dem Schlurfen, mit dem ein gewöhnlicher Gardist seiner täglichen Verpflichtung nachging. Und leider gab es kaum etwas, was sie tun konnten, um das zu verbergen. Matschflecke wären bei einem Gardisten fehl am Platz gewesen, und eine Verkleidung als gemeiner Bürger, der gerade zum Verhör abgeführt wurde, war einfach zu riskant.

»Nächste Straße«, gab Irene in murmelndem Tonfall zurück. Zu ihrem zeitweiligen Bedauern wirkte sie neben Kai vergleichsweise unscheinbar, andererseits hatte sie es dadurch leichter, unbemerkt zu bleiben. Man musste schon etwas in den Anblick ihres schlichten braunen Haars und ihrer gewöhnlichen Gesichtszüge hineininterpretieren, um sie anziehend zu finden oder zumindest von einem Standpunkt aus attraktiv, der nicht bloß ›sauber und ordentlich‹ meinte. Da sie es die meiste Zeit darauf anlegte, unauffällig zu bleiben, stellte eine gewisse Unscheinbarkeit in ihrem Beruf aber auch einen eindeutigen Vorteil dar.

Sie konnten von Glück reden, dass in der Nationalgarde auch Frauen Dienst taten. So hatte sie weder ihre Brüste einschnüren noch zu sonstigen Maßnahmen greifen müssen, um sich einzufügen. Die Europäische Republik, die sich aus der Französischen Revolution dieser Parallelwelt entwickelt hatte, war unterdrückerisch, grausam, kompromisslos und hochgradig gefährlich, aber wenigstens erlaubte sie es Frauen, sich im Dienst für die Streitkräfte umbringen zu lassen. Sicher brauchte die Armee die zusätzlichen Leute aufgrund der Kriege, die hier beständig geführt wurden. Aber das war ein anderes Problem.

Sie bogen um die nächste Ecke, und Irene warf dem heruntergekommenen Gebäude, zu dem sie unterwegs waren, einen flüchtigen Blick zu. Man konnte es kaum mehr als vollständiges Bauwerk bezeichnen: Eine bröckelnde Klinkerfassade war von Efeu und zahlreichen Rissen bedeckt, die Rollläden fest geschlossen und mit Graffiti besprüht, dem Dach fehlten viele Ziegel. Sie gingen auf den Vordereingang zu, als hätten sie jedes Recht, hier zu sein. Kai schlug gegen die Tür, wartete auf eine Reaktion und trat sie schließlich auf. Gemeinsam stürmten sie hinein.

Kai spähte durch die Dunkelheit. Rings um die Rollläden drang Licht in Streifen herein, hell genug, dass Irene den heillosen Verfall erkennen konnte, der im Innern herrschte. Die Treppe, die hinauf in den ersten und zweiten Stock führte, sah gerade noch benutzbar aus, aber sämtliche Möbel fehlten, und die Wände waren bedeckt mit Propagandasprüchen der Revolution. Einst mochte das hier eine Bibliothek gewesen sein, jetzt war es wenig mehr als eine Scheune, die abgerissen gehörte. Selbst eine Herde vorbeitrampelnder Kühe hätte diese Ruine links liegengelassen, so ungemütlich war sie.

»Ich begreife nicht, wie es von hier noch eine Verbindung zur Bibliothek geben kann«, befand Kai.

»Das begreift keiner von uns. Aber solange wir zurück nach Hause kommen, soll es mir recht sein.« Irene schloss die Tür hinter sich mit einem Tritt. Ohne das durch den Eingang hereinfallende Licht wurde es gleich dunkler. »Manchmal dauert es Jahre, bis sich der Zugang zur Bibliothek in einer bestimmten Welt verschiebt. Ab und an sogar Jahrzehnte. Da die örtlichen Bibliotheken und Buchläden nun mal allesamt geschlossen wurden oder von Bewaffneten bewacht werden, ist das hier das Beste, was uns bleibt.«

»Wäre es sehr unangemessen, wenn ich sage, dass ich diese Parallelwelt nicht im Mindesten mag?«, erkundigte sich Kai. Er knöpfte seinen Mantel auf, griff hinein und beförderte das Buch zutage, für das sie gekommen waren. Er gab es Irene.

Sie nahm es, spürte, dass der Einband noch warm war von Kais Körper. »Absolut nicht. Mir gefällt sie genauso wenig.«

»Was meinst du, wie lange dauert es noch, bis du nicht mehr …«

Anscheinend suchte er einen Weg, das Thema anzusprechen, ohne es wie einen Angriff klingen zu lassen. Aber Irene ärgerte die ganze Situation selbst so sehr, dass sie nicht das Bedürfnis hatte, etwas zu beschönigen. »Bis ich endlich etwas anderes als diese miesen Aufträge bekomme, ja? Das weiß der Himmel. Schließlich bin ich offiziell auf Bewährung gesetzt. Und für die gibt es keine feste Zeitspanne.«

Sie fühlte sich gleich darauf schuldig, als sie sah, wie Kais Blick dem ihren auswich und seine Wangen rot anliefen. Rundheraus gesprochen war ihre Bewährungsstrafe seine Schuld. Sie hatte gegen ihre Pflicht als dauerhaft vor Ort ansässige Bibliothekarin in einer anderen Welt verstoßen, um ihn vor Verschleppung und Sklaverei zu retten – und dabei nebenher einen Krieg verhindert. Zweifellos konnte sie von Glück sagen, dass sie ihre Stellung in der Bibliothek überhaupt behalten hatte, aber mit solcherart Aufträgen zahlten sie nun eben den Preis, den sie zu zahlen hatten. Ihn daran zu erinnern war nicht fair. Und es half ihr auch kein bisschen, darüber nachzugrübeln. Denn das Grübeln führte zu energischer Wut und zu Fantasien à la Sie-werden-schon-noch-sehen-dass-sie-sich-geirrt-haben-und-sich-entschuldigen.

Beides keine große Hilfe.

»Lass uns verschwinden«, drängte sie. »Wenn die Wachen ihre Unterlagen prüfen, werden sie sehen, dass wir Betrüger sind, und uns hierher folgen.«

Kai spähte in die schattigen Winkel. »Ich glaube kaum, dass hier im Erdgeschoss noch irgendeine Tür heil geblieben ist. Muss es denn unbedingt eine intakte Tür mit Rahmen sein, um zurück in die Bibliothek zu gelangen?«

Irene nickte. Und er hatte Recht – dieser Ort war gründlich dem Erdboden gleichgemacht worden. Sie wünschte, dass sie ihn zu einer Zeit besucht hätte, als er noch ein Hort für Bücher gewesen war. Bevor die Revolution ihn zugrunde gerichtet hatte. »Ja, müssen wir. Das hier könnte gefährlich werden. Lass uns oben weitersuchen, schnell.«

»Ich zuerst«, bestimmte Kai, der die Treppe erreicht hatte, bevor sie Einspruch erheben konnte. »Ich bin schwerer als du. Also wirst du bedenkenlos auf jede Stufe treten können, die mich aushält.«

Hier und jetzt war keine Zeit, eine ihrer Könntest-du-bitte-aufhören-so-eine-Glucke-zu-sein-Auseinandersetzungen zu führen. Irene ließ ihm den Vortritt und folgte ihm vorsichtig die knarrenden Stufen hinauf. Sie setzte ihre Füße auf dieselben Stufen wie er und klammerte sich an das brüchige Geländer, um im Notfall zu verhindern, dass sie nach unten stürzte, sollte doch etwas nachgeben.

Oben angelangt, sahen sie, dass der erste Stock fast genauso verwüstet war wie das Erdgeschoss. Aber eine der vom Hauptflur abgehenden Türen hing noch lose in ihren Angeln. Irene holte erleichtert Luft, als sie das sah. »Das sollte genügen. Gib mir eine Minute.«

Sie konzentrierte sich auf ihre Fähigkeiten als vereidigte Bibliothekarin, streckte den Rücken und holte tief Atem. Dann trat sie vor, legte die Hand auf die Tür und drückte sie zu. »Öffne dich zur Bibliothek«, forderte sie in der Sprache. Die der Sprache innewohnende Kraft, die Realität neu zu formen, gehörte zu den größten Stärken, über die Bibliothekare verfügten. Gleich würden sie sich nicht mehr an diesem Ort befinden, sondern wieder in der interdimensionalen Büchersammlung sein, die ihr eigentlicher Arbeitsort war und deren unerschöpflichen Archiven sie nun ein weiteres Werk hinzufügen konnten.

Was dann passierte, hätte eindeutig nicht passieren dürfen, dennTür und Türrahmen gingen in Flammen auf. Irene stand verblüfft da, konnte es kaum glauben. Sie zog nicht einmal richtig die Hand vor der Hitze zurück, als in ihrem Kopf eine Aufwallung von Energie nachhallte, dem Getöse eines Verkehrsunfalls nicht unähnlich. Kai musste sie an den Schultern packen und zurückreißen, fort von den weiß lodernden Flammen. Das Feuer fraß sich auf unnatürlich schnelle Weise durch das Holz und breitete sich über die Wände aus.

»Feuer, geh aus!«, befahl Irene. Doch die Anweisung zeigte keine Wirkung. Normalerweise funktionierten die Sprache und die Welt ringsumher im reibungslosen Wechselspiel, wie Zahnräder, die exakt ineinanderpassen und sich im Gleichtakt drehen. Doch diesmal war es, als griffen die metaphorischen Zähne der Räder nicht richtig, als rutsche die Sprache an der Wirklichkeit ab. Die Flammen schlugen höher, und Irene wich vor ihnen zurück.

»Was ist passiert?«, rief Kai über das Prasseln des Feuers hinweg. »Eine Sprengfalle?«

Sie ordnete ihre Gedanken und riss sich zusammen. Dabei wich sie weiter vor den Flammen zurück. Eigentlich war der Einsatz der Sprache mit einem gewissen Energieverlust verbunden, doch was sie berührt hatte, fühlte sich eher an wie eine Stromleitung – ein Anstieg von Energie, der einen Gegenpol zu ihrer eigenen bildete und explodiert war, als sie versucht hatte, ihm ihre Kraft entgegenzuhalten. Zum Glück schien der resultierende Ausbruch nicht sie selbst getroffen zu haben, sondern allein die Tür, die den Rückweg in die Bibliothek hatte darstellen sollen. »Ich weiß es nicht«, rief sie Kai zu. »Schnell, wir müssen einen anderen Übergang finden, bevor hier alles in Flammen aufgeht!« Sie presste verzweifelt das Buch an ihre Brust. Wenn sie es verlor und es verbrannte … wer wusste, ob sie je ein weiteres Exemplar fänden?

Sie stolperten auf die Treppe zu, über die bereits Rauchwolken emporwaberten und durch die Ritzen der Rollläden nach draußen zogen. Diesmal war es Irene, die vorauslief, angetrieben vom Brausen des immer lauter werdenden Feuers. Sie hörte ein Krachen hinter sich, als eine der Stufen unter Kais Gewicht nachgab. Er knurrte, dass sie weitergehen sollte, und einen Augenblick darauf hörte sie erneut seine Schritte.

Sie taumelte über den Treppenabsatz des zweiten Stocks und sah sich um. Hier war alles genauso verwüstet wie im Erdgeschoss. Es gab keine Türen, nur leere Durchgänge und weggebrochene Wände. Es war heller, aber nur, weil im Dach über ihr ziemliche Löcher klafften. An Stellen, wo es hereingeregnet hatte, war der Boden fleckig und aufgequollen.

Vielleicht hättest du die Sprache etwas effizienter einsetzen und die Flammen löschen sollen, statt »Feuer!« zu schreien und panisch loszulaufen, wies die Kritikerin in ihrem Hinterkopf sie kalt zurecht. Es hätte vielleicht geklappt, wenn du dir ein bisschen mehr Mühe gegeben hättest. Und tritt bloß nicht auf die fleckigen Stellen am Boden!, setzte die Stimme giftig hinzu. Sie könnten morsch sein und nachgeben.

Kai schritt an ihr vorbei zu einem der verbarrikadierten Fenster und spähte durch den Spalt zwischen Fensterladen und Wand auf die Straße hinunter. Er erstarrte. Selbst im getrübten Licht konnte Irene die Anspannung an seiner Körperhaltung ablesen. »Schlechte Nachrichten, Irene.«

In Panik zu geraten war eine Verschwendung nützlicher Zeit und Energie, so verlockend es auch erscheinen mochte. Und das Feuer machte es gerade ziemlich verlockend. »Lass mich raten«, erwiderte Irene. »Die Nationalgarde ist uns gefolgt.«

»Ja«, bestätigte Kai. »Ich kann ein Dutzend von ihnen sehen. Sie haben den Rauch entdeckt.«

»Wahrscheinlich wäre es zu viel gewesen, zu erwarten, dass ihnen das entgeht.« Irene suchte nach einer Lösung. »Wenn ich das Feuer gelöscht kriege …«

»Möglich – es sei denn, es hat mit der Bibliothek oder mit Chaos zu tun«, gab Kai zu bedenken. »Das hat dich doch schon früher daran gehindert, die Sprache zu benutzen. Weißt du denn, wie es ausgebrochen ist?«

»Nein.« Irene gesellte sich zu ihm an den Fensterladen. Unten auf der Straße sah sie einen Trupp von mittlerweile etwa zwanzig Männern und Frauen, die das Haus wahrscheinlich nur aus dem Grund noch nicht betreten hatten, weil es in Flammen stand. Sie zwang sich, in bewusst ruhigem Ton zu sprechen, und ignorierte die Angst, die ihr den Magen zusammenzog. »Meine Güte, wir müssen die ja wirklich gereizt haben. Ich bin trotzdem überrascht, wie schnell sie uns gefunden haben.«

»Ich glaube, die da kenne ich.« Kai deutete auf eine Person aus der Gruppe der Soldaten. »War das nicht die, die du mit der Sprache dazu gebracht hast, zu glauben, dass wir aus Paris abgeordnet wurden?«

Irene kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, du hast Recht. Die Wirkung muss schneller als sonst nachgelassen haben. Ach ja …«

Innerlich wühlte sie das mehr auf, als sie zu zeigen wagte. Es lag nicht an der zwanzigköpfigen Truppe da draußen. Mit denen konnte sie umgehen. Nun ja, Kai und sie konnten das. Es lag vielmehr daran, dass der Übergang in die Bibliothek blockiert worden war, und zwar auf eine Weise, die ihr unbekannt war und die sie nicht einmal verstand. Da sie zurzeit auf Bewährung Dienst tat, bekam sie die Drecksarbeit und all die gefährlichen Sachen aufgehalst, zum Beispiel diesen netten kleinen Walzer durch die totalitäre Republik, bis hinein in gut gehütete Schatzkammern, um eine einzigartige Ausgabe von Alexandre Dumas’ Die Tochter des Porthos zu ergattern. Aber wenn es ein Problem mit dem Übergang von hier zurück in die Bibliothek gab, hätte man sie warnen müssen. Das war eine Frage der allgemeinen Sicherheit. Falls jemand sie wissentlich hierhergeschickt hatte, ohne ihr etwas zu sagen …

Nun, später war noch genug Zeit, sich darum zu kümmern. Augenblicklich saßen sie in einem brennenden Haus fest, mit wütenden Soldaten vor der Tür. Wie nicht anders zu erwarten gewesen war. »Also ab durch die Hintertür«, entschied sie. »Solange der erste Stock noch existiert.«

Hinter ihnen ertönte ein Krachen.

Kai sah sie ungerührt an. »Das war’s dann mit der Treppe.«

ZWEITES KAPITEL

»Stimmt.« Es ist schon verblüffend, wie sehr es den Geist schärft, wenn man von Flammen eingeschlossen ist. Nicht nur wie die erste Tasse Kaffee, die einen am Morgen auf Touren brachte, sondern so, als vergrößere eine Lupe all die fiesen kleinen Ängste, die in einem umherschwirren, und bündele sie zu einem Laserstrahl aus blankem Entsetzen. Irene hatte nie viel für Feuer übriggehabt. Im Gegenteil, die Vorstellung, dass ihre Bücher einem Brand zum Opfer fielen, war für sie der schlimmste Albtraum. In einem brennenden Gebäude eingeschlossen zu sein stand ganz oben auf der Liste der zehn schrecklichsten Todesarten, die sie sich auszumalen vermochte. »Wir zertrümmern die Rollläden, klettern raus und ergeben uns. Später flüchten wir.«

»Einfach so?«

Irene hob eine Augenbraue. »Hast du eine bessere Idee?«

»Ob du es glaubst oder nicht, ich habe tatsächlich eine.« Sein Tonfall schwankte zwischen Stolz und Trotz, aber er klang entschlossen. »Wir werden nicht hierher zurückkehren, also ist es egal, was die von uns mitbekommen. Ich ändere meine Gestalt und trage uns aus dieser Welt.«

Das war eine Überraschung. Irene hatte alles erwartet, aber nicht das. Kai hatte sich nie die Mühe gemacht, sein Drachenerbe vor ihr geheim zu halten – zumindest nicht, seit sie davon erfahren hatte –, aber er zog äußerst selten in Betracht, es auch wirklich zu nutzen. Sie hatte ihn auch noch nie in seiner reinen Drachengestalt gesehen. »Sie tragen Gewehre«, erinnerte sie ihn sachlich.

Kai schnaubte. Vielleicht lag es an dem Qualm.

Der zugegebenermaßen dichter wurde.

Gott sei Dank gab es hier keine Bücher mehr, die verbrennen konnten. Letztlich war Irene schließlich Bibliothekarin, und die Zerstörung egal welcher Bücher empfand sie als abscheulich.

»Gewehre machen mir nichts aus, wenn ich mich in der richtigen Gestalt befinde.«

Und was ist mit mir?, wollte Irene schon sagen, schaffte es jedoch, den Mund zu schließen, bevor die Worte herauspurzelten. Im Augenblick war der Plan ihre letzte Hoffnung. »Gut«, entschied sie. »Haben wir hier drinnen denn genügend Platz?«

»Draußen wäre es leichter«, gab Kai zu. Durch die Bodendielen zog mehr und mehr Rauch, das Dröhnen des Feuers unter ihnen schwoll an. »Aber es müsste gerade so reichen. Bitte stell dich dicht an die Wand dort drüben.«

Irene stopfte das Buch in ihren Mantel und stellte sich ans Fenster, den Rücken an die Wand gepresst, während Kai den Raum verließ und in die Mitte des Flurs trat. Sie fragte sich, ob die Verwandlung in einen Drachen voraussetzte, dass er sich dafür ausziehen musste, schalt sich jedoch gleich dafür, dass sie in dieser Notlage an so etwas dachte. Sie schaute aber auch nicht weg.

Kai blieb stehen und hob die Arme, sein Rückgrat wölbte sich, als er sich auf die Zehenspitzen stellte. Die Bewegung endete dort aber nicht. Die Luft im Raum veränderte sich, sie wurde dichter und auf eine Weise wirklich, die den Qualm beiseiteschob. Das Licht, das durch die Löcher im Dach hereinfiel, gewann an Tiefe und begann um ihn her zu glühen, als sich seine Gestalt veränderte. Es blendete Irene, und sie musste blinzeln und schließlich wegschauen, sosehr sie auch versuchte, sich nichts entgehen zu lassen.

Als sie wieder klar sehen konnte, stand Kai nicht länger als Mensch vor ihr.

Von all den Abbildungen in Irenes Büchern, auf denen Drachen zu sehen waren, ähnelte er am meisten den alten chinesischen Darstellungen. Er lag gekrümmt wie eine Schlange im Flur, der dunkelblaue Leib gewunden, die Flügel zu beiden Seiten an den Körper gefaltet. Wo das Licht ihn berührte, glänzten die Schuppen in der Farbe eines strahlenden dunklen Saphirs aus der Tiefsee, und das Muster auf seinem schuppigen Körper glich der Oberfläche eines Teichs, wenn der Wind darüberstreicht. Sie schätzte, dass sein Körper mindestens zehn Meter lang sein musste, sobald er sich ausstreckte, auch wenn das schwer zu sagen war, solange er sich zusammengerollt in dem Flur und in all dem Rauch befand. Seine Augen hatten eine rubinrote Farbe angenommen, erfüllt von einem Licht, das keine Sonne brauchte, um zu brennen, und als er das Maul aufriss, erkannte sie eine Vielzahl scharfer weißer Reißzähne.

»Irene?« Die Stimme klang volltönend, erinnerte an den Klang einer Orgel, aber es war immer noch Kais Stimme, nur dass sie jetzt bis in Irenes Knochen hinein dröhnte. Der Boden bebte unter ihr.

Sie fing sich. »Ja«, erwiderte sie. »Geht es dir … gut?« Eine törichte Frage, sicher, aber es war recht schwer, sich klarzuwerden, was man sagen sollte. Anstandsregeln im Umgang mit Bibliothekslehrlingen, die sich in Drachen verwandelt haben – noch ein Thema, das man im Großen Buch der Bibliotheksabläufe vergeblich sucht.

»Außerordentlich«, grollte er. »Dieser Ort kommt mir mehr als gelegen. Tritt ein wenig zurück, während ich das Dach einreiße.«

Nun, diese Welt lag eher auf der Seite der Gesetzmäßigkeit und Ordnung statt am chaotischen Ende des Universums. Das despotische Regime, das hier herrschte, war eine unglückliche Nebenwirkung dieses Umstands. Genau wie die Gardisten und Guillotinen. Dadurch erklärte sich auch, weshalb Kai keinerlei Probleme hatte, sich komplett in einen Drachen zu verwandeln. In einer chaotischeren Welt, wie die, die sie vorher – unfreiwilligerweise – besucht hatten, wäre er nicht einmal als Mensch bei vollem Bewusstsein gewesen, ganz zu schweigen davon, wie es ihm als Drache ergangen wäre.

Kai bäumte sich auf. Er spreizte seine Schwingen, bis sie die Wände berührten. Dann stemmte er den Rücken von unten gegen die marode Decke. Unter ihm knarrte der Boden, das Rumoren des unter Druck geratenden Dachs übertönte das jedoch. Ziegel lösten sich, fielen herab und zersprangen scheppernd, und durch den Staub und den dichter werdenden Qualm sah Irene, wie der restliche Putz abbröckelte und herunterkrachte. Die tragenden Balken des Dachstuhls bogen sich.

»Ist da oben jemand?«, erscholl ein Ruf auf Französisch von unten.

Der gewöhnliche Reflex eines Menschen wäre gewesen, »Nein!« zurückzurufen. Was so einiges über die Menschheit als solche aussagte, fand Irene. Aber in diesem Fall war sie zu beschäftigt damit, Kai zuzusehen und sich an die Wand in ihrem Rücken zu pressen, um der Zimmerdecke und dem Dach auszuweichen, die beide Stück für Stück einbrachen.

Das Krachen, mit dem der Boden allmählich nachgab, war ungleich lauter. Kai krümmte seinen riesigen Leib, wälzte sich herum, um zur Wand zu gelangen, und neigte seinen gewaltigen Kopf. »Irene, steig auf. Zwischen meine Schulterblätter – schnell!«

Es wäre unhöflich gewesen, dem Fahrer zu widersprechen, der den Wagen lenkte. Irene nahm ihr Gewehr von der Schulter, ließ es fallen und kletterte auf die nächstgelegene Stelle an Kais Rücken. Von dort arbeitete sie sich geduckt zwischen seine Schulterblätter vor. Es kam ihr wie Majestätsbeleidigung vor, so auf allen vieren auf dem Rücken eines Drachen herumzukraxeln. Seine Haut fühlte sich an wie warmer biegsamer Stahl, der sich unter ihren Fingern kräuselte. Sein Leib beugte sich, um Halt zu finden, und jetzt, da sich Irene auf ihm befand, konnte sie das Meer riechen. Sein Geruch war stärker als der von Staub, Moder und Flammen.

Ein weiteres Stück des Bodens brach ein. Flammen schlugen von unten herauf, schossen entlang eines plötzlichen Luftstoßes empor. Irene presste sich flach auf Kais Rücken, grub ihre Hände, so gut es ging, in seine Schuppen. Er war zu breit, um rittlings auf ihm zu sitzen, also klammerte sie sich an ihn und betete. »Los, los, los!« Ihre Schreie. »Flieg schon los!«

Kai schraubte sich mit windenden Bewegungen nach oben. Er jagte durch das gähnende Loch im Dach, sein Körper schrammte an den Rändern entlang, und sein Schweif peitschte hinter ihm durch die Luft, während er höher und höher stieg. Irene hielt sich krampfhaft fest. Sie presste die Wange gegen seine Haut und spürte, wie sich der Leib unter ihr in einer gewundenen S-Form schlängelte, die eigentlich unmöglich war – unmöglich gewesen wäre, wenn es sich um ein natürliches flugfähiges Wesen gehandelt hätte, das den Gesetzen der Physik unterworfen war.

Aber bei Kai handelte es sich um einen Drachen. Er schnitt durch die Luft, als würde er sich ohne Umstände von A nach B bewegen, wie die Zeichnung auf einem chinesischen Rollbild. Und während seine blauen Schwingen sich in kräftigen Schlägen wölbten, als fingen sie den Wind ein, flog er gegen die Windrichtung. Irene hörte Rufe und Schreie unter sich, das trockene Knallen von Gewehrfeuer, doch Kais Flug geriet nicht einmal ins Straucheln, während er weiter emporstieg, bis die Stadt unter ihnen ausgebreitet lag wie ein Luftbild und das brennende Haus nur noch als ferner orangener Fleck schimmerte.

»Irene?« Er hielt den Kopf weiter geradeaus gerichtet. Seine Flugbahn änderte sich mühelos, und er beschrieb eine weite, schwebende Kurve. »Wenn ich einen Augenblick stillhalte, meinst du, du könntest näher an meine Schultern heranrücken? Da ist es sicherer für dich, wenn wir zwischen den Welten wechseln.«

»Einen Moment«, erwiderte Irene durch zusammengebissene Zähne. Besser, sie hielt den Blick auf Kais Rücken gerichtet, statt nach unten in die Tiefe zu schauen.

Ja, das half. Höhen waren nicht gerade ihre Spezialität, selbst wenn sie in Topform war. Und auf dem Rücken eines Drachen in mehreren hundert Metern über dem Boden ließ sich kaum ignorieren, wie schwindelerregend hoch sie tatsächlich flogen. Da war es schon beruhigend zu wissen, dass der Wind nicht ganz so heftig an ihr zerrte, wie sie erwartet hatte. Irgendetwas schwächte den Luftzug ab, der ihr entgegenschlug, trotz des Tempos und der Windrichtung – auch Kai musste diesen verringerten Luftwiderstand spüren, schätzte sie. Wahrscheinlich lag es an diesem ganzen magischen Vorgang eines Drachenfluges. Sie setzte diese Kleinigkeit auf die Liste mit Fragen für später und arbeitete sich über Kais Rücken bis zwischen seine Flügel vor.

»Du kannst gern aufrecht sitzen.«

Irene hörte die Belustigung in seiner Stimme. »Ganz bestimmt nicht«, gab sie zurück. Bis zum Erdboden war es ein langer Weg.

»Es ist sicher. Wir haben außer dir schon ganz andere Leute hinübergetragen, Irene. Gelehrte, Fremde, Lieblingsmenschen … Vertrau mir. Ich lasse dich nicht fallen.«

Es geht nicht darum, ob ich dir traue oder nicht. Es geht darum, dass ich nicht weiß, wie ich meine erstarrten und verkrampften Hände dazu bringen soll, dich loszulassen. Einen Finger nach dem anderen, löste sie ihren Griff von seinem Schuppenkleid und setzte sich behutsam auf. Kais Schultern waren so breit, dass sie unmöglich rittlings auf ihm sitzen konnte, also nahm sie eine Art Damenreitsitz ein und hielt sich zaghaft an ein paar Strähnen seiner Mähne fest, die bis zu ihr nach hinten wehten. Letzteres reichte nicht aus, dass sie sich sicher wähnte, aber es gab ihr zumindest ein besseres Gefühl, dass sie irgendetwas hatte, um sich daranfestzuhalten. »Und jetzt?«, erkundigte sie sich.

»Jetzt fliege ich zurück in Vales Welt.« Kai straffte seine Flügel und reckte sie zu voller Spannweite. Sonnenlicht glitzerte auf ihnen wie auf dem Wellenschlag eines Gewässers. »Ich kenne ihren Standort unter all den Welten, und wenn ich wollte, könnte ich sogar zu Vale persönlich fliegen. Das würde ihm aber vermutlich nicht sehr gefallen«, setzte er plötzlich ohne die anfängliche Förmlichkeit hinzu. »Wohin wollen wir also?«

»Die Britische Staatsbibliothek«, bestimmte Irene. »Du kannst auf dem Dach landen und dich zurückverwandeln, während ich mich um die Wachleute kümmere. Von dort aus können wir den Übergang zur Bibliothek erreichen.«

»Das klingt vernünftig.« Kai zögerte. Eine Geste, die eher zu einem Menschen als zu einem Drachen passte. »Irene, was ist da eben passiert?«

»Ich kann es dir nicht sagen.« Unwissenheit zuzugeben war leicht. Echte Besorgnis trat erst auf, wenn man anfing zu spekulieren. »Falls etwas mit dem Zugang zu dieser Welt nicht stimmt, bin ich davor nicht gewarnt worden. Aber wenn das ein neues Problem ist, muss ich es unbedingt weitergeben. Dringend. Ich habe noch nie gehört, dass so etwas passiert ist, und es könnten andere Bibliothekare in Gefahr sein.« Sie verstärkte ihren Griff. »Bring uns nach Hause, Kai. Bevor die Menschen hier ein Raketenschiff erfinden, um uns nachzujagen.«

Kai lachte donnernd, und sie fühlte das Beben seines Körpers unter sich. Ich bin ja froh, dass wenigstens einer von uns seinen Spaß hat.

Da tauchte er nach unten. Er sank hinab, sein Körper wand sich durch die Luft, ohne sie auch nur durchzuschütteln. Sie saß so sicher wie am Schreibtisch ihres Dienstzimmers. Der Wind traf sie nur geringfügig, wirbelte ihr die Haare durchs Gesicht, und doch nahmen sie Geschwindigkeit auf. Schon bald flogen sie so schnell, dass die Luft ringsum fauchte, während sie hindurchschnitten.

Der Himmel vor ihnen öffnete sich, leuchtend, flirrend. Ein Riss in der Wirklichkeit. Der brausende Wind klang wie die zahllosen Stimmen eines Chors, dessen Worte nicht zu verstehen, deren Klang jedoch eindeutig unheilvoll war und auf Gefahr hinwies. Irenes Magen hob sich unter der Aufwallung unterdrückter Panik. Bisher war sie immer diejenige gewesen, die den Übergang von einer Welt in die andere gelenkt hatte. Natürlich vertraute sie Kai. Natürlich wusste sie, dass er es schaffte, wenn er sagte, er schaffe etwas. Und natürlich würde sie niemals zugeben, dass sie Angst hatte, doch das kalte Grauen vor dem Unbekannten warf einen Schatten auf ihr Herz. Die Neugier hielt ihre Augen offen. Schließlich hatte sie so etwas wie das hier noch nie getan …

Kai sauste geradewegs in den Riss.

DRITTES KAPITEL

Sie drangen in eine schwere Atmosphäre ein, die sich dick wie Sirup um sie legte. Irene konnte zwar noch atmen, und die Panik der ersten Sekunden war schnell verflogen, doch die Luft floss um sie herum wie Wasser, während ihre Haare ihr um das Gesicht waberten, als tauche sie jemand unter. Es gab keine Sonne, keinen Mond, keine Sterne noch sonst eine erkennbare Lichtquelle. Sie konnte sich selbst erkennen, und Kai, im trüben Widerschein einer Morgendämmerung.

Sie glitten durch ein Meer aus Luft, welches in tausend Blau- und Grüntönen schillerte. Es waren weder ein Ende noch ein Anfang in Sicht, auch keine klar umrissenen Formen oder Objekte, außer ihnen selbst. Das Einzige, was Irene unterscheiden konnte, waren Schattierungen und Temperaturströme, die die ganze Zeit durch die Luft waberten. Unermessliche Tunnel aus Rauch. Flüsse, die ins Meer mündeten. Und Kai konnte vielleicht sogar noch mehr davon wahrnehmen als sie.

»Wo sind wir?«, rief sie.

»Auf der anderen Seite«, erklärte Kai. Ohne sein Tempo zu drosseln, glitt er durch den wässrigen Luftstrom. »Außerhalb. Unterwegs.«

»Kannst du es nicht erklären? Oder darfst du es nicht?«, wollte Irene wissen. Beides hätte Sinn ergeben.

»Mehr Ersteres als Letzteres.« Er flog eine langgezogene, sanfte Kurve. »Ich suche den Fluss, der in Vales Welt führt. Ich kann es genauso wenig erklären, wie du jemandem, der nicht das Siegel der Bibliothek trägt, die Sprache erklären kannst.«

»Das verstehe ich.« Sie tätschelte ihm den Rücken und hoffte, dass Drachen dieses Verhalten bei ihren Fluggästen nicht als störend empfanden. »Du bekommst wegen dieser Sache doch nicht etwa Probleme mit deiner Verwandtschaft, oder doch?«

»Weil ich dich beschütze? Wohl kaum. Sie versuchen immer noch zu entscheiden, wie sie dich für dein vorbildliches Verhalten am besten belohnen können.«

Kai klang selbstzufrieden, aber Irene beurteilte die Sache nicht ganz so rosig wie er. Sicher, sie hatte geholfen, ihn zu retten. Aber um seinen Entführern auf die Schliche zu kommen, hatte sie ihren Posten als vor Ort ansässige Bibliothekarin unerlaubt aufgegeben und dabei eine Vielzahl von Elfen aufgestachelt. Das verbesserte vielleicht ihr Ansehen unter den Drachen – zumindest, was Kais Familie anging, die unter den Drachen immerhin als Könige galten –, aber es hatte ihr eben auch die Bewährungsstrafe im Bibliotheksdienst eingebracht. Sie konnte von Glück reden, dass sie nicht gefeuert worden war. Ob fair oder unfair, dies zu erörtern hatte kaum Sinn und würde sie, falls sie es dennoch ansprach, höchstens als Unruhestifterin brandmarken. Irene wusste nicht recht, ob sie ihr Ansehen unter den Drachen tatsächlich auf Kosten der Bibliothek aufbessern wollte. Als Bibliothekarin war sie ihrem Amt verschworen. Das stand an oberster Stelle.

»Da fällt mir ein«, fuhr Kai etwas zu beiläufig fort, »hast du über Li Mings Vorschlag nachgedacht?«

»Kai.« Sie musste tief Luft holen, ehe sie weitersprechen konnte. Er brachte diese Sache nun schon zum dritten Mal innerhalb der letzten drei Tage zur Sprache. »Ich weiß es ja zu schätzen, dass du deinen Onkel nicht darum gebeten hast, Li Ming in Vales Welt zu bringen. Und ich weiß es auch zu schätzen, dass Li Ming so zuvorkommend ist, dir und deiner Familie Unterkunft zu gewähren. Aber ich kann unmöglich bei euch einziehen und mich unter seinen Schutz begeben. Das ist keine Frage des Wollens – ich kann einfach nicht.«

»Du begibst dich nicht unter seinen Schutz«, empörte sich Kai, »sondern unter meinen!« Anscheinend merkte er, dass er einen Fehler gemacht hatte. »Davon abgesehen geht es ja eigentlich gar nicht um Schutz. Er will dir finanziell etwas unter die Arme greifen. Du würdest natürlich weiterhin deinen Pflichten als vor Ort ansässige Bibliothekarin nachgehen.«

»Nein«, bekannte Irene. Sie betrachtete die nicht enden wollenden bunten Ströme und Farbmuster um sie herum. Der Anblick genügte, dass sich jeder gemessen daran als unbedeutend vorkommen musste. Drachen hingegen schienen dagegen immun zu sein, was wohl eine Menge über Drachen und deren gesteigerte Vorstellung von der eigenen Wichtigkeit aussagte. »Ich kann den Interessen der Bibliothek nicht zuwiderhandeln, indem ich in eine Unterkunft ziehe, die von einem Bediensteten deines Onkels bezahlt wird.«

So lautete die diplomatische Art, es zu sagen. Die Bibliothek blieb neutral und ließ sich weder mit den Drachen noch mit den Elfen ein, es sei denn, es kam zu einem direkten Interessenkonflikt – üblicherweise, wenn der Besitz eines bestimmten Buchs strittig war oder im Falle eines dringenden Notfalls, in dem es um Leben und Tod ging. Aber ganz sicher schloss sie sich nicht offiziell einer von beiden Seiten an. Für eine Bibliothekarin wäre es mehr als unangebracht, in finanzieller Abhängigkeit eines Königs der Drachen zu leben.

Irenes eigentliche Reaktion fiel da schon etwas gefühlsmäßiger aus. Sie hatte nichts gegen Li Ming persönlich. Er war stets zuvorkommend und diplomatisch. Und auch wenn es ihm in erster Linie darum ging, auf Kai aufzupassen, folgte er dieser Aufgabe doch äußerst diskret und hinderte den jungen Drachen nicht daran, sie bei Aufträgen wie diesem zu begleiten. Doch Irene war fest davon überzeugt, dass Li Ming langfristig dafür sorgen wollte, Kai von der Bibliothek wegzuholen, damit er wieder seine alte Rolle als Drachenprinzling übernahm. Irene sollte dabei entweder die bevorzugte Dienerin sein oder sich tunlichst ganz heraushalten. Was ihr auch lieb war. Aber letztendlich musste Kai diese Entscheidung für sich treffen.

Er schwieg zehn volle Minuten lang. Wahrscheinlich überdachte er seine Strategie. »Was, wenn ich bezahle?«, schlug er vor.

»Mit dem Geld, das Li Ming dir gibt? Entschuldige, aber das reimt sich nicht.«

»Du bauschst das Ganze zu einer Riesensache auf.« Er flog in einer sanften Kurve nach unten. Die Anziehungskraft, die hier herrschte, war stark genug, damit sie es als ›nach unten‹ und nicht als ›nach oben‹ wahrnehmen konnte, und dafür war Irene dankbar. Sie hatte schließlich schon genug Schwierigkeiten, das, was sie sah, mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen. »Ich will dir bloß helfen. Genau wie mein Onkel. Er betrachtet dich als eine Gefährtin für mich. Warum kannst du das nicht verstehen?«

»Als deine Freundin bin ich dankbar.« Er hätte es wohl als Schlag ins Gesicht empfunden, wenn sie sagte: Ich brauche deine Hilfenicht. Oder: Letztes Mal war ich diejenige, die dir geholfen hat. Außerdem hatte Kai gerade eben sie gerettet, vor weniger als einer Stunde. »Aber als Bibliothekarin kann ich es nicht annehmen. Nicht auf diese Art.«

Kai grollte, und Irene fühlte, wie sein Körper der Länge nach vibrierte. »Du machst es nicht einfacher!«

»Ich fürchte, dem ist so. Hast du mit Vale darüber gesprochen?«

Die Grabesstille, die folgte, sprach Bände. Vale war vieles: In der Parallelwelt, in der sie lebten, war er Londons größter Detektiv. Er war Kais guter Freund und – so glaubte Irene – ihr selbst auch zugeneigt. Außerdem wies er verblüffende Ähnlichkeit zu einem gewissen anderen Meisterdetektiv aus dem Reich der Literatur auf, das aber brachte Irene vor ihm nicht gern zur Sprache.

»War das ein ›Ja, und er hat nein gesagt‹?«, bohrte Irene nach. »Oder ein einfaches ›Nein‹?«

»Seit wann interessierst du dich so für meine Angelegenheiten?«, grollte Kai, der dröhnende Ärger in seiner Stimme kaum zu überhören.

»Er ist auch mein Freund«, erklärte Irene.

Kai schwieg einen Moment. Irene gratulierte sich schon dafür, endlich etwas gefunden zu haben, mit dem sie dieses Gespräch beenden konnte, als er sagte: »Weißt du, es macht mir überhaupt nichts aus, wenn du etwas mit Vale anfängst.«

»Wie aufgeschlossen von dir«, murrte Irene.

»Natürlich würde es nichts an unserer Freundschaft ändern«, fuhr Kai unverblümt fort. »Genauso, wie es nichts daran ändern würde, wenn du eine solche Beziehung zu mir aufbaust. Ich weiß, du fändest es nicht angemessen für eine Lehrerin und ihren Schüler. Aber unter meinesgleichen gilt das nicht als ungewöhnlich. Falls du darüber hinaus einige Hinweise benötigst, wie du am besten an Vale herantreten solltest …«

»Kai«, presste Irene zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Können wir bitte das Thema wechseln?«

»Wir sind ohnehin gleich da.« Die blau-grüne Luft um sie herum nahm eine noch tiefere Färbung an, und in Irenes Lungen wurde sie so dicht, dass ihr das Atmen langsam schwerfiel. »Festhalten.«

Irene schlang die Finger fester in die Zotteln seiner Mähne. »Wo werden wir herauskommen?«

»Na dort, wo ich es möchte.« Kai schien überrascht, dass sie überhaupt fragte. »Aber ich werde für ausreichend Höhe sorgen, damit wir uns keine Gedanken über Zeppeline machen müssen.«

»Kluge Idee«, schloss Irene zaghaft. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Sie war es nicht gewohnt, in den Dimensionen von Flugverkehr zu denken. Stattdessen dachte sie über den anhaltenden Konflikt zwischen Elfen und Drachen nach. Diese Möglichkeit, exakt bestimmen zu können, wo man in die Parallelwelt eintrat, bedeutete doch, dass die Drachen überall auftauchen konnten, wo sie wollten – wäre da nicht der Umstand, dass Welten mit einer hohen Chaosstufe sich so negativ auf sie auswirkten. Kai war die meiste Zeit, die sie in dem hochchaotischen Venedig verbracht hatten, halb bewusstlos gewesen, und so wie sie ihn verstanden hatte, wäre sein Zustand noch einmal deutlich dramatischer ausgefallen, hätte er sich in Drachengestalt dort aufgehalten. Wenn mächtige Elfen es sich in den Kopf setzten, Welten höherer Ordnung zu besuchen, ging es ihnen vermutlich ähnlich. Das erklärte auch, warum ein Großteil der Kämpfe in den mittleren Bereichen stattfand, in Welten, die auf der Skala irgendwo zwischen den beiden Gegensätzen angesiedelt waren.

Kai nahm die Flügel eng an den Körper und zog den Kopf und die Schultern ein, als rüste er sich gegen eine herankommende Flut. Doch bevor Irene ernstzunehmende Panik bekam, stieß er sein Brüllen hervor. Es hallte durch den leeren Raum wie in einer Echokammer. Der Schall zerschmetterte die Luft, und ein Riss öffnete sich vor ihnen, sandte Licht in alle Richtungen, als Kai auch schon hindurchjagte.

Sie tauchten über den Wolken auf. Der Weg in Richtung Boden war lang und bitterkalt. Unverständlicherweise spürte Irene viel größere Angst vor einem Absturz aus dieser Höhe als vorher, in der Bresche zwischen den Welten, wo sich ein solcher Fall möglicherweise bis in alle Unendlichkeit fortgesetzt hätte. Sie drückte sich eng an Kais Rücken. Vielleicht war ich mir dort sicher, dass er mich auffangen würde, während ich hier … Gut möglich, dass ich vor ihm unten bin.

Kai schwebte erdwärts. Wie zuvor machten die Geschwindigkeit und der Wind Irene kaum mehr aus, als dass ihre Haare durcheinandergewirbelt wurden. So genoss sie schließlich doch den Anblick der nahenden Wolken und des staubglühenden Himmels. Typisches Wetter in dieser Welt, jedenfalls typisch für London. »Kannst du in jede Welt überwechseln?«, fragte sie.

»In jedwede Welt, die ich kenne. Oder zu jeder Person, die ich kenne.« Kai hörte sich wieder selbstgefällig an. Keine große Überraschung. Irenes Art, mithilfe der Bibliothek zu reisen, gestaltete sich als recht speziell und war begrenzt. »Ich könnte dich finden, wo auch immer du dich im Moment aufhältst.«

»Sogar in der Bibliothek?«

Eine Pause. »Ähm, nein. An die Bibliothek komme ich nicht heran. Keiner meiner Artgenossen vermag das. Sie ist von unserer herkömmlichen Art des Reisens ausgenommen. Der einzige Weg für mich, dorthin zu gelangen, ist mit der Hilfe von jemandem aus der Bibliothek. Deiner zum Beispiel.«

Ah so, das erklärt natürlich, weshalb die Drachen noch nicht die Macht über uns erlangt haben. Obwohl das natürlich rein zu unserem eigenen Besten wäre, versteht sich. Irene gab eine Reihe beschwichtigender Laute von sich, um Zustimmung zu signalisieren, während sie sich heimlich fragte, woran es wohl lag, dass den Drachen der Zugang zur Bibliothek verwehrt blieb, und ob sie verflixt noch mal irgendeine Chance hatte, es herauszufinden, während sie die Ausbilderin eines Drachenlehrlings spielte. Ihre Vorgesetzten konnten ziemlich paranoid sein. Gut möglich, dass ihr solches Wissen ein paar dringend benötigte Sympathiepunkte einbrächte.

Kai schlängelte sich durch die Luft. »Bist du bereit für den Sinkflug?«

Es wäre schön gewesen, noch etwas länger hier oben über den Wolken zu sitzen und den Plausch über Metaphysik, Drachen und andere spannende Themen fortzusetzen, aber es stand zu viel auf ihrem Plan. »Los geht’s«, sagte Irene.

Sie rasten in halsbrecherischer Geschwindigkeit abwärts, durchschnitten die Wolken, Nebelbänder trudelten ihnen hinterher. Auf einem natürlichen Flug hätte Irene dieses Tempo mehr als zugesetzt – soweit man jeglichen Ritt auf dem Rücken eines fabelhaften überirdischen Pseudo-Reptils als unnatürlich bezeichnen wollte. Mit dem technischen Teil ihres Hirns, der nicht andauernd damit beschäftigt war, zu denken Großer Gott, bitte mach langsamer, begriff sie, dass Kai wahrscheinlich aus dem Grund so schnell flog, dass sie von unten nicht so leicht gesehen werden konnten. Ein Drache zog sogar in London Aufmerksamkeit auf sich und ließe sich wohl kaum mit einem Luftschiff verwechseln.

Dort sah sie die Britische Staatsbibliothek und die gläserne Pyramide obenauf. Ein kleiner Zeppelin schwebte an einem Kabel, das mit dem Dach verbunden war. Das Schiff war gefechtsbereit, und Kai musste den Kurs ändern, um ihm auszuweichen. Zwei Wachleute hatten seinen Anflug bemerkt und kamen angerannt, die Hände auf ihren Schlagstöcken.

Pluspunkte für Pflichtbereitschaft, aber eine Menge Minuspunkte für mangelnde Intelligenz, wenn sie auf einen Drachen im Sturzflug zulaufen, anstatt vor ihm wegzurennen. Irene wartete, bis Kai auf dem Dach gelandet war, und glitt schließlich von seinem Rücken. Im Idealfall wäre sie auf die Wachen zugegangen, aber aus irgendeinem Grund gehorchten ihre Beine nicht. Sie stützte sich gegen Kai. »Guten Abend«, grüßte sie und versuchte es charmant klingen zu lassen.

Die Wachmänner starrten sie an. Zugegeben, die Uniform einer Nationalgardistin, ihre wild zerstrubbelten Haare und der Umstand, dass sie dezent geräuchert (um nicht zu sagen ausgesprochen rußgeschwärzt) aussah, ließ ihre Erscheinung nicht gerade vertrauenswürdig wirken. Zeit für Plan B.

Sie stieß sich von Kai ab, straffte die Schultern und atmete tief ein. Hinter ihr flackerte Licht. Das war ganz sicher Kai, der sich in einen Menschen zurückverwandelte. Prima, dann hatte sie es leichter, es in Worte zu fassen. »Ihr seht, dass ich und die Person hinter mir gewöhnliche und unbedeutende Leute sind, die das Recht haben, sich auf diesem Dach aufzuhalten, aber weder die Zeit noch die Mühe wert sind, euch mit ihnen zu beschäftigen.«

Die Sprache dafür einzusetzen, jemandes Wahrnehmung zu beeinflussen, war kräftezehrend. Sie taumelte, als sie spürte, wie ihre Energiereserven schwanden. Doch es funktionierte. Die Wachen setzten die ratlosen Gesichter von Leuten auf, die sich vergeblich zu erinnern versuchten, was denn da gerade noch so wichtig gewesen war. Einer von ihnen winkte Kai und sie zu der Tür, die ins Hauptgebäude führte, und murmelte: »Einen angenehmen Aufenthalt in der Britischen Staatsbibliothek.«

Fraglos bestand das Problem eines derartigen Einsatzes der Sprache darin, dass die Wirkung jeden Moment nachlassen konnte. Die Täuschung war nur bis zu einem gewissen Punkt von Nutzen. Das wusste Kai so gut wie Irene. Sobald sie drin waren, übernahm er die Führung und folgte raschen Schrittes dem von Büchern gesäumten Archivkorridor. Sie hielten nicht eher an, bis sie mehrere Biegungen hinter sich gebracht hatten.

»Willst du von einem dieser Zimmer aus ein direktes Portal zur Bibliothek öffnen«, fragte er, »oder gehen wir nach unten und benutzen den offiziellen Durchgang?«

Irene strich sich mit den Händen über die Frisur und verzog das Gesicht, als sie sah, wie viel Asche dabei zu Boden fiel. »Ich glaube, wir sollten den dauerhaften Übergang benutzen«, erklärte sie. »Mir ist klar, dass wir auf dem Weg nach unten möglicherweise einigen Leuten begegnen könnten, aber so wissen wir wenigstens genau, wo wir in der Bibliothek herauskommen werden. Außerdem habe ich nach dem letzten Mal ein paar Mäntel im Nebenraum verstaut. Damit lässt sich unser Aufzug ein bisschen verschönern, bis wir zurück in unseren Unterkünften sind und diese Uniformen loswerden können.«

»Oder wir ziehen uns einfach in der Bibliothek um«, schlug Kai vor. Er hatte einen viel erleseneren Geschmack für Kleidung als Irene und stellte ihn auch gern zur Schau.

»Zeit«, mahnte Irene. »Ich möchte so schnell wie möglich hierher zurückkehren. Wir können gern die Post aus der Bibliothek holen, aber alles Weitere …« Sie zuckte mit den Schultern. »Wir waren fast zwei Wochen lang weg. Als vor Ort ansässige Bibliothekarin ist es meine Pflicht, sicherzugehen, dass in dieser Zeit nichts vorgefallen ist.«

»Li Ming und Vale werden sicher auch froh sein, dass wir wieder da sind«, pflichtete er bei. »Also machen wir es so, wie du sagst.«

Irene stieg voran die Treppe hinab und lief eilig durch Flure und Korridore. Sie achtete nicht auf die überraschten, bestürzten und völlig entsetzten Gesichter, die sie anstarrten. Die Frauen in dieser Welt trugen keine Hosen. Das war Luftschiffpiloten und Ingenieuren vorbehalten, und weder handelte es sich dabei normalerweise um Frauen, noch rannten diese Leute in Hosen durch die Britische Staatsbibliothek.

Der Raum, in dem sich der feste Zugang zur Bibliothek befand, war mit Seilen und Schildern abgesperrt, auf denen hoffnungsfroh stand: INREPARATUR. Irene musste da ein gewisses Maß an Verantwortung einräumen. Es hatte ein kleines Feuer gegeben, und ein Rudel Werwölfe hatte eine nicht unmaßgebliche Rolle gespielt. Aber man konnte die Sache durchaus positiv betrachten: So hatten sie es leichter, hineinzugelangen und dabei für zwei unbescholtene Techniker gehalten zu werden.

Als sie endlich drinnen und die Tür geschlossen war, blickte Irene schuldbewusst um sich. Einst war dies ein gut gepflegtes Büro gewesen, voll mit Glaskästen, in denen die interessantesten Dinge ausgestellt wurden oder zumindest welche, die sehr alt waren. In den Schränken und Regalen hatten sich die Bücher dicht an dicht gereiht. Aber jetzt, nach der Silberfisch-Invasion, ihrem Duell mit Alberich und dem darauffolgenden Feuer, war all das zerstört. Die wenigen übriggebliebenen Schaukästen standen leer und schmutzig da, der rußschwarze Boden und die versengten Wände wirkten kahl und abweisend.

Es war nicht ihre Schuld. Jedenfalls nicht direkt. Aber sie fühlte sich immer noch so.

Mit einem Kopfschütteln trat sie vor und legte die Hand auf die Tür auf der anderen Seite. Einfach gesprochen handelte es sich um einen Vorratsschrank. Aber auf metaphysischer Ebene war dies der dauerhafte Übergang in die Bibliothek. Eine Möglichkeit zum Übertritt wie die Tür, die in Flammen aufgegangen war. Um ihn zu öffnen, musste sich lediglich ein Bibliotheksgelehrter der Sprache bedienen.

»Öffne dich zur Bibliothek«, befahl sie. Ein zittriger Fetzen Nervosität regte sich in ihrem Magen, als die unvermeidliche Vorstellung von ihr Besitz ergriff, dass dasselbe auch hier geschah.

Wie um ihre Sorgen zu vertreiben, schwang die Tür mühelos auf, ohne auch nur ins Stocken zu geraten. Irene holte tief Luft. Sie bemühte sich, den Seufzer der Erleichterung nicht allzu laut klingen zu lassen, und drängte Kai durch die Öffnung, ehe sie selbst hinüberschritt und die Tür hinter sich zuzog.

Das Zimmer der Bibliothek, in dem sie landeten, war ihnen mittlerweile vertraut – eine der Annehmlichkeiten, wenn man einen feststehenden Übergang aus einer der Welten in die Bibliothek wählte und nicht selbst einen öffnete, was stets an einen anderen Ort irgendwo in der Bibliothek führte. Die Wände waren so dicht mit Büchern gesäumt, dass die Poster, die in schwarzer Schrift warnten MittlereChaosstufe. Betreten auf eigene Gefahr,an den Buchrücken befestigt worden waren, weil es keinen freien Platz mehr gab. Dasselbe galt für die in Aussicht gestellten Mäntel. Auf dem Schreibtisch in der Mitte hatte jemand einen Computer untergebracht.

»Der ist neu«, stellte Kai auf das Gerät deutend fest.

»Und praktisch«, erwiderte Irene. Sie setzte sich vor den Bildschirm, schaltete ihn ein und zog das Buch aus der Tasche. »Den Flur hinunter gibt es ein Verbuchungsportal. Könntest du kurz dorthin gehen und es abgeben? Dann sind wir es los. Ich schicke nur noch schnell eine Info über den defekten Zugang raus. Es könnte sein, dass Coppelia oder eine von den anderen Älteren persönlich mit uns sprechen will.«

Kai nickte und nahm das Buch. »Selbstverständlich. Irene …«

»Ja?«

»Was denkst du wirklich, hatte es mit diesem Feuer auf sich?«

»Ich weiß nicht«, gab sie rundheraus zu. »Es war jedenfalls keine Chaosfalle. Zumindest begreife ich nicht, wie sie als solche hätte funktionieren sollen. Soweit ich sehen konnte, gab es keine Verbindung irgendwohin. Oder ist dir etwas in dieser Art aufgefallen?«

Kai schüttelte den Kopf. Er lief nachdenklich auf und ab. Eine Attitüde, glaubte Irene, die er sich unbewusst von Vale abgeschaut hatte. »Nichts. Und ich habe auch nichts Ungewöhnliches gefühlt. Falls doch, hätte ich dich gewarnt. Aber es fühlte sich nicht so an, als wäre einfach nur eine gewöhnliche Portion Chaos in diese Welt hineingeschleust worden. Verzeih mir meine Wortwahl. Anders kann ich es nicht beschreiben. Wenn ich raten müsste …«

»Was eine fürchterliche Angewohnheit ist und schädlich für das logische Denken, ich weiß«, konnte Irene nicht umhin zu bemerken.

Kais Mundwinkel zuckten leicht. In seinem Gesicht wirkten die Aschelinien eher wie absichtlich hinzugefügt, etwas, das ein Model vielleicht auf einer extravaganten Modenschau tragen würde, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Und die Uniform der Nationalgarde konnte schlichtweg einen neuen Modetrend auslösen, so wie sie ihm stand. »Wenn ich eine Hypothese aufstellen müsste, würde ich sagen, das Problem ist auf Seiten der Bibliothek zu suchen oder zumindest zwischen den beiden Seiten. Ich weiß allerdings nicht, ob so etwas möglich ist.«

Irene nickte. Sie meldete sich in ihrem Account an und setzte den Bericht für ihre Mentorin Coppelia auf. »Wir haben die Welt ja ursprünglich auch nicht durch diesen Übergang betreten, weil wir dann mitten in einer Gefahrenzone gelandet wären, ohne die Lage abschätzen zu können. Deshalb hat uns Baudolino ja über Sizilien eingeschifft, und von dort mussten wir über den Landweg weiter.« Baudolino war der vor Ort ansässige Bibliothekar in jener Welt, ein gebrechlicher Mann von siebzig, der gewiss nicht dazu in der Lage war, Agenten der Revolutionsgarden abzuschütteln und sich gegen einen Polizeistaat zur Wehr zu setzen. Irenes privater Einschätzung nach war er längst reif für die Pensionierung, aber das auszusprechen, hätte sie als taktlos empfunden. »Baudolino selber kann den Übergang in letzter Zeit kaum getestet haben, sonst wäre er in dieselbe Falle getappt wie wir, wenn man das so nennen kann. Von daher … keine Ahnung. Ich werde es einfach weitergeben und sehen, wohin das führt. Und was das Buch betrifft …«

»Ich bin schon weg«, erwiderte Kai und schloss im nächsten Moment die Tür von außen.

Irene musste den Text mehrere Male umschreiben, um die ersten Eindrücke angemessen zu schildern. Zunächst war sie versucht, Folgendes zu schreiben: Wir sind bei der Rückkehr fast gegrillt worden, deshalb schlage ich Alarm, und falls irgendjemand davon wusste, warum zur Hölle wurde ich dann nicht gewarnt? Es handelte sich um eine lebensgefährliche Fehlfunktion! Letztlich schaffte sie es, das Ganze noch etwas taktvoller zu verpacken: Ich muss vermelden, dass wir bei dem Versuch, den Durchgang zurück in die Bibliothek zu öffnen, Zeugen einer Nebenwirkung wurden, die extrem viel Energie freigesetzt hat. Ich bin nicht sicher, ob das Portal noch existiert. Sie beendete ihre Nachricht immerhin mit: ... hätte unsere Unkenntnis über den Zustand des Durchgangs leicht die gesamte Mission aufs Spiel setzen können. Für den Fall, dass Kai und ich nicht ausreichend instruiert wurden und es einen Fehler in der Informationskette gab, muss ich den Vorfall als ernsthafte Gefahr für die Sicherheit zukünftiger Aufträge melden. Bibliothekare sind eine endliche Ressource. Wenn es sich um ein neues Problem handelt, müssen die Kolleginnen und Kollegen so schnell wie möglich gewarnt werden.

Ihrer Meinung nach klang das zwar eigentlich zu geschäftsmäßig, aber es würde den Zweck erfüllen. Seufzend stützte Irene das Kinn auf die Hände. Paranoia sagte ihr, dass eine direkte Verbindung bestand zwischen ihrer derzeitigen Bewährungsphase und lebensgefährlichen Einsätzen wie diesem, über die sie nicht ausreichend informiert wurde. Ihr gesunder Menschenverstand hielt dagegen, dass sie keinen bösartigen Vorsatz suchen durfte, wenn sich all das auch umstandslos mit Dusseligkeit erklären ließ oder wenigstens mit organisatorischen Mängeln. Allerdings fand sie weder in ihrem Postfach noch bei den tagesaktuellen Ereignissen irgendwelche ungelesenen Nachrichten über Durchgänge, die mir nichts, dir nichts in Flammen aufgingen. Was also war passiert?

Handelte es sich um Sabotage? War es möglich, dass jemand einen Angriff auf die Bibliothek unternahm? Eine riskante Perspektive und keine, die ihr persönlich besonders gefiel.

Paranoia war selbsterfüllend, ermahnte sie sich. Normale Fehler, oder ein zufälliges Missgeschick, waren da doch sehr viel wahrscheinlicher. Doch ließ sich Paranoia leider nicht so einfach beiseitewischen.

Die Tür öffnete sich knarrend. »Fertig?«, fragte Kai.

Irene nickte. »Und es gibt nichts Dringendes, das sonst noch wartet. Ist das Buch sicher?«

»Unterwegs.« Kai untersuchte die Mäntel. Er schürzte die Lippen. »Billige Secondhand-Kleidung zu kaufen bedeutet, am falschen Ende zu sparen«, bekannte er.

»Das ist nicht das, was mich gerade interessiert«, gab Irene unbeirrt zurück und raffte ihren Mantel zurecht. »Ich wäre lieber schnell wieder in meiner Unterkunft und in einer heißen Badewanne.«

»Verständlich.« Er warf sich den Mantel über. »Wann immer du möchtest, Madame.«

Ihre Rückkehr in Vales Welt, hinaus aus der Bibliothek, blieb unbemerkt. Der Abend dämmerte bereits, und wer sich um diese Zeit noch in der Bibliothek aufhielt, war mehr damit beschäftigt, zu studieren und zu arbeiten, als Leute auf der Durchreise zu beobachten. Irene hoffte auf einen ruhigen Abend ohne weitere Schwierigkeiten. Zuerst heißes Wasser, selbstredend, und danach etwas Sauberes zum Anziehen. Dann vielleicht etwas zu essen, sie könnte auch Vale fragen, ob er Zeit hatte, mit ihr zu Abend zu essen. Und dann …

Kai packte sie am Arm, zog sie zurück in die Realität. »Wer ist das?«, zischte er.

Sie hatten soeben die Britische Staatsbibliothek verlassen. Auf der anderen Straßenseite stand eine Frau und beobachtete die Eingangstüren. Nichts an ihrer Erscheinung passte auch nur im Geringsten in diese Zeit oder an diesen Ort. Dunkle Locken, zu einem strengen Zopf zusammengebunden, fielen ihr über die nackte rechte Schulter. Sie trug einen Überwurf aus dichtem schwarzem Pelz, der jeweils bis zum Handgelenk reichte und sich in dicken Falten an ihrem Rücken bauschte. Darunter ein schwarzes Seidenkleid, das sich so knapp um ihren Körper und ihre Beine schmiegte, dass es extra für sie angefertigt worden sein musste. Der staubglühende Sonnenuntergang verwandelte ihren Teint in ein noch dunkleres Gold als gewöhnlich, und ihre Augen funkelten wie geschliffener Obsidian. Mit der Rechten hielt sie eine Hundeleine, an deren anderem Ende ein schwarzer Greyhound auf dem Pflaster lag. Als Irene und Kai innehielten, hörte er auf zu schnüffeln, hob den Kopf und gab gedämpft Laut, als wollte er sagen: Na siehst du – da sind sie. Ich habe sie gefunden.

»Zayanna«, hauchte Irene. Falls ihre Stimme vor Überraschung tonlos klang, so hoffte sie, dass es als nüchterne Beurteilung der Lage durchgehen würde. Diese Frau war keine Widersacherin. Nun, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Das letzte Mal, als sie sich begegnet waren, hatte sie sogar die Rolle einer Verbündeten eingenommen. Und sie war eine Elfe. Doch das war bei Weitem das geringste Problem.